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Reichsgründer Herrscher Politiker

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F.A.Z.-eBook 31

Frankfurter Allgemeine Archiv

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de

© 2014 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.

Foto: Ausschnitt aus »Idealbild Kaiser Karls des Großen« von Albrecht Dürer (1513), Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Wikimedia Commons.

Titelgestaltung: Hans Peter Trötscher

ISBN: 978-3-89843-287-0

Karl der Große

Reichsgründer – Herrscher – Politiker

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Inhalt

Vorwort 6

Er ist Europa – von Daniel Deckers . . . . 7

Die Bedeutung Karls des Großen in der Geschichte 11 Hätte es ohne den Islam Karls Reich gegeben? –

von Jeffrey F. Hamburger . . . . 12 Es ist spät geworden – von Arno Borst . . . . 23 Niemand sang die Sündenregisterarie nach –

von Matthias Grässlin . . . . 36 Romantiker unter dem Kaiserthron – von Matthias Grässlin . 42 Kaiserbrücke – von Rainer Finne . . . . 49 Als Dämonen die Ernte fraßen, brüllte das Getreide –

von Dirk Schümer . . . . 52

Das Machtzentrum: Aachen und die Pfalzkapelle 59

Edle Sechszahl – von Andreas Rossmann . . . . 60 Domrätsel – von Andreas Rossmann . . . . 63 Kräuter für alle, ein Karlsgarten für Aachen –

von Tilman Spreckelsen . . . . 66

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»Da hab ich gesehen alle herrlich Köstlichkeit« –

von Ronald D. Gerste . . . . 69

Mer losse der Dom in Oche – von Dieter Bartetzko . . . . 79

Karl und Europa: Wirkung bis in die Gegenwart 81

Der Mann, der Europa aufräumte – von Andreas Kilb . . . . . 82

Wir Kinder Karls des Großen – von Rainer Hank . . . . 91

Erster Reformer Europas – von Ilona Lehnart . . . . 94

Kaiser Rotohr lobesam – von Andreas Platthaus . . . . 98

Europas christliche Ursprünge – von Heinz-Joachim Fischer 102

Sachsenkriege auf amerikanisch – von Claudia Brosseder . 106 Karlsgeschichte(n) 110

Wie Abul Abbas nach Aachen kam – von Wolfgang Günter Lerch . . . . 111

Karl, der Große? – von Erika Pomsel . . . . 116

Die Liturgie beschreibt das Herrscheramt – von Günther Gillessen . . . . 121

Caroli Praesentia – von Vilma Sturm . . . . 128

Die Karlshymne . . . . 135

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Karlsliteratur 137

Was tut der Papst da eigentlich? – von Tilman Spreckelsen . 138 Der Kriegsherr als Erneuerer von Wissen und

Gelehrsamkeit – von Steffen Patzold . . . . 143 Souverän ist, wer über die Badeanstalt verfügt –

von Andreas Platthaus . . . . 148 Der Kaiser am Läuterungsberg – von Horst Bredekamp . . . 154 Das Männlein aus Seligenstadt war mehr als ein Günstling des Kaisers – von Erwin Seitz . . . . 162 Kaisers Elefant – von Michael Borgolte . . . . 168 So unzweifelhaft, wie Geschichte tut, ist sie nicht –

von Martin Borgolte . . . . 170 Das verschleierte Bild zu Aachen – von Johannes Fried . . . 174 Berta, Berta, du entschwandest – von Johannes Fried . . . . . 182 Einsame Karolinger – von Johannes Fried . . . . 191 Das Haupt der Welt – von Susanna Elm . . . . 196

Personen und Bücher 203

Karlschronik . . . . 204 Bücherliste . . . . 209 Autoren- und Personenregister . . . . 211

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Vorwort

Vorwort

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Er ist Europa

Von Daniel Deckers

N

apoléon Bonaparte soll bei dem Besuch der Grablege seines Vorbildes im Aachener Dom ausgerufen haben: »Je suis Charlemagne.« Das Imperium des Mannes, der in Kaiser Karl dem Großen die Avantgarde der Grande Nation erkennen wollte, reichte bald weit über die Regionen hinaus, die der Frankenkönig beherrschte. Immerhin: Als Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. zum römischen Kaiser gekrönt wurde, war das westliche Europa geeint wie seit den Tagen der Römer nicht mehr, das Christentum nach der Antike wiederbegründet. Zwar zerfiel Karls Reich bald nach seinem Tod im Jahr 814, und das Kaisertum wurde erst durch die Ottonen fest mit dem deutschen Königtum verbunden. Doch die mittelalterliche Geschichte Europas entfal- tete sich fortan in der Polarität Kaisertum-Papsttum und bis in die Gegenwart hinein in den wechselnden Kraftfeldern Kerneuropas, zwischen Italien, Frankreich und Deutschland.

In Erinnerung an ein Massaker bei Verden an der Aller galt Karl der Große den Nationalsozialisten bis 1937 als »Sachsenschlächter«.

Dann wurde aus ihm ein »großer Deutscher«. Hitler schickte sich an, dem deutschen Volk im Osten Raum zu schaffen. War Karl ihm nicht vorhergegangen und hatte in den 33 Jahren der Sachsenkriege die

Er ist Europa – von Daniel Deckers

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Grenze einer überlegenen Kultur weit über die Grenzen nach Osten verschoben, bis »die Sachsen mit den Franken ein Volk wurden«

(Einhard)? Noch in den fünfziger Jahren konnte man lesen, hätte Karl den Sachsenfürsten Widukind nicht an der Weser, sondern an der Weichsel gestellt, wären seine Unterwerfungszüge von der Elbe statt vom Rhein ausgegangen.

Statt dessen verloren sich die Umrisse des Abendlandes für Jahr- hunderte in den Weiten nordöstlich von Harz und Thüringer Wald, wo der Wind mal aus West und mal aus Ost, auch von Norden, aber kaum von Süden weht. Die Waffen-SS-Division, in der Franzosen freiwillig unter deutschem Befehl kämpften und deren Reste die Reichshauptstadt Berlin im April 1945 gegen die Russen vertei- digten, trug den Namen »Charlemagne«.

Denselben Namen trägt heute das Gebäude in Brüssel, in dem die EU-Generaldirektionen für Erweiterung, Außenhandel und Außen- beziehungen residieren. Sicher, auch das war Karl: Expansion durch Integration, Kodifikation von Recht, Setzung von Normen, die Kalen- derreform als Amalgamierung heidnischen und christlichen, römi- schen, germanischen und fränkischen Erbes. Findet all das nicht sein profanes Gegenstück in dem Bestreben, Europa zu einem gemein- samen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« in Europa zu schaffen? Doch was ist mit der Aufgabe, nach Karls Vorbild die Völker Europas in der unaufhebbaren Spannung zwischen europäi- schen Gemeinsamkeiten und nationalen Besonderheiten »zu einem Culturganzen zusammenzugewöhnen« (Jacob Burckhardt)?

Wo beginnt, wo endet Europa? Die Kaiserkrönung und der nach- folgende Vertrag von Aachen 812 ließen die Bipolarität von Byzanz

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und Rom neu erstehen, der Keim für die Spaltung Europas in eine orthodoxe und eine lateinische Welt war gelegt. Die Ausdehnung des Islam sollte Europa noch für Jahrhunderte in Atem halten. Unter Karl V., dem letzten vom Papst gekrönten deutsch-römischen Kaiser, wurde die reconquista endgültig zur conquista. Auf dem Balkan, wo sich die Kulturkreise des Orients und des Okzidents bis heute über- schneiden, färbt Blut bis heute nicht nur in der Legende die Flüsse rot. Karl ist Europa, in seiner Größe, in seiner Grausamkeit.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2000

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Die Karlsbüste aus dem Aachener Dom ist die ikonografische Darstellung des Kaisers und allen Karlsfans vertraut. © Domkapitel Aachen. Foto: Andreas Herrmann. Mit freundlicher Genehmigung der Stadt Aachen als Veranstalterin der Karlsausstel- lungen 2014.

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Die Bedeutung Karls des Großen in der Geschichte

Die Bedeutung Karls des Großen in der Geschichte

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Hätte es ohne den Islam Karls Reich gegeben?

In Aachen eröffnet ein Ausstellungsreigen zum 1200. Todestag Karls des Großen und fragt nach der Bedeutung seines Erbes für unsere Zeit.

Worin liegt diese genau?

Von Jeffrey F. Hamburger

G

roße Herrscher bleiben wegen ihrer Taten im Gedächtnis, große Künstler wegen ihrer Werke. Aber wer erinnerte sich an Mozart, einen wahrhaft großen Künstler, wegen seiner bescheidenen, wenn auch reifen Komposition »Ein teutsches Kriegslied« (KWV 539), das am keineswegs verheißungsvollen Vorabend der Fran- zösischen Revolution, am 7. April 1788, in Wien zu Ehren Kaiser Josephs II. uraufgeführt wurde? Jede Strophe des kriegerischen Lieds beginnt mit dem Satz: »Ich möchte wohl der Kaiser sein.«

Diese heute eher lächerlich wirkende Gelegenheitsarbeit könnte gut als Titelsong für so manche Ausstellung der letzten Jahrzehnte zur mittelalterlichen Kunst in Deutschland dienen.

In einem postimperialen Zeitalter, in dem Deutschland den Anspruch erheben darf, eine vorbildliche Demokratie zu sein, bleibt die Frage, wie man Kaiser am besten ausstellt: Man denke nur an den recht peinlichen Titel der kürzlich vom Haus der bayerischen

Hätte es ohne den Islam Karls Reich gegeben? – von Jeffrey F. Hamburger

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Geschichte in Regensburg ausgerichteten Ausstellung über Kaiser Ludwig den Bayern: »Wir sind Kaiser!« Diese Ausstellung teilt ihren Titel mit einer äußerst erfolgreichen Talkshow des ORF. Jede Sendung beginnt mit einer vorgetäuschten kaiserlichen Audienz, zu der der Gastgeber Robert Heinrich mit einer zur Melodie der Inter- nationale gesungenen »Kaiserhymne« begrüßt wird: »Unser lieber Robert Heinrich, wir danken es dir recht. / Wir haben einen Kaiser, uns geht es nie mehr schlecht.«

Die gerade in Aachen eröffnete Ausstellung zum 1200. Todestag Karls des Großen tut bei der Auseinandersetzung mit Karls Erbe ihr Bestes, um sowohl seiner geschichtlichen Besonderheit als auch seiner Bedeutung für unsere Zeit gerecht zu werden. Nun ist Karl der Große auf jede erdenkliche Art und Weise gebraucht und miss- braucht worden. Auf drei Ausstellungsorte verteilt – im Rathaus

»Orte der Macht«, im Centre Charlemagne »Karls Kunst«, in der Domschatzkammer »Verlorene Schätze« –, verbindet das Spektakel Eroberung und Kultur und sieht in den literarischen und künstleri- schen Leistungen seines Hofes die Grundlagen des karolingischen Reiches und – allgemeiner noch – des christlichen Europa. Die Dauerausstellung im Centre Charlemagne zeichnet diese Argumen- tationslinie in teleologischer Manier nach, vom römischen Aquis Grana bis in die Nachkriegszeit, als die besetzte Stadt als »Labor der Demokratie« diente.

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Die Ordnung des Himmels und der Erde. Einband des Lorscher Evangeliars, (hinterer Einband: Christustafel), um 810, Vatikanstadt, © Biblioteca Apostolica Vaticana, zu Pal Lat. 50 gehörig. Das Evangeliar ist ein Exponat der Ausstellung »Karls Kunst«

(Centre Charlemagne Aachen).

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Der massive dreibändige Katalog behandelt zahlreiche Fragen, die das karolingische Erbe aufwirft, und bemüht sich um neue Antworten. Besonders aufschlussreich sind die Ergebnisse inten- siver archäologischer Forschungen zu den Pfalzen oder Residenzen, an denen der reisende Herrscher Hof hielt. Das zentrale Thema der Ausstellung sind die Mittel und Wege, durch die der Kaiser seine Macht nach außen darstellte.

Im Dom, Karls einstiger Pfalzkapelle, gingen die meisten Pilger, die an der diesjährigen Heiligtumsfahrt teilnahmen (einem Ereignis, das nur alle sieben Jahre stattfindet), an der goldenen Kanzel Heinrichs II. vorbei, ohne lange hinaufzuschauen. Die reich mit Edelsteinen, Bergkristallschalen und koptischen Elfenbeinre- liefs verzierte Kanzel, sämtlich Beutestücke aus fernen Ländern, bietet eine unvergleichliche Uminterpretation des Reichsgedan- kens an einer Stätte, die nach einer Formulierung in der Ausstellung durchgängig als »Ort der Macht« diente. Die Pilger drängten jedoch geduldig voran, um kleine persönliche Gegenstände in der Nähe der kostbarsten Reliquien des Doms niederzulegen: des Kleids, das die Jungfrau Maria bei der Geburt Jesu trug, der Windeln Christi, des Tuchs, in das das abgeschlagene Haupt Johannes des Täufers einge- schlagen war, und des Lendentuchs, das Christus am Kreuz trug.

Es ist kein Zufall, dass all diese Reliquien aus Stoff sind, einem gemeinen Material, das durch die physische und symbolische Nähe zum menschlichen Körper geadelt worden ist. Die Ausstellung enthält zahlreiche Wunderwerke, deren eindrucksvollste mehrere Handschriften sind, die um 800 in der sogenannten Hofschule entstanden. So viele dieser Handschriften beisammen zu sehen

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ist eine bewegende Erfahrung. Für die meisten Besucher vermag jedoch in der Wirkung nichts an die Reliquien heranzureichen.

Die Anwesenheit Tausender von Pilgern während der ersten Tage der Ausstellung warf eine Frage auf: In wessen Diensten steht Karl der Große heute? In welcher Weise verzerrt die historische Tatsache des Kaiserkults unser Verständnis dieser kritischen Gestalt?

Karl der Große wurde 1165 auf Drängen Friedrich Barbarossas von dem Gegenpapst Paschalis III. heiliggesprochen. Obwohl die Kirche diese Heiligsprechung nicht anerkannte und Paschalis‘ Dekrete 1179 annullierte, hielt sich der Kult. In der wegweisenden, 1965 in Aachen veranstalteten Ausstellung, die Philippe Cordez in einem seiner Beiträge zum Katalog der aktuellen Ausstellung sehr gut analysiert, wurde Karl als Galionsfigur eines in Frieden vereinten Nachkriegseuropa gefeiert, das ein Bollwerk gegen feindliche Kräfte aus dem Osten darstelle (wobei man geflissentlich überging, dass Karls Reich durch endlose Kriege mit Gewalt geeint worden war und unmittelbar nach seinem Tod auseinanderbrach).

Nach zwei Weltkriegen zwischen Deutschland und Frank- reich überrascht es nicht, dass man ihn zum idealen Pater Europae erklärte. Die aktuelle Ausstellung wirft einen distanzierten Blick auf Karls Macht in Vergangenheit und Gegenwart. Doch die Plazie- rung der historischen Abteilung »Orte der Macht« im Krönungs- saal des Rathauses, das mit pompösen Historiengemälden zwei- felhaften Werts aus dem neunzehnten Jahrhundert ausstaffiert ist, eignet sich kaum für eine Dekonstruktion des Bildes Karls als eines Schirmherrn der Kirche und des Staates, des Schwertes und des Altars. Die Organisatoren der Ausstellung waren nicht zu beneiden

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bei ihrer Aufgabe, gleichzeitig feiern und forschen zu sollen. Die im Katalog gerühmte Installation im Rathaus ist fast schon grauen- haft zu nennen: In dem Versuch, Karl für ein modernes Publikum lebendig zu machen – ein durchaus legitimes Bemühen –, übertönt eine Kakophonie aus Computersimulationen, Videos, Modellen und Faksimiles vollständig die kostbaren Originale, die nirgendwo die Chance haben, für sich selbst zu sprechen.

Es mag immer schwieriger werden, an kostbare Leihgaben heranzukommen, aber wenn solch eine Zirkusschau die Zukunft der Ausstellung sein sollte, hat es keinen Sinn, unersetzliche Origi- nale in Gefahr zu bringen, wenn sie gar nicht gesehen werden. Die Leidener Aratea-Handschrift, ein mit überwältigenden ganzsei- tigen Miniaturen der Sternbilder verzierter Himmelsführer, wäre einer der Brennpunkte jeder Ausstellung über mittelalterliche Kunst.

Hier liegt er an der Seite, ohne dass ein Schild auf ihren Inhalt, ihre Herkunft oder ihren Besitzer hinwiese. Wehe dem hilflosen Besu- cher, der zufällig darauf stieße. Eine karolingische Kopie des Vitruv samt Illustrationen zum Wortschatz der antiken Architektur hätte in einen Kontext zu Bruchstücken der karolingischen Baukunst gestellt werden müssen, von denen es in Aachen viele gibt. Eine der zahlreichen verpassten Chancen. Faksimiles und Originale wech- seln einander ohne jede sinnvolle Unterscheidung ab. Die Nachbil- dung der winzigen Bronzestatue eines karolingischen Herrschers (unwahrscheinlich, dass sie Karl den Großen zeigt) ist mit einem Schwert verschönert worden, das am Original des Louvre nicht zu finden ist. Das spielt allerdings keine sonderliche Rolle, da die Statu- ette ohnehin kaum auffällt zu Füßen des lebensgroßen Modells eines

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fränkischen Kriegers zu Pferde, das bestens bei Madame Tussaud in London aufgehoben wäre.

Betritt man die Ausstellung, fällt einem als Erstes ein dreidimen- sionales Spektakel des in eine Folge bewegter Bilder aufgelösten Karlsschreins ins Auge. Angesichts solcher Effekthascherei ist man versucht, mit Dr. Johnson zu sagen: »Die Frage, die einem beim Anblick eines auf den Hinterbeinen laufenden Hundes in den Sinn kommt, ist nicht, wie gut er das macht, sondern warum.« Gleichfalls zu sehen ist eine aufdringliche interaktive Computerprojektion, die es dem Besucher erlaubt, Fragen wie die zu beantworten, in welcher Position er sich am mächtigsten fühle. Vor der Ausstellung können Besucher im Rahmen einer Installation mit dem Titel »Mein Kaiser 2014« eine von fünfhundert jeweils einen Meter hohen Kunststoff- figuren des Kaisers »adoptieren« (also kaufen).

Wer einige der bedeutendsten erhalten gebliebenen Werke der westlichen Kultur in dieser Weise ausstellt, macht Kultur zur Farce – und mit dem Karlspreis, den die Europäische Union in Aachen jedes Jahr verleiht, ist es nicht viel besser. 2002 ging er an den Euro. Was soll uns das sagen? Dass wir vom Mammon regiert werden?

Eine Reise nach Aachen lohnt sich vor allem, um die großartigen Handschriften und Elfenbeinarbeiten zu sehen, die für die Ausstel- lung zusammengetragen worden sind. Jedes dieser Ausstellungs- stücke zeugt vom Triumph der Diplomatie. Diese Schätze sind von einer Art, die selbst Wissenschaftler vielleicht nur einmal im Leben zu Gesicht bekommen. Auf seine Weise steht jedes dieser Bücher Pars pro Toto für ein ganzes Zeitalter. Der Katalog seziert ihre stilis- tischen Verwandtschaftsbeziehungen in erschöpfender Detailfülle.

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In ihrer obsessiven Betonung der Analyse von Stilen und Vorbil- dern berücksichtigen die Aufsätze allerdings relativ wenig neuere kunsthistorische Ansätze, die Fragen des Inhalts, des Kontexts, der Funktion und des Ausdrucks in den Vordergrund stellen. Vergli- chen mit der lauten Installation im Rathaus, bietet die Abteilung Handschriften jedoch eine Oase kontemplativer Stille. In der nach- folgenden Abteilung mit kleinen, aber eindrucksvollen Elfenbein- und Metallarbeiten drängen abermals die aufdringlichen Klänge moderner Technologie herein. Das ist vielleicht das erste Mal, dass Meisterwerke des karolingischen Kunsthandwerks zu den Klängen von Saxophonen ausgestellt werden. Die Trennung der Elfenbein- arbeiten von den Handschriften, mit denen die meisten von ihnen verbunden waren, ist sinnvoll nur auf der Grundlage der modernen Unterscheidung zwischen den Medien. Mittelalterliche Objekte entziehen sich solchen Kategorien. Es wäre weitaus sinnvoller gewesen, die Handschriften zusammen mit den Einbänden auszu- stellen, die ihnen einst viel von ihrer Aura und Präsenz verliehen.

Einige Objekte sind in der Tat faszinierend. Die Elfenbeinta- feln des Lorscher Evangeliars sind schon früher einmal wiederver- einigt worden, aber sie erstaunen immer wieder wegen ihrer außer- ordentlichen Feinheit und ihrer Assimilation eines ganzen Spek- trums spätantiker Vorbilder. Auch wenn die Organisatoren dies kaum beabsichtigt haben dürften, hat der aufmerksame Besucher die Gelegenheit, die Größe dieser Meisterwerke zu ermessen, indem er sie mit dem Faksimile in der Dauerausstellung des Centre Char- lemagne vergleicht. Das Faksimile erscheint recht gut, trotz der etwas abstoßenden gelblichen Färbung, bis man es mit dem leucht-

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enden Original vergleicht, das eine rasierklingenscharfe Linearität mit der schmelzenden Weichheit vereint, die sich nur in Elfenbein erzielen lässt. Die Verbindung von Kalligraphie und atmosphäri- schem Raum innerhalb der Grenzen dünner Elfenbeinscheiben ist eine herausragende technische Leistung. Gleichfalls zu sehen ist eines der größten Werke der Schnitzkunst aller Zeiten, die riesige (33,4 mal 10 Zentimeter) Tafel des Erzengels Michael aus dem Gras- simuseum in Leipzig, dessen wallendes Gewand den Eindruck eines Wirbelwinds an Bewegung innerhalb der Grenzen einer unglaub- lich dünnen Elfenbeinscheibe hervorzurufen vermag, gearbeitet aus einem spätantiken Konsulardiptychon, von dem auf der Rück- seite (ursprünglich der Vorderseite) noch Spuren zu erkennen sind.

Mittelalterliche Kunstwerke wie dieses sollten Staunen erregen und beeindrucken. Wer die Ausstellung in Aachen besucht, wird beides spüren – aber auch an die Zerbrechlichkeit der Kultur in all ihren Dimensionen erinnert werden. Viele der ausgestellten Werke atmen den Geist der Antike, doch angesichts der dazwi- schen liegenden Jahrhunderte konnte die reimaginierte Gegen- wart der Vergangenheit kaum als gesichert empfunden werden.

Die Schöpfungen der karolingischen Schreiber waren so überzeu- gend, dass die Humanisten der Renaissance ihre Kopien für Origi- nale hielten. Karls Biograph Einhard, der Suetons Lebensbeschrei- bungen der römischen Kaiser zum Vorbild für seine Biographie nahm, begann sein Werk in gespielter Bescheidenheit mit der Fest- stellung, er habe es, »obwohl kein Römer von Geburt«, in einem so eloquenten Latein geschrieben, dass es sogar den Vergleich mit Cicero aufnehmen könne.

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Die karolingische Kunst bietet jedoch mehr als nur einen Rück- blick. Sie markiert auch einen Neubeginn, eine Synthese aus antiker und, wie man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks sagen könnte, »barbarischer« Pracht und Stofflichkeit. Die großartigen Handschriften in der Ausstellung zeugen von dieser Verschmel- zung der Formen: Antike, weitgehend architektonisch inspirierte Ornamente stützen Zickzackmuster, die ihr Vorbild in fränkischen Metallarbeiten und englischen Handschriften haben und nicht den Raum, sondern die Fläche betonen. Ein ähnliches Nebeneinander prägt das Geländer des ersten Obergeschosses in der Pfalzkapelle.

Trotz des römischen Zierrats zementierte Karls Unternehmen eine grundlegende Neuausrichtung der Länder, die nun Westeu- ropa bildeten, weg von Rom und hin zum Norden – eine kulturelle Verlagerung, welche die Entwicklungen in Kultur und Politik bis in jene Zeit beherrschte, die wir heute die Renaissance nennen. Auf dem Kontinent entwickelten sich Paris und später dann Prag, woher viele der kostbarsten Ausstellungsstücke in Aachen stammen, zu den neuen Zentren.

In seinem Buch »Mohammed und Karl der Große« von 1937 behauptete der belgische Historiker Henri Pirenne, die Antike habe ihr Ende nicht mit der Plünderung Roms gefunden, sondern mit der Unterbrechung der Handelswege auf dem Mittelmeer aufgrund der islamischen Expansion. »Ohne den Islam hätte es das fränkische Reich wahrscheinlich nie gegeben, und Karl der Große wäre ohne Mohammed unvorstellbar«, lautete seine berühmte These. Nach dieser Darstellung spielte nicht die Kultur, sondern die Wirtschaft die entscheidende Rolle, und die Ursprünge Europas lassen sich

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nicht darstellen, ohne der islamischen Welt die nötige Bedeutung zuzuweisen. Pirennes ökonomische Analyse mag inzwischen weit- gehend in Misskredit geraten sein. Angesichts der immer kompli- zierteren Verquickung des Westens mit dem Islam stellt diese These dennoch eine Herausforderung dar.

Wie christlich ist die Geschichte Europas, oder wie christlich sollte sie werden oder bleiben dürfen – und in welcher Weise? Die Pilger, die zu Tausenden nach Aachen strömen, zeigen kaum Zweifel an dieser Frage. Aber gerade in diesen Tagen sind Pläne zum Bau einer ganz anderen Kapelle bekanntgeworden, diesmal in der neuen Hauptstadt Deutschlands, dem wiedervereinigten Berlin. Unter dem Namen »House of One« soll dieser Bau eine Moschee, eine Syna- goge und eine Kirche bergen. Neue Horizonte für eine nach vorn blickende Welt. Möchten wir der Kaiser sein? Die Antworten sind nicht mehr so einfach.

Aus dem Englischen von Michael Bischoff.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.2014

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