DAS BIP
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dererseits rechtzeitig erkennen, ob und allen- falls wie viel geldpolitischer Handlungsbedarf besteht.
Preise, BIP und Phillips-Kurve
Für die Analyse der Preisentwicklung greift die SNB auf die verschiedenen Preisindizes des Bundesamts für Statistik (BFS) zurück. Da die SNB die Preisstabilität mit einem Anstieg des Landesindexes der Konsumentenpreise (LIK) von weniger als 2 Prozent pro Jahr gleichsetzt, stehen dabei der LIK und seine Komponenten im Vordergrund.
Was die realwirtschaftliche Entwicklung an- geht, ist naturgemäss die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) die wichtigste Quelle und das reale Bruttoinlandprodukt die Haupt- referenzgrösse. Der Grund ist klar: Die VGR er- fasst im Detail die Wirtschaftstätigkeit aus den drei Perspektiven Produktions-, Einkommens- und Verwendungsseite, welche sich gegensei- tig ergänzen. Somit bietet sie das vollständigste Bild des wirtschaftlichen Geschehens. Inner- halb der VGR ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) diejenige Zahl, welche die gesamte inländische Wirtschaftsleistung während eines Jahres oder Quartals am besten zusammenfasst. Deshalb steht das BIP im Zentrum der Berichterstattung und findet in der Öffentlichkeit besondere Be- achtung.
Das BIP bildet die Basis für die allgemei- ne Einschätzung der Wirtschaftslage und der Preisentwicklung. Um die Inflation, also die Veränderung der Preise, zu erklären und zu pro- gnostizieren, muss ihre Beziehung zur Wirt- schaftsaktivität abgebildet werden. Diese Be- ziehung wird von Zentralbanken – die SNB ist
D
ie Geldpolitik der Schweizerischen National- bank (SNB) ist darauf ausgerichtet, die Preis- stabilität unter Berücksichtigung der konjunk- turellen Entwicklung zu gewährleisten. Dies geschieht in der Regel über die Zinssteuerung.Nach Ausbruch der Finanzkrise wurde das Zins- instrument durch Interventionen am Devisen- markt ergänzt.
Um die Geldpolitik optimal zu gestalten, sind zwei Voraussetzungen nötig. Erstens muss die Zentralbank möglichst genau wissen, wie die Wirtschaft funktioniert, wie sie auf Stö- rungen reagiert und was ihre geldpolitischen Impulse bewirken. Sie muss also die Trans- missionsmechanismen in der Wirtschaft ver- stehen. Zweitens muss die Zentralbank den Zustand der Wirtschaft laufend richtig ein- schätzen können.
Damit beide Voraussetzungen erfüllt sind, ist die Verfügbarkeit von verlässlichen Wirt- schaftsstatistiken zentral. Statistiken bilden die Grundlage für den Einsatz von Analyse- und Prognosemodellen in der Geldpolitik.
Wirtschaftliche Entwicklungen müssen des- halb möglichst präzise, zuverlässig und rasch in Form von Daten erfasst werden. Nur so kann die Zentralbank einerseits die Transmissions- mechanismen empirisch erforschen und an-
Die Rolle der BIP-Zahlen in der Geldpolitik
Für die Schweizerische Nationalbank (SNB) ist das BIP eine zentrale Messgrösse. Im Allge meinen sind gute Wirtschaftsstatistiken eine unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Führung der Geldpolitik. Carlos Lenz, Attilio Zanetti
Abstract Der gesetzliche Auftrag verpflichtet die Schweizerische National
bank (SNB) zur Gewährleistung der Preisstabilität. Dabei soll sie der kon
junkturellen Entwicklung Rechnung tragen. Für die optimale Erfüllung ihres Mandats ist die korrekte Einschätzung der Wirtschaftslage von zent
raler Bedeutung. Als Mass der Wirtschaftsleistung ist das Bruttoinlandpro
dukt (BIP) die Hauptreferenzgrösse. Die BIPSchätzungen sind deshalb eine grundlegende Informationsquelle. Aufgrund ihrer Revisionsanfälligkeit bergen sie aber auch gewisse Herausforderungen. Deshalb setzt die SNB auf eine möglichst breite Palette an Konjunkturindikatoren.
Die Volkswirtschaft 3 / 2018 25 hier keine Ausnahme – meist im Rahmen der
sogenannten Phillips-Kurve dargestellt. Die- se besagt, dass die Inflationsaussichten mass- geblich von der Auslastung der Wirtschaft ab- hängen. Wenn die Auslastung der Wirtschaft über das normale Niveau ansteigt, haben die Unternehmen zunehmend Mühe, der Nachfra- ge nachzukommen. In der Folge erhöhen sie ver- mehrt die Preise ihrer Produkte – wodurch die Inflation steigt. Umgekehrt fällt in einer Rezes- sion die Auslastung unter das normale Niveau.
In dieser Situation versuchen Unternehmen mit Preissenkungen Kunden zu gewinnen. Dadurch nimmt die Inflation ab und kann sogar negativ werden.
Die Auslastung einer Wirtschaft wird im Rahmen der Phillips-Kurve mit der Produk- tionslücke gemessen. Diese erfasst die Diskre- panz zwischen dem normalen Niveau des BIP einer Wirtschaft (das oft als Vollbeschäfti- gungsniveau bezeichnet wird) und dem effek- tiv beobachteten Niveau. Die SNB bestimmt das normale BIP-Niveau mit verschiedenen Ansät- zen. Allen gemeinsam ist, dass die jeweils resul- tierende Produktionslücke einen gewissen Zu- sammenhang mit der Inflation aufweist (siehe Abbildung 1). Bei einer positiven Produktions-
lücke steigt tendenziell die Inflation. Zeiten mit einer negativen Produktionslücke sind dagegen mit abnehmender Inflation verbunden.
Die Unsicherheit um das BIP und die Produktionslücke
Das Konzept des BIP ist aus theoretischer und definitorischer Sicht eindeutig. In der Praxis je- doch ist die Schätzung des BIP für die zustän- digen Ämter – BFS und Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) – alles andere als einfach.
Die Wirtschaftsleistung der Schweiz entsteht Tag für Tag aus Millionen von Entscheiden und Handlungen aller Wirtschaftsakteure. Zudem ist das Umfeld nicht konstant: Massgebende As- pekte wie Technologie, Produkte, Absatzkanäle oder Präferenzen der Leute ändern sich laufend.
Aus dieser Perspektive überrascht es kaum, dass das BIP nicht exakt geschätzt werden kann und dass ein Zielkonflikt zwischen rascher Verfüg- barkeit und Präzision der Zahlen besteht. Be- sonders schwierig sind frühe Schätzungen, die sich nur auf sehr unvollständige Informationen stützen können. Im Zeitablauf führen neuere und ausführlichere Informationen sowie Opti- mierungen der Schätzmethoden dann immer Die Inflations-
aussichten hängen massgeblich von der Auslastung der Wirtschaft ab.
KEYSTONE
DAS BIP
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Abb. 3: Der SNB Business Cycle Index (2007–2017) Abb. 1: Produktionslücke und Inflation (1980–2017)
SNB, BFS / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
7,5 In %
5
2,5
0
–2,5
–5
1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015
Landesindex der Konsumentenpreise (Jahresveränderung) Produktionslücke (Produktionsfunktionsansatz)
Abb. 2: BIP-Wachstumsrevisionen (2000–2017)
Reales BIP-Wachstum gegenüber Vorquartal, hochgerechnet.
Aktuelle Zeitreihe Historische Erstschätzungen Differenz in Prozentpunkten
SNB, BFS / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
7,5 In %
–7,5 5
2,5
0
–2,5
–5
2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
SNB, GALLI (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
7,5 Indexwert
2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
–7,5 –10 5 2,5 0 –2,5 –5
FOKUS
Die Volkswirtschaft 3 / 2018 27 wieder dazu, dass die BIP-Zahlen revidiert wer-
den. Diese Feststellung gilt für die Schweiz wie auch für alle anderen Länder und dürfte zu einer gewissen Vorsicht bei der Interpretation der Daten führen.
Der Verlauf des BIP hängt also davon ab, zu welchem Zeitpunkt er geschätzt wurde. Die heutigen Quartalswachstumsraten des BIP kön- nen sich von denjenigen unterscheiden, die je- weils bei der Erstschätzung bekannt wurden (siehe Abbildung 2).
Aus geldpolitischer Sicht stellt die Revi- sionsanfälligkeit des BIP bedeutende Heraus- forderungen dar.1 Der genaue und wahre BIP- Verlauf – sofern ein «genaues und wahres BIP»
überhaupt geschätzt werden kann – ist erst mit Verzögerung verfügbar. In Echtzeit basieren deshalb Analysen und Prognosen auf unsiche- ren Informationen.
Palette an weiteren Indikatoren
Um der Unsicherheit über den aktuellen Stand der Wirtschaft etwas entgegenzuwirken, er- gänzt die SNB die Interpretation der BIP-Zahlen mit der ausführlichen Auswertung einer breiten Palette an weiteren Konjunkturindikatoren.2 Ein Beispiel dafür ist der Business Cycle Index (siehe Abbildung 3). Dieser von der SNB erstell- te Konjunkturindex setzt sich aus der systema- tischen Auswertung von über 600 Indikatoren zusammen.3 Er umfasst konjunkturelle Signale aus verschiedensten Quellen. Eine wesentliche Rolle spielen Konjunkturumfragen.
Aus den gleichen Gründen legt die SNB grossen Wert auf den Informationsaustausch mit Unternehmen.4 Die SNB-Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte führen jedes Quartal weit über 200 Gespräche mit Entschei- dungsträgern von Unternehmen und sammeln so wertvolle Informationen aus erster Hand über den Stand der Wirtschaft. Die Informa- tionen aus den verschiedenen Regionen und
Branchen werden zusammengetragen und so- wohl qualitativ als auch quantitativ ausge- wertet.5 Das Bruttoinlandprodukt ist auch bei diesen Analysen im Hintergrund die Referenz- grösse: Die Stichprobenauswahl für die Unter- nehmensgespräche richtet sich nach der bran- chenmässigen Zusammensetzung des BIP.
Im Bewusstsein der Herausforderungen, welche mit der Schätzung des BIP verbunden sind, stützt die SNB ihre Analysen also auch auf viele zusätzliche Indikatoren. Diese Ansät- ze können jedoch lediglich eine ergänzende Rol- le spielen. Letztlich sind verlässliche VGR- und BIP-Statistiken absolut unentbehrlich, um die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes ver- stehen zu können. Die Verfügbarkeit von guten Wirtschaftsstatistiken ist eine wesentliche Vo- raussetzung für die erfolgreiche Führung der Geldpolitik.
Literatur
Cuche, Nicolas, Pamela Hall and Attilio Zanetti (2008). Swiss GDP Revisions: a Monetary Policy Perspective, in: Journal of Business Cycle Measurement and Analysis, Vol. 4/2.
Galli, Alain (2017). Which Indicators Matter? Analyzing the Swiss Busi- ness Cycle Using a Large-scale Mixed-frequency Dynamic Factor Mo- del, SNB Working Paper, 2017/08.
Galli, Alain, Christian Hepenstrick und Rolf Scheufele (2017). Mixed- frequency Models for Tracking Short-term Economic Developments in Switzerland, SNB Working Paper, 2017/02.
Hunziker, Hans-Ueli und Attilio Zanetti (2015). Die Delegierten der Nationalbank messen den Puls der Wirtschaft, in: Die Volkswirt- schaft, 2015/5.
Schweizerische Nationalbank (2017). Konjunktursignale, Quartalsheft der Schweizerischen Nationalbank, 2017/4.
Carlos Lenz
Prof. Dr. rer. pol., Leiter Volkswirtschaft, Schwei- zerische Nationalbank, Zürich
Attilio Zanetti
Dr. rer. pol., Leiter Organi- sationseinheit Konjunktur, Schweizerische National- bank, Zürich
1 Siehe Cuche et al.
(2008).
2 Siehe Galli et al. (2017).
3 Siehe Galli (2017).
4 Siehe Hunziker und Zanetti, 2015).
5 Siehe SNB (2017).