• Keine Ergebnisse gefunden

Hören mit einem Ohr. Und die Balance halten. Axel E. Lesche 2020 Folgen einer Akustikusneurinom OP

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Hören mit einem Ohr. Und die Balance halten. Axel E. Lesche 2020 Folgen einer Akustikusneurinom OP"

Copied!
18
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Hören mit einem Ohr

Und die Balance halten

Axel E. Lesche 2020 Folgen einer Akustikusneurinom OP

(2)

Seite 1

Inhaltsverzeichnis

Operation [OP] ... 2

Tagebuch 1992 ... 2

Diagnose ... 5

Mein mühsamer Weg ... 5

Pathologie ... 6

Das Ohr [Bild]... 6

Das Akustikusneurinom ... 6

Das Gehör ... 7

Die Balance ... 7

Zurück in den Alltag ... 8

Hören neu lernen ... 8

Angst verstehen ... 10

Balance trainieren ... 10

Gesichtsmuskeln stimulieren ... 12

Die Nachsorge ... 12

Die Kur ... 12

Kuraufenthalt ... 13

„Ermutigung“ ... 14

Das Hörgerät ... 14

Mit dem Hörgerät leben ... 14

Ich spiele Saxofon ... 15

Literatur ... 17

(3)

Seite 2

Operation [OP]

Tagebuch 1992 12.Mai

Mit der Diagnose Akustikusneurinom reise ich zu einem Informationsgespräch in das Kopfklinikum Erlangen. Ein Arzt berät mich: Wir betrachten und diskutieren meine mitgebrachten CT- und MRT- Bilder am Lichtkasten. CT: Computer Tomographie, MRT: Magnet-Resonanz-Tomographie. Im CT-Bild zeigt das Innenohr rechts eine Aufweitung in Asymmetrie zum linken Innenohr. Im MRT-Bild ist deutlich am rechten Innenohr die kugelige Substanz eines mittelgroßen Tumors zu erkennen. Der Arzt erklärte mir, was passiert, wenn ich mich nicht operieren lassen: Der Tumor wird langsam größer, das Hörvermögen wird als erstes verschwinden. Der Gesichtsnerv wird eingeschnürt und gedrückt, sodass Lähmungserscheinungen der rechten Gesichtshälfte auftreten. Die Hirnflüssigkeit wird gestaut, wodurch der Kopf sich aufbläht. Der Hirnstamm und damit diverse Körperfunktionen werden gestört. Unter diesen Bedingungen gibt mir der beratende Arzt eine Lebenserwartung von zwei Jahre.

1.Juli

Heute Dienstag treffe ich zur OP im Kopfklinikum der Universität Erlangen, Schwabachanlagen Nr. 6, ein. Direktor und Operateur ist Prof. Dr. Fahlbusch. Station C32 Neurochirurgie.

2.Juli

Röntgenaufnahme seitlich vom Kopf und Lungenaufnahme. Anschließend EKG und dynamischer Lungentest.

3.Juli

Untersuchungen in der HNO-Klinik Erlangen.

Zusammen mit Erika zum Vorgespräch bei Prof. Dr. Fahlbusch: Der chirurgische Eingriff wird am Hinterkopf rechts durchgeführt. Von dort aus hat man eine gute Übersicht auf die Lage des Tumors.

Dieser wird langsam herausgeschält. Dazu werden Laser, Ultraschall und Mikroskop eingesetzt. Das Mikroskop hat drei Arme, damit drei Operateure gleichzeitig das Geschehen beobachten können.

Den Verlauf der Nervenbahnen sieht man nicht, man überprüft ihre Funktionen mit kleinen Elektroschocks. Man wird behutsam vorgehen, wodurch die Dauer des Eingriffs bis zu 10 Stunden betragen kann. Die Aufwachphase wird über einen Tag verteilt. Die Beschädigung des Gehörs wird im besten Fall so bleiben, wie sie aktuell war. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass das Gehör auf der rechten Seite verloren geht. Wir haben dieses Vorgespräch als angenehm und sehr informativ empfunden.

9.Juli

Die mikrochirurgische OP erfolgt über eine Öffnung der rechten Hinterhauptschuppe. Hierzu ist eine kleinflächige Rasur hinter dem Ohr notwendig. Nach öffnen der harten Hirnhaut gelangt man entlang des Weges zwischen Felsenbein und Kleinhirn bis zu dem Tumor im Kleinhirnbrückenwinkel. Der innere Gehörgang wird mit einem Fräser geöffnet und mit Hilfe eines Operationsmikroskop kann dann der Tumor entfernt. An den Operateur werden höchste handwerkliche Ansprüche gestellt. Die OP dauert sechs Stunden.

In der Intensivstation

Nach der OP drei Tage und Nächte in der Intensivstation. Mein Körper ist voll verkabelt. Am Hals eine Infusionsnadel mit dem Schmerzmittel Morphium. Ich hatte den Eindruck, als befände ich mich in zwei Welten: Mit geöffneten Augen sah ich die Schwestern hin und her eilen. Auf den Monitoren flimmerten die farbigen Impulslinien. Schloss ich meine Augen, dann tat sich eine Traumwelt auf, in

(4)

Seite 3 üppiger Farbenpracht, so berauschend, so nah, so hangreiflich, dass ich wie verzaubert war. Ich lag auf einer weichen, braunroten Wolldecke, deren angenehme Wärme und Weichheit ich auf der Haut spürte. Sie formte sich zu einem Sofa, dann zu einem Sessel. Die Muster ihrer Fasern kräuselten sich zu einem kleinen weichen Wollknäuel zusammen. Ich erhob mich und begann zu schweben. Ich glitt über wunderschöne Landschaften hinweg. Ein unbeschreiblicher Reichtum an Pflanzen, Formen und Farben boten sich mir an. Vulkane öffneten sich spontan aus dem Boden. In ihrem Inneren funkelten glasklare Seen. Ich sah durch sie hindurch auf ihren Grund. Schillernde Fische glitten dahin,

schwankende Algen zeigten an, dass sich das Wasser zu bewegen begann. Langsam wurde die Bewegung stärker, das Wasser begann allmählich zu kreisen. Die Wollknäule bewegen sich, dickte Fäden lösen sich, wandeln sich zu kleinen pelzigen Maden. Sie zuckten und platzten auf, Insekten schlüpfen heraus. Sie wurden mehr und mehr. Fliegen, Mücken, Spinnen immer größer, monströser;

Angst, ein Stich am Hals, ich riss die Augen auf. Blitzartig riss der Film.

„Nicken sie mit dem Kopf Frau Preuß, wenn sie mich verstehen!“ Meine unsichtbare Nachbarin hat nie geantwortet. Immer wieder war das Piepen, von irgendwelchen Geräten zu hören. Dann plötzlich Unruhe. Scheinwerfer an der Raumdecke strahlten auf. Schnelle Schritte, Rufe. Das Klappern von Bettgestellen war zu hören. Ein Kind schrie. „Für die Mutter müssen wir noch ein Feldbett

aufstellen!“ „Mamma, ich habe Kopfschmerzen, ich will nach Hause!“ Der Arzt erkläre der Mutter in knappen Worten was operiert wurde. „beruhigen sie sich, es ist gut gelaufen. Es war noch

rechtzeitig.“ Die Mutter beruhigt das Kind. Ruhe, nur das Piepen der Geräte war noch zu hören.

Ich hätte schreien können, murmelte aber nur „Lasst mich in Ruhe!“ Ich war völlig fertig und verschwitzt. ‚Jetzt wieder die Augen schließen‘, dachte ich ‚ja in meine Traumwelt steigen, was Schönes erleben‘: Herbstblätter lagen auf dem Waldboden. Wieder überwogen braune, rote Farben.

Im Unterholz sah ich winzige Menschen stehen. Häuser, Straßen taten sich auf, wie Spielzeug klein.

Zunächst war alles starr und hölzern, dann aber bewegte sich alles. Die Figuren wuchsen, ich sah Gesichter, die ich kannte. Wie in einer Puppenstube, saßen Erika und die Kinder am Tisch und aßen.

Die Konturen verschwommen. Weiche Formen von nackten Körpern traten in den Vordergrund. Es könnte der braune Bauch einer Frau gewesen sein. Mein Blick konzentrierte sich auf den Bauchnabel oder war es der Schlund eines Vulkans? Er bewegte sich, eine fleischige Made trat heraus, ein Käfer folgte. Der Körper kreiste, die Tiere vermehrten sich und wurden größer. –Genug, Augen auf. „Frau Preuß, Frau Preuß machen sie mal die Augen auf. Die Augen, nicht den Mund“. Pause, dann „Herr Lesche, wie heißt unser Bundeskanzler?“ „Helmut Kohl“ antworte ich. Die Schwester stellte mir diese Frage alle halbe Stunde.

14.Juli

Ich sitze auf der Bettkante. Mein Zustand: leichter Schwindel, rechte Nackenmuskel verspannt. Ich habe das Operationshemd ausgezogen, das Oberteil vom Schlafanzug übergestreift, eine Unterhose angezogen und schließlich bin ich in meine Jogginghose geschlüpft.

Mein Kopf ist mit einer Mullbinde verbunden, als hätte man mir einen Sturzhelm aufgesetzt. Die Wunde, am Hinterkopf rechts, wurde gestern gesäubert und zugeklebt. Die Ohren sind frei. Ich frage mich, ob ich auf dem rechten Ohr hören kann, -Pause. Ich kann es nicht beurteilen. Ich halte das linke Ohr mit der linken Hand zu und meinen eingeschalteten Rasierapparat und halte ich vor das rechte Ohr. Ich höre leise das Summen, bin mir aber nicht sicher, ob dieses Geräusch von beiden Ohren oder nur vom linken Ohr aufgenommen wird. Oder, will ich es vielleicht auch gar nicht wissen?

Eine Infusionsnadel hängt -schon seit dem Aufenthalt in der Intensivstation- an meiner oberen rechten Halsschlagader. Sie ist mit einem der vielen Schläuche verbunden, die vom Infusionsständer, neben meinem Bett, herunterhängen. An seinen Haken hängen diversen Flaschen, eine davon gibt Morphium tropfenweise ab. Im Zimmer liegen noch zwei weitere Patienten, die nicht selberständig

(5)

Seite 4 aufstehen können. Draußen lässt eine feine hohe Wolkendecke die Sonne nur wenig durchdringen.

Die Vögel zwitschern.

Visite

Herr Dr. Strauß und sein Team machen die Runde. „Wie geht es Ihnen?“ „Ich habe meine innere Ruhe wiedergefunden, die ich nach dem Erwachen aus der Narkose völlig verloren hatte!“

Antwortete ich. Ein Begleiter entdeckt die aufgerollte Lehrtafel „Das Ohr“ (Erika hatte sie mir mitgebracht). Er rollt sie aus und meint „Mm, Mm!“. „Ja“, sagte ich „da kann man schön die Nervenbahnen sehen, an denen sie herumgekratzt haben, z.B. am ‚Nervus Facalis‘. Da grinst Dr.

Strauß, nimmt die Tafel, hängt sie direkt vor meine Nase und sagt „Facialis!“ „Oh, Ja, danke“ meine ich, „habe meine Brille noch nicht wieder auf“. „War schwer d‘ran zu kommen“, fuhr Dr. Strauß fort,

„ihre Kopfschwarte war außergewöhnlich hart. Das hatten wir noch nie!“ „Vielleicht“, spekulierte ich,

„waren bei meinen Urahnen auch Neandertaler dabei!“ Allgemeines Gelächter. Man übergab mir das Infoblatt: ‚Facialis-Lähmung‘.

15.Juli

Eine Krankenschwester hilft mir aus dem Bett, fast mich unter den Arm und begleitet mich in den Waschraum. Ich bin noch sehr wackelig auf den Beinen. Sie wäscht mir Oberkörper und Gesicht.

Danach schaffe ich es allein zurück zum Bett zu gehen! Wieder im Bett, aufrecht sitzend, plagen mich starke Nackenschmerzen! In der Nacht war es sehr unruhig gewesen: Der Bettnachbar schnarchte, grunzte und hatte Anfälle. Der Nachtdienst bot mir Ohrstöpsel an; ich brauchte aber keines, eher tat mir mein Bettnachbar leid, es stand auf der Kippe mit ihm, zwischen Leben und Tod. Mein Zustand dagegen ist ein sanftes Dösen mit verschiedenen Traumphasen, Wachphasen in denen ich überlege, plane oder auch nur so fabuliere.

16.Juli

Starke Schmerzen der Sehnen am rechten Hinterkopf und Schwindelgefühl. Heute selbständig aus dem Bett gestiegen. Mit der rechten Hand den rollenden Infusionsständer fest umklammert, gehe ich im Flur der Station mehrfach auf und ab. Danach werden die Fäden an der OP-Wunde gezogen.

Anschließend wird ein erster „Knattertest“ gemacht: Ein EEG mit überlagerter Geräuscherzeugung. Es soll ein objektivierter Gehörtest sein. Über das Resultat lässt man mich im Unklaren. Ich frage mich:

‚Bleibt ein Minimum an Hörfähigkeit‘?

Das Ergebnis der OP

Fahrt zur Audiometrie in der HNO-Klinik. Samt Infusionsständer und Perfusor (Spritzpumpe), wurde ich im Sanitätswagen zur Klinik gefahren. Das Gebäude hatte eine Architektur, die mir das Gefühl gab, um hundert Jahre zurück versetzt zu sein. Ich betrat eine Halle, die in viele kleine, nach oben offene, Parzellen unterteilt war. In einer Parzelle wurde der Hörtest durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig: Eine periphere Taubheit auf dem rechten Ohr und der Verlust eines Gleichgewichtsorgans.

Der Tumor war mit seinen 2cm Durchmesser schon so groß gewesen, dass der Hörnerv und der Gleichgewichtsnerv bei der OP zertrennt werden mussten. Der parallele Gesichtsnerv, der Facialis, wurde bei der OP traumatisiert und verletzt, wodurch die Feinmotorig der rechten Gesichtshälfte über einen längeren Zeitraum gelähmt sein wird. Sichtbar in einer erstarrten, schief hängende Gesichtsmuskulatur, wo Lippen und Augenlied nur eingeschränkt bewegt werden konnten. Zusätzlich war die Sekretproduktion der Tränendrüse im Auge leicht überaktiviert und die Geschmacksknospen auf der rechten Zungenhälfte waren gefühllos.

Ich erzähle Medizinstudenten meine Geschichte

Nach dem Test ließ man mich allein in der Parzelle. Bequem im Behandlungsstuhl sitzend dachte ich noch ‚Was jetzt?‘, da kam eine Gruppe junger angehender Ärzte in weißen Kitteln schweigend herein und stellten sich im Halbkreis vor mich hin. Dann kam der Oberarzt dazu und fragte mich, ob ich

(6)

Seite 5 bereit wäre den Medizinstudenten meine Geschichte zu erzählen. Ja, ich erzählte. Am Anfang stand mein mühsamer Weg bis zur Diagnose.

Diagnose

Mein mühsamer Weg

1985 hatte ich meinen ersten Hörsturz auf dem rechten Ohr. Mein alter Ohrenarzt hatte sehr schnell reagiert und mich sofort im Krankenhaus Barmbek angemeldet. Mit einer Infusion wurde meine Durchblutung im Körper zehn Tage lang verstärkt. Am Ende dieser Prozedur konnte ich beruhigt feststellen, dass die plötzliche Taubheit auf dem rechten Ohr verschwunden war.

Vier Jahre später, begann auf diesem rechten Ohr, natürlich nur für mich hörbar, ein sehr leises Piepen. Ich hörte diesen Ton nur, wenn ich morgens im Bad vor den Spiegel stand und alles um mich herum still war. Über den Tag achtete ich nicht mehr auf dieses sehr feine Geräusch. Da ich aber schon einen Hörsturz gehabt hatte, hielt ich jeden Morgen inne vor dem Spiegel und lauschte. Es mag einen Monat später gewesen sein, da hatte ich den Eindruck, dass das Piepen ein wenig lauter geworden war. Ich wurde unsicher, bilde ich mir da was ein? Wieder einen oder zwei Monate später war es noch etwas lauter geworden! Ich fragte mich: Was löst dieses Piepen aus?

Ein Jahr nach meiner ersten Wahrnehmung des Ohrgeräusches ging ich, mein alter Ohrenarzt war gestorben, zu einem anderen Ohrenarzt, um ein Audiogramm machen zu lassen. Das Ergebnis war unauffällig, besser gesagt „negativ“, denn eine messbare Verschlechterung des Hörens war nicht festzustellen. Ein sachliches Gespräch war mit diesem Arzt leider nicht möglich. Ich erzählte ihm vom leisen, zunehmenden Piepen im Ohr und meinem Hörsturz vor acht Jahren. Er sah nur hilflos auf das Audiogramm und schüttelte mit dem Kopf, da ist nichts! „Tinnitus kann man nicht heilen, entweder es geht von allein weg, oder sie müssen damit leben“. Er nahm mich nicht ernst, dazu ist wohl seine Zeit zu kostbar dachte ich. Wieder einen Monat oder waren es zwei Monate später, konnte ich das Geräusch nicht mehr ignorieren und ich ging erneut zu diesem Ohrenarzt. Vergeblich, er grinste nur mitleidig und gab auf mein „Gerede“ keinen Pfifferling. Ich zweifelte schon selbst, ob ich vielleicht aus einer Maus einen Elefanten machte. Dieser Arzt ging nicht auf meine Beobachtungen ein. Auf meine Frage „Was könnte der Auslöser sein“ antwortete er nicht. Ständig nur Beschwichtigungen. Ich wurde unsicher über meine Beobachtungen.

Wieder ein Jahr später ging ich mit meinem „Problem“, das immer dominanter wurde, zu einem zweiten Ohrenarzt. Er hörte zu, machte ein Audiogramm und jetzt war im oberen Frequenzbereich erstmals ein kleiner Einbruch zu sehen. Auch er versuchte mich anfangs noch zu beschwichtigen. Nur letztendlich blieb er unentschlossen. Er redete viel und deutete an, dass sein Kollege mit elektrischen Potentialen experimentiere, die seitendifferente Laufzeitunterschiede erkennen lassen (vermutlich die FAEP-Methode), doch mein Problem brachte er damit nicht in Verbindung. So vergingen mal wieder einige Monate. Ich wurde ungeduldiger, da die Geräusche im rechten Ohr weiter

anschwollen. Im Februar 1992 dann diagnostizierte dieser Ohrenarzt, einen kräftigen Höreinbruch.

Erst auf meinen eindringlichen Wunsch hin, diesen Einbruch doch als Hörsturz zu klassifizieren, willigte er schließlich ein und schrieb mir eine Überweisung ins Krankenhaus Barmbek mit der Diagnose: „Progrediente Hypakusis = Fortschreitende Schwerhörigkeit“. Mein zweiter Hörsturz.

Im AK-Barmbek wurden mir zur Förderung der Durchblutung Infusionen verabreicht. Nach zehn Tagen war dieses Mal keine Hörverbesserung auf dem rechten Ohr festzustellen. Am letzten Tag wurde ich noch in die Röntgenabteilung geschickt, um dort ein Pyramiden CT, eine Kopfaufnahme mit Kontrastmittel machen zu lassen. Danach wurde ich entlassen und fuhr nach Hause. Zwei Tage später bekam ich einen Anruf aus dem Krankenhaus. Ich möchte doch bitte in die HNO-Abteilung

(7)

Seite 6 kommen, denn die Analyse der Röntgenbilder hätten neue Erkenntnisse gebracht, die sie mir

mitteilen wollten. Ich dachte sofort: ‚Ein Anruf aus dem Krankenhaus, das bedeutet nichts Gutes!‘

Ich betrat das Vorzimmer der HNO-Abteilung, in dem das Personal geschäftig hin und her wuselte.

Ich nannte einer Schwester meinen Namen; sie deutete auf den Patientenstuhl, mit dem Hinweis, ich solle doch bitte dort Platz nehmen, Herr Professor werde gleich eintreffen. Es wurde ruhig im

Zimmer. Mehr und mehr Ärzte kamen in ihren weißen Kitteln herein und stellten sich wortlos zum Personal. Stille im Raum, keiner sprach. Dann kam der Chefarzt herein und stellte sich vor mich hin:

“Ich will nicht drumherum reden“, begann er. Ich stand spontan auf, denn irgendwie merkte ich, dass es jetzt wohl ernst werden würde. „Bitte setzen sie sich…, wir haben ihre CT-Bilder ausgewertet und festgestellt, dass es eine deutliche Kontrastverschiebung zwischen linkem und rechtem Gehör gibt. Es deutet alles darauf hin, dass sich an ihrem rechten Gehörnerv ein Tumor ausgebildet hat. Genauere Aussagen, über seine Größe und Lage, können wir aber erst treffen, wenn wir eine MRT-Aufnahme anfertigen lassen.“

Die MRT-Aufnahme wurde 20. März 1992 durchgeführt. Die Diagnose lautete: Ein kugeliger Tumor im rechten Kleinhirnbrückenwinkel mit einem Durchmesser von ca. 2cm. Ein Akustikusneurinom.

Pathologie

Das Ohr [Bild]

Wikipedia

Im Bild sind alle Teile des Ohres abgebildet.

Wir sehen v.l.n.r. das äußere Ohr mit der Ohrmuschel und dem äußeren Gehörgang.

Sie sammeln die Schallwellen von außen ein.

Anschließend das Mittelohr mit dem Trommelfell und den Gehörknöchelchen.

Hier werden die Schwingungen des

Trommelfells, ohne Energieverlust, über die Gehörknöchelchen um ein Vielfaches verstärkt. Es folgt das Innenohr, eingebettet in den härtesten Knochen unseres

Organismus dem Felsenbein, mit der Hörschnecke (Cochlea) und dem Gleichgewichtsorgan (Vestibularis).

Haarzellen in der Hörschnecke wandeln die Schallwellen in elektrische Impulse um, die dann über den Hörnerv (Nervus cochlearis) zum Hörzentrum und weiter zum Gehirn geleitet werden. Gemeinsam mit dem Hörnerv verläuft der Gleichgewichtsnerv (Nervus vestibularis). Sie beide bilden gemeinsam den VIII. Hirnnerv. Parallel dazu, hier nicht abgebildet, verläuft der Gesichtsnerv (Nervus Facialis). Er, der VII. Hirnnerv, steuert die Gesichtsmuskulatur, die Wahrnehmung des Geschmacks auf der Zunge und die Versorgung der Tränendrüsen.

Das Akustikusneurinom

Im Bild ist das Akustikusneurinom (AKN) oder das Schwannom als braune Geschwulst abgebildet. Der Tumor entsteht an der äußeren Hüllschicht der Gleichgewichtsnerven, den so genannten Schwann- Zellen, und ist im inneren Gehörgang im Kleinhirnbrückenwinkel gelegen. Das AKN wird als „gutartig“

bezeichnet, weil es keine Metastasen, keine Tochtergeschwülste im Körper bildet. Es wächst zwar

(8)

Seite 7 langsam, aber unaufhaltsam. Es drückt auf die Nervenbahnen und ihre Blutversorgung und zerstört so ihre Funktionen. Das AKN wirkt somit lebensbedrohlich.

Das AKN entsteht aus bisher unbekannter Ursache. Es tritt meist sporadisch auf und manifestiert sich ab der vierten Lebensdekade. Warum es an der Hüllschicht der Gleichgewichtsnerven zu solchen Veränderungen kommt, ist bisher ungeklärt. Auch kennt man bis heute keine äußeren Faktoren, die die Entstehung dieser Tumore begünstigen. Die Häufigkeit der AKN wird mit 1/100 000 angegeben.

Legt man die entsprechenden Bevölkerungszahlen zugrunde, dann muss man in Deutschland mit jährlich etwa 800 Neuerkrankungen rechnen.

Der Tumor kann mit einer MRT zuverlässig detektiert werden. Eine Früherkennung ist möglich durch die Technik der „Frühen evozierten (erzeugten) akustischen Potentiale FEAP“. Dabei werden die Laufzeiten elektrischer Signale beidseitig vom Innenohr zum Hirnstamm gemessen und verglichen.

Durch ein AKN in den Nervenbahnen erleiden diese Impulse Laufzeitverzögerungen. Eine komplette Resektion (Entfernung) des Tumors kann nur durch einen chirurgischen Eingriff erreicht werden.

Danach wird eine regelmäßige MRT-Nachkontrolle empfohlen.

Das Gehör

Das Gehör umfasst beide Ohren, samt Hörnerven bis zum Hörzentrum, wo die Schallwellen zu akustischen Bildern, zu „Klangbildern“ geformt und gespeichert werden. Im übergeordneten Gehirn werden sie analysiert und kontrolliert. Streng genommen hören wir nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn! Schon als Kind lernten wir spielerisch diese Klangbilder zu interpretieren, um mit ihnen eine räumliche Orientierung zu finden und im Gewirr der äußeren Geräusche und Stimmen ihre akustische Wiedererkennung zu gewinnen.

Entfernung und Richtung der Schallquelle kann das Gehirn aus den Klangbildern berechnen. Dabei nutzt es die Differenzen von Lautheit und Laufzeit der Schallwellen zwischen den Ohren.

Für das selektive Hören nutzt das Gehirn seine rückgekoppelte Kontrolle mit anderen sensorischen Systemen, wie z.B. mit dem Sehen. Mit dieser hoch komplexen Fähigkeit ist das Gehirn in der Lage, die für uns „wichtigen“ Schallsignale aus den Klangbildern zu erkennen und sie gegenüber den uns

„unwichtigeren“ hervorzuheben; bezeichnet als „Cocktail-Party-Effekt“. Wir können

ganzselbstverständlich in einer lauten Gesellschaft mit unseren beiden Ohren die Stimme einer einzelnen Person heraushören, nachdem wir uns einmal auf diese Stimme im Sprachmix konzentriert haben und die Person dabei ansehen.

Das Hörzentrum ist kein passiver Empfänger, sondern mit Hilfe des Gehirns kann es -über spezielle Fasern im Hörnerv- regelnd ins Gehör und damit auf beide Ohren gleichgerichtet einwirken. Steigt die Lautheit an, dann spannt sich das Trommelfell und die Gehörknöchelchen im Mittelohr versteifen sich, um die Schallwellen zu dämpfen. Sogar auf die Haarzellen in der Hörschnecke nimmt es Einfluss.

Es kann ihre Sensibilität vermindern, um das Hörvermögen zu dämpfen oder ihre Sensibilität erhöhen, um das Hörvermögen zu verstärken. Die Regelung zwischen den Ohren geht soweit, dass wenn an einem Ohr der Ton zu laut ist, das Gehirn für einen „Lautheitsausgleich“ (Recruitment) zwischen den beiden Ohren sorgt, indem es die Empfindlichkeit am anderen Ohr ebenfalls herunterfährt. Für plötzliche Schallereignisse sind diese Funktionen allerdings nicht ausgelegt!

Fällt ein Ohr aus, dann gehen einige dieser wunderbaren Eigenschaften des Gehörs verloren. Aber nicht alle. Unser Gehör ist lernfähig! Mit einem angepassten Hörgerät und dem aktiven persönlichen Willen lassen sich auch mit nur einem Ohr seine Qualitäten steigern und somit der Verlust eines Hörnervs teilweise kompensieren.

Die Balance

Die Balance oder das Gleichgewicht unseres Körpers steuert das Gleichgewichtszentrum. Im Gehirn laufen schließlich alle Informationen derjenigen Sinne zusammen, die für die Balance von großem

(9)

Seite 8 Einfluss sind. Zu diesen Sinnen gehören erstens die beiden Gleichgewichtsorgane für den Erhalt des aufrechten Ganges und des stabilen Blickfeldes, wenn Augen und Kopf sich bewegen. Zweitens die beiden Augen für das Sehen zur Orientierung im Raum, drittens der Tastsinn für das Erfühlen der Bodenstruktur und viertens die Sinne der Körperempfindung (Tiefensensibilität). Letztere umfasst die Sinne für die Position des Körpers im Raum, die Kraft der Muskeln und Sehnen und die Bewegung zum Erkennen der Bewegungsrichtung.

Das Gehirn sorgt dafür, dass die aktuelle Position im Raum mit den Bewegungsabläufen abgeglichen wird, die wir im Laufe unseres Lebens erlernt und abgespeichert haben. Anschließend gehen die Befehle, für die notwendigen Bewegungen zum Erhalt der Balance, zu den Muskeln, Sehnen und Gelenken. Fällt ein Gleichgewichtsorgan aus, dann greift das Gehirn zur Einhaltung der Balance besonders auf die Augen, den Tastsinn und die Körperempfindung zurück.

Zurück in den Alltag

Einige praktische Erfahrungen, die ich in den ersten Wochen nach der OP gemacht habe.

Hören neu lernen

Das spontane Richtungs- und Entfernungshören ist verloren. Zur räumlichen

Orientierung sind Klangbilder hilfreich. Die Kommunikation in der Gruppe verlangt eine sehr hohe Konzentration. Beim Fernsehen setz ich auch mal den Kopfhörer auf.

Das Spiel „Wo bin ich?“

Tom, damals 9 Jahre alt, hat mich natürlich kurz nach der OP in der Wohnung getestet. Ich stehe im Flur und er ruft aus irgendeinem Zimmer: „Wo bin ich?“. „Ja, äh, ich komme“ antworte ich. Doch wo sollte ich suchen, in welche Richtung sollte ich jetzt gehen? Systematisch gehe ich von Zimmer zu Zimmer, bis ich ihn schließlich lachend im Schlafzimmer fand. Das Spiel wiederholten wir immer mal wieder und nach einigen Tagen konnte ich zumindest das Bad aus seinen Rufen heraushören, denn dieser Raum war mit Kacheln ausgelegt, sodass das Klangbild seiner Stimme mit einem typischen Halleffekt „gefärbt“ war.

Mir wurde klar, ich konnte weder die Richtung noch die Entfernung angeben, wo Tom sich aufhielt.

Meinem Gehör fehlten aus dem Klangbild die Laufzeit- und Lautheitsdifferenz der Schallwellen zwischen den beiden Ohren. Allein das markante Klangbild selbst, mit den reflektierten Schallwellen von den Wandkacheln im Bad, half mir bei der räumlichen Orientierung. Ich machte eine erste Lernerfahrung zum Richtungshören!

Sendungen in Radio und TV

Die Nachrichtensprecher sind gut zu verstehen, wegen ihrer geschulten Artikulation und der optimalen Studioakustik. In Spielfilmen dagegen kann es für mich sehr schnell zu Hörproblemen kommen, z.B. wenn die Alltagssprache in Wortfetzen daherkommt und sie auch noch in einem Dialekt verpackt ist oder wenn die Szenen durch Musik und Geräusche opulent untermalt werden.

Ich greife dann oft zum Kopfhörer, damit mein linkes Ohr direkt am Lautsprecher klebt.

Unterhaltung im Auto

Sitze ich als Beifahrer im Auto, also rechts vom Fahrer, dann habe ich keine großen Probleme mich mit dem Fahrer und auch mit den Mitfahrern auf der Rückbank, durch leichtes Drehen des Kopfes, zu unterhalten. Klar, denn mit dem linken Ohr kann ich ja noch gut hören. Problematisch wird es

allerdings für mich, wenn wir auf der Autobahn sind und wir deutlich schneller als 100km/h fahren.

Die Fahrgeräusche und damit die Stör- oder Nebengeräusche schwellen im Auto so stark an, dass für mich die Gespräche schnell schwierig bis unmöglich werden.

(10)

Seite 9 Sitze ich am Steuer, dann höre ich meine Beifahrer deutlich schlechter, denn mein linkes Ohr wird bei dieser Sitzanordnung von meinem Kopf verdeckt. Auch die Mitfahrer höre ich dann nicht mehr so gut. Ich mache die Erfahrung, dass ich Männer mit tiefen Stimmen, als Beifahrer besser höre als Frauen mit hohen Stimmen! Bei tiefen Tönen sind die Wellenlängen größer oder gleich meinem Kopf, sodass dieser Schall um den Kopf herumwandern kann. Sie zeigen den sog. „Beugungseffekt“. Hohe Töne, mit ihren kleineren Wellenlängen, werden am Kopf reflektiert, so dass mein linkes Ohr für sie in den akustischen Schatten eintaucht.

Auf der Straße

Im Straßenverkehr einer Großstadt sind Augen und Ohren besonders gefordert. Viel Aufmerksamkeit wird verlangt. Es ist laut und die Situationen ändern sich ständig. Schon mit zwei Ohren kann man sich allein auf die akustische Orientierung nicht verlassen. Ich versuche die Verkehrsregeln etwas strikter einzuhalten als es der „normale“ Verkehrsteilnehmer zu tun pflegt. Nicht die Straße mal eben schnell überqueren, sondern vorher mit einem ruhigen Blick nach links und rechts überprüfen. Auf den Fußwegen meine Spur halten, um nicht von hinten angestoßen oder angerempelt zu werden, nur weil ich nicht gemerkt habe, dass „mir“ das Klingeln, Pfeifen oder Rufen galt. Meine Regel lautet somit: Spur halten und umschauen, vor jeder Änderung der Richtung. Bei plötzlich auftretenden Signalen erschrecke ich leicht, da bin ich sehr empfindlich. Z. B. wenn ich ruhig auf dem Fußweg gehe und plötzlich ein Fahrradfahrer hinter mir klingelt, dann zucke ich zusammen.

Theoretisch sollte die Ortung, von vorne oder von hinten, auch mit einem Ohr möglich sein, denn diese Schallwellen werden an der Ohrmuschel des gesunden Ohres unterschiedlich abgelenkt und klingen, je nachdem woher sie kommen, am Trommelfell jeweils anders. Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich diese Möglichkeit in meiner Hörpraxis manchmal erfolgreich erleben konnte. Es gelingt mir aber meist nur in ruhigen Umweltsituationen.

Ich kenne keine Nebengeräusche

Schon in einer kleinen Gruppe kommt es selbstverständlich zu Parallelgesprächen. In diesen Momenten beginnt für mich das bewusste Zuhören, jetzt muss ich mich meinem Gesprächspartner zuwenden, ihm mein Ohr „schenken“, ihn möglichst dabei anschauen und mich auf sein Sprechen konzentrieren, nach dem Motto: Sprache wird verständlicher, wenn man dem Sprecher „auf’s Maul schaut“. Mein Gehirn kann mir leider nicht beim „Cocktail-Party-Effekt“ helfen, indem es die anderen Unterhaltungen ausblendet. Parallelgespräche werden für mich zu „Stör- oder Nebengeräuschen“.

Ich kann also, wie ich stets zu sagen pflege, zwischen Haupt- und Nebengeräuschen nicht

unterscheiden. Für mich bekommt die „Abwehr“ der Nebengeräusche eine persönliche Komponente, d.h. durch eigenen Willen und Training lässt sich der Grad der Störung minimieren. Wird die Gruppe größer, unterhalten sich mehr Menschen miteinander, dann stößt diese Herausforderung schnell an die Grenze meiner Konzentration. Kommt Musik zur Beschallung hinzu, sind Böden und Wände im Raum mit Steinen, Fliesen oder Marmor ausgelegt, dann wird durch Schallreflexionen nicht nur der Krach lauter, sondern die Sprache wird durch das breiter werden des Frequenzspektrums maskiert.

Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Grenze meines selektiven Hörvermögens deutlich unter der für Normalhörende liegt. Ab wann ich die Geräusche als störend empfinde hängt ganzstark auch von der Situation ab. So empfinde ich schon das Rascheln von Popcorn oder Flüstern eines Nachbarn im Kino als störend, während ich das Brüllen eines Löwen im Film nicht als störend wahrnehme.

Praktisch taub werde ich, wenn der Wasserkessel kocht oder der Haartrockner bläst.

(11)

Seite 10 Angst verstehen

Ich habe meine akustische Orientierung verloren, fremde Klangbilder verunsichern mich.

Übrig bleibt meine Schreckhaftigkeit.

Nachts allein im Bauernhaus

Nachts allein im Bauernhaus. Das war die schwierigste Phase in den ersten Wochen nach der OP.

Was scheppert da? Springt da eine Ratte auf das Blechdach vom Schuppen oder sind es vielleicht nur die reifen Mirabellen vom Pflaumenbaum? Es quietscht, die Tür oder ein Vogel? Kratzt da eine Maus im Gebälk oder knistert das Brennholz im Ofen? Was sind das für Geräusch, woher kommen sie? Das Bauernhaus lag abseits vom Dorfkern, nur von Feldern umgeben. Zu Beginn der Herbstferien, wenn die Tage kälter und feuchter wurden, bin ich mit dem Auto der Familie vorausgefahren, um die Heizung im Bauernhaus einzuschalten und den Ofen zu beschicken, damit die Zimmer warm und trocken waren, wenn die Familie am nächsten Tag eintrifft. Ja, in dieser einen Nacht stieg die Angst in mir hoch! Was war los mit mir, ich verstand meinen Zustand nicht, das war mir völlig neu. Nicht das Alleinsein, auch nicht die Einsamkeit an sich war es, was mir Schwierigkeiten bereitete, sondern diese nebulösen „akustischen Bilder“ im Bauernhaus machten mich unsicher, ich fand mich nicht zurecht.

Ich fühlte mich in diesem Haus nicht wohl. Der Verlust der akustischen Orientierung und die teilweise fehlende Zuordnung von Klangbildern ließ mir die Geräusche bedrohlich erscheinen und machten mir die ursprünglich vertrauten Räume fremd. Hat da jemand an der Haustür geklopft oder vielleicht am Fensterrahmen gescharrt? Was knarrt denn da? Oh, ich habe die Schuppentür noch nicht

geschlossen! Und die Veranda, ist die Flügeltür dicht? Ja, sie ist zu. Ich habe angefangen jedem Geräusch nachzugehen: Wo kommt es her? Welche Ursache hat es?

War ich nicht allein im Haus verschwand die Angst sofort. Schon beim dritten Vorausfahren nahmen meine Ängste ab, nach einigen Monaten verschwanden sie ganz. Übrig blieb meine Schreckhaftigkeit, mein körperliches Zusammenzucken, wenn plötzlich neben mir jemand auftauchte, den ich vorher akustisch nicht wahrgenommen hatte.

Balance trainieren

Mein Gleichgewichtszentrum muss auf Augen, Tastsinn und Körperempfindung neu trainiert werden.

Im Dunkeln über den Acker

Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, fuhr ich direkt zu meiner Familie, die in einem Bauernhaus auf dem Lande Ferien machte. In der Stube, es war draußen schon dunkel geworden, wollte ich gerade die Beine hochlegen, da kam Tom (9 Jahre): „komm, lass uns auf den Acker gehen!

Mal sehen ob Du das noch kannst.“ Ohne groß nachzudenken sagte ich: „Ok, ich komme gleich! Ich muss mir nur noch die Stiefel anziehen.“ Fertig angezogen wartete er schon draußen auf dem hell erleuchteten Vorplatz. Ich kam aus dem Haus und wir gingen los. Nur wenige Schritten, dann begann der Feldweg. Hier war es stockdunkel, keine Laterne, kein Mond am Himmel, einfach dunkel. Da begann plötzlich der Boden unter meinen Füssen derart zu schwanken, dass ich mich an einem Baum festhalten musste. Natürlich war es nicht der Boden, der schwankte, sondern mir wurde schwindelig, weil meinen Augen durch die plötzlich eintretende Dunkelheit kurz die Orientierung genommen wurde. Normalerweise hätten meine zwei Gleichgewichtsorgane den Augen spontan ein stabiles Bild der Umgebung geliefert, aber vom rechten Gleichgewichtsorgan kam im Gleichgewichtszentrum kein Signal an! „Gib mir mal Deine Hand“, bat ich Tom und so gingen wir Hand in Hand weiter, bis wir den benachbarten, frisch gepflügten Acker erreichten. Jetzt lief Tom los, vorwärts entlang den gehäuften Saatfurchen und hüpfte von Erdscholle zu Erdscholle kreuz und quer, während ich ihm stolpernd und

(12)

Seite 11 mächtig taumelnd folgte. Im Dunkeln die Balance halten, das war jetzt für mich die wichtigste

Herausforderung! Vor mir lag die Aufgabe meinem Gleichgewichtszentrum damit vertraut zu machen, dass ab jetzt die Augen, der Tastsinn und die Körperempfindung die Balance bestimmen.

Wie konnte ich das erreicht? Ich musste beim Lauf über den Acker gezielt auf die Bewegungen meines Körpers achten. Obwohl ich stolperte schaute ich bewusst mit den Augen ins Dunkel nach vorne, wo ich Tom so gerade im Blick behielt. Vor jeden Schritt tastete ich, ganz kurz die Ackerkrume mit meinen Schuhsohlen ab, erst dann trat ich zu. Obwohl ich mächtig schwankte, zwang ich meinen Körper sich zu bewegen und aufrecht zu halten. Physiologisch ausgedrückt musste ich die

Wahrnehmung meiner Körperlage und meiner Körperbewegung mit Hilfe der Sinneseindrücke aus dem Körperinneren besonders unterstützen. Wir haben diese Übung einige Abende wiederholt, bis ich auf diesem Gelände auch im Dunkeln eine gewisse Stabilität beim Gehen erreichte.

Fahrrad fahren

Als ich das erste Mal wieder auf mein Fahrrad gestiegen bin, musste es mir passieren, mitten auf der Straße bin ich hingeknallt. Ich hatte Glück, es kam kein Auto und meine Knochen blieben heil. Durch eine schnelle Kopfbewegung zur Seite verlor ich meine visuelle Wahrnehmung und wegen der fehlenden Information vom rechten Gleichgewichtsorgan schwand das stabile Bild, mir wurde schwindelig. Ich verlor meine Balance. Seit diesem Vorfall galt für mich: Beim Radfahren immer mit den Augen geradeaus schauen und auf die Fahrbahn blicken, nicht nach hinten, sonst fällst du um.

Nach einigen Jahren aber habe ich meine Balance auf dem Fahrrad, durch häufiges Fahren, so gut im Griff bekommen, dass ich heute auch noch kurzzeitig locker nach links und rechts gucken kann, ohne zu schwanken. Durch das Training hat mein Gleichgewichtszentrum gelernt die Informationen von den Augen und insbesondere der Körperempfindung für das Einhalten der Balance verstärkt zu nutzen.

Fallen wie ein Kohlensack

Als ich plötzlich umfiel, waren die Gäste sehr erschrocken. So passiert in einem Restaurant, als ich beim Betreten des Speiseraums einen tiefer gelegten Holzbalken übersah und mit dem Kopf dagegen stieß. Ich fiel zu Boden wie ein Kohlensack, wie ein lebloser Körper. Weder meine Arme noch meine Beine gaben Anzeichen einer Gegenbewegung, um mich am Fallen zu hindern. Natürlich werden meine beiden Gleichgewichtsorgane den plötzlichen Fall zu Boden registriert haben und sie werden auch adäquate Signale abgegeben haben, damit der aufrechte Gang stabil bleibt, aber nur vom linken Gleichgewichtsorgan trafen Signale bei meinem Gleichgewichtszentrum ein; das reichte für eine spontane Reaktion des Körpers nicht aus! Die Folge war, dass im Moment des Fallens vom Gehirn keine Triggerung an die Muskulatur zur Gegenbewegung gesendet wurde! Als die Gäste diesen Sturz sahen, der für sie wie ein Zusammenbruch aussah, sprangen sie von ihren Stühlen auf, wollten mir helfen „Sollen wir einen Krankenwagen rufen“? „Danke, schon gut, es geht schon!“ beruhigte ich die Umstehenden und stand lächelnd auf!

Fitness-Gymnastik

Zwei bis dreimal in der Woche gehe ich vormittags für eine Stunde zur Fitness-Gymnastik. In der Gemeinschaft, mit Trainerin und flotter Musik bin ich mit Spaß dabei. Bewegung ist für den ganzen Körper von elementarer Bedeutung, für die Kondition, die Muskulatur, für den Kreislauf. Für mich von besonderer Bedeutung sind die Balanceübungen, ob in der Bewegung oder im Stand. Bereits das gewöhnliche Stehen und Gehen ist ein Akt des Balancierens. Dabei wird mein „Sechster Sinn“, -die Körperempfindung- mobilisiert und das Gleichgewichtszentrum mit seinen Signalen neu trainiert. Um die Balance in der Bewegung zu halten ist es am besten, dem Vortrag der Trainerin genau zu folgen, auf die Musik zu hören, die Figuren intuitiv im Rhythmus der Musik auszuführen und den Boden mit den Turnschuhen bewusst zu spüren. Schon anspruchsvoller ist es die Balance im Stand zu halten.

Auf einem Bein stehen, die Arme ausbreiten und das andere Bein dabei auch noch anheben, gelingt mir zwar kurzzeitig, wenn ich die Augen auf einen Punkt am Boden fixiert halte, aber einen sicheren

(13)

Seite 12 Stand gewinne ich erst, wenn ich innerlich ruhig und gelassen bin. Fange ich an mit meinen

Gedanken abzuschweifen, dann ist meine Balance schnell dahin. Kurz gesagt, ich muss „bei mir bleiben“, dann kann ich diesen meinen verborgenen Sinn im Körper für die Balance gut nutzen! Zum Üben ist der kontinuierliche Besuch der Fitness-Gymnastik sehr gut geeignet.

Gesichtsmuskeln stimulieren

Die Mimik beleben, die Augen schließen, die Lippen spitzen und mit der Zunge schmecken.

Gesichtsmassage

Als ich im Krankenhaus erstmals in den Spiegel schaute, sah ich mein seitlich verzerrtes Gesicht! Eine Folge der Schockstarre des rechten Gesichtsnervs durch den schweren medizinischen Eingriff. Der Mund hing schief nach unten, das rechte Auge tränte stark und das Auge ließ sich nur mit Mühe schließen. „Da sind sie aber noch relativ glimpflich davongekommen“, meinte der Stationsarzt.

‚Meint der das ernst?‘ Dachte ich anfangs. Doch dann, nachdem ich andere AKN-Patienten im Kopfklinikum erstmals wieder auf dem Flur antraf, konnte ich feststellen, dass ich tatsächlich mit meiner Mimik einigermaßen Glück gehabt hatte. Zu Hause bot mir eine befreundete

Physiotherapeutin, eine regelmäßige Gesichtsmassage an. Wir haben diese Massage ein halbes Jahr durchgehalten. In dieser Zeit hat sich die Gesichtshaut ein wenig gestrafft. Es lag aber noch eine lange Strecke vor mir, bis die Spuren der OP im Gesicht kaum noch zu sehen waren. Auch heute noch spüre ich feinste Belebungen im Mundwinkel und in den Augenwimpern.

Essen bringt keinen Spaß

Meine erste Mahlzeit nach der OP brachte keinen Spaß. Meine Lippen auf der rechten Gesichtshälfte hatten noch keine ausreichende Spannkraft, um die Speisen im Mund zu halten. Ich musste das Essen erst einmal in die linke Mundhälfte schieben, um es dann zu zerkauen. „Binden sie sich dieses Tuch um den Hals, ja als Latz, Herr Lesche“. Etwas ging immer daneben. Und dann dieser merkwürdige

‚Nicht Geschmack‘ auf der Zunge. Sie war zum Teil gefühllos geworden. Ich schob die Speisen im Mund hin und her, suchte Areale auf der Zunge, wo ich die Speise schmecken konnte. Dieser ganz ungewöhnliche Zustand hielt etwa ein halbes Jahr an, bis alle Muskelfasern in der Zunge, die Geschmacksreize wieder an mein Gehirn weitergaben.

Die Nachsorge

1994 wurde vom Versorgungsamt Hamburg die Behinderung „Taubheit rechts mit Ohrgeräuschen“

festgestellt und der Grad der Behinderung nach §4 des Schwerbehindertengesetzes mit 20%

angesetzt. Bei den Ohrgeräuschen handelt es sich um einen Tinnitus, der durch die Trennung des rechten Hörnervs ausgelöst wurde. Das Gehirn versucht dort den Hörverlust, durch eine ständige

„Überaktivität“, vergebliche auszugleichen. Die Folge ist, dass ich in stillen Momenten ein Rauschen höre, überlagert von einem feinen Fiepen. Es ist nicht aufdringlich, ich kann es leicht ignorieren.

In den Folgejahren habe ich zur Kontrolle einige MRT-Aufnahmen vom Kopf machen lassen. Die letzte Aufnahme wurde in diesem Jahr, also 28 Jahren nach der OP, durchgeführt. Stets war kein Rezidiv (Rückfall) nachweisbar. Damit sehe ich die Nachsorge zum Thema Akustikusneurinom als beendet an.

Die Kur

Migräne

Sechs Wochen nach der OP hatte ich wieder angefangen in der Firma zu arbeiten. Das linke Ohr funktionierte so gut, dass ich mir keine Gedanken über ein Hörgerät machte. Im Beruf gab ich mich nach außen ‚Normal‘, als wäre nichts gewesen. Natürlich werde ich ab und zu auf mein „schiefes Gesicht“ angesprochen, gehe aber mit meinen Antworten dem Zusammenhang mit meinen Ohren

(14)

Seite 13 aus dem Weg. Ich pflegte leider keinen offenen Umgang mit meinen Hörproblemen. Ich dachte, „Das schaffe ich schon“. Ich belaste mich mit dem Problem, dass mein Sprachverstehen durch die

Nebengeräusche sehr erschwert wird. Ein Hörgerät hätte das verbessern können und es hätte mein Gehirn im Alltag deutlich entlastet. Schleichend nahmen mein Unwohlsein und meine innere

Verkrampfung zu. Die Folge waren zunehmende Kopfschmerzen, Empfindlichkeit auf Lärm und Licht.

An manchen Wochenenden steigerte sich der Schmerz allmählich zur Übelkeit und manchmal bis zum Erbrechen. In mir entwickelte sich allmählich eine Migräne. Die Anfälle waren für mich

schmerzhaft und anstrengend. Im Endeffekt aber war es jedes Mal eine Pausentaste für mein Gehirn, wenn mir alles zu viel wurde. Meine Gegenmaßnamen waren anfangs Tabletten. Von Ibuprofen, Paracetamol bis Formigran. Aber es half nichts! Drei quälende Jahre brauchte es, bis mein Hausarzt überzeugt war, dass ich mit meiner Migräne reif für eine Kur war.

Kuraufenthalt

Vier Jahre nach der OP trat ich für sechs Wochen eine psychosomatische Kur an. Die Klinik lag in der Nähe vom Teutoburger Wald. Als Vorbereitung hatte ich zu Hause einen Migränekalender erstellt, den ich in der Klinik an das ärztliche Personal abgab.

In der Stationsgruppe gab es Vorträge zur Psychosomatik und praktische Übungen in das autogene Training und das Yoga mit dem Ziel: Die Schmerzwahrnehmung zu beeinflussen. Das Erlernen von Meditation, so wurde uns erklärt, kann helfen, mehr Kontrolle über die innere Aufmerksamkeit zu erlangen und damit die Informationsverarbeitung im Kopf zu verbessern. Durch Gymnastik, Tanz und Wanderungen wurden das Gemeinschaftsgefühl gefördert und Blockaden gelöst. Diese Mischung der Anwendungen brachte mir viel Spaß.

Zentraler Kern der Kur war die Gesprächstherapie. Vier Therapieziele hatte ich angegeben, um meine negativen Verkrampfungen, sprich meine Migräne abzubauen.

1. Hauptziel: Offen mit meiner Hörbehinderung umgehen.

2. Meine innere Ruhe finden.

3. Angst abbauen, um Mut für berufliche Änderungen zu gewinnen.

4. Fröhlich sein und positiv denken.

In der Therapiegruppe waren, neben der Therapeutin neun Frauen und drei Männer. In regelmäßigen Gesprächsrunden wurden sehr persönliche Probleme besprochen. Hauptthemen waren:

Minderwertigkeitsgefühle. Nicht erkennen, dass man eigene Kräfte hat. Falsche Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer. Wir neigen dazu, negative Ereignisse zu suchen und die schönen zu übersehen, und vor allem überfordern wir uns gerne. Im Beruf, in Beziehungen, in der Freizeit. Wir setzen uns unerreichbare Ziele, wollen möglichst perfekt sein und verzweifeln dann, wenn wir nicht alles schaffen.

In den Sitzungen wurde auch geweint, langjährige Migränepatienten sind mit ihren Nerven oft am Ende. Wer mehr als drei, vier Attacken pro Monat hat und dadurch immer wieder mehrere Tage ausfällt, hat nicht nur unter den körperlichen Symptomen zu leiden, die Krankheit hat auch

psychische Folgen. Manche Patienten schämen sich für die Krankheit, suchen die Schuld bei sich und verlieren sich in Selbstmitleid.

(15)

Seite 14 Ich entwickelte in den Gesprächen die Idee, meine musikalischen Erfahrungen aus der Schulzeit wieder aufzugreifen. Schon in der ersten Klasse hatten wir damals jeder eine Blockflöte bekommen und gemeinsam viel musiziert. Zusätzlich nahm ich bis zur achten Klasse auch privaten Musikunterricht. Auftritte in der Aula, in kleinen Gruppen an Geburtstagen und Jubiläen in den Gärten der Eltern, waren keine Seltenheit. Zur Weihnachtsfeier, in der Firma, wo meine Mutter arbeitete, stand ich sogar mit dem Kinderchor zusammen auf der Bühne.

Jetzt nach fast 30 Jahren fand die Idee, meine musikalischen Anfänge wieder neu zu beleben, bei den Teilnehmern der Gruppe großen Anklang. Sie bestärkten mich ausdrücklich meine Idee auch umzusetzen.

In der Klinikbibliothek entdecke ich das Gedicht „Ermutigung“ von Hans Kruppa. Es gab mir Mut neu zu starten. Am Ende der Kur war ich zur Ruhe gekommen. Die Kopfschmerzen nahmen ab und zurück zu Hause war ich praktisch von der Migräne befreit.

Das Hörgerät

Mit dem Hörgerät leben

Mein erstes Hörgerät war eine Hörbrille. Nur langsam habe ich sie in meinen Alltag angenommen. Heute ist das digitale Hinter-dem-Ohr-Hörgerät für mich

unverzichtbar. Das lokalisierende Hören bleibt praktisch ein für alle Mal verloren.

Zehn Jahre nach der OP machte ich beim Hörakustiker die erste Bekanntschaft mit dem CROS- Hörgerät (Contralateral Routing Of Signal = Signalübertragung auf die andere Seite). Bei diesem Hörgerät wird der Schall über ein Mikrofon am tauben Ohr aufgenommen und zum Lautsprecher am gesunden Ohr weitergeleitet. Noch zu Beginn des neuen Millenniums war es üblich diese CROS- Hörtechnik, wenn möglich mit einer Brille zu koppeln, zu einer sog. „Hörbrille“. Mein aktuelles Brillengestell allerdings war zu schwach, um die notwendige Technik für das Hörgerät aufzunehmen.

Deshalb ging ich zu meinem Optiker und frage ihn nach einem stabileren Brillengestell. Als ich ihm das „Warum“ erklärte, traf ich bei ihm auf großes Erstaunen, von „so einer Brille“ hatte er noch nie etwas gehört, obwohl er schon Jahrzehnte in der Branche tätig war. Die neue Brille wurde vom Hörakustiker zur Hörbrille aufgerüstet, indem er in die Brillenfassung und in die Seitenbügel eine Kerbe fräste, in die er das elektrische Kabel für die Signalübertragung einlegte. An die Ohr-Bügel wurden Mikrofon, Lautsprecher und ein Batteriefach angebracht.

Zu Beginn waren meine Erwartungen an die Hörbrille zu hoch. Die Werbebroschüre versprach:

„CROS-Hörgeräte stehen für räumliches Hören trotz einseitiger Taubheit“. Wie immer in der

Werbung, werden durch solche Formulierungen falsche Hoffnungen geweckt! Mit „räumlich“ ist nur gemeint, dass mit diesem Hörgerät auch am tauben Ohr, parallel zum gesunden Ohr, Geräusche aufgenommen werden können. Das ist der entscheidende Vorteil des Hörgeräts. In meinem Kopf aber kommen die Geräusche nicht über zwei Ohren getrennt an, sondern treten nur über das eine gesunde Ohr ein. Auf den Punkt gebracht ist mit „räumlich“ hören nicht in „Stereo“ hören oder

„lokalisierend“ hören gemeint, sondern ich höre meinen rechten Gesprächspartner mit diesem Hörgerät besser als ohne Hörgerät. Trotzdem muss ich mich auf ihn konzentrieren, mich ihm

zuwenden und die störenden Umgebungsgeräusche bewusst ausblenden. Aber mein lokalisierendes Hören ist ein für alle Mal verloren! Mit dieser Hörbrille stand ich vor einer neuen Stufe meiner Hörlernphase, ich fremdelte anfangs mit ihr, trug sie nur selten. Ich war anfangs von den neuen Höreindrücken überfordert. Erst allmählich erkannte ich ihren Vorteil für mich, nachdem ich zum Thema „Cocktail-Party-Effekt“ viel Erfahrung gesammelt hatte.

„Ermutigung“

Steh zu Dir, sooft Du auch gefallen bist.

Nimm Dich wahr, wie lange Du Dich auch verleugnet hast.

Bleib Dir treu, sooft Du Dich auch noch betrügen magst.

Geh mit Dir, und wenn Du Dich tausendmal in die Irre führst.

Nick Dir zu, selbst wenn die ganze Welt den Kopf über Dich

schüttelt.

Glaub an Dich, dann hast Du eine Religion, die Dir weiterhilft.

Hans Kruppa

(16)

Seite 15 Die rasante Entwicklung der Digitalisierung und Miniaturisierung machte bei den Hörgeräten nicht halt. Bald wurden kleinere Hörgeräte mit drahtloser Übermittlung der Signale angeboten. Sie kommunizieren über die Magnetinduktion. Die dabei verwendete Sendestärke der magnetischen Wellen ist für die Gesundheit unbedenklich. Das Mikrophon sitzt hinter dem tauben Ohr und der Lautsprecher mit der Wiedergabetechnik hinter dem gesunden Ohr. Ihre Formen entsprechen dem normalen Hinter-dem-Ohr-Gerät. Ich habe mich für das BiCROS-Hörgerät entschieden, eine

zusätzliche Lösung, wenn auch das gesunde Ohr nicht mehr einwandfrei arbeitet. Am Lausprecher ist ebenfalls ein Mikrofon eingebaut, das seinerseits Schallsignale empfängt. Beide Signale, vom tauben sowie vom gesunden Ohr, werden mit einem aktuellen Audiogramm abgestimmt und verstärkt, um eine bestmögliche Hörfähigkeit beidseitig zu erzielen. Anfangs entstanden, bei starkem Wind auf der Straße, im Lautsprecher Pfeiftöne, unerwünschte Rückwirkungen des Lautsprechers auf das mit ihm verbundene Mikrofon. Ich hatte den Eindruck, dass die hohen Frequenzen besonders verstärkt wurden. Der Hörakustiker nahm am Hörgerät eine Änderung der Einstellung vor, womit das Problem der Rückkopplung beseitigt war.

Generell heißt es für mich, nach jeder Änderung oder Neueinstellung am Hörgerät „Ruhe bewahren, in der Praxis ausprobieren, erst testen“, denn wie immer gilt der Leitsatz: „Hören heißt lernen“. Das Gehirn braucht Zeit, um sich an Töne zu gewöhnen, die ihm vorher verloren gegangen waren, es will trainiert werden wie ein Muskel.

Ich spiele Saxofon

Das Anblasen des Saxofons belebt die Feinmotorik meiner Lippen und das Spiel der Finger aktiviert meine Körperempfindung. Das gemeinsame Musizieren ist für mich die Chance mein Gehör neu zu konditionieren, meine Konzentration zu stärken und Ängste abzubauen. Ich bin glücklich, wenn mich die musikalische Harmonie erfüllt.

Etwa ein Jahr nach der Kur habe ich mir eine Blockflöte gekauft, deren Mundstück mit einem Rohrblatt ausgerüstet war. Diese Flöte ist für Kinder gedacht als Vorstufe für das Spiel mit einem Saxofon oder einer Klarinette. Meine ersten Blasversuche scheiterten, da ich das Rohrblatt mit den Lippen weder spüren noch drücken konnte. Durch Verschieben des Mundstücks in den linken aktiven Mundwinkel gelang es mir einige quietschende Laute aus dem Rohr zu locken. Monate des Übens vergingen. Das Gefühl und die Feinmotorik meiner rechten Mundhälfte erwachten und belebten sich langsam. Mit den Lippen befeuchtete ich das Rohrblatt, umschloss es dann, presste es gefühlvoll und bliess dann Luft durchs Mundstück. Monate vergingen, bis ich das schwingende Rohrblatt erstmals kontrolliert pressen konnte und erste Töne erklangen. Nach einem Jahr war ich in der Lage meine Lippen so zu dirigieren, dass ich auf dieser Versuchsflöte eine erste Melodie spielen konnte.

Nach diesem ersten Erfolg kaufte ich mir ein Altsaxofon, obwohl mir klar war, dass ich an meinen Anblasversuchen noch lange werde stetig arbeiten müssen.

Zu Beginn benutzte ich ein sehr weiches Rohrblatt, das ich einmal im Monat mit einem härteren Blatt tauschte, um den Spannungszustand und die Ausdauer meiner Lippenmuskulatur beim Spiel zu testen. Anfangs musste ich nach zehn Minuten Spielzeit mindestens eine viertel Stunde Pause machen. Bald aber konnte ich die Spielzeit, mit kleineren Pausen auf eine Stunde verlängern.

Ich begann Musikunterricht zu nehmen. Es folgten Jahre in denen ich mit anderen Hobby-

SaxofonistInnen zusammen in Ensembles, Quartetten u.v.m. musizierte. Ich besuchte Workshops in Hamburg, Burghausen und sogar im sonnigen Sizilien. Die Spielorte waren Bunker, private

Wohnungen, Musikraum in der Schule, Konservatorium, Musikhochschule oder Kirchen. Meine Hörprobleme traten in dieser Anfängerphase nicht in den Vordergrund, denn am wichtigsten war es gemeinsam nach Noten meist einstimmig Musik zu machen.

(17)

Seite 16 Seit neun Jahren bin ich Mitglied einer Bigband.

Mein Motto war und ist, nicht nur zuhören, sondern auch selbst spielen! Als Zuhörer kann ich auch mit nur einem Ohr ein Konzert anhören und die Musik genießen. Die Musik ist ein Schallgemisch vieler verschiedener Instrumente, die ich als Zuhörer nicht selektieren muss, die ich als Gesamtheit genießen kann. Sie ist ein Klangereignis, ob harmonisch oder nicht, „Ich will es so hören“!

Als Spieler muss ich mir das Zusammenspiel in der Bigband erst einmal erarbeiten. Beim

gemeinsamen Musizieren der sechzehn SpielerInnen muss man sich beim Hören, Sehen, Bewegen und Planen immer auf neue Situationen einstellen. Zwar hat jeder seine Noten, aber die Abstimmung der Einsätze, mit der Rhythmusgruppe, mit den verschiedenen Stimmen, den unterschiedlichen Instrumenten, verlangt von den Mitspielern, dass man aufeinander hört. Jedes Bandmitglied muss diese Arbeit leisten.

Für mich ist es ein zusätzlicher geistiger Kraftaufwand, aber auch eine Chance, mein Hören mit einem Ohr durch ständiges Training von Konzentration und Flexibilität zu verbessern. Das Hinhören, sich orientieren im Gewirr der Stimmen, das fordert von mir eine sehr hohe Aufmerksamkeit. Anfangs ist mein Blick auf das Notenblatt gerichtet. Während ich mich auf Noten, Tonart und Pausen

konzentriere versuche ich ganz Ohr zu sein auf meine Stimme, auf meine Mitspieler links und rechts von mir. Dann geben ich Acht auf den Taktgeber in die Rhythmusgruppe. Erst wenn ich von den Noten weniger abhängig bin, die Melodie beginne zu „verinnerlichen“, das Musikstück anfange „in den Griff“ zu bekommen, mir keine Gedanken mehr über die Spieltechnik machen muss, dann kann ich auch besser auf die anderen Stimmen, hören und reagieren. Ich beginne zu erkennen, wann und mit welchem Instrument ich harmonieren oder wann ich zu einer anderen Stimme wechseln muss.

Hilfreich dabei ist es auch meine Mitspieler optisch im Raum zu erfassen, zu sehen wo die Rhythmusgruppe spielt, wo das Schlagzeug, das Klavier und der Bass stehen.

Reist mir der musikalische Faden, aus Ungeduld, Nervosität oder Unachtsamkeit, dann verliere ich schnell die Orientierung, dann werde ich unsicher. Bin ich vertraut mit der Melodie, weiß ich schnell, wo ich in der Band hinhören muss und mein Aussetzer ist nur kurz. Arbeiten wir an einem neuen Stück und weichen die Saxofone neben mir in ihrer Stimme deutlich von meiner ab, dann verlier ich den Anschluss, ich höre auf zu spielen.

Da ich mit meinem Saxofon in der ersten Reihe sitze und hinter mir die Blechbläser, achtete ich darauf, dass deren Instrumente nicht direkt auf meine linke Seite gerichtet sind, denn sonst wird es für mein gesundes Ohr -für mich- unerträglich laut! Das Gehirn kann die Lautheit am gesunden Ohr nicht dämpfen, während es am tauben Ohr gleichzeitig versucht durch permanente Verstärkung die Stille zu überwinden. Das Gehör und damit beide Ohren sind stets auf höchste Empfindlichkeit eingestellt. Einen „Lautheitsausgleich“ zwischen den beiden Ohren kann es also aus diesem Grunde nicht geben.

Nervig und manchmal schwer zu ertragen für mich ist der Lärm, der in den Pausen oder vor Beginn der Proben den Raum erfüllt, wenn die MitspielerInnen ihre Instrumente testen; Saxofone und Trompeten anblasen, das Keyboard klimpern, die Gitarre trällern. Aber natürlich weiß ich, dass diese Phasen unvermeidlich sind. Allerdings geht dabei für mich, im Tongewirr, manche kurze Ansage über Taktbeginn, Seitenwahl usw. unter.

Wenn die Band gut zusammenspielt und wie ein Klangkörper schwingt, dann beginnt der Spaß!

Musizieren ist harte Arbeit, aber auch eine beglückende Tätigkeit. Musik ist Emotion. Sie bringt Körper und Seele zusammen und baut Ängste ab. Selbst aktiv Musik zu machen und ein Instrument zu spielen, das habe ich gelernt, ist für mich wie eine therapeutische Aufgabe!

(18)

Seite 17

Literatur

1. Ganz Ohr; Thomas Sünder & Dr. Andreas Borta; Wilhelm Goldmann Verlag München; 2019;

ISBN 978-3-442-15963-5.

2. Hören; Physiologie, Psychologie und Pathologie; Jürgen Hellbrück, Wolfgang Ellmeier;

Hogrefe-Verlag, Göttingen; 2004; ISBN 3-8017-1475-6.

3. Schall & Klang, Wie und was ich höre; Georg Eska; Springer Basel AG; 1997; ISBN 978-3-0348- 6101-4.

4. Schwindel & Gleichgewichtsstörungen; Bela Büki, Heinz Jünger; Verlagshaus der Ärzte GmbH Wien; 2019; ISBN 978-3-99052-203-5.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Weitere Informationen zum Kurs und der Anmeldung unter Telefon 0621/504-2632 oder -2238, im Internet unter www.vhs-lu.de und persönlich am Schalter im  Erdgeschoss

Welche Sportler fahren nach links.. Mache ein rotes L neben

Auch wenn die Unabhängigkeit der chine- sischen Städte in einem zentralistischen Staat bisher beschränkt war, sind ihre rapide wirtschaftliche Entwicklung und ihre wachsende

Aufgrund eines Bronchospasmus kommt es zu einer akuten respiratorischen Insuffi zienz, welche eine Zyanose, also eine bläuliche Verfärbung der Haut und Schleimhäute, mit sich

Mit der Zeit können diese Neurotransmitter zu einer Dauererregung des Sympathikus führen, was neben einem erhöhten Risiko für Diabetes, Herz-Kreislauf-Er- krankungen oder

Da aber ein solches Training oft nicht komplett erstattet wird beziehungs- weise sich die Suche nach einem geeigneten Trainer schwierig gestaltet, erhalten Patienten häufig

Gegenanzeigen: Die Pastillen dürfen nicht angewendet werden, wenn eine Allergie ge- genüber Eibischwurzel-Trockenextrakt oder einem der sonstigen Bestandteile besteht..

• Die Regional- und Landesplanung als übergeordnete Ebene für grundsätzliche Weichenstellungen zum Erhalt der unbesiedelten Landschaft mit ihren wertvollen Flächen für Natur