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Der Vampir als Volksfeind. Friedrich Wilhelm Murnaus "Nosferatu": ein Beitrag zur politischen Ikonografie der Weimarer Zeit

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Jürgen Müller

Der Vampir als Volksfeind

Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu": ein Beitrag zur politischen Ikonogra- fie der Weimarer Zeit

Für Marc Dubowy

Friedrich Wilhelm Murnaus berühmtestes Werk

„Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens" aus den Jahren 1921/22 ist nicht nur ein Vampirfilm, son­

dern vor allem die Geschichte einer Verschwörung, der ein unschuldiges Liebespaar und eine kleine deutsche Hafenstadt zum Opfer fallen.

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Trotz der Bedenken seiner Frau läßt sich der junge Ange­

stellte Hutter von seinem dubiosen Chef, dem Häu­

sermakler Knock, zu einer Geschäftsreise überre­

den, welche die Pest in seine Heimatstadt bringen und seiner Ehefrau Ellen das Leben kosten wird.

Loyal und dienstbeflissen folgt der gutgläubige, junge Mann dem Auftrag seines Chefs, dem Grafen Orlok ein Haus zu verkaufen, und reist deshalb nach Transsylvanien, einem bösen Schicksal entge­

gen. Auf dem Schloß des Grafen schließt er mit ihm einen Vertrag über den Kauf eines Hauses ab, der es diesem ermöglicht, in das Städtchen Wis- borg zu kommen.

Als der zunächst zögernde Graf während der Verhandlungen mit Hutter zufällig ein Medaillon von dessen Ehefrau Ellen erblickt, ist er sofort be­

reit, den Vertrag zu unterzeichnen. Hiermit hat der junge Mann gleichermaßen seine Frau wie auch seine Heimatstadt dem Untergang geweiht. Schon bald macht sich der Vampir auf den Weg in den Norden. In Särgen mit pestverseuchter Erde reist Nosferatu mit dem Schiff nach Wisborg, wo unmit­

telbar nach seiner Ankunft die Pest ausbricht.

Schon die Überfahrt zeigt die Gefährlichkeit dieses Wesens auf. Ein Seemann nach dem anderen er­

krankt, bis schließlich der Kapitän als letzter übrig­

bleibt und sich am Ruder des Schiffes festbindet, wo auch ihn der Tod ereilt.

Der Zuschauer erkennt, daß Hutter dies alles nicht hat ahnen können. Deshalb trifft ihn keine Schuld. Weil er zu vertrauensselig war, vollzieht sich das Unglück mit unausweichlicher Mechanik.

In dieser unschuldig-schuldhaften Verstrickung be­

steht Hutters eigentliche Tragik. Hutters Unglück nach dem Tode seiner Frau Ellen ist die notwendi­

ge Konsequenz seines Leichtsinns, der vielen Be­

wohnern seiner Heimatstadt das Leben kostet.

Auch wenn am Ende des Films das Monstrum durch das freiwillige Opfer der jungen Frau zur Strecke gebracht wird, stellt dies alles andere als einen versöhnlichen Schluß dar.

In einer langen Einstellung sehen wir Hutter über seine tote Frau gebeugt. Murnau hat es ver­

mieden, die Tränen und das Unglück des Mannes direkt zu zeigen. Wir sehen lediglich das Bett mit der Toten und den trauernden Ehemann durch den Rahmen einer offenen Tür hindurch. Vor dem Schlafzimmer steht der mit Hutter befreundete Pro­

fessor Bulwer, dessen niedergeschlagene Miene das Unglück zu kommentieren scheint. Wenn Bul­

wer nun für einen Moment in Richtung Zuschauer blickt, wird der fiktionale Charakter des Werkes ei­

nen Augenblick lang durchbrochen und die Ein­

stellung zu einer Mahnung stilisiert, die dem Zu­

schauer die Rolle des Überlebenden zuweist: Seht

her, wohin das alles geführt hat! Mit einem Bild

des zerstörten Schlosses des Grafen Orlok in

Transsylvanien schließt der Film, ein deutlicher

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Originalveröffentlichung in: Fotogeschichte, 19 (1999), H. 72, S. 39-58

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Hinweis auf den Sieg über das Böse. Doch zu teuer

ist dieser Sieg erkauft worden.

Dies ist mit wenigen Worten der Inhalt von Mur- naus Vampir-Film.

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„Nosferatu"' gliedert sich in fünf Akte, denen im wesentlichen folgende Hand­

lungseinheiten zuzuordnen sind: Schilderung von Hutters Leben in Wisborg, Reise zum Schloß, Auf­

enthalt im Schloß des Grafen Orlok, Orloks Über­

fahrt nach Wisborg und Hutters Flucht in die Hei­

mat, schließlich Ankunft der beiden in Wisborg, Ausbruch der Pest und Kampf mit Nosferatu. Auch wenn diese Beschreibung eine geradezu lehrbuch­

hafte Klarheit verspricht und die Geschichte sich wie eine Moritat über die Verführbarkeit der Ju­

gend anhört, weist Murnaus Film eine komplizierte Bildsprache auf. Vielfach werden Vorbilder aus der Malerei genutzt, die immer wieder den Ehrgeiz der Interpreten geweckt haben.'

Dies beginnt mit Siegfried Kracauer, der eine politische Bedeutung des Films „Nosferatu" be­

hauptet hat, sieht er doch in der Gestalt des Vam­

pirs eine Antizipation Hitlers.

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Aber Kracauer überprüft seine Einschätzung nicht in einer genau­

en Analyse des Films, sondern sieht in der ver­

meintlichen Vorliebe des deutschen Kinos der Wei­

marer Zeit für autoritäre Gestalten allgemein den Zeitgeist der 20er Jahre zum Ausdruck gebracht.

Zu Recht ist dieses Vorgehen kritisiert worden.

Nicht zuletzt, weil Kracauer den deutschen Filmen der Weimarer Zeit pauschal einen protofaschisti- schen Zeitgeist unterstellt, der dann als Folie für al­

le weiteren Einschätzungen und Urteile genutzt wird. Diesem in höchstem Maße deduktiven Vorge­

hen entsprechen gleichermaßen eine selektive Wahrnehmung wie eine tendenziöse Darstellung der von ihm behandelten Filme. Um es mit den Worten von Klaus Kreimeier zu sagen, Von Caliga-

ri zu Hitler ist keine Untersuchung, sondern eine

Abrechnung mit der Weimarer Zeit.

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Im Gegensatz dazu steht Lotte Eisners Deutung, die den Film als einen ästhetischen Meilenstein der Filmgeschichte erachtet und seine malerischen Qualitäten und ro­

mantisch-poetischen Bildfindungen besonders her­

vorhebt.

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Eisners Murnau-Bild, das den Regisseur zum Film-Poeten verklärt, hat die nachfolgende Forschung wahrscheinlich am nachhaltigsten ge­

prägt.

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Die letzte zusammenhängende Interpreta­

tion verdanken wir Luciano Berriatüa, der den Film als Ausdruck der okkulten und esoterischen Vorlie­

ben von Albin Grau, dem künstlerischen Direktor des Films, interpretiert.

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Aber so überzeugend es

dem Autor auch gelingt, Graus okkulte Interessen plausibel zu machen, so kritisch muß dieses Vorge­

hen in methodischer Hinsicht doch beurteilt wer­

den. Denn welcher Zuschauer hätte über das esote­

rische Fachwissen paracelsischer Konzepte oder hermetischer Traktate verfügt?

Im Anschluß an die genannten Autoren lassen sich alle bisherigen Interpretationsversuche in ei­

nen politischen und einen ästhetischen Ansatz un­

terteilen. Mit dieser Klassifizierung sind zugleich die Gefahren für den Interpreten benannt, sich ent­

weder bloß in formalästhetischen Bemerkungen zu ergehen oder den Film zum Ausdruck eines schon im vorhinein feststehenden Zeitgeistes zu deklarie­

ren.

Murnaus „Nosferatu" und Brom Stoker's Dracula

Um die politische Ikonografie des Films überhaupt angemessen beurteilen zu können, muß man die Veränderungen näher betrachten, die der Film ge­

genüber der Romanvorlage Dracula von Bram Sto- ker vornimmt.

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Diese seien in aller Kürze benannt benannt. Im Text des englischen Autors ist weder von der Pest die Rede, noch muß die Frau des jun­

gen Angestellten Jonathan Harker, der dem Dreh­

buchautor Galeen als Modell für Hutter diente, sterben. Im Gegenteil kann Mina durch die verein­

ten Anstrengungen aller Helden im Roman gerettet werden. Auch das Motiv der Verschwörung spielt in Stokers Dracula keine Rolle. Hier ist der Vampir äußerst gerissen und handelt allein.

Darüber hinaus muß der Film, um das Motiv der Verschwörung etablieren zu können, zwei Roman­

figuren zusammenfallen lassen, die unterschiedli­

cher nicht sein könnten. Herr Hawkins, der Arbeit­

geber Hawkers, ist bei Stoker kein dubioser Ge­

schäftsmann wie Hutters Chef Knock, sondern ver­

hält sich wie ein treusorgender Vater zu dem jun­

gen Paar, wenn er diesem nach seinem Tod sein ganzes Erbe vermacht. Über diese ebenso un­

scheinbare wie gutmütige Romanfigur Stokers legt der Film eine zweite Figur, nämlich den Irren Ren- field, der sich im Dract(/«-Roman von Anfang an in einer Anstalt befunden hat, und mit dem wir durch die Aufzeichnungen des Arztes Dr. John Se- ward vertraut gemacht werden. Um größere Unmit­

telbarkeit zu erreichen, beginnt der Roman ohne

weitere Einleitung mit der Reise Hawkers nach

Transsylvanien, im Film jedoch ist diese Reise die

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Folge der geheimnisvollen Kommunikation zwi­

schen Knock und Nosferatu.

Schließlich fällt in Murnaus „Nosferatu" die my­

thische Überhöhung von Ellens Tod auf. Der Kon­

flikt kann nicht mehr rational bewältigt, sondern muß durch ein Opfer gesühnt werden. Stokers Hel­

den hingegen zeichnen sich durch Kombinationsfä­

higkeit aus, gerade ihre Logik und Wissenschaft­

lichkeit bringen den Vampir zur Strecke. Während der englische Autor einen psychologisierenden Ro­

man verfaßt hat, der zum Großteil aus Briefen be­

steht, entscheidet sich der Film für eine tragödien- hafte Struktur. Gleichermaßen finden sich Peripetie und Anagnorisis des Helden, der seinen Leichtsinn erkennen muß. Denn alle jugendliche Unbe­

schwertheit ist dahin, als er bei seinem Gang in die Gruft des Grafen Orlok dessen vampirische Natur entdeckt hat. Unter Einsatz seines Lebens versucht er nun, vor Nosferatu Wisborg zu erreichen, um El­

len zu retten.

Die einfachste Erklärung der Unterschiede zwi­

schen Roman und Film besteht darin zu behaupten, daß die filmische Umsetzung es erfordert, den um­

fangreichen Roman zu schematisieren, um ihn überhaupt darstellbar werden zu lassen. Aber war­

um wird die Handlung aus dem menschenüberfüll- ten London in eine norddeutsche Hafenstadt über­

setzt? In aller Ausführlichkeit inszeniert der Film das Klischee altdeutscher Gemütlichkeit, was gera­

de in der biedermeierlichen Zeichnung der Neben­

figuren seinen deutlichsten Ausdruck findet. Au­

ßerdem stellt sich die Frage, warum die Vampirge­

schichte mit der Ausbreitung der Pest in Verbin­

dung gebracht wird. Mehrfach werden unmittelbar nach dem Erscheinen Nosferatus Ratten gezeigt und sein Gesicht erscheint diesem Tier sogar phy- siognomisch angeglichen. Auf diese Weise wird der Vampir zu einem Sinnbild der Pest stilisiert, seine Gegenwart ist gleichbedeutend mit der Prä­

senz von Krankheit. Dies hat erhebliche Konse­

quenzen für die Natur des Monstrums, denn Nosfe­

ratu ist kein gewöhnlicher Vampir mehr, vielmehr bringt sein Unwesen einer ganzen Stadt, ja ganzen Völkern Unglück und Verderben. Dies wird in ei­

ner als Zwischentitel eingeblendeten Zeitungsmel­

dung deutlich, in der es heißt, daß auf dem Balkan und am schwarzen Meer eine Pestepidemie ausge­

brochen sei.

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Wenn im folgenden eine neue Interpretation von Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu" versucht wird, so ist dieser Versuch nicht die Konsequenz

eines neuen Quellenfundes, sondern eines anderen methodischen Zugriffs. Die vorbildlichen Untersu­

chungen von Eisner, Bouvier und Leutrat und schließlich von Berriatüa haben das relevante Ma­

terial vollständig publiziert." Auf die Ergebnisse und Beobachtungen dieser Autoren stützen sich meine Überlegungen. Aber man gelangt zu anderen Hypothesen über die Ikonografie von Murnaus Vampirfilm, wenn man zum einen stärker die Wer­

bestrategie beachtet, die für den Betrachter in den 20er Jahren einen bestimmten Erwartungshorizont erzeugt hat. Zum anderen erlaubt der konsequente Vergleich des Films mit dem Drehbuch, das sich heute im Besitz der Cinematheque in Paris befin­

det, die ursprünglichen Intentionen des Nosferatu- Projekts zu rekonstruieren.

Im Unterschied zu den genannten Interpreten glaube ich, daß es sich bei „Nosferatu" um einen Film handelt, der auf bestimmte politische Fragen und Debatten der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg reagiert. In der Verschwörung, der das junge deutsche Paar und seine Heimatstadt zum Opfer fallen, spiegeln sich Ängste der frühen Wei­

marer Zeit. So spielt der Film zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kommentiert aber in Wirklichkeit die politische Gegenwart der begin­

nenden 20er Jahre.

Albin Graus Werbekampagne zu Murnaus „Nosfe­

ratu "

Bestimmt man die Plakate und Werbetexte zu

„Nosferatu" mit Gerard Genette als Teile eines Pa- ratextes, so kommt ihnen die Funktion zu. Krite­

rien für die immanente Lektüre des Films zu lie­

fern.

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Geht man also davon aus, daß der Inhalt von „Nosferatu" nicht ein für allemal feststeht, sondern durch Peri- und Epitexte perspektiviert und vorstrukturiert wird, stellt sich die Frage, wie sich diese Erwartungen genauer bestimmen las- sen.

Schon der Titel „Nosferatu" stellt einen Peritext dar, ist er doch eine Verfremdung, die den Inhalt des Films stärker verunklärt als greifbar macht. Die Titel „Dracula" oder „Vampir" wären für den Kino­

zuschauer weit weniger rätselhaft gewesen. Mehr noch, man hätte den Film ausschließlich als Illu­

stration von Bram Stokers Vampirroman verstehen müssen. Aber mit der Unbestimmtheit des rumäni­

schen Wortes Nosferatu, das wörtlich der „Untote"

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bedeutet, arbeitet d i e W e r b e k a m p a g n e v o n A l b i n G r a u , u m durch d i e s e n u n b e k a n n t e n N a m e n ein G e h e i m n i s z u inszenieren. S o k o m m t d e m Titel

„ N o s f e r a t u " zunächst die F u n k t i o n zu, e i n e n Inter­

pretationsspielraum zu e r ö f f n e n . D e n n erst dieser u n g e w ö h n l i c h e N a m e erlaubt, n a c h einer übertra­

genen B e d e u t u n g der Vampirgestalt zu fragen. D e r R e z i p i e n t w i r d a l s o aufgefordert, nach einer a l l e g o ­ rischen D i m e n s i o n zu suchen.

Ä h n l i c h e s gilt für d i e W e r b e t e x t e , d i e w i r A l b i n G r a u , d e m künstlerischen D i r e k t o r des F i l m s ver­

d a n k e n . In der N u m m e r 21 der Zeitschrift Bühne und Film aus d e m J a h r e 1921 findet sich e i n e g e ­ h e i m n i s v o l l e A n k ü n d i g u n g , die neben e i n i g e n F o ­ tos f o l g e n d e n T e x t enthält: „ H u n d e r t t a u s e n d G e ­ d a n k e n z u c k e n in i h n e n , w e n n S i e es hören: N o s f e ­ ratu! N O S F E R A T U stirbt nicht. M e n s c h e n m ü s s e n sterben. A b e r die S a g e berichtet v o n e i n e m V a m ­ pir: N o s f e r a t u , der U n t o t e , lebt v o m B l u t e der M e n ­ schen. - E i n e S y m p h o n i e des G r a u e n s w o l l e n S i e s e h e n ? Sie dürfen m e h r erwarten. Seien S i e v o r ­ sichtig. Nosferatu ist kein S c h e r z , über d e n m a n banale B e m e r k u n g e n macht. N o c h m a l s : H ü t e n S i e sich."1 4 D i e s e r k u r z e T e x t m a c h t die U n b e s t i m m t ­ heit des W o r t e s N o s f e r a t u selbst z u m T h e m a , w e n n es heißt, daß e i n e m z e h n t a u s e n d G e d a n k e n d u r c h den K o p f g i n g e n , w e n n m a n den N a m e n „ N o s f e r a ­ t u " hört.

D e r A n k ü n d i g u n g folgt eine E r z ä h l u n g G r a u s mit d e m Titel „ V a m p i r e " . H i e r berichtet der A u t o r , daß er im K r i e g s w i n t e r 1916 e i n e m E n t l a u s u n g s ­ k o m m a n d o zugeteilt u n d bei e i n e m alten serbi­

schen B a u e r einquartiert war, der i h m eines N a c h t s eine schauerliche G e s c h i c h t e erzählt habe. D i e s e r berichtet, daß sein Vater ein sogenanter U n t o t e r ( N o s f e r a t u ) g e w e s e n sei, w o f ü r er z u m B e w e i s ein a m t l i c h e s D o k u m e n t vorzeigt, in d e m v o n der E x ­ h u m i e r u n g eines M a n n e s die R e d e war, d e n m a n o h n e j e d e s A n z e i c h e n v o n V e r w e s u n g a u s d e m G r a b geholt habe. N a c h d e m es in d e m D o r f e i n e R e i h e m y s t e r i ö s e r T o d e s f ä l l e gegeben habe, sei der Sarg g e ö f f n e t w o r d e n , und m a n habe entdeckt, daß dieser U n t o t e aus d e m M u n d h e r a u s w a c h s e n d e Z ä h n e besaß. G r a u erzählt seine G e s c h i c h t e in der M a n i e r einer w i r k l i c h e n S c h a u e r g e s c h i c h t e : Es ist Mitternacht, draußen p f e i f t ein S c h n e e s t u r m u n d die Schatten in der S t u b e w e r d e n b e d r o h l i c h lang.

A m E n d e seines T e x t e s greift der künstlerische D i r e k t o r der P r o d u k t i o n s g e s e l l s c h a f t „ P r a n a " d e m F i l m vor, w e n n er schreibt, daß d i e M ä c h t e d e s F i n ­ steren versuchen w ü r d e n , d e n M e n s c h e n v o m rech­

ten W e g a b z u b r i n g e n , u m ihn i m m e r weiter ins R e i c h des A n i m a l i s c h e n h i n a b z u z i e h e n . D i e F e i n ­ d e d e s L i c h t e s u n d des G u t e n w ü r d e n die M e n ­ s c h e n in der N a c h t v e r f o l g e n , tagsüber j e d o c h ihre M a c h t verlieren. N u r ein reines und j u n g f r ä u l i c h e s W e s e n k ö n n e d i e M ä c h t e des B ö s e n ü b e r w i n d e n . D e r letzte T e i l der E r z ä h l u n g wird mit d e m H i n ­ w e i s eingeleitet, daß der A u t o r in Prag, der Stadt der j ü d i s c h e n L e g e n d e v o m G o l e m , einen alten K a ­ m e r a d e n getroffen habe, der in j e n e r u n h e i m l i c h e n N a c h t d a b e i g e w e s e n sei.

W a r u m erzählt G r a u d i e s e abstruse G e s c h i c h t e , d i e m i t f o l g e n d e n W o r t e n beginnt: „ E s w a r i m W i n t e r des K r i e g s j a h r e s 1916 in Serbien. Ich w a r m i t v i e r anderen L e i d e n s g e f ä h r t e n e i n e m ' E n t l a u ­ s u n g s k o m m a n d o ' ( V e r z e i h u n g , m e i n e s c h ö n e n L e ­ s e r i n n e n ! ) zugeteilt. W i r sollten einer b e g i n n e n d e n F l e c k t y p h u s e p i d e m i e das W a s s e r abgraben, w e n n m a n s o sagen darf. D a s w a r i m G r u n d e g a n z e i n ­ f a c h . - M i t vier H a a r s c h n e i d e m a s c h i n e n gröbsten K a l i b e r s ausgerüstet, rückten w i r den langen H a a ­ ren der E i n w o h n e r a u f d i e Pelle, w a s m e i s t e n s nicht o h n e K a m p f a b g i n g - aber das nur n e b e n ­ b e i . "1 5

D e r T e x t beginnt g e r a d e z u j o v i a l . G r a u nutzt b e ­ w u ß t F l o s k e l n aus der U m g a n g s s p r a c h e , u m seiner E r z ä h l u n g e i n e größere U n m i t t e l b a r k e i t und G l a u b w ü r d i g k e i t zu verleihen. W i c h t i g ist die zeit­

historische V e r k l a m m e r u n g , die der A u t o r für s e i ­ n e n T e x t g e w ä h l t hat, in der die G e g e n w a r t und d i e unmittelbare V e r g a n g e n h e i t m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t w e r d e n .

A u c h die P l a k a t e haben d e m K i n o b e s u c h e r eine A h n u n g v o n der g e h e i m n i s v o l l e n N a t u r des M o n ­ strums vermittelt, o h n e i h n j e d o c h ü b e r dessen w a h r e Identität a u f z u k l ä r e n . G a n z so als w ü r d e m a n ein G e r ü c h t in U m l a u f bringen, dessen Ü b e r ­ p r ü f u n g nur i m K i n o s a a l m ö g l i c h ist.

Embleme des Schreckens

O b w o h l A l b i n G r a u a u f s e i n e m Plakat ( A b b . 1) für den F i l m „ N o s f e r a t u " nur f ü n f Ratten dargestellt hat, ist es i h m t r o t z d e m g e l u n g e n , d e m Betrachter eine A h n u n g v o n der V i e l z a h l dieser T i e r e z u v e r ­ mitteln. S c h o n d i e beiden Ratten, die v o m unteren B i l d r a n d abgeschnitten w e r d e n , m a c h e n deutlich, daß n o c h weitere E x e m p l a r e unterwegs sind, d i e alsbald ins B i l d springen w e r d e n . A b e r vor a l l e m d a d u r c h , daß d i e N a g e r e i n e m i m a g i n ä r e n K r e i s

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Abb. 1 A l b i n Grau: Kinoplakat zu

„Nosferatu", 1921 (aus: Luciano Berriatüa, Los Proverbios Chinos de F. W. Murnau, 2 Bde., Madrid 1990, Bd. 1. A b b . 307).

eingeschrieben sind, auf dem sich weitere Tiere be­

finden, wird deutlich, daß wir zwar nur eine be­

grenzte Anzahl von Wanderratten sehen, es in Wirklichkeit jedoch eine unendliche Menge ist, die sich um die Welt bewegt. In ihrer heimatlosen Wanderschaft umkreisen diese Tiere die Erde.

Schließlich verstärkt die Gestaltung des Wortes

„NOSFERATU" die Suggestion der Bewegung:

Die Buchstaben werden einer ansteigenden Linie eingeschrieben, die links unten beginnt und in der rechten oberen Bildecke endet. Eindringlich wird dieser Eindruck durch die Verwischungen unter­

stützt, die von den Buchstaben ausgehen und Ge­

schwindigkeit suggerieren. Wie ein eisiger Sturm­

wind weht uns diese Erscheinung entgegen.

Darüber hinaus ist die Darstellung des Mon­

strums von ausgesprochener Dynamik. Machtig greifen seine Beine aus und schreiten mit Riesen­

schritten vorwärts. Außerdem ist sein Oberkörper weit vornüber gebeugt, um Hast und Schnelligkeit der Bewegung zu betonen. Die Tatsache, daß uns dieses Wesen direkt anblickt, erweckt den Ein­

druck, als ob es einen Moment innehalten würde.

Dieser Eindruck wird durch die Haltung der Arme unterstützt, die auf eine solche Weise verschränkt sind, als hätte die Figur ihr hastiges Rennen unter­

brochen, um mit ihren insektenartigen Greifarmen gleich zuzuschnappen. Doch dieser erzwungene Stillstand macht die Figur nur noch unheimlicher, denn es ist, als würde sie im nächsten Moment los­

schlagen. Dramaturgie und Inszenierung des Bildes sind deutlich: Das Monstrum hat uns entdeckt und lauert auf den rechten Moment, um anzugreifen.

Jetzt werden wir uns der gefährlichen Krallen und der spitzen Zähne dieses Wesens bewußt, das uns mit starren Augen fixiert. Um die klandestine Identität des Vampirs zu betonen, hat Grau seiner Darstellung eine Mondsichel beigefügt, die sich unten rechts neben dem linken Bein des Mon­

strums befindet. Diese zeigt an, daß Nosferatu sein Unwesen in der Finsternis treibt. Offensichtlich ist es tätig, während die Menschen schlafen.

Um den Eindruck der Bedrohung zu steigern, ist für die Darstellung des Monstrums eine starke Un­

tersicht gewählt worden, welche die Räumlichkeit für den Betrachter in eine merkwürdige Spannung versetzt. Einerseits erscheint das Wesen zwar noch weit entfernt, andererseits könnte es uns mit seinen langen Beinen mit einem einzigen Schritt errei­

chen. In der Nacht überrascht uns dieses Mon­

strum; während wir schlafen, dringt es wie Ratten in unsere Häuser. Gegen diesen hinterhältigen Geg­

ner sind wir machtlos. Jeder kann zum nächsten Opfer der unheimlichen Gestalt werden.

Zweifelsohne ist dem Künstler ein eindringli­

ches Werk gelungen. Nicht zuletzt, weil er allen Realismus preisgibt und die Darstellung mit weni­

gen Elementen emblematisch zu verdichten weiß.

Lediglich die Wandenatten, das Monstrum und der Schriftzug „Nosferatu" sind dargestellt. Aber wie gehören alle diese Elemente zusammen? Der Asso­

ziationsspielraum, den die Darstellung in dieser Hinsicht eröffnet, ist sehr präzise. Nächtliche Infil­

tration. Unreinheit. Krankheit, Aggression des Monsters und damit einhergehend die Opferrolle, die dem Betrachter zugewiesen wird.

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Abb. 2 A i b i n Grau: Kinoplakat zu ..Nosferatu", 1921 (aus: Luciano Berriatüa, Los Proverbios Chinas de F.W.

Murnau. 2 Bde.. Madrid 1990, Bd. 1, A b b . 121).

Auch die anderen Plakate, die Grau für die Wer­

bekampagne gestaltet hat, stellen ähnlich eindring­

liche Formulierungen dar. Der monströse Charak­

ter des Vampirs kommt besonders gut in demjeni­

gen Plakat (Abb. 2) zum Ausdruck, für das der Künstler ein extremes Hochformat gewählt hat.

Nosferatu hat den rechten Arm nach oben gerissen und scheint jederzeit zum Angriff bereit. Die Auf­

wärtsbewegung wird durch den Schriftzug „NOS­

FERATU" betont, der in die rechte obere Bildecke des Plakats führt. Im Hintergrund erkennt man die Schemen von Gebäuden mit getreppten Häusergie­

beln, die eindeutig an eine typisch deutsche Archi­

tektur erinnern. Um den Eindruck der Schnelligkeit dieses Wesens zu steigern, werden sein rechtes Bein und sein linker Arm von den Bildgrenzen ab­

geschnitten. Wiederum wird der Eindruck der Be­

wegung durch die springenden Ratten unterstützt, die durchs Bild huschen. Stärker noch als im ersten Plakat nutzt Grau auch hier das formale Mittel der Fragmentierung.

Ein drittes Plakat (Abb. 3) schließlich bringt eine veränderte Konzeption zum Ausdruck. Ein Wesen, das eine Mischung aus Ratte und Fledermaus mit dem langen Rüssel eines Blutsaugers darstellt, steht auf übereinandergetürmten, offenen Särgen.

Diesmal ist es nicht so sehr eine direkte Bedro­

hung, die zum Ausdruck kommt, als vielmehr der Eindruck einer schleichenden Seuche, die mit die­

sem Monstrum einhergeht, so als würde eine an­

steckende Krankheit aus den Särgen aufsteigen und die Welt verpesten.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die bestimmende Schnittmenge zwischen den drei Pla­

katen in den Größen Aggressivität, Unreinheit, Krankheit, Tod, Ansteckung, Seuche, Infiltration und Klandestinität besteht. Wenn man bedenkt, daß mit diesen Bildern für einen Vampirfilm geworben wurde, ist es durchaus bemerkenswert, wie durch die Darstellung eines Monstrums aus einem Gru­

selroman hier kollektive Ängste beschworen wer­

den. Wichtig scheint mir auch die Tatsache, daß zu­

mindest in einem Plakat der Ort der Handlung mit einer typisch deutschen Stadt in Verbindung zu bringen ist.

Fragt man nach den Gemeinsamkeiten, die Pla­

kate, Werbetexte und die Erzählung von Albin Grau aufweisen, so muß man folgendes feststellen.

Einerseits enthalten alle Dokumente - jedes auf seine Weise - die Beschreibung eines Monstrums.

Andererseits können die Ratten im Plakat nur mit

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der z u B e g i n n der G e s c h i c h t e e r wä h n t e n T y p h u s - e p i d e m i e in Z u s a m m e n h a n g gebracht w e r d e n . D a r ­ ü b e r h i n a u s stellt die scheinbar en passant erzählte R a h m e n h a n d l u n g v o m E n t l a u s u n g s k o m m a n d o ei­

ne zeithistorische M a r k i e r u n g dar, die a u f den K r i e g in O s t e u r o p a verweist, w o es w ä h r e n d und nach d e m Ersten W e l t k r i e g verheerende T y p h u s ­ e p i d e m i e n gab.

A b s c h l i e ß e n d gilt es, nicht nur die Inhalte zu be­

tonen, die A l b i n G r a u in seiner W e r b e k a m p a g n e entfaltet hat, sondern auch festzuhalten, m i t w e l ­ cher M a s s i v i t ä t er dabei v o r g e g a n g e n ist. Z w e i h ö c h s t unterschiedliche T e x t e k ö n n e n dies deutlich m a c h e n . In der Nr. 21 der F i l m z e i t s c h r i f t Bühne und Film aus d e m J a h r e 1921 findet sich ein satiri­

scher T e x t m i t d e m Titel „ D e r e r o t i s c h - o k k u l t i ­ s t i s c h - s p i r i t i s t i s c h - m e t a p h y s i s c h e F i l m " v o n L . Fritz A l b r e c h t , in d e m beschrieben w i r d , w i e ein M a n n d u r c h B e r l i n geht u n d so viele Plakate des V a m p i r f i l m s sieht, daß er a m E n d e verrückt wird.1 6

Interessanter n o c h ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ein a n o n y m publizierter T e x t in der Leipziger Volkszeitung, a u f d e n ich später n o c h ausführlicher z u r ü c k k o m m e n w e r d e . Hier findet sich f o l g e n d e Charakterisierung der W e r b e k a m p a g n e : ,,Seit M o ­ naten w i r d eine R i e s e n k a m p a g n e für einen F i l m N o s f e r a t u entfaltet, m i t d e m die W e l t in der näch­

sten Z e i t beglückt w e r d e n soll. D u r c h B i l d e r in den illustrierten Zeitschriften und geschickt lancierte P r e s s e n o t i z e n w i r d i m m e r w i e d e r d a r a u f h i n g e w i e ­ sen, daß dieser F i l m einen b e s o n d e r s g e h e i m n i s ­ v o l l e n , s o z u s a g e n übersinnlichen Inhalt habe. S i ­ cher ist, daß die R e g i e nichts gespart hat, u m ihr W e r k s o ' g r u s e l i g ' als nur irgend m ö g l i c h zu m a ­ chen. D e n Pressevertretern w u r d e z . B . die A u f n a h ­ m e einer S z e n e gezeigt, in der ein Sarg und H u n ­ derte v o n Ratten d i e H a u p t s a c h e waren. U n d ein gespenstisches F a b e l w e s e n streckt v o n allen m ö g l i ­ chen R e k l a m e f l ä c h e n seine K r a l l e n nach den V o r ­ übergehenden a u s . " '7

Der Zuschauer als Historiker

In der s p e z i f i s c h e n E r z ä h l w e i s e des F i l m s findet die W e r b e k a m p a g n e A l b i n G r a u s ihre Fortsetzung, beginnt d o c h „ N o s f e r a t u " mit e i n e m Z w i s c h e n t i t e l , in d e m d i e Seiten einer a n o n y m e n P e s t c h r o n i k ge­

zeigt w e r d e n . Hier w i r d für den Z u s c h a u e r die Fra­

ge gestellt, w i e d i e Pest nach W i s b o r g h a b e k o m ­ m e n k ö n n e n .1 8 N o c h bevor die ersten F i l m b i l d e r

' Der neue Gro^film

der PRJ|HA-FILM G.m.b.H.

Abb. 3 A l b i n Grau: Kinoplakat zu „Nosferatu", 1921 (aus:

Luciano Berriatüa. Los Proverbios Chinas de F. W. Murnau. 2 Bde.. Madrid 1990. Bd. 1. A b b . 120).

gezeigt w e r d e n , lesen w i r die V e r m u t u n g des a n ­ o n y m e n A u t o r s , daß es m i t der Person Hutters z u tun haben könnte. D a r a u f h i n sieht m a n Hutter, der sich für seine j u n g e F r a u schön macht.

D i e Frage nach d e m Entstehen und d e m E n d e der Pest zu beantworten, w i r d d e m Z u s c h a u e r mit d e n ersten F i l m b i l d e r n abverlangt. D a m i t wird i h m die R o l l e eines Historikers z u g e w i e s e n , der alle S z e n e n des F i l m s in dieser H i n s i c h t zu befragen hat u n d die U r s a c h e n der Ereignisse erkennen soll.

M i t der E i n b l e n d u n g d e s T a g e b u c h s z u B e g i n n des F i l m s geht also die A u f f o r d e r u n g einher, hinter die O b e r f l ä c h e n der B i l d e r zu g e l a n g e n , u m deren w a h r e n Sachverhalt z u begreifen. A m B e g i n n des F i l m s steht s o z u s a g e n ein Imperativ: S c h a u e nicht nur auf die Bilder, sondern frage dich auch, w a s sie eigentlich bedeuten!

D i e A u f g a b e des Historikers w i r d d e m Z u s c h a u ­ er auch insofern z u g e w i e s e n , als w i r es i m L a u f e des F i l m s mit höchst unterschiedlichen Q u e l l e n t y - pen zu tun haben, deren Wahrheitsgehalt zu über-

4 5

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p rü f e n uns z u k o m m t .1 9 B r i e f e w e r d e n e b e n s o g e ­ zeigt w i e Z e i t u n g s b e r i c h t e , L o g b ü c h e r o d e r F r a c h t ­ briefe, sogar eine ö f f e n t l i c h e B e k a n n t m a c h u n g f i n ­ det sich unter den derart v e r k l e i d e t e n Z w i s c h e n t i ­ teln. D i e s e historisierende T e n d e n z findet ihren deutlichsten A u s d r u c k in den u n t e r s c h i e d l i c h e n S c h r i f t t y p e n der g e z e i g t e n D o k u m e n t e . Hutters B r i e f an E l l e n ist in Sütterlin verfaßt, e i n e Z e i - t u n g s m e l d u n g über d i e A u s b r e i t u n g der Pest nutzt Frakturschrift, das L o g b u c h ist in lateinischer Schrift g e s c h r i e b e n , f ü r die S c h r i f t des V a m p i r ­ b u c h s w i r d eine T y p e v e r w e n d e t , die m a n aus d e m

16. und 17. Jahrhundert kennt.

A b e r nicht nur d i e f o r m a l e Gestalt der D o k u ­ mente zeigt der F i l m vor, sondern auch die B e d i n ­ g u n g ihrer Entstehung. W e n n Hutter nach seiner er­

sten Nacht i m S c h l o ß e i n e n B r i e f an Ellen schreibt, verscheucht er e i n e M ü c k e und glaubt, in d i e s e m T i e r d i e E r k l ä r u n g für die W u n d e n an s e i n e m H a l s g e f u n d e n zu haben.2 0 W i r sehen also, unter w e l ­ chen U m s t ä n d e n ein D o k u m e n t entsteht u n d d a m i t auch, w a r u m sich in den B r i e f e n u n d D o k u m e n t e n Irrtümer b e f i n d e n . Huttens B r i e f w i r d später, als E l ­ len ihn erhält, n o c h e i n m a l g e z e i g t , u n d w i r verste­

hen, w a r u m auch seine j u n g e Frau z u einer F e h l ­ e i n s c h ä t z u n g der L a g e verleitet w i r d . I m m e r w i e ­ der w i r d uns die D i f f e r e n z z w i s c h e n D o k u m e n t e n und w a h r e m S a c h v e r h a l t vor A u g e n geführt.

D a s g l e i c h e gilt f ü r den F r a c h t b r i e f des S c h i f f e s , a u f d e m N o s f e r a t u gereist ist. H i e r i n w i r d die L a ­ d u n g , die sich in den Särgen befindet, als E r d e f ü r e x p e r i m e n t e l l e Z w e c k e deklariert. E i n e V e r k e n ­ n u n g der Tatsachen d o k u m e n t i e r t auch das L o g ­ buch des K a p i t ä n s . D i e s e r n i m m t den H i n w e i s des M a a t e s , daß ein u n b e k a n n t e r Passagier an B o r d sei, nicht ernst u n d schreibt d a r a u f h i n : „Dritter T a g : 14.

J u l i . M a a t redet irre. E i n u n b e k a n n t e r Passagier sei unter D e c k . K u r s : S O . W i n d r i c h t u n g N O . W i n d ­ stärke: 3,6. Z e h n t e r T a g : 22. J u l i . Ratten i m S c h i f f s b o d e n . Pestgefahr."2 1

W e n n der K a p i t ä n das g e n a u e D a t u m , die W i n d ­ richtung und W i n d s t ä r k e v e r z e i c h n e t , m u ß für d e n R e z i p i e n t e n der E i n d r u c k v o n g e w i s s e n h a f t e r O b ­ jektivität entstehen. D a ß er aber i m G e g e n s a t z z u d e m „irre redenden M a a t " die Situation falsch b e ­ urteilt, w i r d nur für den Z u s c h a u e r , nicht aber f ü r die M e n s c h e n in W i s b o r g d e u t l i c h , die nach der L e k t ü r e des L o g b u c h e s v o l l k o m m e n f a l s c h e M a ß ­ n a h m e n zur B e k ä m p f u n g der Pest ergreifen und sich d a m i t N o s f e r a t u ausliefern.

Der Konkurs der „Prana" und die Folgen

B o u v i e r und Leutrat haben in ihrer U n t e r s u c h u n g z u „ N o s f e r a t u " darauf h i n g e w i e s e n , daß G r a u m i t seiner W e r b e k a m p a g n e des G u t e n z u v i e l getan hat.

S c h o n bald stellte sich das d u b i o s e G e s c h ä f t s g e b a ­ ren der F i r m a heraus, d i e i m E r s c h e i n u n g s j a h r des F i l m s K o n k u r s a n m e l d e n mußte. In der Zeitschrift Lichtbild-Bühne aus d e m J a h r e 1922 finden sich A r ­ tikel, die a u f d i e unseriöse G e s c h ä f t s p r a x i s der

„ P r a n a " a u f m e r k s a m m a c h e n .2 2 M a n kann hier er­

fahren, daß die W e r b e k a m p a g n e m e h r gekostet h a ­ be als die g e s a m t e n P r o d u k t i o n s k o s t e n des F i l m s . W i e unseriös überdies die G e s c h ä f t s p r a x i s sei, k ö n ­ ne m a n auch daran erkennen, daß m a n sich nicht u m die R e c h t e des S t o f f e s g e k ü m m e r t habe, und die W i t w e Stokers nun k l a g e und den F i l m verbieten lassen w o l l e , da die R e c h t e des R o m a n s s c h o n in d i e Vereinigten Staaten verkauft w o r d e n seien.

D i e s e r A r t i k e l über die „ P r a n a " in der Lichtbild- Bühne b l i e b nicht o h n e F o l g e n , denn d i e R e d a k t i o n der g e n a n n t e n Z e i t s c h r i f t erhielt d a r a u f h i n eine Postkarte m i t a n t i s e m i t i s c h e n Parolen. D i e s läßt s i c h der M a i - N u m m e r einer anderen Z e i t s c h r i f t e n t n e h m e n , n ä m l i c h der Film-Hölle, in der ein S p o t t g e d i c h t a u f d i e „ P r a n a " als d e m vermuteten A b s e n d e r der H e t z p a r o l e n abgedruckt ist. U n t e r d e m Titel „ D e r N o s f e r a t u n i c h t g u t " findet sich, d e m G e d i c h t n o c h vorgeschaltet, zunächst f o l g e n d e r er­

läuternder T e x t : „ D i e Prana, die Herstellerin des N o s f e r a t u f i l m s , ist nach U n r e d l i c h k e i t e n ihres D i ­ rektors in K o n k u r s geraten. A l s eine Fachzeitschrift d i e s e n G a n g der D i n g e voraussagte, sandte m a n ihr e i n e a n t i s e m i t i s c h e S c h i m p f k a r t e . " D i e dritte und vierte Strophe lauten dann f o l g e n d e r m a ß e n :

„ D i e S y m p h o n i e des G r a u e n s Hielt uns n o c h lange w a c h . Z u r S y m p h o n i e des K l — agens W a r d sie d a n n a l l g e m a c h . D o c h ward ihr ein Verleger, D e r nicht verlegen war, Z u m Ärgerniserreger;

D e r sagte n ä m l i c h wahr.

U n d e i n z i g , w e i l v e r m e i n t l i c h D e r H i e b zu heftig traf, W a r d m a n jetzt j u d e n f e i n d l i c h A l s A n s i c h t k a r t o g r a p h . S o k l e i n l i c h war, und n i c h t i g D e r Inhalt d e s G e m u r r s . Prana, dein K u r s w a r richtig.

Jetzt ist es d e i n K o n - K u r s ! "2 3

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W i e läßt sich die a n o n y m e D e n u n z i a t i o n der Licht­

bild-Bühne erklären? V o r a l l e m : W a r u m die antise­

m i t i s c h e H e t z e ? O h n e das beherzte Eintreten der Film-Hölle wäre dieser Hintergrund sicherlich nicht überliefert w o r d e n .

K e h r e n w i r d e s h a l b noch e i n m a l zu den Plakaten G r a u s z u r ü c k . S o eindringlich diese B i l d d o k u m e n ­ te a u c h sind, für d e n j e n i g e n Betrachter, der den F i l m kennt, m u ß es d o c h überraschen, w i e w i l d das M o n s t e r i m V e r g l e i c h zur starren Gestalt des N o s - feratu i m F i l m erscheint. V e r b u n d e n sind b e i d e D a r s t e l l u n g e n des V a m p i r s d e n n o c h in der B e t o ­ nung ihrer R a s t l o s i g k e i t und d e m M o t i v der W a n ­ derschaft. D i e E i n d r i n g l i c h k e i t der k o n k r e t e n fil­

m i s c h e n Gestalt verdankt sich der L e t h a r g i e und insektenhaften M o n o t o n i e Nosferatus, dessen V e r ­ halten durch Ö k o n o m i e b e s t i m m t w i r d - er bewegt sich l a n g s a m und effizient. N u r in der S z e n e , in der sich Hutter in den F i n g e r schneidet und blutet, ahnt m a n , w i e schnell und zielgerichtet dieses W e s e n agieren k a n n . D o c h w e n n ich die Lethargie und die Starrheit N o s f e r a t u s benannt habe, bedeutet dies nicht, daß für ihn das M o t i v der R e i s e keine R o l l e spielt. I m G e g e n t e i l , auch in weiten Teilen der fil­

m i s c h e n E r z ä h l u n g ist der V a m p i r durch rastlose W a n d e r s c h a f t charakterisiert: D a s hastige A u f l a d e n der m i t E r d e g e f ü l l t e n Särge in s e i n e m S c h l o ß , die R e i s e m i t d e m F l o ß a u f d e m reissenden F l u ß , die lange Überfahrt m i t d e m unter v o l l e n S e g e l n ste­

henden S c h i f f , d i e nächtliche A n k u n f t in W i s b o r g und der G a n g z u m verfallenen H a u s . J a , selbst w e n n N o s f e r a t u nach den vielen Stationen in das b a u f ä l l i g e G e b ä u d e eintritt, wird deutlich, daß dies kein H e i m und erst recht keine H e i m a t darstellt, sondern nur einen weiteren Halt auf seiner ver­

h ä n g n i s v o l l e n Fahrt bedeutet.

W a n d e r s c h a f t , Rastlosigkeit, U n r e i n h e i t . V e r b o r ­ genheit, alles das sind Attribute, die in das antise­

m i t i s c h e K l i s c h e e der Figur des A h a s v e r gehören.

N u n stellt sich die Frage, o b der F i l m beabsichtigt hat, N o s f e r a t u mit der Gestalt des „ E w i g e n J u d e n "

zu identifizieren. G a n z a l l g e m e i n w e i s e n d i e G e ­ stalten des „ E w i g e n J u d e n " und des V a m p i r s s c h o n insofern eine strukturelle G e m e i n s a m k e i t auf, als beide in e i n e m negativen S i n n e unsterblich sind.

Sie s i n d nicht e r l ö s u n g s f ä h i g . W e i l sie nicht ster­

ben, k ö n n e n sie auch nicht gerettet w e r d e n . Para­

d o x e r w e i s e ist ihre Unsterblichkeit das Z e i c h e n ih­

rer V e r d a m m u n g . S i e leben außerhalb des Heils.

D a ß diese strukturelle Ü b e r e i n s t i m m u n g z w i s c h e n V a m p i r und E w i g e m J u d e n auch schon vor „ N o s f e ­

ratu" gesehen w u r d e , belegt eine N o v e l l e von M a t ­ thias B l a n k mit d e m Titel Ahasverus Brautfahrt, denn in d i e s e m 1910 veröffentlichten T e x t ist A h a s v e r ein V a m p i r , der das B l u t seiner Verlobten aussaugt.2 4 E s gibt sogar einen E p i s o d e n f i l m m i t d e m Titel „ D i e T o c h t e r A h a s v e r s - R o m a n eines w e i b l i c h e n V a m p i r s " v o n Karl H a l d e n , der im J a h ­ re 1921 uraufgeführt w u r d e , v o n d e m ich allerdings nur eine A n k ü n d i g u n g in der Zeitschrift Der Film habe finden können.2 5

U m m e i n e r D e u t u n g , die e i n e V e r b i n d u n g z w i ­ schen der F i g u r des N o s f e r a t u und d e m K l i s c h e e v o m E w i g e n J u d e n nahelegt, eine sichere G r u n d l a ­ ge zu g e b e n , sei das D r e h b u c h von Henrik G a l e e n h i n z u g e z o g e n . M u r n a u s E x e m p l a r von G a l e e n s T e x t und eine Liste mit V o r s p a n n und Z w i s c h e n t i ­ teln b e f i n d e n sich in der C i n e m a t h c q u e von Paris.

E s handelt sich u m eine S c h e n k u n g Robert P l u m ­ pes, die anläßlich von Lotte Eisners R e c h e r c h e n für ihr B u c h , z u d e m M u r n a u s B r u d e r eine b i o g r a f i ­ sche S k i z z e beigesteuert hat, erfolgt ist. M u r n a u s E x e m p l a r des D r e h b u c h s , das auf der ersten Seite h a n d s c h r i f t l i c h seinen N a m e n vermerkt, ist von i h m selbst intensiv annotiert und z u m Teil sogar u m Z e i c h n u n g e n ergänzt w o r d e n . Insgesamt er­

laubt dieses D r e h b u c h verschiedene A r b e i t s p h a s e n z u unterscheiden. W ä h r e n d o b e n l i n k s handschrift­

lich j e w e i l s die N u m m e r der E i n s t e l l u n g vermerkt w i r d , finden sich auf der g e g e n ü b e r l i e g e n d e n Seite z u m e i s t der D r e h o r t u n d die A n z a h l der F i l m m e t e r notiert, d i e f ü r eine E i n s t e l l u n g benötigt w u r d e n . A m unteren E n d e der Seite sind handschriftliche H i n w e i s e zu den auftretenden Personen vermerkt, die K l e i d u n g , die sie zu tragen haben und die T a ­ geszeit der j e w e i l i g e n S z e n e , u m A n s c h l u ß f e h l e r z u v e r m e i d e n .

D a s D r e h b u c h vermittelt einen lebendigen E i n ­ druck von der A r b e i t . M e h r f a c h hat M u r n a u S z e ­ nen mit e i n e m Fragezeichen versehen, w e n n sie i h m nicht s c h l ü s s i g erschienen. A u ß e r d e m findet sich eine Z a h l e n k o l o n n e , in der die F i l m n i e t e r a d ­ diert w e r d e n , u m eine Vorstellung v o n der L ä n g e des F i l m s z u erhalten. D i e E x i s t e n z des v o m R e g i s ­ seur bearbeiteten D r e h b u c h e x e m p l a r s ist seit lan­

g e m bekannt, spätestens seit der N e u a u f l a g e v o n L o t t e Eisners M u r n a u - M o n o g r a f i e , die es im A n ­ hang publiziert hat.

Vergleicht m a n den F i l m und G a l e e n s ursprüng­

liches D r e h b u c h , so m u ß m a n feststellen, daß der A u s b r e i t u n g des B ö s e n im D r e h b u c h ursprünglich m e h r Platz zugedacht war. Z w e i m a l hätte das

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Schiff auf seiner Fahrt vom schwarzen Meer in den Norden Häfen anlaufen sollen, wo die Ratten von Bord gegangen wären, um die Pest zu verbreiten.

Diese Sequenzen werden im Film durch diejenige Szene zusammengefaßt, in welcher der Makler Knock dem Wärter die Zeitung stiehlt und von der Ausbreitung der Pest am Schwarzen Meer erfährt.

In bezug auf solche Streichungen läßt sich feststel­

len, daß die Filmversion die Handlung verdichtet, wenige Szenen fassen exemplarisch die Entwick­

lung zusammen.

Anders muß jedoch die Veränderung des Be­

ginns beurteilt werden. Im Drehbuch kommt Hutter nämlich nicht nur als liebender Bräutigam zu Ellen, sondern tadelt, daß das Essen noch nicht fertig sei.

Darauf gibt Ellen schließlich zu, daß sich in der Haushaltskasse kein Geld mehr befinde. Dies bil­

det insofern einen großen Unterschied zur Filmver­

sion, als die Reise Hutters bzw. seine Bereitschaft, das dubiose Angebot von Knock anzunehmen, an­

ders motiviert erscheint. Er hätte nicht als abenteu­

erlustiger und leichtsinniger junger Mann gehan­

delt, so wie er im Film dargestellt wird, sondern aus bitterer Not.

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Ebenso simpel wie effizient wä­

ren wir durch diese Szene für das junge Paar einge­

nommen worden. Zunächst werden wir mit seiner wirklichen Liebe vertraut gemacht, dann mit dem Pflichtbewußtsein des jungen Mannes und der Tap­

ferkeit seiner jungen Frau. Wenn Hutter auf dem Schloß des Grafen mit großem Appetit gesegnet ist, hätte der Zuschauer gewußt, daß solche Szenen seine langen Entbehrungen zum Ausdruck bringen.

Eine Misere, die in der schweren Zeit nach dem Er­

sten Weltkrieg jedem verständlich gewesen wäre.

Außerdem hatte Galeen viele Einfälle, die die Schauergeschichte deutlich machen sollten und die im Film nicht mehr auftauchen. So sollte die Kut­

sche auf ihrer unheimlichen Fahrt zum Schloß an einem weißen Raben und einem alten Baum vor­

beifahren, die höhnisch hinter dem Opfer herge­

blickt hätten. Der Drehbuchautor redet ausdrück­

lich vom „Märchenwald".

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Der entscheidende Unterschied zwischen Film und Drehbuch ergibt sich aus der Veränderung ei­

ner im Film harmlos wirkenden Szene. Wenn Hut­

ter auf seiner Reise zu Graf Orlok in einem Gast­

haus Rast macht, wird er von einem in slawischer Tracht bekleideten Wirt aufgefordert, die Reise nicht mehr in derselben Nacht fortzusetzen. Der Wirt will den jungen Mann also davor bewahren, direkt in sein Unglück zu rennen.

Diese Szene hatte sich Galeen im Drehbuch ganz anders vorgestellt! Denn hier ist der Wirt nach Hut­

ters Ankunft mit folgenden Worten beschrieben:

„Aus der Tür tritt der Wirt, ein kleiner alter Jude und blickt nach dem Wagen."

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Und es heißt wei­

ter: „Währenddessen sind die anderen Fahrgäste ausgestiegen. Huzulen, langhaarig, schwarz. Alle gespenstisch gleich gekleidet und von gleichem Aussehen." Diese Szene hätte durchaus mit dem verbreiteten Vorurteil hinsichtlich des Aussehens osteuropäischer, orthodoxer Juden in Verbindung gebracht werden können. Außerdem vermerkt das Drehbuch in bezug auf die Statisten anders als der Film bei der Liste der Dar steller „transsylvanische Juden".

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Keinesfalls ging es Galeen in dieser Wirtshaus­

szene um ethnografische Authentizität, sondern um ein wichtiges Argument im Rahmen der Erzählung.

Der jüdische Wirt hat hier Teil an der Intrige gegen Hutter, die mit Knocks Auftrag an den jungen Mann beginnt. Wenn Hutter im Gasthaus sagt, daß er zu Nosferatu will, heißt es im Drehbuch über den Wirt, der allein hinter dem Schanktisch hätte gezeigt werden sollen: „Der alte krumme Jude horcht auf."

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Er horcht auf, aber er sagt nichts, denn er spricht durch Taten. Als Hutter - die Szene ist wiederum im Film nicht dargestellt, sondern nur im Drehbuch vorhanden - am nächsten Morgen verschläft, fordert der Wirt den Kutscher ausdrück­

lich auf, zu warten: „Neben dem Kutscher, der eben aufsitzen will, steht der kleine jüdische Wirt, er hält ihn zurück, ein Fahrgast fehlt noch. Sie blik- ken zu den Fenstern des Gasthauses hin. Ärgerlich über die Verzögerung, knallt der Kutscher mehr­

mals gewaltig mit der Peitsche."

3

'

Der Wirt stellt also sicher, daß Nosferatus Opfer auch wirklich in dem Schloß ankommt. Die Szene macht deutlich, daß der Kutscher aus Angst, den Machtbereich des Grafen Orlok in der Nacht pas­

sieren zu müssen, auch ohne Hutter aufgebrochen wäre. Im Drehbuch ist es die alte christliche Magd, von der es ausdrücklich heißt, daß sie sich bekreu­

zigt, die den jungen Mann zunächst retten kann.

Sie und nicht der Wirt hätte nach Galeens Willen Hutter gebeten, in der Nacht nicht mehr weiterzu- reisen. Wichtig ist, daß der jüdische Wirt, der Hut­

ter am nächsten Morgen auffordert, sich zu beeilen und in die Kutsche zu steigen, den jungen Mann seinem Unglück bewußt entgegentreibt.

Der jüdische Wirt hätte ein Verbindungsglied in

der Verschwörung, der Hutter zum Opfer fällt, dar-

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gestellt. Der Makler Knock, der Wirt und Nosfera- tu hätten so miteinander im Bunde gestanden. Die jüdische Urheberschaft der Intrige wird auch in ei­

nem anderen Motiv zum Thema. Denn wenn Knock zu Beginn des Films den Brief Nosferatus liest, handelt es sich nicht bloß um einen kuriosen Text, sondern um eine Verballhornung kabbali­

stisch-hebräischer Geheimschrift.

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Außerdem fin­

det sich eines der Geheimzeichen auf dem Rumpf des Schiffes, dessen Mannschaft dem Untergang geweiht ist. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der genannte Brief ausführlich interpretiert und als getreue Umsetzung hermeti­

scher Quellen erachtet wurde. Ich glaube dies nicht. Im Gegenteil, wenn der Zuschauer aufmerk­

sam hinschaut, wird er im Brief Nosferatus, den Knock zu Beginn liest, den Davidstern erkannt ha­

ben, der in seinem Zentrum ein „S." enthält. Noch eindeutiger ist das bisher nicht entdeckte Haken­

kreuz (Abb. 4) im Brief Knocks an Nosferatu.

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In keinem Fall handelt es sich hierbei um ein kabbali­

stisches Geheimzeichen, sondern ein politisches Erkennungssignal, wofür ich zum Beleg ein antise­

mitisches Wahlplakat (Abb. 5) zur Reichstagswahl im Jahre 1920 anführe.

Wenn zu Beginn die Frage nach der Entstehung der Pest gestellt wird, ist damit nicht automatisch das Klischee assoziierbar, daß Juden angeblich an­

steckende Krankheiten übertragen, sondern es wird vielmehr eine solche Bedeutung latent angelegt, die erst im nachhinein aktualisiert und damit mani­

fest wird. Die jüdisch-kabbalistischen Schriftzei­

chen, die Knock und Nosferatu verbinden, tun ein übriges. Das Zeichen an der Wand des Schiffes setzt diese Deutung fort. Alle diese Zeichen blei-

Abb. 5 A n o n y m : antisemitisches Wahlplakat zur Reichstags­

wahl im Jahre 1920, (aus: Nachum T. Gidal. Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln 1997. S. 327).

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ben für sich im Modus der Latenz, werden aber in ihrer Verbindung manifest. Die Entdeckung der jü­

dischen Verschwörung geht mit einer Akkumula­

tion von Bedeutung einher. Konkret vollzieht sich dies so, daß die Aufmerksamkeit des Zuschauers für diesen Sachverhalt zunächst geweckt werden muß. Die beschriebenen Szenen und Motive des Drehbuches, die teilweise in den Film übernom­

men wurden, haben gleichzeitig eine vor- und eine rückverweisende Funktion. Die Gasthausszene im Drehbuch Galeens hätte die Latenz ein einziges Mal durchbrochen und manifest die jüdische Iden­

tität eines Mitverschwörers aufgezeigt.

Weitere Szenen des Films sind zu nennen, die erst vor dem Hintergrund von Galeens antisemiti­

schem Entwurf einen zusätzlichen Sinn erhalten.

Wenn Nosferatu bei seiner Ansicht der Verträge zu­

fällig das Medaillon mit dem Bildnis von Ellen sieht, eine Szene die im Roman Stokers nicht zu finden ist, handelt es sich um das Klischee des Ju­

den, der die Frau des Goi begehrt. Die Hast, mit der Nosferatu nun bereit ist, das verfallene Haus zu kaufen, erhält so ihre Erklärung.

Auch das Vorurteil, daß die Juden die Brunnen vergiften und deshalb schuld an der Pest seien, fin­

det im Film eine Bestätigung. Ausdrücklich heißt es schon im Drehbuch: „Platz mit Brunnen: Nosfe­

ratu Sarg im Arm. Steht inmitten des Platzes und blickt sich witternd um."

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Die angebliche sexuelle Gier der Juden wird auch in der Szene deutlich, in der Nosferatu in das Zimmer von Ruth gelangt. Die schon kranke junge Frau ist allein, da ihr Bruder unterwegs ist, um Professor Bulwer zu holen. Nun öffnet ein Windzug das Fenster und löscht die Ker­

ze. Erschreckt versucht die junge Frau nach dem Diener zu läuten, der jedoch tief schläft und das Glöckchen nicht hört. Die nächste Einstellung zeigt, wie Ruth die Hände verzweifelt vor ihr Ge­

sicht schlägt. Ohne daß wir Nosferatu gesehen ha­

ben, legt die Sequenz nahe, daß der Vampir zu der jungen Frau kommen wird, um sie zu schänden.

Wenn Hutter ganz zu Beginn des Films auf dem Weg zu Knock ist, begegnet er Professor Bulwer, der ihm sagt, daß man seinem Schicksal nicht ent­

gehen könne und ihm dann freundlich auf die Schultern klopft. Dieser Szene folgt ein Zwischen­

titel, in dem man lesen kann, daß über den Makler Knock vielerlei Gerüchte im Umlauf sind. Nun se­

hen wir Knock in die Lektüre eines Briefes vertieft vor einem Pult sitzen. Dann werden die mysteriö­

sen kabbalistischen Schriftzeichen gezeigt.

Das Drehbuch war hier deutlicher. Nachdem durch einen Titel „Professor Bulwer" eingeblendet worden wäre, hätte sich folgende Szene entwickeln sollen: „Die Strasse entlang schreitet rüstig doch langsam Professor Bulwer, er freut sich des Mor­

gens und des Lichts. Energisch schlägt auf. Auf einmal bleibt er stehn und wendet sich um. Wer rennt denn da so hastig hinterdrein? Ist das nicht Hutter? Er packt den Vorbeigehenden am Aermel.

Hält ihn fest. Erfreut grüsst Hutter. Bulwer lacht und sagt, ihm tief in die Augen blickend: (Titel: So hastig, junger Freund? Man kommt jederzeit früh genug ans Ziel.) Hutter wills natürlich nicht begrei­

fen. Er muss rasch ins Büro. Er grüsst nochmals und nochmals. Bis er sich lachend losgerissen hat und fortstürmt. Einen Augenblick steht noch Bul­

wer, dann nimmt er rhytmisch seinen Spaziergang wider auf."

15

Jetzt wäre der Zwischentitel „Knock - ein Häu­

sermakler" erfolgt. Das, was im Film wie jugendli­

cher Ungestüm erscheint, wenn Hutter schnellen Schrittes die Straße entlangkommt und auf Bulwer trifft, war einmal als Inszenierung der sprichwörtli­

chen jüdischen Hast im Gegensatz zur deutschen Gemütlichkeit gemeint und hätte die Erscheinung des Häusermaklers Knock in gewisser Hinsicht vorbereitet. So als wäre Hutter schon im Banne Knocks, ohne dies selbst jedoch bemerkt zu haben.

Deutschland als Opfer einer jüdischen Verschwö­

rung

Vorurteile sind resistent gegenüber wissenschaftli­

chen Argumenten, insbesondere wenn es sich um rassisch-nationalistische Klischees handelt. So ge­

hörte die Vorstellung, daß Juden antsteckende Krankheiten übertragen, zu den zählebigsten Le­

genden des Antisemitismus. Diese bis ins Mittelal­

ter zurückreichenden Vorstellungen erhielten in der Zeit des Ersten Weltkriegs neue Nahrung. Ostjüdi­

sche Einwanderer wurden als die Überträger von Flecktyphus angesehen, und im Jahre 1918 erging ein preussischer Ministerialerlaß, der es verbot, ost­

jüdische Arbeiter für Deutschland anzuwerben. Im Rahmen dieser Debatte kleideten sich alte Kli­

schees in neue Gewänder.

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So wurden höchst „wis­

senschaftlich" die Lebensbedingungen orthodoxer Juden untersucht, die zur Entstehung und Ausbrei­

tung der Krankheit geführt haben sollten. In diese

antisemitische Welle fällt im Jahre 1920 eine natio-

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nalistische K a m p a g n e , die eine V o l k s a b s t i m m u n g darüber fordert, o b noch weitere O s t j u d e n nach D e u t s c h l a n d einreisen dürften.3 7 W e n n m a n so w i l l , verbreitet auch G a l e e n s D r e h b u c h in d i e s e m Z u ­ s a m m e n h a n g eine x e n o p h o b e S t i m m u n g .

F o l g t m a n d e m Historiker L u d g e r H e i d , so bilde­

te sich das mit Vorurteilen belastete B i l d des O s t j u ­ den in der M i t t e des 19. Jahrhunderts heraus.3 8 I m A n s c h l u ß an den Ersten W e l t k r i e g bis in d i e ersten J a h r e der W e i m a r e r R e p u b l i k formierte sich der or­

ganisierte A n t i s e m i t i s m u s in D e u t s c h l a n d , d e m die Vorurteile g e g e n ü b e r O s t j u d e n als eine A r t K a t a l y ­ sator dienten.3 9 D i e B e z e i c h n u n g O s t j u d e w u r d e im antisemitischen S p r a c h g e b r a u c h z u m S y n o n y m für Schieber, S p e k u l a n t und Wucherer. Selbst für die W o h n u n g s n o t in den Großstädten w u r d e n die O s t ­ j u d e n v e r a n t w o r t l i c h gemacht. M a n d e n k e hier an das E n d e des F i l m s , als d i e aufgebrachte M e n g e den a u s d e m Irrenhaus g e f l o h e n e n H ä u s e r m a k l e r K n o c k verfolgt. In dieser S e q u e n z erhebt sich also das deutsche V o l k , dessen E l e n d und W o h n u n g s n o t deutlich w i r d , gegen den j ü d i s c h e n S p e k u l a n t e n . Z a h l r e i c h s t r ö m e n die M e n s c h e n aus s c h m a l e n H ä u s e r n in die e n g e n G a s s e n , u m K n o c k z u v e r f o l ­ gen. W i e d e r u m e i n e E r f i n d u n g G a l e e n s , d i e sich nicht in der R o m a n v o r l a g e v o n B r a m Stoker findet.

L i e s t m a n die R e z e n s i o n e n zu „ N o s f e r a t u " aus den 20er J a h r e n , ü b e r w i e g e n d i e positiven Urteile.

M a n lobt die f o r m a l e Gestaltung, die L e i s t u n g der S c h a u s p i e l e r und des Regisseurs oder betont die s t i m m u n g s v o l l e n Bilder. I m m e r h i n hat sich ein R e ­ zensent kritisch über den Inhalt des F i l m s geäußert.

In der Leipziger Volkszeitung v o m 15. M ä r z 1922 wird der V e r d u m m u n g s c h a r a k t e r v o n „ N o s f e r a t u "

herausgestellt, w e n n der A u t o r hinter d e m F i l m ei­

ne gezielte A k t i o n rechter Industrieller vermutet.

Seit d e m E n d e des K r i e g e s trübe der R u m m e l u m den O k k u l t i s m u s a l l g e m e i n den B l i c k für die W a h r h e i t . D u r c h den B l i c k auf das Ü b e r n a t ü r l i c h e soll der M e n s c h v o n der politischen W i r k l i c h k e i t abgelenkt w e r d e n .4 0

O b sich das M o n s t e r Nosferatu w i r k l i c h mit d e m B i l d des „ E w i g e n J u d e n " in Z u s a m m e n h a n g brin­

gen läßt, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten.

A b e r vielleicht ist diese Frage auch falsch gestellt.

S i e m u ß v i e l m e h r lauten: F i n d e n sich im F i l m M o ­ tive, die es d e m Betrachter erlauben, antisemitische K l i s c h e e s zu a s s o z i i e r e n ? Ist a l s o i m F i l m eine A u s s a g e angelegt, die dieser z w a r selbst nicht m e h r ausspricht, die aber v o m Betrachter der 20er Jahre hätte ergänzt w e r d e n k ö n n e n ?

M i t d e m A n t i s e m i t i s m u s der W e i m a r e r Zeit geht eine M e t a p h o r i k des V a m p i r i s m u s einher, in der v o m deutschen V o l k s k ö r p e r die R e d e ist, der durch a u s l ä n d i s c h e Parasiten ausgesaugt werde.4 1 A b e r auch a l l g e m e i n k ö n n t e m a n den V a m p i r i s m u s m i t L e g e n d e n v o m j ü d i s c h e n R i t u a l m o r d in V e r b i n ­ d u n g bringen, bei d e m das B l u t der Christen g e ­ trunken w i r d . Hutters E h e f r a u E l l e n w i r d zur j u n g ­ fräulichen, deutschen M ä r t y r e r i n , deren B l u t o p f e r d i e W e l t v o n N o s f e r a t u erlöst. S c h l i e ß l i c h m u ß auch auf die P h y s i o g n o m i e des V a m p i r s h i n g w i e ­ sen w e r d e n , dessen Profil e i n e m H a n d b u c h der R a s s e n k u n d e e n t s t a m m e n könnte.

M e i n e r Interpretation g e m ä ß w a r das D r e h b u c h z u m F i l m ursprünglich als eine antisemitische H e t z k a m p a g n e geplant g e w e s e n , deren eigentliche G e f ä h r l i c h k e i t gerade darin bestanden hätte, daß der rassisch-nationalistische Inhalt nicht o f f e n a u s ­ g e s p r o c h e n w o r d e n wäre, sondern diese D e u t u n g v o m Betrachter aktiv hätte v o l l z o g e n werden m ü s ­ sen und dadurch einer eigenen Erkenntnis g l e i c h ­ g e k o m m e n wäre. W e n n m a n s o w i l l , werden L a ­ tenz und Unterstellung zu den eigentlichen M o d i der F i l m e r z ä h l u n g . D e r Z u s c h a u e r vollzieht die Er­

kenntnis der j ü d i s c h e n V e r s c h w ö r u n g als A k k u m u ­ lation antisemitischer M o t i v e . W o b e i das Perfide dieser Inszenierung gerade darin besteht, daß sogar n o c h die U n s i c h e r h e i t über die V e r s c h w ö r u n g als A r g u m e n t für ihre E x i s t e n z und die V e r s c h l a g e n ­ heit ihrer U r h e b e r erscheint. D e r e n W i r k e n ist so geschickt verborgen, daß es n i e m a l s w i r k l i c h faß­

bar wird.

In D e u t s c h l a n d erhielt der M y t h o s v o n der j ü d i ­ schen W e l t v e r s c h w ö r u n g i m Jahre 1920 entschei­

d e n d e n A u f t r i e b . N u n erschienen z u m ersten M a l Die Protokolle der Weisen von Zion. I m ersten M o ­ nat nach ihrem E r s c h e i n e n erlebte die kleine Schrift s c h o n z w e i N a c h d r u c k e u n d drei weitere bis E n d e 1920, die G e s a m t a u f l a g e kletterte rasch a u f 120.000 E x e m p l a r e .4 2 B e k a n n t l i c h stellt der T e x t der Protokolle e i n e F ä l s c h u n g des russischen G e h e i m d i e n s t e s dar, in d e m m i n u t i ö s die T e c h n i ­ ken beschrieben w e r d e n , mit denen die J u d e n an­

geblich versuchen, die Herrschaft über die Welt zu erlangen. E i n m a l m e h r findet sich hier der k o n s p i ­ rative C h a r a k t e r des J u d e n t u m s behauptet, d e m durch die Q u e l l e n f i k t i o n v o n P r o t o k o l l e n die A u f ­ gabe z u k o m m t , sich selbst zu entlarven. W i e gut die antisemitische H e t z e in den 20er Jahren f u n k ­ tionierte, belegen mehrere E x z e s s e und A u s t r e i ­ bungen i m J a h r e 1923, aber auch die E r m o r d u n g

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