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Archiv "Die Entwicklung der Schweizer Sozialpsychiatrie: Aus der Sicht eines bundesrepublikanischen Psychiaters" (15.05.1992)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DIE ÜBERSICHT

Die Entwicklung der

Schweizer Sozialpsychiatrie

Aus der Sicht eines bundesrepublikanischen Psychiaters

Michael Krausz

F

ür den Vergleich bietet sich die Schweiz aus mehreren Gründen an:

— Durch die Lage mitten in Europa, ihre Multinationalität und Vielsprachigkeit hat die Psychiatrie- entwicklung hier mehr Quellen, eine größere Nähe zu verschiedenen na- tionalen Psychiatrien, als dies in der Bundesrepublik der Fall ist.

— In dem dominierenden gro- ßen deutschsprachigen Teil der Schweiz sind die Verbindungen zur deutschen Psychiatrie traditionell eng, und vieles ist gut mit den Ver- hältnissen in der Bundesrepublik zu vergleichen.

—Von den ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, vor allem aber von den psychiatrischen Problemfeldern her ist vieles dek- kungsgleich, die Psychiatrie vor iden- tische Herausforderungen gestellt.

— Die Schweizer Sozialpsychia- trie hat sowohl auf wissenschaftli- chem wie auf den Versorgungsgebiet eine ganze Reihe reformerischer Leistungen erbracht und insbeson- dere in den letzten 15 Jahren der Psychiatrie in Westeuropa insgesamt Impulse gegeben.

Sozialpsychiatrie in der Schweiz - ein Überblick

In der Debatte über das theore- tische und praktische Selbstverständ- nis der Psychiatrie gibt es die auch aus unserem Land bekannten Kon- troversen.

Positiv definieren die Mitarbei- ter der Sozialpsychiatrischen Klinik (SPK) in Bern ihre Arbeit wie folgt:

„Die Sozialpsychiatrie untersucht

Die Sozialpsychiatrie hat für die Entwicklung der psychia- trischen Versorgungsstruktur wichtige Impulse liefern kön- nen. Die Bemühung um eine Regionalisierung und ge- meindenahe Angebote vor allem für immer noch stark unterversorgte Patienten- gruppen, wie Patienten mit einer chronifizierten Psycho- se, psychisch kranke alte Menschen oder Suchtkranke stehen dabei im Mittelpunkt.

Der Vergleich mit der Schweizer Sozialpsychiatrie erweist sich in diesem Kon- text als sehr hilfreich und lie- fert manche praktische wie auch theoretische Anregung für die Weiterentwicklung un- serer Diskussion und not- wendige Weiterentwicklung

des psychiatrischen Behand- lungsangebotes.

und behandelt psychische Störungen in engem Zusammenhang mit der so- zialen Situation. Sie verhütet und verkürzt psychiatrische Hospitalisati- on durch frühzeitige Kriseninterven- tion. Sie erleichtert eine stufenweise Wiedereingliederung in Familie und Beruf, durch kleine Übergangsinsti- tutionen mit geeigneten Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten" (Informati- onsbroschüre über die SPK, Sommer 1988). In einer Übersichtsarbeit über die Sozialpsychiatrie nennt Luc Ciompi, der an der Universitätsklinik

in Bern über eine Professur für Sozi- alpsychiatrie verfügt, sieben Kriteri- en sozialpsychiatrischer Arbeit (5):

Als erstes Kriterium nennt Ciompi den sozialpsychiatrischen Denkansatz, aufgrund dessen die So- zialpsychiatrie versucht, spezifisch

„psychische Störungen im sozialen Kontext und Umfeld zu verstehen und zu behandeln."

Zweitens führt er spezifisch sozi- alpsychiatrische Behandlungsmetho- den an mit den Schwerpunkten so- zialer und beruflicher Wiedereinglie- derung, Krisenintervention, Fami- lie-, Gruppen-, Milieu- und Sozio- therapie.

Drittens beschäftige sich die So- zialpsychiatrie vor allem mit chroni- fizierungsgefährdeten, schwierigen und langwierigen Fällen, besonders Patienten mit schizophrenen Psycho- sen, Suchtpatienten und geronto- psychiatrischen Patienten.

Die spezifische institutionelle Infrastruktur der Sozialpsychiatrie stützte sich viertens vor allem auf so- genannte flankierende Einrichtun- gen zwischen Psychiatrischem Kran- kenhaus und Ambulanz.

Sie verlagere fünftens den Be- handlungsschwerpunkt von der Kli- nik in die Gemeinschaft.

Sechstens bemühe sie sich um die Entwicklung dezentralisierter statt institutionszentrierter psychia- trischer Versorgungskonzepte: „Als spezifisch sozialpsychiatrisch muß ferner das Bestreben bezeichnet werden, umfassende lokale psychia- trische Versorgungskonzepte zu ent- wickeln, welche die Bedürfnisse ei- ner ganzen, geographisch klar abge- grenzten Region der Bevölkerung berücksichtigen . . . Das impliziert obligat eine Dezentralisierung von Institutionen und Beantwortung im Sinne der sogenannten Regionalisie- rung oder Sektorisierung".

A1-1854 (58) Dt. Ärztebl. 89, Heft 20, 15. Mai 1992

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Als siebtes und letztes Kriterium nennt er die Entwicklung besonderer Dienste in der Sozialpsychiatrie, die auf wechselnde Versorgungsanfor- derungen flexibel reagieren, wie zum Beispiel gerontopsychiatrische Dien- ste und die Betreuung von Suchtpa- tienten. Diese Grundsätze kenn- zeichnen weitgehend eine überein- stimmende Ausgangsposition der Schweizer Sozialpsychiatrie.

In der Schweiz unterliegt das Ge- sundheitswesen kantonaler Aufsicht und Oberhoheit, was einen großen Teil von Unterschiedlichkeiten in der Entwicklung und im Entwicklungs- tempo erklären kann. Ausgehend von bekannten Psychiatern wie Christian Müller war es insbesondere der fran- zösischsprachige Teil der Schweiz, im Waadtland und in Genf, wo sich der sozialpsychiatrische Denkansatz ver- breitete, erste gravierende Schritte von der institutionellen Psychiatrie weg eingeleitet wurden.

Anfang der 70er Jahre wurde schließlich von Ambros Uchtenha- gen in Zürich der erste eigenständige sozialpsychiatrische Dienst in der größten Schweizer Stadt, damals noch mit bescheidenen Mitteln, ein- gerichtet. Er ist heute mittlerweile mit rund 140 Mitarbeitern aus der Züricher Versorgung nicht mehr wegzudenken.

Von dort aus faßte die Sozial- psychiatrie Fuß in den Kantonen Bern, Tessin, Basel-Land, Solothurn und mit Abstrichen im Wallis, im Aargau, in St. Gallen und Zug. We- niger in den Kantonen Jura, Neuen- burg, Luzern und Schwyz (5).

Sektorisierung und Regionalisierung

Die Entwicklung und Verwirkli- chung umfassender gemeindenaher Versorgungskonzepte nahm eben- falls in den 60er Jahren den Aus- gangspunkt im „Pionierkanton"

Waadt. Unter Einbeziehung von sta- tionärer und ambulanter Behand- lung wurden bis Ende der 70er Jahre die Kantone Bern, Zürich, St. Gal- len, Baselland, Wallis, Tessin und Genf und seither auch die Kantone Solothurn, Thurgau, Zug und Ap- penzell sektorisiert, was überall zu

sehr weitgehenden Umstrukturie- rungsprozessen mit einer Dezentrali- sierung der Versorgung und Betten- abbau in den Großkrankenhäusern führte. Das Prinzip einer gemeinde- nahen dezentralen Versorgung ist zwar in den verschiedenen Kantonen unterschiedlich weit verwirklicht, in der Schweizer Psychiatrie aber als optimal akzeptiert. Der Prozeß der Umstrukturierung der psychiatri- schen Versorgung ist also in unter- schiedlichen Reifegraden in vollem Gange.

Die wichtigen Veränderungen und Fortschritte sind zum Beispiel am Kanton Bern anhand der Ent- wicklung der letzten 10 Jahre gut nachzuvollziehen.

Zum Beispiel Bern

Eine intensivere öffentliche Dis- kussion über die Mißstände in der psychiatrischen Versorgung begann vor allem seit dem Ende der 60er Jahre. Politische Vorstöße führten dann 1972 zur Bildung einer außer- parlamentarischen Kommission zur Bearbeitung einer „Gesamtkonzepti- on der Betreuung und Wiederein- gliederung psychisch Kranker". Nach intensiver Diskussion legte im Au- gust 1976 der Bernische Regierungs- rat, vergleichbar einer bundesdeut- schen Landesregierung, ein Gesamt- konzept der psychiatrischen Versor- gung vor. Darin wurden die Auftei- lung des Kantons in vier Psychiatrie- regionen von je 100 000 bis 250 000 Einwohnern, der Einbezug von regio- nalen Akutspitälern in die klinisch- psychiatrische Versorgung, der breite und vielfältige Aufbau nicht stationä- rer Dienste und eine Reorganisation der staatlichen Psychiatriespitäler empfohlen. Diese Spitäler, also auch die Psychiatrische Universitätsklinik Waldau, seien so rasch wie möglich umzustrukturieren.

Die wesentliche Weichenstel- lung zur Reform der Psychiatrie in Bern erfolgte im Zusammenhang mit einem Direktionswechsel der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern Anfang 1978. Gleichzeitig wur- den für den stationären Bereich Prof. Böker mit dem Auftrag einer Reorganisation und Strukturreform

der Psychiatrischen Universitätskli- nik Waldau, für die Psychiatrische Universitäts-Poliklinik Prof. Heim und für die neu gegründete Sozial- psychiatrische Universitätsklinik Prof. Ciompi neu berufen. Mit der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik wurden diese vier Bereiche nach dem Regierungsrats- beschluß vom 22. 6. 1977 in einem Psychiatriedepartement zusammen- gefaßt. In der Zeit von 1978 bis Mitte 1989 wurden damit wesentliche Vor- gaben in Richtung einer gemeinde- nahen psychiatrischen Versorgung verwirklicht: Die Psychiatrische Uni- versitätsklinik, welche am 31. 12.

1971 immerhin noch über 876 Betten mit einer durchschnittlichen Bele- gung von 92,2 Prozent verfügte, wur- de bis zum Frühjahr 1982 in ihrem Bettenbestand um 20 Prozent redu- ziert (116); 1987 verfügte sie über 442 Betten. Diese erhebliche Betten- reduktion ging einher mit einer voll- ständigen Reorganisation bei gleich- bleibendem und teilweise verbesser- tem Personalstand (1).

Gleichzeitig wurde im Rahmen der Sozialpsychiatrischen Klinik ein Netz von Ubergangseinrichtungen und speziellen Diensten geschaffen, ambulant waren dies jeweils für ei- nen Sektor zuständige mobile sozial- psychiatrische Equipen, bestehend aus drei Mitarbeitern (Psychiatrie- schwester/pfleger, Sozialarbeiter, Arzt). „Im Kanton Bern gab es 1980 nur eine Tagesklinik, ein Wohnheim, eine Rehabilitationswerkstätte, vier Wohngemeinschaften und ein sozial- psychiatrisches Ambulatorium, wäh- rend 1987, im Zusammenhang mit dem gezielten Ausbau von sogenann- ten peripheren Stützpunkten . . . nebst ambulanten und konsulta- tiven Diensten insgesamt bereits vier Tageskliniken, zwei Rehabilitations- werkstätten, vier geschützte Werk- stätten mit rund 120 Plätzen und zir- ka 15 Wohngemeinschaften existie- ren" (5).

Sozialpsychiatrische Behandlungsmethoden

In der Auseinandersetzung mit veränderten Anforderungen an die Psychiatrie und einer deutlichen Un- Dt. Ärztebl. 89, Heft 20, 15. Mai 1992 (61) A1-1857

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terversorgung großer Patientengrup- pen, insbesondere der Suchtpatien- ten, der chronisch psychotischen und der psychogeriatrischen Patienten, bemühten sich Sozialpsychiater an verschiedenen Stellen in der Schweiz um die Entwicklung neuer angemes- sener, überwiegend außerklinischer Behandlungsangebote.

Am bekanntesten ist die nach ei- nem Vorbild in den USA errichtete therapeutische Wohngemeinschaft Soteria Bern. In ihr werden seit Mai 1984 Patienten im Alter von 17 bis 35 Jahren behandelt, „die an einem drohenden oder ausgebrochenem Zustand aus dem schizophrenen Formenkreis leiden" (Soteria-Bro- schüre). Ihren therapeutischen An- satz beschreiben die Mitarbeiter von Soteria in einer Informationsbro- schüre: Unsere hauptsächliche Auf- gabe ist das Begleiten des psycho- tisch Leidenden durch die akute Kri- se. Eine schizophrene Krise ist eine ernsthafte Erkrankung, die aber po- sitive Aspekte enthält, die wir thera- peutisch nutzen. Den enormen Schwierigkeiten und Angsten, die Menschen während einer solchen Krise erleben, setzen wir eine spezi- ell gestaltete psycho- und milieuthe- rapeutische Behandlung beruhigen- der und menschlich tragender Atmosphäre entgegen. Medikamen- te (Neuroleptika) werden nur aus- nahmsweise verabreicht. Nach der Krise versuchen wir den Bewohner in seiner Neuorientierung zu stützen und zu fördern. Wir bereiten ihn auf das Verlassen der Wohngemein- schaft vor und helfen bei der sozialen beruflichen Wiedereingliederung".

Aufgrund zusätzlicher privater und staatlicher Unterstützung wurde es möglich, dieses Behandlungskonzept fest zu etablieren und damit zu bele- gen, daß bei entsprechenden Vor- aussetzungen eine außerklinische Behandlung auch akut psychotisch Kranker auf sehr viel schonendere Art und Weise möglich ist (4).

Auch im Bereich der Psychoger- iatrie wurden durch die Sozialpsych- iatrie schon sehr früh vorbildliche Einrichtungen geschaffen, wenn auch erst jetzt, vergleichbar der Bun- desrepublik, in der ganzen Schweiz Bemühungen zu einer Schaffung dringend notwendiger Behandlungs-

einrichtungen einsetzen. In Lausan- ne wurde zum Beispiel seit den 60er Jahren ein differenziertes geronto- psychiatrisches Angebot mit rund 200 Betten, drei Tageskliniken und einem umfangreichen ambulanten Dienst aufgebaut. Dieser führt jähr- lich an die 10 000 Hausbesuche durch. Vergleichbare Einrichtungen gibt es allerdings sonst in der Schweiz auch nicht, sie sollen aber innerhalb der nächsten Jahre zum Beispiel in Zürich geschaffen wer- den. Getragen und entwickelt wer- den diese Aktivitäten von einem ei- genständigen psychogeriatrischen Dienst innerhalb des sozialpsychia- trischen Dienstes.

Ebenso von großem überregio- nalen Interesse sind die Bemühun- gen in der Sucht-, insbesondere Dro- gentherapie. Nachdem sich in der Schweiz besonders in den Ballungs- zentren Zürich, Bern und Genf die Drogenproblematik seit Ende der 70er Jahre sehr dynamisch entwik- kelte, wurden relativ schnell umfang- reiche Hilfs- und Therapieangebote auf die Beine gestellt. Besonders un- ter dem Eindruck einer zunehmen- den HIV-Durchseuchung unter Fi- xern wurden die Hilfen für nicht- therapiemotivierte Drogenabhängi- ge stark ausgebaut, angefangen von verschiedenen Methadonprogram- men über Spritzentausch bis zu nied- rigschwelligen Entzugsangeboten. So werden allein in Zürich, dem Zen- trum der Drogenproblematik, Mitte 1989 1500 Patientinnen mit Metha- don behandelt, gegenüber Mitte 1987 eine Steigerung um das Fünffa- che. Auf dem „Platzspitz", dem Mit- telpunkt einer relativ offenen Dro- genszene in Zürich, wurden im Durchschnitt 3500 Spritzen pro Tag getauscht sowie verschiedene andere präventive Maßnahmen durchge- führt.

Die beschriebenen sozialpsych- iatrischen Denkansätze sowie thera- peutischen Modelle wurden zum Teil im Rahmen eigener Forschungs- projekte evaluiert. Ein relativ großes Ausmaß eigenständiger sozialpsych- iatrischer Forschung wurde durch die Einrichtung eigenständiger For- schungsabteilungen bei den sozial- psychiatrischen Diensten sehr er- leichtert oder erst ermöglicht. In

Lausanne wurde seit Anfang der 70er Jahre vor allem das Problem der Rehabilitation untersucht. Im Rahmen der Lausanner Enquete entstand dann auch die große Unter- suchung von Ciompi und Müller zum Langzeitverlauf schizophrener Psy- chosen (2). In Genf wurde über meh- rere Jahre an der Aufstellung eines umfassenden psychiatrischen Fallre- gisters gearbeitet, welches erlaubt, den Weg psychiatrischer Patienten durch verschiedene Institutionen im Laufe der Jahre zu verfolgen und da- mit epidemiologisch wichtige Daten zu gewinnen. Der Langzeitverlauf von Heroinabhängigkeit wurde vor allem von den Mitarbeitern des sozialpsychiatrischen Dienstes in Zü- rich um Uchtenhagen beforscht. In einer Langzeituntersuchung seit 1978 werden dort in regelmäßigen Abständen über 200 Heroinabhängi- ge begleitet und notwendige epi- demiologische und psychiatrische Daten zu dieser schwierigen Klientel erhoben (6).

Vergleich mit der Bundesrepublik

1. Die Rahmenbedingungen Weitgehend bestehen in der Schweiz vergleichbare Probleme für die psychiatrische Versorgung. Auf- grund einer wesentlich niedrigeren Arbeitslosigkeit im Vergleich zur Bundesrepublik gibt es allerdings bessere soziale Ausgangsbedingun- gen. Durch andere Verteilungspri- oritäten ist auch das anteilige Haus- haltsvolumen, das für die Entwick- lung psychiatrischer Dienstleistun- gen aufgewendet wird, in der Schweiz höher.

Die größeren kantonalen und regionalen Entscheidungsbefugnisse unter Einschluß haushaltspolitischer Weichenstellung bewirken zwar ei- nerseits eine ungleichmäßige Ent- wicklung, aber ebenso einen sehr ef- fektiven Handlungsdruck in Rich- tung regional angemessener Versor- gungskonzepte. Ausgehend von den großen Agglomerationen wie Bern und Lausanne und Zürich haben sich so einige zentrale psychiatrische Strukturreformen in der Schweiz durchgesetzt.

A1-1858 (62) Dt. Ärztebl. 89, Heft 20, 15. Mai 1992

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2. Gemeindenahe Versorgung und Sektorisierung

Diese ist zwar, wie geschildert, noch nicht vollständig verwirklicht, mittlerweile aber ein dominierendes Versorgungsprinzip. Wenn in der Bundesrepublik infolge der Psychia- trie-Enquete 1975 nur eine kleine Anzahl von Regionen sektorisiert psychiatrisch versorgt werden, ist die Schweizer Psychiatrie in diesem Ge- biet relativ weit vorangeschritten und liefert zum Beispiel bezüglich des Zusammenhanges von Umstruk- turierung der großen Kliniken und Schaffung ambulanter und teilstatio- närer Einrichtungen ein gutes euro- päisches Beispiel.

3. Ambulante psychiatrische Versorgung

Ähnlich wie in der Bundesrepu- blik ist im ambulanten Bereich das therapeutische Angebot für große Problemgruppen der Psychiatrie un- terentwickelt. Aufgrund der Bereit- schaft der Krankenkassen zur Finan- zierung von Psychotherapie ist zwar mit großen regionalen Unterschie- den das Angebot für klassische Psy- chotherapiepatienten in der Schweiz gut. In der Versorgung der Problem- gruppen, wie oben beschrieben, ha- ben die sektororientiert arbeitenden sozialpsychiatrischen Equipen die Lücke teilweise schließen können.

Insbesondere in der Psychogeriatrie werden allerdings auch erst seit kur- zer Zeit größere Anstrengungen un- ternommen. Die außerklinischen Be- handlungsangebote in der Therapie von Psychose- und Suchtkranken zei- gen vielfach auch für andere euro- päische Länder innovative Ansätze.

Trotzdem bestehen hier nach wie vor auch in der Schweiz erhebliche Defi- zite. Das Angebot an außerklini- schen Einrichtungen, zum Beispiel Wohngemeinschaften, Rehabilitati- onswerkstätten, betreutem Wohnen und Arbeiten, ist der Entwicklung in der Bundesrepublik vergleichbar.

4. Wissenschaft

Diese Bereiche kann man si- cherlich nicht quantitativ oder quali- tativ vergleichen. Festzustellen bleibt, daß besonders die Einrich- tung spezieller Forschungseinheiten innerhalb der sozialpsychiatrischen Abteilungen und die Besetzung von Lehrstühlen zum Schwerpunkt Sozi-

alpsychiatrie die Evaluation an der Entwicklung sozialpsychiatrischer Arbeit befruchtet und gefördert hat.

Zusammenfassend muß die Ent- wicklung der Sozialpsychiatrie in der Schweiz aus bundesrepublikanischer Sicht als Ermutigung aufgefaßt wer- den. Die durch sie eingeleiteten und strukturierten Veränderungen ha- ben zu einer beträchtlichen und an- erkannten Verbesserung der psych- iatrischen Versorgung beigetragen.

Dt. Arztebl. 89 (1992) A 1 -1854-1861 [Heft 20]

Literatur:

1. Böker, W., J. Jakubaschk, P. Pauchard: Reor- ganisation der Psychiatrischen Universitäts- klinik Bern 1979-1983 — Aufgaben/Maßnah- men/Auswirkungen. In Laux, G., F. Reimer (Hrsg): Klinische Psychiatrie Bd. II, Hippo- kratesverlag, Stuttgart 1986.

2. Ciompi, L., C. Müller: Lebensweg und Alter der Schizophrenen. Eine katamnestische Langzeitstudie bis ins Senium. Springer Ber- lin, Heidelberg, New York 1976.

3. Ciompi, L, H. P. Dauwalder: Sozialpsychia- trische Lernfälle: aus der Praxis — für die Praxis. Psychiatrieverlag Bonn, 1985.

4. Ciompi, L., R. Bernasconi: Soteria Bern — er- ste Erfahrungen mit einer neuartigen Milieu- therapie für akut Schizophrene. Psychiatri- sche Praxis 5, 1986, 172-176

5. Ciompi, L.: Die Schweizer Sozialpsychiatrie.

Schweizer Archiv für Neurologie und Psych- iatrie Band 138, 1987, 11-24

6. Uchtenhagen, A., D. Zimmer-Höfle: Heroin- abhängige und ihre „normalen" Altersgenos- sen. Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart, 1986.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Michael Krausz

Universitätskrankenhaus Eppendorf Psychiatrische Klinik

Martinistr. 52 W-2000 Hamburg 20

Ulzerierte Atherome

im Aortenbogen: Ursache von Schlaganfällen?

Die genaue Ursache von Schlag- anfällen bleibt bei bis zu 40 Prozent der betroffenen Patienten unklar. In einer Studie an 500 Patienten, die von 1983 bis 1987 in Paris an Schlag- anfällen oder anderen neurologi- schen Erkrankungen verstorben wa- ren, wurde autoptisch die Prävalenz von ulzerierten Plaques im Aorten- bogen untersucht.

Diese fanden sich bei 26 Prozent der 239 Patienten mit Schlaganfäl- len, dagegen nur bei 5 Prozent der 261 Patienten mit anderen neurolo- gischen Erkrankungen. Bei näherer Analyse war die Prävalenz der ulzer- ierten Plaques 28 Prozent bei den.

183 Patienten mit ischämischem In- sult und 20 Prozent bei Patienten mit Hirnblutungen. Bei den 28 Patienten mit ungeklärter Ursache ihres ischä- mischen Insults war die Prävalenz der ulzerierten Plaques sogar 61 Pro- zent gegenüber 22 Prozent bei den 155 Patienten mit bekannter Ursache des ischämischen Insultes. Zwischen dem Vorliegen von ulzerierten Pla- ques im Aortenbogen und dem von extrakraniellen Stenosen der Arteria carotis interna zeigte sich keine Kor- relation.

Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß speziell bei Patienten mit unklarer Genese des Schlagan- falls das Vorliegen von ulzerierten Plaques im Aortenbogen eine kausa- le Rolle spielen könnte, und daß dies einen unabhängigen Risikofaktor für das Auftreten von Schlaganfällen darstellt. acc

Amarenco, P., C. Duyckaerts, C. Tzourio, D. Henin, M. Bouser, J. Haues: The preva- lence of ulcerated plaques in the aortic arch in patients with stroke. N. Engl. J.

Med. 326 (1992) 221-225.

Dr. Amarenco, Service de Neurologie, Hospital Saint-Antoine, 184 rue du Fau- bourg Saint-Antoine, 75571 Paris, CEDEX 12, Frankreich.

Dt. Ärztebl. 89, Heft 20, 15. Mai 1992 (65) A1-1861

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