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Russland und Eurasien Programm | Oktober 2017

Das Ringen um die Ukraine

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Kurzfassung

Vier Jahre nach dem Euromaidan kämpft die Ukraine um ihr Überleben als unabhängiger und funktionstüchtiger Staat. Die Ukrainer gingen im November 2013 auf die Straße, um für eine engere Bindung an die Europäische Union und gegen den Einfluss Russlands zu protestieren. Ihr

Aktivismus führte zur Absetzung Wiktor Janukowytschs und zu einer neuen Regierung, unter der ein EU-freundlicherer Kurs eingeschlagen werden sollte. Russland reagierte jedoch empfindlich, annektierte die Krim, löste einen Gebietskonflikt in der Ostukraine aus und versucht bis heute, den Nachbarn an allen Fronten zu schwächen.

In diesem Bericht geht es zum einen um den Kampf der Ukraine gegen die Einmischung Russlands auf militärischer, diplomatischer, wirtschaftlicher und medialer Ebene. Zum anderen geht es um den damit verbundenen internen Wettbewerb, die politische, institutionelle und zivile Zukunft der Ukraine zu definieren. Im weiteren Sinne war der Euromaidan eine Reaktion auf schlechte

Staatsführung und Korruption genauso wie auf vereitelte Pläne für eine europäische Integration per se. In diesem Zusammenhang bezieht sich das „Ringen“ im Titel dieses Berichts auf die

Herkulesaufgabe, interne Reformen in einem zähen Kampf durchzuboxen, in dem, grob gesagt, EU- freundliche Reformkräfte gegen den traditionellen Konservatismus der Eigeninteressen politischer und wirtschaftlicher Eliten antreten müssen. Die Zurückdrängung Russlands und die Umsetzung politischer Reformen in vielen Bereichen (einschließlich der europäischen Integration) sind heute die beiden großen Aufgaben für die Ukraine.

Die Zukunft der Ukraine hängt ab von einem Wandel der Beziehungen zwischen Bürgern, Wirtschaft und Regierung

In diesem Bericht werden die beträchtlichen Fortschritte der Ukraine seit dem Euromaidan hervorgehoben. Ungeachtet schmerzlicher Verluste trotzt das Land der militärischen Aggression Russlands. Es hat das wegweisende Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnet und sich damit nicht nur wirtschaftliche Chancen eröffnet, sondern auch deutlich gemacht, dass man sich grundsätzlich als „europäisches“ Land betrachtet, nicht als Trabant Russlands. Die Ukraine hat in den vergangenen vier Jahren umfassendere Reformen auf den Weg gebracht als in den 22

postsowjetischen Jahren zuvor. Dazu zählen das systematische Vorgehen gegen eine tief verwurzelte Kultur von Korruption und Rent-Seeking, die Verbesserung der Transparenz im öffentlichen Sektor sowie die Eindämmung finanzieller Risiken und wirtschaftlicher Verzerrungen im Energiesektor. Wie der entscheidende Beitrag der Zivilgesellschaft zu vielen dieser Maßnahmen zeigt, hängt die Zukunft der Ukraine in erster Linie von einem Wandel der Beziehungen zwischen Bürgern, Wirtschaft und Regierung. Dabei geht es um nationale Sicherheit ebenso wie um politische Legitimierung.

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Unter Anerkennung bereits geleisteter Reformen werden im vorliegenden Bericht jene Bereiche untersucht, in denen die ukrainische Regierung die Erwartungen ihrer Bürger oder die

Verpflichtungen durch das Assoziierungsabkommen nicht erfüllt.

Reformwiderstand ist selbst in hohen Ämtern verbreitet, und es bestehen Anzeichen dafür, dass sich antiprogressive Kräfte bei ihren Versuchen ermutigt fühlen, genau jene Politik zu blockieren oder aufzuweichen, die die Ukraine benötigt, um sich wirtschaftlich zu entfalten, eine faktisch unabhängige Justiz zu etablieren und wirksam gegen Korruption vorzugehen.

Auch die Glaubwürdigkeit und der Zusammenhalt des Westens stehen hier auf dem Spiel. Die internationale Staatengemeinschaft investierte massiv in die Zukunft der Ukraine und unterstützte das Land mit Milliarden von Dollars. Zugleich wies sie Russlands Ansprüche auf die Vorherrschaft in puncto geopolitischer Ausrichtung und innerstaatlicher politischer Regelung zurück. Dieser Bericht legt nun Lösungsansätze vor, die darauf abzielen, die Glaubwürdigkeit des Westens durch die Einhaltung unserer seit Ende des Kalten Krieges gewohnten Ordnung sowie die enge

Verknüpfung finanzieller Unterstützung mit politischen Bedingungen zu gewährleisten (oder gar zu erhöhen).

Zentrale Herausforderungen für die Ukraine

1. Sicherheit und Verteidigung

Trotz eines nun schon dreieinhalb Jahre andauernden Krieges gegen Russland und seine

separatistischen Verbündeten hat die Ukraine eine innerstaatliche Robustheit bewiesen, die 2014 kaum jemand vorausgesehen hatte. Seinen Sinn für nationale Selbstbestimmung lässt das Land sich bisher nicht nehmen–weder durch russische Waffen, noch durch ein skrupel-loses Machtsystem, das nach wie vor für viel Unmut unter westlichen Verbündeten und der eigenen Bevölkerung sorgt.

In vier Bereichen hat der Westen bereits wichtige Unterstützung geleistet: Diplomatie, Sanktionen gegen Russland, Hilfestellung bei Reformen und in der Wirtschaft sowie

Verteidigungszusammenarbeit. Doch auch wenn diese Bemühungen erste Früchte tragen, ist in den Bereichen Politik und Verteidigung noch viel Luft nach oben, und das ohne übermäßige Kosten oder politische Risiken. Die Befürchtung, dass der Westen der Ukraine überdrüssig werden könnte, hat sich nicht bewahrheitet, und die Verlockung um-fassender Übereinkünfte mit Russland blieb wirkungslos. Insbesondere die Ukrainepolitik der US-Regierung unter Präsident Donald Trump ist bis dato beeindruckend konsequent.

Vieles von dem, was die Ukraine bisher erreicht hat, könnte jedoch schnell wieder rückgängig gemacht werden, weil für nachhaltige Reformen die tieferliegenden politischen

Rahmenbedingungen fehlen. Die sicherheitspolitische Entwicklung der Ukraine hängt vom nationalen Zusammenhalt, einer sinnvollen Ressourcenverteilung und einem hartnäckigen Engagement von Verwaltung und Zivilgesellschaft ab. Bisher haben weder der Widerstand der Ukraine noch die Beharrlichkeit des Westens Moskau von der Vorstellung abgebracht, dass die Ukraine bloß eine Erweiterung der eigenen Heimat und ein Werkzeug des Westens sei, das dazu dienen soll, Russland zu schwächen und sein Regime zu stürzen. Russlands Hartnäckigkeit und Anpassungsfähigkeit dürfen nicht unterschätzt werden. Der momentane Stillstand in den von

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prorussischen Separatisten besetzten Donbass-Gebieten, wo autonome Quasi-Republiken von zweifelhafter Legitimität gegründet wurden, darf uns nicht von den anderen Fronten ablenken, die Russland nutzt, um den ukrainischen Staat zu sabotieren und einen strategischen „Reset“

herbeizuführen. Es wäre illusorisch, davon auszugehen, dass diplomatische Methoden alleine Russland von seinem Ziel, konstruktiven westlichen Einfluss zu unterbinden, um die Ukraine zu dominieren, abbringen werden. Moskaus Kalkül wird sich nur dann ändern, wenn seine Eliten erkennen müssen, dass eine Fortsetzung des derzeitigen Kurses nicht mehr praktikabel ist.

2. Reformen

EU-Integration

Der Euromaidan und die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens beinhalten das

Versprechen einer grundlegenden Veränderung im Verhältnis der Ukraine zu Europa. Das 2014 unterzeichnete und 2017 ratifizierte Assoziierungsabkommen enthält sowohl politische als auch wirtschaftliche Komponenten, wobei letztere in einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (Deep and Comprehensive Free Trade Agreement, DCFTA) formalisiert wurden, die den

ukrainischen Zugang zum EU-Binnenmarkt forciert, allerdings beträchtliche politische Reformen erfordert.

Die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens beinhaltet das Versprechen einer grundlegenden Änderung im Verhältnis der Ukraine zu Europa

Die EU hat ihre Unterstützung für die Ukraine bedeutend ausgebaut. Brüssel ist an fast allen Aspekten der Reformen beteiligt. Die Unterstützergruppe der EU für die Ukraine (Support Group for Ukraine, SGUA) leistet einen Beitrag zur strategischen Koordinierung, indem sie die Nachfrage nach Expertise und Unterstützung in der Ukraine abdeckt. Auf operativer Ebene erfolgt die EU- Unterstützung jedoch nach wie vor über eine Vielzahl traditioneller Projekte zur technischen Hilfe, die sowohl in der Ukraine als auch in anderen Entwicklungs-ländern für ihre Ineffektivität bekannt sind. Die EU verfügt über ein bislang einmaliges politisches Mandat zur Ankurbelung von

Reformen in der Ukraine. Bisher hat sie jedoch kaum von diesem Mandat Gebrauch gemacht, wodurch sie riskiert, das Vertrauen der Reformkräfte zu verlieren.

Ein weiteres Problem ist, dass viele Angehörige der politischen Eliten Reformen immer noch als optional ansehen und zu grundlegenden Staatsreformen sowie zur Umsetzung des

Assoziierungsabkommens oft nur Lippenbekenntnisse ablegen. In der Ukraine gibt es keinen zentralen Entscheidungsträger, der für europäische Integrationspolitik zuständig ist. Auch effektive Koordination zwischen den verschiedenen Behörden und Parteien findet nur selten statt. Die EU war den ukrainischen Behörden gegenüber zu nachsichtig und gab ihnen immer wieder einen Vertrauensvorschuss. Sie will keinen Regierungswechsel provozieren, der schlimmstenfalls dazu führen könnte, dass populistischere und/oder prorussische Kräfte erstarken. Wenn sinnvolle Reformen durchgeführt wurden, dann geschah dies bisher unter dem Einsatz zahlreicher kurzfristig gebildeter „Reformkoalitionen“ aus Politikern, Staatsbeamten, zivilgesellschaftlichen Gruppen sowie EU-Beamten–auch gegen den starken Widerstand von Reformgegnern. Der Aktivismus progressiver Koalitionen ist begrüßenswert, liefert allein jedoch keine solide Grundlage für einen institutionellen Wandel.

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Wirtschaftliche Reformen

Von allen Bereichen, die reformbedürftig sind, gehört die Wirtschaftspolitik zu den gewichtigsten.

Investoren und Beobachter bekunden allgemein gerne, dass die Ukraine unreformierbar sei und sie in der „Grauzone“ zwischen Ost und West verbleiben sollte, wie es für den Großteil ihrer gut 20- jährigen Unabhängigkeit der Fall war. Diese Auffassung klammert die Tatsache aus, dass der Status quo, abgesehen von einigen hundert Wirtschaftsmagnaten mit privilegiertem Zugang zum

politischen System sowie Angehörige der politischen Eliten, die das System zu ihrem persönlichen Vorteil ausnutzen konnten, die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung enttäuscht hat. Im Kern manifestierte der Euromaidan die Ablehnung dieses korrupten Systems und den Wunsch nach einer wirtschaftstreibenden Gesellschaft, die auf westlichen und europäischen Normen beruhen.

Auch wenn die politischen Entwicklungen seit 2014 diese Erwartungen nicht immer erfüllt haben, sind sie dennoch vielversprechend. Die Ukraine hat bewiesen, dass Änderungen möglich sind. Es wurde eine grundlegende makroökonomische Stabilität geschaffen: 2016 wurde ein reales

Wirtschaftswachstum erreicht, außerdem ein Rückgang der Inflation sowie eine Stärkung der Hrywnja, und die Devisenreserven konnten seit 2015 verdreifacht werden. Die derzeitigen Leistungs- und Haushalts-bilanzdefizite wurden auf ein bewältigbares Maß beschnitten,

Haushaltsausgaben gesenkt und rationalisiert. Auch Steuerreformen und Umschuldung wurden in Gang gesetzt.

Der Energiesektor hatte in puncto Reform Priorität. Die Energiepreise wurden zwecks Senkung der Nachfrage erhöht und Brennstoffsubventionen erfolgen jetzt gezielter. Dadurch konnte das

öffentliche Defizit im Zusammenhang mit dem staatlichen Energiekonzern Naftogaz 2017 auf null gedrückt werden. Auch der Bankensektor hat weitreichende Veränderungen durchgemacht. Fast die Hälfte aller Banken wurde geschlossen, weitere wurden so saniert, dass der Sektor keine umfangreiche Eventualverbindlichkeit mehr für die öffentlichen Finanzen darstellt. Ebenso

durchlief die ukrainische Nationalbank bemerkenswerte interne Reformen, mit dem Ergebnis, dass die Zentralbank jetzt Währungs- und Wechselkurspolitik steuern sowie den Bankensektor

regulieren und überwachen kann. Angesichts der gestiegenen makroökonomischen und finanziellen Resilienz des Landes besteht die nächste Herausforderung darin, die wirtschaftlichen

Rahmenbedingungen zu verbessern, das volle Potenzial des Grundstücksmarkts zu erschließen und Investitionen zu fördern, um das sosehr erhoffte Wirtschaftswachstum zu realisieren.

Demokratisierung und Staatsführung

Begonnen hat man auch mit der Reform des überzentralisierten, exzessiv regulierten und dysfunktionalen Verwaltungssystems der Ukraine. In Kiew wurden schon eine Vielzahl von Rechtsvorschriften erlassen, von denen aber die meisten noch vollständig umzusetzen sind. Der Prozess der Dezentralisierung hat lokale Behörden mit maßgeblichen Befugnissen und

Besteuerungskompetenzen ausgestattet, doch die Reformen in den Bereichen der

konstitutionellen Gewaltenteilung, der Verwaltungskapazitäten (speziell öffentlicher Dienst) und der Medien haben erst begonnen. Die Etablierung robuster Schutzmaßnahmen und die

Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit durch eine Justizreform – als Grundlage für verantwortungsvolle Staatsführung – trifft auf starken Widerstand bei politischen und wirtschaftlichen Gruppen, die derzeit von ihrem privilegierten Zugang zur Macht profitieren.

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Der Präsident teilt seine Macht mit der Regierung, und beide sind auf die wechselhafte Unterstützung anderer politischer Parteien angewiesen. Die Agenda wird daher vielfach von populistischen Parteien bestimmt. Eigeninteressen sind tief verwurzelt. Dies führt zu einer

schädlichen institutionellen Rivalität und einer Korrumpierung des demokratischen Prozesses. Seit 2004 wurden für die Ukraine größtenteils freie und faire Wahlen dokumentiert. Durch die

Parlamentswahlen im Oktober 2014 wurde der Einfluss der Donbass-Elite erheblich geschwächt, weil viele reformfreudige neue Mitglieder ins Parlament einzogen. Der Widerstand, dem sie begegnen, zeugt einerseits vom Ausmaß der bereits vollzogenen Veränderungen, aber auch vom Ausmaß jener Herausforderungen, die es nach wie vor zu bewältigen gilt. Eine Wahlreform, die für die Schaffung ausgeglichenerer Machtverhältnisse entscheidend ist, wird erheblich verzögert.

Humankapital und Zivilgesellschaft

Die Euromaidan-Bewegung stärkte die ukrainischen Bürger und sorgte für die Konsolidierung einer nationalstaatlichen Identität rund um Gerechtigkeit, Verantwortung und Antikorruption. Das aggressive Vorgehen Russlands lieferte den Ukrainern ein starkes Motiv, sich zugunsten ihrer nationalen Unabhängigkeit zusammenzutun.

Die ukrainische Zivilgesellschaft kann stolz sein auf das, was sie bisher erreicht hat. Anders als nach der Orangen Revolution von 2004/2005 steckt die Gesellschaft nicht mehr in einer Post-Protest- Phase fest. Konzertierte Maßnahmen auf nationaler Ebene, Reformkräfte innerhalb der Regierung, ein Zuwachs an westlicher Unterstützung mit starker Konditionalität und ein episodisches

Machtvakuum nach dem Euromaidan haben es aktiven Bürgern ermöglicht, zum Wandel der Ukraine beizutragen. Ein bedeutender Betrag zur Demokratisierung durch die Zivilgesellschaft war die Integration nichtstaatlicher Vertrauensnetzwerke in die öffentliche Politik. Besonders

herausragend ist in diesem Zusammenhang die Begründung und Institutionalisierung von ProZorro, eines neuen digitalen Mechanismus für öffentliche Ausschreibungen. ProZorro hat insofern zu einer neuen Transparenznorm geführt, als Bürger den Staat jetzt für bestimmte Auftragsvergaben zur Verantwortung ziehen können.

Die Kanäle zivilgesellschaftlicher Organisationen sind unzureichend, um Bürgerbelange zu erfassen und an die Behörden zu übermitteln

Doch die dynamische Kraft der Zivilgesellschaft beruht weiterhin auf einer kleinen Gruppe von Aktivisten und professionellen zivilgesellschaftlichen Organisationen (civil society organizations, CSO). Während sich das „alte“, von Eigeninteressen bestimmte System weiter absichert, verringert eine mangelhafte Kommunikation und Kooperation zwischen organisierter Fürsprache und besorgten Bürgern den Reformdruck von unten. Die zunehmend erfolgreiche Mobilisierung populistischer und radikaler Gruppen signalisiert die Schwächen der Zivilgesellschaft und die daraus resultierende Frustration. Die derzeitigen Kanäle von CSOs reichen nicht dazu aus, Bürgerbelange zu erfassen und an die Behörden zu übermitteln. Vielmehr herrscht der Eindruck, dass CSOs von der Bevölkerung entkoppelt sind und daher Aktivitäten überwiegen, die eher im Interesse der Bürger stattfinden als mit ihnen.

Antikorruptionsreformen

In den vergangenen vier Jahren hat die Ukraine signifikante Fortschritte darin erzielt, die Grundvoraussetzungen zur Einschränkung extremer öffentlicher Korruption zu schaffen. Diese

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sind ist jedoch lediglich der Beginn eines langwierigen Prozesses, bei dem zwei zentrale Probleme in Angriff zu nehmen sind: zunächst eine fatalistische Resignation großer Teile der Bevölkerung gegenüber der vorherrschenden Korruption; außerdem eine Konzentration von Besitz und Einfluss, die bisher eine ordentliche Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit verhinderte. Diese Probleme gibt es gewiss nicht nur in der Ukraine, doch nach über 25 Jahren effektiver „State Capture“ sind sie für ukrainische Reformer eine ganz besondere Herausforderung.

Zu den bedeutendsten Reformerfolgen seit 2014 zählt die Beendigung russischer Gasverkäufe (zuvor das Epizentrum wirtschaftlicher Korruption), da diese die Möglichkeiten für

Korruptionspraktiken enorm begrenzt hat. Außerdem konnte mit der eingangs erwähnten Einführung eines digitalen Mechanismus für öffentliche Ausschreibungen mehr Transparenz im öffentlichen Sektor geschaffen werden. Einen weiteren Erfolg der Antikorruptionsreformer stellt nun das neue, detaillierte ukrainische Deklarationssystem auf elektronischer Basis dar, in dem führende Beamte all ihre Vermögenswerte offenlegen müssen.

Unvollständige Reformen drohen die Glaubwürdigkeit „neuer Kräfte“ zu erschüttern und sorgen bei Millionen von Ukrainern für Ernüchterung

Die neugeschaffenen Behörden zur Aufklärung und Verfolgung staatlicher Korruption auf hoher Ebene – das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und das Specialized Anti- Corruption Prosecutor‘s Office (SAPO) – müssen sich hingegen noch beweisen. Im Kampf gegen die Korruption stellen die längst überfälligen Justizreformen die Achillesferse des ukrainischen Staates dar.. Da die derzeitige Staatsführung weder die Unabhängigkeit der Justiz noch die der Exekutive wirklich begrüßt, ist es kaum verwunderlich, dass zwischen engagierten Reformern und jenen, die so viel wie möglich vom „alten“ System bewahren wollen, derzeit ein erbarmungsloser Kampf im Gange ist.

Empfehlungen

Verstärkung der Sicherheit

 Für den Westen muss das Ziel darin bestehen, zu gewährleisten, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität unbeeinflusst von den Wünschen und Absichten Russlands bewahren kann. Bei diesem gemeinsamen Unterfangen trägt die Ukraine die Hauptverantwortung und die Hauptlast. Erforderlich sind ein politischer Wille sowie

nachweisliche Fortschritte in der Aufrechterhaltung einer verantwortungsvollen Staatsführung durch zentrale sicherheitsstaatliche und politische Institutionen.

 Der Ukraine muss klar sein, dass interner Wandel Grundvoraussetzung sowohl für die nationale Sicherheit als auch für eine euro-atlantische Integration ist. Die Bildung eines effektiven, zuverlässigen und verantwortlichen Staates gehört zu den zentralen nationalen Interessen.

Sofern Strafverfolgungs-, Sicherheits- und Verteidigungsorgane nicht arbeitsfähig sind, bleibt das Land alarmierend anfällig für russische Propaganda, Infiltration, Sabotage und

Destabilisierung.

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 NATO und EU sollten Beratungsprogramme für Sicherheitssektor und

Strafverfolgungsbehörden ins Leben rufen, die den derzeitigen Maßnahmen der NATO im Verteidigungsbereich entsprechen.

 Es existiert kein Widerspruch zwischen Dialog und Verteidigung. Der Westen muss innerhalb und außerhalb des Normandie-Formats und des Minsk-Prozesses arbeiten, um den Konflikt zwischen Ukraine und Russland zu besänftigen und dadurch die Sicherheitslage für alle Europäer zu verbessern. Die Minsker Abkommen von 2014 und 2015, die als politische Lösung gedacht waren, sollten nicht aufgegeben werden, aber Stagnation darf kein Vorwand für die Aufweichung der Kernmaßnahmen sein: umfassender Waffenstillstand, Abzug aller ausländischen Truppen und schweren Waffen aus den besetzten Donbass-Gebieten sowie ungehinderter Zugang für OSZE-Beobachter. Die nachweisliche Umsetzung dieser Sicherheitskomponenten muss einer Implementierung des politischen Teils der Minsker Protokolle vorausgehen.

 Die Russland-Sanktionen des Westens sollten regelmäßig überarbeitet und bei Bedarf verschärft werden. Sie sollten so lange aufrechterhalten werden, so lange auch die illegale Annektierung der Krim und die damit verbundene Destabilisierung im Osten des Landes andauern. Die vollständige Wiederherstellung der international anerkannten Grenzen der Ukraine darf nämlich nicht in Frage gestellt werden.

Förderung der EU-Integration

 Die EU muss realistische Erwartungen bezüglich der zeitlichen Dimension der Reformen haben und langfristig eine starke Konditionalität aufrechterhalten, um echte – nicht unvollständige oder kosmetische – Reformen zu stimulieren. Die Ukraine muss anerkennen, dass eine Annäherung an die EU ohne politischen und wirtschaftlichen Wandel nicht möglich ist.

 Die Unterstützergruppe der EU für die Ukraine (SGUA) hat sich als besonders erfolgreiche Innovation der Ukrainepolitik erwiesen, denn sie gleicht die Nachfrage nach Expertise mit ihrem Angebot ab. Die EU sollte daher bei der Planung ihrer Unterstützung für die Ukraine besonders auf diesen maßgeschneiderten und agilen Mechanismus setzen.

 Die Unterstützung der EU sollte sich wegbewegen von klassischen, formalisierten Hilfsprojekten mit geringer Wirksamkeit, hin zu flexibleren, längerfristigen Programmen von mindestens vier- bis fünfjähriger Dauer. Die EU sollte erwägen, einige der Instrumente einzusetzen, die in Rumänien erfolgreich zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Justizreformen bereitgestellt wurden (und sollte aus der Erfolglosigkeit in Bulgarien Lehren ziehen).

 Hilfestellung für ukrainische Unternehmen, vor allem kleine und mittlere, ist erforderlich, damit diese dem Wettbewerbsdruck im Anschluss an die DCFTA-Übergangsfristen standhalten

können. Hier besteht nach wie vor eine Lücke in der Ukraine-Strategie der EU (insbesondere auf regionaler Ebene).

Ankurbelung wirtschaftlicher und politischer Reform

 Eine Landreform, die einen funktionierenden Markt für Grund und Boden ermöglicht, ist weiters dringend erforderlich, damit der große, aber wenig produktive ukrainische Agrarsektor als Motor für längerfristiges Wirtschaftswachstum fungieren kann. Vieles weist darauf hin, dass

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die ukrainische Regierung ein Moratorium für Grundstücksverkäufe bis Ende 2017 teilweise aufheben wird.

 Auch eine Reform der über 3.000 ukrainischen Unternehmen in Staatsbesitz, bei der drei Bereiche im Vordergrund stehen sollten, ist unerlässlich: Verbesserung der

Unternehmensführung bei strategischen Organisationen, die wahrscheinlich in Staatsbesitz verbleiben; Privatisierung der Unternehmen und Anlagen, für die ein Markt vorhanden ist;

Schließung aller restlichen Unternehmen. Diese Reform sollte auch den Verkauf der über 10 Millionen Hektar Agrarland beinhalten, die sich derzeit in Staatsbesitz befinden und demzufolge große Geldsummen für den Staatshaushalt bedeuten könnten.

 Die Zivilgesellschaft und die internationale Staatengemeinschaft sollten Wahlreform und institutioneller Reform ebenso viel Gewicht verleihen wie Antikorruptionsmaßnahmen, um so mit dem „alten“ System zu brechen und einer neuen Generation von Reformern die Gestaltung von Politik und Gesetzen zu ermöglichen. Ein Ausbau des institutionellen Austauschs zwischen Organen der ukrainischen Regierung und Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten würde bewährte Verfahren in der Verwaltung und eine bessere Formulierung und Umsetzung von Politik

begünstigen.

 Die Förderung des öffentlichen Vertrauens ist entscheidend. Die Verantwortung hierfür obliegt vor allem der politischen Klasse in der Ukraine, die die Bevölkerung sowie Freunde und Partner davon überzeugen muss, dass echter politischer Wille für eine Reform des korrupten politischen Systems vorhanden ist. Die Zivilgesellschaft kann dabei „von oben“ helfen, indem sie sich mit den Reformern in Legislative und Exekutive verbündet. Ebenso muss die Zivilgesellschaft „von unten“ arbeiten, um zu gewährleisten, dass Bürger sich an der Staatsführung beteiligen und zivile Kontrolle ausüben können.

 Aktive Bürger könnten helfen, eine größere reformfreundliche politische Klasse zu etablieren.

Sofern ukrainische Politiker, Richter und Staatsbedienstete nicht akzeptieren, dass ihr System grundlegend geändert werden muss – durch Schaffung solider Institutionen, funktionierender Schutzmaßnahmen gegen Korruption und echter politischer und rechtlicher Verantwortung –, werden sich alte Gewohnheiten fortsetzen und dadurch Überdruss bei westlichen Partnern entstehen, während Russland weiterhin dazu in der Lage sein wird, die territoriale Integrität, politische Klasse sowie rechtsstaatlichen Strukturen der Ukraine zu untergraben.

 Westliche Geldgeber sollten Fördermittel an eine breitere Beteiligung der Bevölkerung koppeln indem sie Projekte zum Aufbau bürgerlicher Unterstützungsnetzwerke finanzieren. Sie sollten handelsorientierten Aktivismus fördern, nicht konfliktschürende Rebellion. Der Ausbau von Wohnungsgesellschaften, Bauernverbänden, Kreditgenossenschaften, Lehrervereinigungen und Unternehmerverbänden würde die Dezentralisierung politischer Macht effektiver gestalten und die lokalen Behörden zu mehr Rechenschaft verpflichten.

 Mittels internationaler Entwicklungshilfe müssen westliche Partner ukrainische NGOs und sich formende politische Parteien sowie Universitäten und Managementschulen bei der Schaffung einer neuen politischen Klasse unterstützen.

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 Westliche Länder müssen weiter auf Justizreformen und die Strafverfolgung hochrangiger Beamter, die ihr Amt missbraucht haben, drängen. Es muss kontinuierlicher Druck herrschen, damit Nulltoleranz auf allen Ebenen erreicht werden kann. Die Einrichtung eines speziellen erstinstanzlichen Gerichts bzw. einer unabhängigen Kammer ist für weitere Fortschritte im Kampf gegen Korruption und in der Entwicklung einer neuen Rechtskultur entscheidend.

Ähnlich unabhängig muss das Rechtsbehelfssystem sein. In dieser Hinsicht ist die Etablierung einer tatsächlich unabhängigen Justiz der ultimative Lithmustest für die ukrainischen Reformer.

 Um die Dynamik der Antikorruptionsmaßnahmen aufrechtzuerhalten, muss die Regierung die Privatisierung staatlicher Unternehmen durch die Nutzung transparenter

Ausschreibungsverfahren beschleunigen. Weitere Deregulierung wäre notwendig, damit Beamte weniger Möglichkeiten haben, Unternehmen direkt zu erpressen.

 Ukrainische Antikorruptionsreformer müssen ihre Errungenschaften an die Gesellschaft kommunizieren und das Narrativ bekämpfen, dass sich seit 2014 „nichts verändert“ habe. Zwar wurden tatsächlich viele Vehikel und Wege für Korruption beschnitten, aber die Öffentlichkeit in der Regel kaum darüber informiert.

Fortschritt ist in der Ukraine an vielen Fronten deutlich zu erkennen, doch er ist in Gefahr.

Unvollständige Reformen drohen die Glaubwürdigkeit „neuer Kräfte“ zu erschüttern und sorgen bei Millionen von Ukrainern für Ernüchterung. Das könnte revanchistischen und populistischen Kräften die Möglichkeit eröffnen, die Transformationsagenda der Ukraine an sich zu reißen. Die Umsetzung der angeführten Empfehlungen würde den Weg für eine offenere und effizientere Verwaltung bahnen und die Ukraine in vielerlei Hinsicht resilienter machen.

Eine „wohlwollende Vernachlässigung“ durch den Westen oder, schlimmer noch, ein Entgegenkommen gegenüber Russland auf Kosten der Ukraine würde das Land ernsthaft

destabilisieren, denn es ist höchst fragil und anfällig. Die in diesem Bericht vorgebrachten Belege verdeutlichen die zweifache existenzielle Bedrohung, der die Ukraine ausgesetzt ist. Zugleich liefern sie stichhaltige Argumente für eine intensivere Unterstützung seitens des Westens, trotz – oder vielleicht sogar wegen – Europas unzähligen anderen Problemen. Politische Entscheidungsträger haben weniger Kapazitäten, um Zeit und Mühe in die Ukraine zu investieren, doch der Westen kann sich keine weitere Niederlage leisten. Wladimir Putins Auftreten und erklärten Ziele geben kein Anzeichen auf einen Kurswechsel. Gleiches sollte für ein gezieltes Vorgehen des Westens gelten. Es ist noch nichts entschieden; die Ukraine steht nach wie vor in jeder Hinsicht „auf der Kippe“.

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