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Wir sind die Roboter

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Academic year: 2022

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Matthias Burchardt

Wir sind die Roboter

„Alarm in den Schulen: Die Computer kommen. Computer in alle Schulen, alle Schulen an die Computer – dieses Programm wollen die Kultusminister zügig verwirklichen. Noch fehlt es an Rechnern und an Lehrern, die mit ihnen umgehen können. Auch gibt es Widerstand.“1

Vielleicht ist es ein Zeichen des vollendeten Nihilismus, wenn die Mittel nicht nur den Aufstand gegen die Zwecke proben, sondern die Zwecke und sogar die Endzwecke als Instrumente des Mittelmäßigen fungieren.

Wir schreiben das Jahr 1984. Das Orwell-Jahr. Der Spiegel titelt im Heft 47: ‚Revolution im Unterricht – Computer wird Pflicht‘. Die maschinelle Datenspeicherung, -verarbeitung und -kommunikation dringt auf dem Wege der bezahlbaren Heimcomputer in die Schulen und Kinderzimmer vor. Ich erinnere mich noch, wie wir Schüler damals den Artikel mit unse- ren Lehrern diskutierten und beim besten Willen niemandem einfallen wollte, welche pädagogisch sinnvolle Verwendung von Computern es außerhalb des Informatikunterrichtes denn geben könnte. Gleichwohl prognostizierte der Spiegel damals auch den Einsatz von Robotern zur Tradition von Liedgut:

„Es wird über kurz oder lang neben Computern auch ‚Hardware‘

anderer Art für die Schüler geben. Ein Vorläufer ist der aus den USA importierte Roboter ‚hero 1‘, der Arbeit nur zu Unterrichts- zwecken simuliert.

Er bewegt sich ferngesteuert oder vorprogrammiert, greift mit sei- nem Arm Gegenstände, kann dank seiner Sensoren auch ‚sehen‘

und ‚hören‘, singt das Volkslied ‚Old MacDonald had a farm‘ und erklärt sich in 50 Sätzen selbst. Er kostet brutto 10 000 Mark und auch mit Rabatt wäre er für deutsche Schulen zu teuer, vermutlich erst in einigen Jahren werden die Roboter den Computern fol- gen.“2

Etwas ernsthafter werden anschließend die Argumente der sozialen Ge- rechtigkeit und der Beitrag des Computers für die Optimierung von Ler- nen bemüht. Vor dem Blick in die Geschichte erscheint die aktuelle Digi- talisierungsdebatte wie ein déjà-vu. Jörg Dräger von der Bertelsmann Stiftung ruft die ‚Digitale Revolution‘ aus und die Bundesministerin für Bildung und Forschung Wanka startet eine ‚Bildungsoffensive für die di-

1 SPIEGEL Heft 47, 1984 (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13512161.html)

2 Ebd.

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gitale Wissensgesellschaft‘3, lanciert mit den poetischen Worten: „Einmal- eins und ABC nur noch mit dem PC!“. Beraten wird dieses Projekt unter anderem auf der Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“.

Der Zwischenbericht ‚Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten.‘

stellt fest, dass die Digitalisierung unsere Gesellschaft transformiert4 und fordert Innovationen im Bildungsbereich, die sich in ‚digitalen Kompe- tenzen‘ und einer ‚Bildungscloud‘ niederschlagen sollen. Ein Blick auf die Akteure der Plattform zeigt, dass dort keine Erziehungswissenschaftler, sondern hauptsächlich Branchenvertreter der IT-Lobby versammelt sind:

Bitkom, Deutsche Telekom, SAP, Microsoft, Scheer Group usf.

Das Narrativ des ‚Digitalen Wandels‘ bemüht dieselbe Alternativlo- sigkeitsrhetorik wie die Globalisierung, so als wäre das demokratische Gemeinwesen einem Naturereignis ausgeliefert, vor dem man sich entwe- der schützen muss oder besser noch: aus dem man Profit schlagen kann.

Die Hochglanzbroschüre der Ministerin wirft die Frage auf, ob dieser Wandel nicht just von den Akteuren betrieben wird, die ihre beratenden Dienste dem Gemeinwesen auf dieser Plattform so selbstlos zur Verfü- gung stellen. Da nicht gewährleistet ist, dass wir in 30 Jahren ebenso amü- siert auf die Allmachtsphantasien der Computerlobby schauen wie heute, wenn wir über den singenden Roboter aus dem Spiegel schmunzeln, sol- len zur Vorbereitung und Orientierung des pädagogischen Widerstandes gegen eine Umsteuerung des Bildungssystems einige grundsätzliche Überlegungen zur Digitalisierung von Bildung angestellt werden. Dabei müssen im Sinne des Erkenntnisinteresses systematische und politische Überlegungen miteinander verschränkt werden. Dies geschieht aus der erfahrungsgesättigten Einsicht, dass pädagogische Theorien und Praxis- modelle nicht allein dem ‚zwanglosen Zwang des besseren Arguments‘

erwachsen, sondern auch als Effekte von personaler und diskursiver Macht eingeschätzt werden müssen. Die inzwischen welkende Blüte der Hirnforschung etwa muss im Zusammenhang mit der ‚Dekade des Ge- hirns‘ betrachtet werden, die durch den amerikanischen Präsidenten Georg Bush sen. 1990 mit der Proclamation 6158 ausgerufen wurde.5 Über die Steuerungswirkungen von Drittmitteln wurde eben nicht nur ein Forschungsgebiet etabliert, sondern andere Ansätze wurden dadurch auch marginalisiert. Hinweise auf die politischen Interessen und diskursiven Bedingungen der Digitalisierungsoffensiven sollen deshalb zur Beurtei- lung des Phänomens hinzugezogen werden.

3 https://www.bmbf.de/files/Bildungsoffensive_fuer_die_digitale_Wissensgesell schaft.pdf

4 Vgl. BMBF: Digitale Chancen nutzen. Die Zukunft gestalten. November 2016.

5 http://www.loc.gov/loc/brain/home.html

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Die große Erzählung vom ‚Cyberspace‘

In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts war das Internet zunächst noch keine alltägliche Infrastruktur für alle. Die Kommunikation via Akustik- Modem und Telefonleitung war teuer, aufwendig und störungsanfällig, die Nutzeroberflächen spartanisch und ausschließlich textbasiert. Gleichwohl fanden sich insbesondere im Bereich der Universitäten Pioniere der Nut- zung und Gestaltung dieses Mediums, sei es zur Kommunikation per elektronischer Post oder zur globalen Distribution und Diskussion von Forschungsergebnissen. Die Clinton-Regierung versuchte mit dem ‚Tele- communication Reform Act‘ regulierend auf den Datenverkehr einzuwir- ken. Diese Maßnahme wurde jedoch von Internet-Aktivisten als Zensur wahrgenommen und angeprangert. Insbesondere die ‚Unabhängigkeitser- klärung des Cyberspace‘ von John Perry Barlow kann schon aufgrund seiner breiten Rezeption als ein Schlüsseldokument dieser Epoche be- trachtet werden, aber auch inhaltlich verdichten sich hier exemplarisch wesentliche Motive einer emanzipatorischen Legitimation des Internets, die bis heute diskursiv nachwirkt:

„Regierungen leiten Ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ab. Unsere habt Ihr nicht erbeten, geschweige denn er- halten. Wir haben Euch nicht eingeladen. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheits- gebiete. [...]

Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzu- gung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. [...]

Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum, Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns nicht zu.

Sie alle basieren auf der Gegenständlichkeit der materiellen Welt.

Es gibt im Cyberspace keine Materie. Unsere persönlichen Identi- täten haben keine Körper, so dass wir im Gegensatz zu Euch nicht durch physische Gewalt reglementiert werden können.“6

Analog zu einer Unabhängigkeitserklärung einer sich emanzipierenden territorial ausgedehnten politischen Sphäre fordert Barlow in der Zurück- weisung von gesetzlichen Restriktionen seitens der amerikanischen Regie- rung Souveränität für das Internet, den Cyberspace. Seine Argumentation verläuft in zwei Bahnen: politisch werden die nationalstaatlichen Macht- haber für unzuständig erklärt, da sich deren Herrschaftsanspruch lediglich auf die realen Räume von Staatsterritorien beziehe und nur durch deren

6 Barlow 1996.

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Bewohner legitimiert sei. Zwischen den Bürgern des Cyberspace und den realstaatlichen Regierungsakteuren aber bestehe keine solche Legitimie- rung, so dass der Zugriff als invasiv-feindlicher Akt zurückzuweisen sei.

Die zweite Argumentationslinie, die wohl die erste stützen soll, be- steht auf einen kategorialen Unterschied zwischen realen und virtuellen

‚Welten‘: Der amerikanische Präsident darf nicht auf den Cyberspace zugreifen und er kann es auch nicht, weil die Verfasstheit und Artikulati- on von Herrschaft und Recht einer inkommensurablen Ontologie ent- springe. Die politische Unzuständigkeit korrespondiert mit einer ontolo- gischen Unangemessenheit der Begriffe des Rechts, der Macht usf.

Während die reale Welt durch das Modell von Materialität und Gegen- ständlichkeit geprägt ist, erscheint die virtuelle Welt des Cyberspace im- materiell und geistig, mit erheblichen Konsequenzen für die Konzepte des Politischen, wie schnell (vielleicht zu schnell) evident wird: Etwa der Begriff des Eigentums rekurriert auf die Materialität der Dinge. Der Dieb, der mir etwas entwendet, bewirkt einen Ortswechsel des Objekts, so dass dieses bei ihm anwesend und bei mir abwesend ist. Der Diebstahl im Cy- berspace geschieht im Modus der Vervielfältigung, der Dieb ist ein Raub- Kopierer, der sich selbst in den Besitz von etwas bringt, ohne dass es nachher dem ursprünglichen Eigentümer fehlt. Auch die Ausübung von Herrschaft durch Gewaltandrohung oder -anwendung trifft auf den Cy- berspace nicht zu. Niemand kann Panzer auf der Google-Homepage auf- fahren. Die ‚Identitäten‘ der Cyberspace-Bewohner sind Avatare, die sich an keiner Staatsgrenze im Stacheldraht verheddern oder durch Gefängnis- strafen eingeschüchtert werden können. Dinglichkeit und Räumlichkeit bestimmen auch die Grundkonzepte des Staatlichen schlechthin: Der Geltungsbereich der Herrschaft für einen umgrenzten Bezirk der Erde und die Legitimation derselben durch die physisch lokalisierbaren Be- wohner dieser Bezirke, durch die Staatsbürger. Der Cyberspace ist dage- gen total, nicht weil er die ganze Erde umfasst, sondern weil er letztlich, d.h. kategorisch ortlos ist. Seine Bewohner sind aller realstaatlichen und auch sozio-kulturellen Fixierungen entbunden.

Dieses Abstreifen der Fesseln der materiellen Existenz ermöglicht nun für Barlow in einer quasi-platonischen Denkfigur die Verwirklichung einer idealen Existenz: Meinungsfreiheit, individuelle Selbstverwirkli- chung, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit, Teilhabe, umfassende Bildung, Demokratisierung von Wissen und geteilter Wohlstand für alle scheitern nicht mehr an der Schwerkraft des Politischen, sondern alle Menschheits- träume realisieren sich in der grenzenlosen Kommunikation und univer- sellen Vernetzung des Cyberspace.

20 Jahre später klingen diese Verheißungen ein wenig naiv: Anstelle von Meinungsfreiheit im Netz beklagen wir Phänomene wie Shitstorms gegen Meinungsabweichler, aber auch systematisches public opinion ma-

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nagement durch astro turfing, d.h. die globale Produktion von Stimmun- gen und Meinungen in Echtzeit durch Manipulationsprogramme. Die De- mokratisierung von Kommunikation wird zwar nicht unbedingt durch staatliche Intervention, wie in China oder der Türkei unterlaufen, sondern auch durch die Zensur seitens der Plattformbetreiber sozialer Netzwerke (facebook), aber auch durch die konsenserzwingenden gruppendynami- schen Tribunale des ‚Likens‘, mitunter angeheizt durch inquisitorische Mei- nungsgouvernanten mit ideologischer Agenda, die Abweichler am Inter- netpranger bloßstellen. Hinzu kommen die Enthüllungen zur globalen Überwachung und Speicherung von privaten Daten und Kommunikationen durch Edward Snowden. Allein das Wissen um die Überwachung pflanzt den Nutzern einen inneren Zensor ein und normiert dadurch ihr Verhal- ten im Netz. Als weiteres Phänomen im Zusammenhang mit der ver- meintlichen Meinungsfreiheit im Netz wäre schließlich das Phänomen der

‚Filterblasen‘ anzuführen. Dieses hat eine subjektive und eine objektive Seite, die sich wechselseitig verstärken: Einerseits gibt es – in Anbetracht der unübersichtlichen Informationsfülle – eine Neigung, bevorzugt dasje- nige zur Kenntnis zu nehmen, das kongruent mit den eigenen Einstellun- gen ist. Andererseits personalisieren die Algorithmen der Suchmaschinen die Ergebnisse auf Grundlage des errechneten Nutzerprofils und filtern dadurch ihrerseits potentielle Inkongruenzen aus. Dadurch ergibt sich ge- rade durch die Unbegrenztheit des verfügbaren Wissens keine Weitung der Meinungsbildung, sondern eine Verengung und Fixierung. Der Nut- zer hält sich für informiert, findet sich allenthalben bestätigt und hat keinen Anlass, an der Verallgemeinerbarkeit seiner Auffassung zu zweifeln.

Entsprechend fadenscheinig ist auch die Verheißung der Nicht-Dis- kriminierung geworden: Unter Jugendlichen gerät Cyber-Mobbing zum alltäglichen Kavaliersdelikt, YouTube-Filme stellen Menschen in peinli- chen Situationen bloß und einmal veröffentlichte Verleumdungen sind selbst aus vermeintlich seriösen Plattformen wie Wikipedia kaum wieder zu entfernen, wie die exemplarische Analyse in Bezug auf den Schweizer Wissenschaftler Daniele Ganser zu Tage gefördert hat.7

Auch die Hoffnung einer freien Produktion und Distribution von Inhalten und Ideen ist durch die Monopolstellung von Google, Amazon und Apple konterkariert. Das Urheberrecht begünstigt weniger die Urhe- ber als die Contentvertreiber. Selbst populäre Musiker beispielsweise kön- nen vom digitalen Vertrieb ihrer Werke kaum Gewinne erzielen und fi- nanzieren sich deshalb zunehmend durch Konzerteinnahmen.

Frieden hat sich durch oder im Cyberspace auch nicht wie verspro- chen eingestellt. Im Gegenteil tobt ein wenig übersichtlicher Informati- onskrieg um die Vorherrschaft über die öffentliche Meinung und ebenso

7 Die dunkle Seite der Wikipedia. Film von Markus Fiedler und Frank Michael Speer.

(https://www.youtube.com/watch?v=wHfiCX_YdgA)

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gravierend der Cyberwar, der mittels Software zerstörerische Einwirkung auf die digitale oder reale Infrastruktur von Staaten, Unternehmen oder Organisationen unternimmt. Im Oktober 2016 kündigten die Vereinigten Staaten offiziell einen Cyberangriff auf den Kreml an, eine digitale Kriegs- erklärung.8

Auch ist der Cyberspace kein Ort friedlicher Gemeinschaft gewor- den: Waffen- und Menschenhandel, Kinderpornographie, Betrug, Identi- tätsdiebstahl usf. lassen ihn eher als rechtsfreien Raum erscheinen, in dem der Stärkere den Schwächeren übervorteilt. Den positiven Kontakterleb- nissen in Foren und Netzwerken steht die reale Vereinsamung vieler Nut- zer gegenüber, deren Sozialleben weitgehend vom Cyberspace absorbiert wird, wo sie letztlich keine Begegnung, sondern nur visuell aufbereitete Information eines anderen Einsamen finden. Selbst Bürgerbewegungen, die auf Mobilisierungsplattformen wie change.org aktiv sind, sind – ge- messen etwa an Hannah Arendts Begriff des Politischen – nur Karikatu- ren des Politischen. Der Klick unter einem Petitionstext ist kaum mehr als eine Entlastungshandlung, wenn danach die Bürgerinnen und Bürger nicht zueinanderfinden, um ihr Anliegen einvernehmlich handelnd zu artikulieren. Der Cyberspace ist in seiner Struktur vereinzelnd und fördert unter der Illusion von Gemeinschaft die Option des ‚divide et impera‘.

In der Summe ging die emanzipatorische Hoffnung auf eine Emer- genz des Guten im Medium des Cyberspace nicht in Erfüllung. War Bar- low naiv? Konnte man damals einfach noch nicht absehen, dass das neue Medium des Cyberspace diesen unvorteilhaften Weg nehmen würde?

Schon 1995, also ein Jahr vor Barlows Erklärung, schrieb der Medien- theoretiker Friedrich Kittler ungleich skeptischer:

„Die gute alte Zeit, in der jeder auf seinem Computer machen durf- te, was er wollte, ist längst vorbei. Wir werden alle kontrolliert auf unseren Maschinen, und je vernetzter die Maschinen werden, desto strenger werden die Kontrollen und die Schutzmechanismen.

Und die Bürokratien, die eingebaut sind. Das Netz wird auch bes- tenfalls dieses Jahr noch frei sein, im nächsten Jahr gehört es wahr- scheinlich dem großen Geld, und dann funktionieren die Kontrol- len.“9

Sowohl die ökonomischen Interessen als auch die Kontroll- bzw. Steue- rungsfunktion des Cyberspace wurde also bereits von Kritikern der ersten Stunde angemahnt. Kittler verweist insbesondere auf die Herkunft der Technologie aus dem Feld des Militärischen:

„Ich kann nur sagen, der Computer ist nicht erfunden worden, um den Menschen zu helfen. In Wahrheit sind beide, Atombombe und

8 http://www.zeit.de/politik/ausland/2016–10/usa-russland-hackerangriff

9 Kittler 1995: Shortcuts.

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Computer, Produkte des zweiten Weltkriegs. Kein Mensch hat sie bestellt, sondern die militärische und strategische Situation des zweiten Weltkriegs hat sie notwendig gemacht.

Es waren von vornherein keine Kommunikationsmittel, sondern Mittel des totalen Kriegs, die jetzt als spinoff in die Bevölkerung hineingestreut werden.“10

Er verweist dabei auf die weltkriegsentscheidende Bedeutung der Kyber- netik hin, durch die etwa die britische Luftabwehr mittels der ‚predictor machine‘ den Angriff der Wehrmacht zurückweisen konnte. Daraufhin berieten Wissenschaftler, Politiker und Geheimdienstvertreter in den Nachkriegsjahren über die Nutzung des kybernetischen Modells zur Steuerung von offenen Gesellschaften in den Macy-Konferenzen.11 Schon der apostrophierte Vater der Kybernetik, Norbert Wiener, warnte in sei- nem Buch ‚Mensch und Menschmaschine‘ vor den Gefahren einer „ma- chine à gouverner“12, einem Computer der das Politische insgesamt auf- saugt und Herrschaft in Kontrolle und Steuerung auflöst. Begleitet wurde diese Furcht vor kybernetischer Repression aber auch durch emanzipato- rische Experimente mit diesem Medium. Stafford Beer etwa unterstützte Salvador Allende etwa beim Aufbau einer computergestützten informati- onellen Staats- und Wirtschaftslenkung. Der Futurologe Herrmann Kahn, der als Berater der US-Regierung nicht nur Geschichte prognostizieren, sondern mitgestalten konnte, weist bereits 1970 das Potential des Com- puters aus:

„Eines Tages wird es wahrscheinlich in jeder Wohnung einen klei- nen Computer geben, der vielleicht mit öffentlichen Datenverarbei- tungsanlagen und mit privaten Speicherplätzen in einem Zentral- computer verbunden ist. [...] Computer werden wohl auch als Lehrmittel verwendet werden. Ein Computer kann Hunderte Stu- denten gleichzeitig unterrichten – jeden an seinem eigenen Gerät und über ein spezielles Thema; er ist für jede Schulstufe geeignet.“13

Neben der pädagogischen Nutzung und der Prognose einer ubiquitären digitalen Infrastruktur werden auch die Valenzen für ein Überwachungs- regime angesprochen:

„Abhöreinrichtungen und kurzzeitige (oder auch dauernde) Ton- aufnahmen werden künftig sehr billig werden. Ein beträchtlicher Teil aller Telephongespräche könnte legal oder illegal auf Tonband oder auf andere Art aufgezeichnet werden. (Die gleichen Methoden könnten auch zum Abhören von Gesprächen in Bars, Restaurants, Ämtern usw. angewandt werden.) Man wird diese aufgenommenen

10 A.a.O.

11 Siehe: Pias, Claus u. Tiqqun.

12 Wiener 1964, S. 195.

13 Kahn 1971, S. 106.

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Gespräche mit Hilfe von Computern auf Schlüsselwörter oder -sätze prüfen und die besonders interessanten Gesprächspartien zu weiteren Studienzwecken oder einfach zur Aufbewahrung spei- chern.“14

Als Albtraum des 21. Jahrhunderts erscheint Kahn ein totales Überwa- chungs- und Kontrollsystem:

„Man wird im Jahre 2000 [...] imstande sein, die gesamte Bevölke- rung unter ständiger Aufsicht zu halten und alle Gespräche auf

‚störende‘ Worte zu überprüfen. Es wird sich vielleicht zeigen, daß nur Menschen mit ungeheuerem Vermögen [...] die Möglichkeit haben werden, einem bestimmten Maß an Überwachung zu entge- hen oder auf die Datenübermittlung Einfluß zu nehmen.“15

Es dürfte deutlich geworden sein, dass bereits viele Jahrzehnte vor der Erklärung Barlows Gefahren richtig vorausgesehen wurden, so dass man mindestens von Naivität oder Ignoranz ausgehen muss, wenn man die emanzipatorische Euphorie nachvollziehen möchte. Doch Barlow sind nicht nur politische Fehleinschätzungen vorzuwerfen, sondern auch un- genaue Begriffe. Der Dualismus, durch den Cyberspace und realstaatliche Politik auseinandergetrieben werden, hält einer genaueren kategorialen Prüfung nicht stand. Weder ist die Politik der Physik zuzuschlagen, noch der Cyberspace der Metaphysik, denn das Prinzip des Rechts und der Staatlichkeit ist nicht der Körper, sondern die Person; und auch der Cy- berspace lässt sich in seiner Materialität beschreiben und lokalisieren:

Materielle Endgeräte kommunizieren über eine manifeste Infrastruktur von Routern, Kabeln, Servern. Darüber hinaus spielen allerdings tatsäch- lich softwareseitige immaterielle Elemente eine Rolle, sei es als App, Be- nutzeroberfläche, Kommunikationsprotokoll, Daemon usf. Diese sind aber keinesfalls identisch mit dem beschworenen Cyberspace, sondern dessen objektiver notwendiger Ermöglichungsgrund. Ohne einen subjek- tiven und hinreichenden Ermöglichungsgrund aber ist all dies noch nicht der Cyberspace, sondern ein reines Signalübermittlungs- und -darstellungs- system. Dieser ersteht erst aufgrund einer elementar-anthropologischen Qualität, der Einbildungskraft, er ist aus solchem Zeug wie das Träumen, dadurch aber nicht weniger real. Er hat die ko-imaginative Seinsweise eines Bildes, das einerseits ein Arrangement von Materialien (Farbe, Leinwand usf.) ist, andererseits zur Imagination einer Szene einlädt, die nicht nur privat zugänglich ist, sondern als wirklicher Schein teilbar und mitteilbar ist. Im Unterschied zum Bild aber ist das Arrangement nicht dem künstlerischen Willen oder Zufall überlassen, sondern folgt formal der Rationalität der Kommunikationstechnik und dem Algorithmus der

14 Kahn/Wiener 1971, S. 114.

15 A.a.O., S. 342.

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Software und inhaltlich – im restriktiven Rahmen des Formalen – den In- teraktionen der beteiligten Akteure. Diese Restriktionen ermöglichen die Imagination und unterwerfen diese zugleich: Wir imaginieren gemäß der Technik und gemäß der Suggestionen ihres Designs. Eine schroffe Ge- genüberstellung von körperlicher Politik und immateriellem Cyberspace, wie Barlow sie trifft, greift also viel zu kurz.

Gleichwohl ergibt die Programmatik der Erklärung vor einem ande- ren Hintergrund Sinn. Dazu muss man den Kontext ihrer Veröffentli- chung hinzuziehen. Barlow hat sein Manifest beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgetragen, das sich vom Hyde-Park in London z.B. dadurch unterscheidet, dass höchste Sicherheitsvorkehrungen dafür sorgen, dass ein Mitteilungsbedürfnis allein nicht ausreicht, um eine Sprecherposition einnehmen zu können. Mit anderen Worten kann man davon ausgehen, dass Barlow im Einverständnis – wenn nicht im Sinne – der Veranstalter gesprochen hat, die zu der Zeit das alternativlose Projekt der Globalisie- rung vorangetrieben haben. Aus dieser Warte erscheint die Cyberspace- Apologetik Barlows wie ein Brandbeschleuniger des neoliberalen Regimes.

So wenig das Netz zur Erfüllung emanzipatorischer Hoffnungen beitra- gen wollte, so sehr hat es zur Transformation von Gesellschaften, Kultur, Wirtschaft und Politik geführt; und so wenig ausgearbeitet der kategoriale Rahmen zur Kennzeichnung des Cyberspace war, so wirksam war dieser zur Erosion der Kategorien der ‚realen Welt‘ insbesondere in Hinblick auf mannigfaltige Deregulierungs- und Entgrenzungsphänomene: Barlows Unzuständigkeitsbehauptung gegenüber den nationalen Regierungen gilt nunmehr nicht nur für das Internet, sondern auch für klassische Felder der Politik, die den Kräften der globalen Märkte überantwortet werden sollen. Der utopischen Ubiquität und transitorischen Permanenz des Net- zes, seiner Ort- und Zeitlosigkeit entspricht eine räumliche und zeitliche Entgrenzung von Arbeit. Die ortsabhängige zyklische Zeit von Tag und Nacht oder die Differenz von Feiertagen und Arbeitstagen sind limitie- rende Faktoren der ‚realen Welt‘, die ein Hindernis für transnationale Projektteams darstellen. Das Internet schläft nie und hält nicht inne vor dem Sakralen. Im Sinne von Ökonomisierung und Arbeit 4.0 wird die Produktivität einerseits global ausgestreut und digital vernetzt, anderer- seits werden auch die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Arbeit und Familie, Mobilität und Sesshaftigkeit aufgehoben. Unter der Chiffre ‚Echtzeit‘ finden sich Beschleunigungstendenzen in Kommunika- tion und Transaktion, wie sie etwa bei der Verbreitung von Nachrichten zu beobachten ist, denen journalistische Sorgfaltspflicht kaum noch ge- wachsen sein kann, oder im Hochfrequenzhandel an der Wallstreet, wo sogar die Entfernung der Rechner zum Server einen Wettbewerbsvorteil bedeuten kann. Davon bleiben Menschen, politische Institutionen und Verfahren nicht unberührt. Angesichts der ‚nervösen Märkte‘ während

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der Finanz-, Banken- oder Staatsschuldenkrise erschienen die diskursiven Verfahren der Demokratie als zu langsam. Das Primat der Politik weicht dem Beschleunigungsdruck des informationellen Ökonomismus.

Eine weitere Tendenz der Entstaatlichung in der Verquickung von Cyberspace und neoliberaler Globalisierung zeigt sich in der Ohnmacht von Staaten die Geltung von Datenschutz, Arbeitnehmerrechten oder Steuergesetzgebung gegen die transnationalen Konzerne durchzusetzen oder auch in der Veränderung des Eigentumskonzeptes durch das Inter- net der Dinge oder digitales Rechtemanagement DRM: Vernetzte Wasch- maschinen, Fernseher, Heizungsthermostate oder Drucker werden zwar von Personen bezahlt, diese werden allerdings vom souveränen Eigentü- mer zum gegängelten Nutzer degradiert, da ihnen die volle Verfügungs- gewalt über diese Dinge entzogen wird. Mittels Firmware kontrolliert etwa das Unternehmen Hewlett Packard, ob die Drucker eventuell mit preiswerten Patronen von Fremdanbietern betrieben werden und gibt dann eine Fehlermeldung aus. Eine Musikbibliothek von iTunes kann nicht verkauft, verliehen oder vererbt werden.

Im Zusammenhang mit den skizzierten Phänomenen muss auch die euphorische Darstellung der ‚Digitalisierung von Bildung‘ kontextualisiert werden, damit hinter guten Absichten und Naivitäten nicht eine ökono- mistische Agenda umgesetzt werden kann.

„Digitalisierung von Bildung“

Die Diskussion über die zu Beginn genannten Initiativen und Programme wird durch unscharfe Begriffsbezeichnungen erschwert. Wenn im Fol- genden gegen die ‚Digitalisierung von Bildung‘ argumentiert wird, geht es ausdrücklich nicht um gute Arbeitsgeräte für Lehrer, den Einsatz von Medien nach Maßgabe fachdidaktischer Erwägungen oder um medienpä- dagogische Unterrichtseinheiten, die emanzipatorische Ziele verfolgen.

Es lassen sich mindestens acht Deutungen aufweisen und unterschei- den, die theoretisch, ethisch, politisch und pädagogisch einer eigenen Be- urteilung zugeführt werden müssten, Differenzierungen die in der gegen- wärtigen Debatte oft untergehen:

1. Anschaffung von Geräten wie Smartboards, Tablets und Laptops 2. Bereitstellung von Infrastruktur und Software zur Vernetzung in und

von Schulen: WLAN, Schulen ans Netz, Lernplattformen, Untis, Logi- neo ...

3. Digitale Codierung, Präsentation und Distribution der Lehr- und Lern- inhalte statt analoger Medien

4. Medienpädagogische Nutzung von Digitalen Medien

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5. Übertragung von traditionellen Lehrer/innen/funktionen auf Lernsoft- ware

6. Umerziehung von Schülerinnen und Schülern zum selbstgesteuerten Lernen

7. Ausrichtung der schulischen Bildungsziele auf Erfordernisse der digita- lisierten Arbeitswelt (Industrie 4.0)

8. Kybernetische Steuerung der Schulorganisation durch Bildungscontrol- ling und Governance

Was in den Broschüren und Regierungsprogrammen kaum vorkommt, ist dagegen die Option einer Bildung am Gegenstand des Digitalen: das ky- bernetische Modell, Big Data, Netzpolitik, Technikfolgenabschätzung, Kryptographie, Telematik, Autoren-, Redaktions- und Expertensysteme, autonome Tötungsentscheidungen von Drohnen, sozialkybernetische Steuerung der öffentlichen Meinung oder einzelner Personen beispiels- weise wären sicher geeignete Themen, die in verschiedenen Fächern einen Anlass oder Horizont zur politischen oder persönlichen Bildung beisteu- ern könnten.

Im Rahmen dieses Artikels kann nicht jeder einzelne Punkt einer umfangreichen Untersuchung zugeführt werden, deshalb sollen vor allem vier übergreifende Aspekte diskutiert werden: Der vermeintlich neutrale Instrumentalcharakter der digitalen Medien, die trivial-kybernetische Umsteuerung des Lernens, die Ersetzung des Lehrers durch Lernsoftware und schließlich die Machtkonstellation der Governance, die sich im Bil- dungscontrolling niederschlägt.

‚Auch ein Brotmesser kann man dazu verwenden, einen Menschen zu töten‘

Die Digitalisierungsbefürworter im Bildungssektor bestreiten gar nicht die Gefahren oder Risiken, die von den neuen Technologien ausgehen. Sie machen sie sogar zum Argument für die Digitalisierungsoffensive. Digita- le Medien, auch in ihrer schädlichen Wirkung, seien nun einmal Teil der gegebenen und zukünftigen Lebenswelt der Kinder und müssten deshalb auch in der Schule vorkommen. Dabei handelt es sich um einen naturalis- tischen Fehlschluss, wie an einem Gegenbeispiel leicht ersichtlich wird, wenn man etwa an Schulen in unsicheren Gegenden fordern würde, Kin- der an Waffen auszubilden, weil diese nun einmal zu ihrer Lebenswelt gehörten. Aus dem Sein folgt nicht das Sollen, denn dazu bedarf es eines ethisch und pädagogisch wertenden Urteils, nach dem man hier wohl eher Friedenspädagogik auf den Lehrplan setzen würde als den Umgang mit scharfer Munition. Neben dem naturalistischen Fehlschluss unterläuft

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den Befürwortern ein weiterer Denkfehler: Sie führen den realen oder potentiellen Schaden auf einen missbräuchlichen Umgang mit der Tech- nik zurück, die ‚an sich‘ wertneutral sei.16 Digitalisierung von Bildung, so wird dann gefolgert, sei notwendig, um diesen Missbrauch zu verhindern.

Diese Einschätzung mag einer guten Absicht entspringen, ist aber theore- tisch naiv und politisch uninformiert und deshalb gefährlich. In Gerät- schaften realisiert sich die technische Rationalität, welche Ursache-Wir- kungs-Prinzip in eine Mittel-Zweck-Relation übersetzt. Ganz im Sinne von Hegels Dialektik von ‚Herrschaft und Knechtschaft‘17 ist die Verfü- gungsgewalt des Nutzers über seine Werkzeuge nur im Rahmen bzw. in Form einer Unterwerfung gegeben. Das technische Um-zu-Ding lässt sich nicht beliebig verzwecken und auch nicht zu beliebigen Zwecken nutzen. Ähnlich – aber nicht genauso – wie der Hammer, der einen höl- zern Stiel zum Festhalten und einen metallenen Kopf mit stumpfer oder spitzer Seite zum traktieren von Nägel hat, weist auch das digitaltechni- sche Gerät oder die Software in zwei Richtungen: Den Nutzer und den Zweck. Sein Gebrauch bindet den Gebrauchenden damit aber an einen Zugangsmodus, an das Interface. Wer den Hammer am Kopf festhält, wird den Nagel kaum wie bezweckt ins Mauerwerk treiben können. Da- mit die Geräte uns gehorchen, müssen wir zunächst ihnen gehorchen und sie sachgemäß verwenden. Sie sind also nur zweckmäßig, wenn wir mit- telmäßig sind, d.h. uns dem Maß des Mittels anpassen. Ebenso ambivalent ist die Seite der Wirkungsrichtung dieser Geräte. Sie enthalten einen Vor- entwurf möglicher Zwecke. Der Hammer etwa ist unzweckmäßig für das Kämmen von Haaren, gleichwohl ausgelegt auf die beschleunigte Verstär- kung und punktuelle Konzentration menschlicher Leibeskraft und hier macht er tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem Nagel, dem Finger des Handwerkers oder dem Schädel eines Folteropfers. Es wird deutlich, dass die Werkzeugform keine unbedingte souveräne Nutzung zulässt, was zunächst aber nicht allein an den Zweckaufladungen liegt, die der Herstel- ler des Werkzeugs diesem in Form eines eingebauten Imperativs (‚Häm- mer auf alles in der Welt ein!‘) mitgegeben hat. Allein der Nachvollzug auf die militärischen, geheimdienstlichen und ökonomischen Entste- hungsbedingungen der Computer dürfte unterstreichen, dass die ver- meintlich wertneutrale Werkzeugform des Cyberspace und der Digital- technik de facto eine interessengesättigte und wertsetzende Machtform ist, und zwar unabhängig von den jeweiligen Inhalten.

Der ehemalige Design-Ethiker von Google macht in seinem Artikel

‚How technology hijacks people’s minds‘ darauf aufmerksam, wie viel manipulative Herrschaftstechniken sich allein im Design des Benutzerin-

16 Vgl. hierzu: Heesen 2016, S. 27ff.

17 Vgl. Hegel 1988, S. 127–136.

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terface niederschlagen. Diese nutzen Täuschungsanfälligkeiten der Wahr- nehmung oder beuten psychische oder anthropologische Bedürfnisse für ihre Zwecke aus. Die Präsentation von Wahloption in Form eines Menüs beispielsweise suggeriert Freiheit, aber lenkt durch das Vorenthalten von Wahloptionen und programmiert den Menschen, seine Freiheit auf die Wahlfreiheit zu reduzieren, die zwischen vorgegebenen Alternativen aus- sucht, aber weder das Fehlen von Alternativen beklagt oder sogar durch produktive Freiheitspraxis neue Alternativen hervorbringt. FOMSI-Stra- tegien profitieren vom Bedürfnis, keine wichtigen Nachrichten zu verpas- sen (Fear of missing something important). Das appellative Design nährt unsere Sorge, die 1% Chance etwas ganz besonders Wichtiges zu verpas- sen, so dass wir uns in sozialen Netzwerken aus Neugierde oder Furcht möglichst in Echtzeit durch 99% unbedeutende oder auch manipulative Informationen lesen. Besonders perfide ist die Ausbeutung eines Spezifi- kums unserer Wahrnehmung, aufgrund dessen Unterbrechungen mit einer potenziell höheren Relevanz bewertet werden als die gerade ausge- führte Tätigkeit, weshalb die Geräte uns mittels Tonsignalen permanent unterbrechen, um etwa auf das Eintreffen von Nachrichten hinzuweisen, die (siehe: Fomsi) die Welt bedeuten könnten oder auch nur hyperästhe- tische Fotos von alltäglichen Lebensmitteln enthalten. Bemerkenswerter- weise unterbrechen Eltern Interaktionen mit ihren Kindern, wenn die Geräte sich melden scheinbar bereitwilliger, als sie von den Geräten ablas- sen, wenn ihre Kinder um Aufmerksamkeit bitten.18 Dies mag auch an der suchtinduzierenden Gestaltung des Designs liegen, wie Harris nachweist.

Etwa die Mail-Abruf-Funktion des iPhones beruht auf dem Prinzip des

‚einarmigen Banditen‘ aus den Casinos in Las Vegas: Man zieht mit dem Finger die Spalte der eingegangenen Mails nach unten, ein kleines Räd- chen dreht sich ganz analog zu den rotierenden Rädern im Spielautoma- ten. Als Ergebnis gibt es entweder eine Niete, also keine neuen Mails, oder ungelesene Mails, die mir informationellen oder gar emotionalen Mehrwehrt als Gewinn versprechen. Schon auf der Ebene des Designs finden sich konditionierende Belohnungs- und Anreizsysteme, die eben nicht an die Vernunft des mündigen Nutzers appellieren, sondern dieselbe mittels Psychotechniken unterlaufen.

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Entstehungsbedingungen der technischen Instrumente jeweils schon von Macht und Interessen ge- prägt sind und diese Konstellationen auch den Geräten einschreiben. Die- se Wunschvorstellung vom Computer als einem neutralen Mittel gleicht einem Techno-Rousseauismus, weil er so tut, als könne das Gerät in ei- nem Quasi-Naturzustand unabhängig von Kultur, Geschichte, Wirtschafts- weise und Macht gedacht und gereinigt von allen impliziten Zweckmäßig-

18 Schirrmacher 2009, S. 29.

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keiten genutzt werden. Diese kontrafaktische Fiktion einer reinen In- strumentform ignoriert jedoch, dass es Geräte – ebenso wie den Men- schen – nur in Geschichte, Gesellschaft, Ökonomie und Macht gibt. Die Instrumentform hat stets den Charakter einer Machtform, die ineins er- mächtigt und übermächtigt.

Die Technik entspringt deshalb nicht ausschließlich oder wesentlich dem Machtwillen der Produzenten, sondern auch den machtförmigen Produktionsbedingungen, welche sich zudem aus einer fundamentalen Rückwirkung der Technik auf den Menschen verschärfen. Das Dasein der Technik führt zur Technisierung des Daseins, wie Günther Anders aus- führt:

„Die Technisiertheit des Daseins: die Tatsache, dass wir ahnungslos und indirekt, gewissermaßen als Maschinenschrauben, in Handlun- gen eingefügt werden können, deren Effekte wir nicht übersehen können und die wir, wenn wir die Effekte übersähen, nicht bejahen könnten, die hat unser aller sittliche Situation verändert. Die Technik hat es mit sich gebracht, dass wir auf eine Weise schuldlos schuldig werden können, die es früher [...] noch nicht gegeben hatte.“19

Im Unterschied zu Barlow wird für Anders die Problematik einer Ent- grenzung durch Technik nicht zu einer emanzipatorischen Utopie, son- dern zu einem ethischen Problem. Die Forderung nach einem humanen Gebrauch der Technik erscheint nachrangig angesichts der Diagnose einer Technisierung des Humanen, d.h. einer Umbildung des Menschen am Modell der Maschine. ‚Human engineering‘ ist die Notwehr des antiquier- ten Menschen gegen den Konkurrenzdruck der Geräte, die ihn in Funkti- onalität, Leistung, Material- und Verarbeitungsqualität übertreffen, so dass dieser sich selbst in ein technisches Projekt verwandeln muss, um gegen diese und unter ihnen bestehen zu können. Die Selbstzurüstung des Menschen als Maschine in der Kraft des Ökonomismus vollzieht sich pädagogisch in der Figur des selbstgesteuerten Lerners.

Schüler als Lernroboter

Der Bildungsbericht der Bundesrepublik Deutschland fordert von allen Einrichtungen die Verfolgung von drei Leitzielen: Humanressourcen, Partizipation und individuelle Regulationsfähigkeit.20 Dies nun als Variation von Mündigkeit zu deuten, wäre ein grobes Missverständnis. Der neolibe- rale, manageriale Staat regiert durch Dezentralisierung und Responsibili- sierung des Einzelnen. Privatisierung von ehemals hoheitlichen Aufgaben

19 Anders 1982, S. 207.

20 Bildungsbericht 2015, S. 22.

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und Abbau von Daseinsvorsorge führt zu einer Individualisierung von Lebensrisiken, die der Einzelne mittels Selbstregulierung und Ressourcen- aktivierung abwenden muss. Die perverse Struktur dieses Regierens durch eine funktionelle Einforderung von Freiheit besteht darin, dass die Ver- nachlässigten und Opfer des Sozialabbaus für das zur Verantwortung ge- zogen werden, was Ihnen zugefügt wurde: Wer im Beruf unter pathoge- nen Arbeitsbedingungen an Burnout erkrankt, gilt nach dieser Logik als Resilienzversager. Arbeitslosigkeit ist die Folge von mangelnder Investiti- on in das eigene Humankapital. Bildung ist der Ort, an dem das Modell des unternehmerischen Selbstumganges eingepflanzt werden kann. Der Selbstgesteuerte Lerner ist eben nicht das selbstentfaltende Kind der Re- formpädagogik oder der aufgeklärte Mensch Kants, sondern der Insasse des neoliberalen Modells, der sich selbsttätig den Sachzwängen einer marktförmigen Sozialumgebung anpasst.

Die Digitalisierung wirkt in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht umerziehend: Zum einen löst sie das personale pädagogische Verhältnis auf und lastet dem selbstregulierten Lerner nicht nur das Ler- nen, sondern auch die Übernahme der Lernorganisation auf.21 In seiner institutionalisierten Verwaisung gleicht der Schüler nun dem Hilfsbedürf- tigen, der vom erschlankten Staat sich selbst überlassen wird. Zum ande- ren tritt nun der Algorithmus an die Stelle des Lehrers und zwingt dem selbstregulierenden Schüler Anpassungsleistungen ab.

Der ‚Lerner‘ wie er in den Reformkonzepten propagiert und durch die Neue Lernkultur produziert wird, hat kein komplementäres pädagogi- sches Gegenüber, wie der Schüler den Lehrer, das Kind die Eltern. Streng genommen ist diese Figur des Lerners alterslos, denn das Modell soll für alle Lebensalter gelten, es geht ja um lebenslanges Lernen. Offenkundig gelten die Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie oder aus der Gerontologie nicht mehr, nach denen es je Wandlungen des Lernens in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase gibt. Wenn nun der Lerner kein Kind und kein Schüler mehr sein darf, wie sieht dann sein Innenleben aus? Es ähnelt einer Schaltzentrale aus der Roboter-Technik, wie exempla- risch deutlich wird an einem Schlüsseltext der Schulreformen in Nord- rhein-Westfalen zur selbständigen Schule. Der Lerner soll demgemäß in der Lage sein, das eigene „Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen.“22

Die Lerner – heißt es weiter – „halten [...] ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernpro- zesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.“23

21 Vgl. Burchardt 2016.

22 Höfer/Madelung 2006, S. 19.

23 A.a.O., S. 19.

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Das hier verwendete Vokabular entstammt dem technischen Regelkreis der Kybernetik, in dem Mess- und Regelfunktionen informationell mitei- nander verschränkt werden. Dies kann man am Beispiel eines Heizungs- thermostats erläutern. Ohne Thermostat müsste man die Heizung jeweils selbst an- oder abschalten, wenn es zu warm oder zu kalt ist. Mittels Re- geltechnik kann der Nutzer einmalig eine Zieltemperatur (Soll-Wert) für den Raum vorgeben, die dann durch Selbstregulation erreicht bzw. gehal- ten werden soll. Eine Verrechnungsstelle gleicht zu diesem Zweck den vom Messfühler erhobenen Ist- mit dem Sollwert ab und hemmt beim Erreichen des Sollwertes den weiteren Warmwasserzulauf bzw. öffnet ihn, sobald der Sollwert unterschritten ist. Damit gelingt es dem System, selbstregulierend auf variable Außenbedingungen zu reagieren und die Raumtemperatur konstant zu halten.

Entscheidend sind dabei nicht nur die einzelnen Strukturelemente des Messens und der Steuerung, sondern auch deren informationelle Ver- knüpfung durch eine Feedbackschleife, denn das kybernetische System gewinnt nicht nur Informationen über die externen Bedingungen (z.B. die Raumtemperatur) oder wirkt durch Steuerung auf diese ein, sondern speist auch die Informationen über die Resultate des eigenen Wirkens wieder in das System ein.

Abb. 1: kybernetischer Regelkreis

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Abb. 2: kybernetische Selbststeuerung des Lerners

Was hier abstrakt klingt, lässt sich nun relativ schlicht auf den Lerner übertragen:

Wie ein kleiner Lernroboter navigiert der selbstgesteuerte Lerner über die Klippen der Lernumgebungen, die ihm durch Lernpakete und Wochenpläne Aufgaben mit auf den Weg geben. Er steuert dabei die Ziele an, die im Raster vorgegeben sind. Er vergleicht Ist- und Soll-Werte seiner Kompetenzen, wählt und reflektiert seine Lernstrategien, bis er die Lern- ziele erreicht. Defizite in der Selbststeuerung sollen mittels Feedback in einem Coaching-Gespräch beseitigt werden.

Der Regelkreis gilt aber nicht nur für die intellektuelle Seite des Lernens, sondern auch für die Motivation der Lerner:

„Auf der motivationalen Ebene zeichnen sich selbstregulierte Ler- ner dadurch aus, dass sie in der Lage sind, sich selbstständig Ziele zu setzen, sich selbst zu motivieren, Lernvorgänge gegenüber kon- kurrierenden Handlungswünschen abzuschirmen und Erfolge und Misserfolge angemessen zu verarbeiten.“24

Selbstreguliert Motivation herzustellen zu müssen, ist gleichwohl etwas ganz anderes, als seine Motivation aus einem reizvollen Stoff oder einer

24 Höfer/Madelung 2006, S. 23.

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pädagogischen Beziehung zu einer fordernden und ermutigenden Person zu schöpfen. Der selbstregulierte Lerner hat sich im Extremfall auch für monotone Inhalte im beziehungsfreien Raum zu begeistern.

Computer als Lehrer

Der Abkopplung vom Lehrer im selbstregulierten Lernen entspricht eine Ankopplung an das digitale Endgerät und den Algorithmus. Dräger/Eiselt preisen die Vorzüge der Software Knewton und lassen den Hersteller zu Wort kommen:

„Knewton durchleuchtet jeden, der das Lernprogramm nutzt. Die Software beobachtet und speichert minutiös, was, wie und in wel- chem Tempo ein Schüler lernt. Jede Reaktion des Nutzers, jeder Mausklick und jeder Tastenanschlag, jede richtige und jede falsche Antwort, jeder Seitenaufruf und jeder Abbruch wird erfasst. „Jeden Tag sammeln wir tausende von Datenpunkten von jedem Schüler“

sagt Ferreira stolz. Diese Daten werden analysiert und zur Opti- mierung der persönlichen Lernwege genutzt. Komplexe Algorith- men schnüren individuelle Lernpakete für jeden einzelnen Schüler, deren Inhalt und Tempo sich fortlaufend anpassen, bei Bedarf im Minutentakt. [...] Schon heute berechnet Knewton zuverlässig die Wahrscheinlichkeit richtiger und falscher Antworten sowie die Note, die ein Schüler am Ende eines Kurses erreichen wird. Eines Tages braucht es wohl keine Prüfungen mehr; der Computer weiß bereits, welches Ergebnis herauskommen wird.“25

Das Versprechen der Digitalisierung besteht in der Individualisierung von Lerndiagnostik, Stoff- und Aufgabenauswahl, die mittels Algorithmen effizienter und effektiver zu leisten seien, als von jedem Klassen- oder Kurslehrer. Ob diese versprochene oder sogar tatsächliche Funktionsop- timierung von Lernen auch eine bessere Bildung bedeutet, kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Was heißt es, wenn Strukturmomente des Unterrichts, wie etwa die soziale Beziehung zwischen den Schülern und Lehrerinnen oder unter den Schülern ausgeklammert werden? Wenn die gemeinsame pädagogische Situation einer ko-intentionalen Sachverge- genwärtigung aufgehoben wird? Wenn Methodenwahl, Thematisierungs- hinsicht, Formatierung der Aufgaben, Motivation, Leistungserhebung und -beurteilung nicht mehr die Frage pädagogischer Urteilskraft oder persönlicher Verantwortung sind? Möglicherweise kann der Algorithmus

‚objektiver‘ bewerten als der Lehrer aus Fleisch und Blut. Allerdings sind die Maßstäbe und Standards der Software auch nur Ausdruck von Subjek- tivität, nämlich der Subjektivität der Programmierer und Redakteure.

25 Dräger/Müller-Eiselt 2015, S. 24f.

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Und: Verfügt der Automat über das, was man früher mit Herbart den

‚pädagogischen Takt‘ nannte? Kann er auch eine ‚pädagogische Note‘

geben? In einem Unterrichtsgespräch war es für alle Beteiligten prinzipiell jederzeit möglich thematisch, methodisch oder auf der Beziehungsebene zu intervenieren. Aus einer Sachfrage ‚Was hat es mit der menschlichen DNA auf sich?‘ muss situativ auch eine Wertfrage werden können: ‚Ist das Klonieren von Menschen legitim?‘ Bedeutet eine Ermächtigung der Software nicht eine stärkere Repression als sie jemals durch einen wilhel- minischen Rohrstocklehrer möglich gewesen ist? Gegen den anonymen Algorithmus gibt es kein Aufbegehren und vor der Überwachung durch Big Data kein Verstecken.

Bisher sind die Befürworter der Digitalisierung durch Ersetzung des Lehrers durch Software noch den Beweis einer Überlegenheit oder auch nur Gleichwertigkeit gegenüber gutem Unterricht schuldig geblieben. Es kann auch bezweifelt werden, ob dieser Nachweis zu erbringen ist. Sollte dies irgendwann gelingen, stellen sich immer noch die Fragen: Wollen wir so leben? Heiligt der Zweck die Mittel?

‚Governance‘

Die Software ‚Knewton‘ vermittelt nicht nur Wissen, sondern erhebt auch Wissen über die Schüler und ist insofern ein Instrument eines digitalen Panoptismus. Ohne jede pädagogische Theorie werden durch Big Data mittels statistischer Verfahren Cluster, Korrelationen, Normalverhalten, Abweichungen extrahiert die dann dazu dienen ein diagnostisches, mani- pulatives und prädiktives Herrschaftswissen bereitzustellen. Diese Daten können zur Optimierung von Lernen genutzt werden, wobei sicherlich die Frage zu diskutieren wäre, worin dieses Optimum denn bestehen sol- le. Die Frage nach dem Sinn ist jedenfalls eine andere als die nach der Funktion und kann entsprechend von der instrumentellen Vernunft nicht beantwortet werden.

Die Digitalisierungsoffensive der Ministerin ist dessen ungeachtet ein Projekt des Datensammelns und des ‚data mining‘, des Auswertens eines möglichst unendlich großen Datenkorpus. Das politisch-kybernetische Projekt soll explizit die „strategische Organisationsentwicklung unter- stützen“.26 Die Ziele der digitalen Transformation für das Jahr 2030 wer- den im Indikativ Präsens als Erreichte dargestellt, so als hätten die Akteu- re, über die hier verfügt wird, keine eigene Haltung oder Gestaltungs- hoheit in diesen Fragen:

26 Bildungsoffensive 2016, S. 25.

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„Alle Leiterinnen und Leiter von Bildungseinrichtungen verfügen über die für die Umsetzung digitaler Bildung notwendigen organi- satorischen, technischen und Management-Kompetenzen. Alle Lehrkräfte setzen das Lehren und Lernen mit digitalen Medien im Fachunterricht um. Die im Rahmen des Lernens mit digitalen Me- dien gewonnenen Erkenntnisse werden zur effizienteren Steuerung pädagogischer, personalwirtschaftlicher und bildungspolitischer Prozesse genutzt. Die im Rahmen des Lernens mit digitalen Medi- en gewonnenen Erkenntnisse zum Lernprozess haben neue Daten und Grundlagen für die empirische Bildungsforschung geliefert.“27

Die informationelle Vernetzung verknüpft individuelle und kollektive, pädagogische und organisationelle Aspekte unter einer kybernetisch- managarialen Perspektive:

„Die digitale Bildung hält nicht nur für die einzelnen Bildungsein- richtungen, sondern zugleich für die Bildungsverwaltung als Gan- zes neue Chancen bereit. So können die unter dem Vorzeichen der learning analytics gewonnenen Daten zugleich genutzt werden, um pädagogische, personalwirtschaftliche und bildungspolitische Pro- zesse effizienter zu steuern [...].“

Im Hintergrund des sog. ‚Bildungscontrollings‘ steht die Herrschaftspra- xis der ‚Governance‘, die sich anschickt ‚Bildungspolitik‘ in einem tatsäch- lich politischen Sinne zu verdrängen und durch ein kennziffern-gestütztes und sollwert-orientiertes technokratisches Steuern zu ersetzen: Das Stre- ben nach guten Rankingplätzen, Akademikerquoten, Drittmitteleinwer- bungen, Publikationsratings im Umfeld eines wettbewerblichen Umfelds und managerialer Selbstführung, überführt die handelnden Akteure der Bildungspolitik und der Bildungseinrichtungen in ein Kraftfeld, in dem die Frage nach widerstreitenden Sinn- und Wertbestimmungen hinfällig geworden ist. Die vermeintliche Objektivität der Zahlen als Überwindung von Ideologisierungen zu feiern wäre allerdings sehr kurzsichtig, weil das Zahlenregime und das prozedurale Betriebssystem der Optimierungs- techniken seinerseits kryptonormativ determiniert ist.

„Mit einem Wort, die Governance verbreitet eine entpolitisierende Erkenntnistheorie, Ontologie und eine Gesamtheit von Praktiken.

Da ihre Ausrichtung weich, inklusiv und technisch ist, verscharrt die Governance strittige Normen und strukturelle Schichtenbil- dungen (wie zum Beispiel Klassen) sowie die Normen und Aus- schlüsse, die durch ihre Verfahren und Entscheidungen in Umlauf gesetzt werden. Sie integriert Subjekte in die Zwecke und Bahnen der Nationen, Betriebe, Universitäten oder anderer Gebilde, die sich ihrer bedienen. Im öffentlichen Leben verdrängt die Gover- nance liberal-demokratische Anliegen mit Bezug auf Gerechtigkeit

27 Ebd.

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durch technische Problemformulierungen, Fragen nach dem, was recht ist, durch Fragen nach der Effizienz, selbst Fragen nach dem, was legal ist, durch solche nach der Effektivität.“28

Die Digitalisierung von Bildung fungiert letztlich als Element der post- politischen Schulsteuerung und Organisationsentwicklung, sie errichtet über Schülern, Lehrerkollegien und Schulverwaltungen ein Regime der Kontrolle im Sinne von Sichtbarkeit und Steuerung. Freiheits- und Ge- staltungsspielräume von Lehrpersonen, Wissenschaftlern oder sogar Poli- tikern sind funktionalistisch präokkupiert und damit de facto abgeschafft.

Widerstand

In der Summe dürfte deutlich geworden sein, dass unter dem Titel der Digitalisierung von Bildung ein weiterer Angriff auf das humanistische Bildungswesen erfolgt. Sicher kann man hoffen, dass diesen Bestrebungen die gleiche Erfolgslosigkeit beschert wird, wie der Einführung der Sprach- labore in den 70er Jahren, der kybernetischen Didaktik oder der Compu- ter-Kampagne der 80er Jahre. Gerade auf lange Sicht kann man davon ausgehen, dass sich die anthropologischen Elementarphänomene von Lernen im Weltbezug und im Horizont von Sozialität gar eliminieren lassen. Bezogen auf die gegenwärtige Situation von Lehrern und Schülern aber, wäre es zynisch abzuwarten, bis die hochtrabenden Programme den Weg des notwendigen Scheiterns gegangen sein werden, denn diese Gene- ration wäre dann im Reformfeuer verbrannt. Im Unterschied zu den früheren Anläufen einer Automatisierung der Bildung fährt die Digitali- sierungskampagne größere Geschütze auf und trifft auf eine empfängli- chere Gesellschaft, die bereits die Alternativlosigkeit der Digitalisierung akzeptiert oder gedankenlos vollzieht. Entsprechend hat sich der Raum der formellen und informellen Politik gewandelt, seitdem die Rationalität von Governance und Neoliberalismus als Firmware von Staat, Gesell- schaft und Individuen fungiert. Die ubiquitäre Governance unterläuft vielfach subversive Ansätze, indem diese entweder ins Nichts fallen oder funktional integriert werden. Bemerkenswert ist dabei das Missverhältnis, dass die Individuen unentrinnbar zum Gegenstand von Wissen gemacht werden, aber niemand weiß, wer dieses Regime in Geltung gesetzt hat.

Durch Responsibilisierung bürdet es dem Einzelnen Funktionen, aber die Frage nach der Responsibilität bleibt unbeantwortet: Wer ist eigentlich verantwortlich für diese Transformation unseres Lebens? Wir werden mit allen möglichen Ansprüchen adressiert, aber an wen wäre denn ein politi-

28 Brown 2015, S. 17.

(22)

sches Unbehagen an den ausgeführten bedenklichen Zeittendenzen zu adressieren?

Wie immer gilt: Bangemachen gilt nicht! Die modellkritische Aufar- beitung der antihumanen Erosionen pädagogischer Konzepte, die publi- zistische Aufklärung auch außerhalb der Fachöffentlichkeit, die Wahrneh- mung der politischen Gestaltung auf dem Wege der verfassungsmäßigen Wege und Organe sind eine wesentliche Möglichkeit, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. Am Erfolg der Elterninitiativen für G9 oder der Studentenproteste gegen die Studiengebühren zeigt sich, dass Ohnmachtsgefühle unangebracht sind. Wichtig wäre allerdings, dass die klaren Analysen und politischen Gegenentwürfe wieder aus der demokra- tischen Mitte der Gesellschaft heraus formuliert würden, damit es popu- listischen Akteuren nicht mehr so leicht fällt, auf dem Resonanzboden der berechtigten Sorgen und politischen Frustration Stimmen zu sammeln.

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Referenzen

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