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äuser sind in aller Re- gel für eine Nutzungs- dauer von hundert Jah- ren angelegt und werden in diesem Zeitraum von den unterschiedlichstenBewohnern mit den verschiedensten Charakteren be- nutzt. Wenn man dem Standeskodex der Architekten glaubt, dann sollte eine Gebäudekon- struktion über die Jahre hinweg unan- getastet bleiben, nur im Interieur- bereich können in- dividuelle Vorlie- ben der Bewohner berücksichtigt wer- den. Doch welches Ambiente kommt welchem Charakter
am nächsten? Wer braucht die Unordnung und wer die Perfektion bis ins Detail? Im Rahmen eines in Design- kreisen vielbeachteten Pro- jektes von Studierenden der Hochschule für Kunst und Design Halle und Raumaus- statter-Betrieben aus Baden- Württemberg wurden Raum- situationen – zwei Wände, ein Fußbodenausschnitt und ein Fenster – für die verschiede- nen Gemüter gestaltet.
Dunkles Holz Prof. Axel Müller-Schöll, Fachbereichsleiter Innenar- chitektur und Initiator der Aktion, orientierte sich an den vier Grundtypen der Charaktere, um den Zusam- menhang zwischen Raum und Gemüt zu hinterfragen:
der Melancholiker, der Cho- leriker, der Sanguiniker und der Phlegmatiker.
Für das Zimmer eines Me- lancholikers wurde beispiels- weise dunkles Holz gewählt.
Es steht für Erdnähe und
Wärme, denn Melancholiker haben ein starkes Bedürfnis nach Abgrenzung, Ruhe und Geborgenheit. Das Zimmer als Rückzugsraum – so woll- ten die Beteiligten ihren Ent-
wurf sehen. Als „vergessene Gegenstände“ plazierten sie ein altes Grammophon, Brie- fe und einen Schalensessel.
Im Phlegmatiker-Zimmer fällt ein großes Fenster mit
„Kissenablage“ auf. Ein tref- fender Vergleich für einen Phlegmatiker könnte der Stoßdämpfer sein. Wirkt auf ihn Energie, so nimmt er sie langsam auf und gibt sie lang- sam wieder ab.
„Unverwüstlich und sta- bil“ – so muß nach Ansicht der Jungdesigner ein Choleri- ker-Zimmer sein. Begrün- dung: Er ist temperament- voll, eher ordentlich, egozen- trisch, gewaltbereit, aber auch liebenswert.
Weltoffenheit Unruhigen Bewohnern wird eine freundliche Behau- sung offeriert: einfach ver- putzte Wandoberflächen als Ausdruck für Weite und Weltoffenheit, ein griffberei- tes Telefon als Hotline zum Geschehen draußen oder ei- ne exponierte Schuhablage- fläche. Der Sanguiniker be- wegt sich viel in der Welt. Die Ergebnis- se des Projektes machen deutlich, daß es bei der Aus- gestaltung von Räu- men nicht primär darum gehen darf, alles Vorhandene zu sterilisieren und zu verbannen. Viel- mehr sollte man die Originalität der Wohnfläche respek- tieren und Vertrau- tes und Neues zu- sammenbinden.
Prof. Peter Reim- spieß, der Lehrbe- auftragte für Indu- striedesign in Halle, bringt es auf den Punkt: „Gestal- tung darf nicht zum blo- ßen Modeinstrument dege- nerieren, sondern muß dem Nutzer helfen, sich selbst zu finden, sich auszudrük- ken, ja eine Identität zu ent- wickeln.“ Frank Bantle A-615 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 11, 13. März 1998 (59)
V A R I A FEUILLETON
Designprojekt
Räume für jedes Gemüt
Dieses Zimmer entspricht dem Gemüt des Sanguinikers.
Der Choleriker benötigt eine freundliche Behausung. Fotos: Frank Bantle