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Eröffnung des Osterfestivals im Innsbrucker Dom

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Osterfestival 2011

„Zeit ist Geld“. So lautet ein bekannter Ratschlag Benjamin Franklins an einen jungen Handwerker1. Der ökonomische Rationalitätsbegriff der Moderne, wie er durch das so genannte Rasiermesser Wilhelm Ockhams mitgeprägt worden ist2, hat wesentlich auch den Zeitbegriff geprägt. Das Gesetz der Ökonomie heißt Zeiteinsparung bzw.

Beschleunigung. Ökonomie führt zu einer Nivellierung von Zeit in dem Sinn, dass von Leiblichkeit, Freiheit und Beziehung abstrahiert wird. Ökonomie versteht Gegenwart chronometrisch.

„Denn was ist ‚Zeit’? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen?

Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde als

‚Zeit’? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleich so, wenn wir es einen andern aussprechen hören. Was also ist

‚Zeit’? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es wohl, wenn jemand mich fragt, und ich will es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, dass es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre“

(11,14,17)3. Das ist eine Stelle aus den Confessiones des Augustinus, die große Denker im 20. Jahrhundert interessierte. Damit eröffnete Edmund Husserl 1905

1 „Bedenke, dass Zeit auch Geld ist! Wer den Tag zwei Taler mit Arbeiten verdienen kann und die Hälfte dieses Tages spazieren geht oder müßig sitzt, der darf, gibt er gleich auf seinem Spaziergange oder in seiner Untätigkeit nur sechzehn Groschen aus, diese nicht als den einzigen Aufwand betrachten. Er hat, in der Tat, außerdem noch einen Taler und acht Groschen vertan oder richtiger weggeworfen ... Der Weg zum Reichtume ist, wenn du nur willst, so eben wie der Weg zum Markte. Er hängt meistens von zwei Wörtchen ab: Tätigkeit und Sparsamkeit; das heißt:

verschwende weder Zeit noch Geld, sondern mache von beiden den besten Gebrauch! Ohne Tätigkeit und Sparsamkeit kommst du mit nichts, bei denselben mit allem aus. Wer alles erwirbt, was er mit Ehren erwerben kann, und (notwendige Ausgaben abgerechnet) alles erhält, was er erwirbt, der wird sicherlich reich werden - und wenn anders jenes Wesen, das die Welt regiert und von dem jeder Segen zu seinem ehrlichen Fleiße erflehen sollte, seiner weisen Vorsicht nach es nicht anders beschlossen hat.“ (Benjamin Franklin, Guter Rat an einen jungen Handwerker. 1748, in:

Nachgelassene Schriften und Correspondenz Bd. 5, Weimar 1819, 72.75.

2 „Frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora“ (Wilhelm von Ockham, Summa logicae: Opera Philosophica I, 43) „Pluralitas non est ponenda sine necessitate.“ (Opera phil. I,185)

3 Die Confessiones werden aus folgender Ausgabe zitiert: Aurelius Augustinus, Confessiones.

Bekenntnisse, lateinisch und deutsch (übersetzt von J. Bernhart), München 1995. Vgl. ferner Bekenntnisse. Übersetzt, mit Anmerkungen versehen und herausgegeben von K. Flasch und B.

Mojsisch, Stuttgart 1989; Die Bekenntnisse des hl. Augustinus. Übersetzung von O. F. Lachmann.

Texterfassung A. Raffelt, Leipzig 1888 (u. ö.).

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seine Vorlesung über das innere Zeitbewusstsein: „Die Analyse des Zeitbewusstseins ist ein uraltes Kreuz der deskriptiven Psychologie und der Erkenntnistheorie. Der erste, der die gewaltigen Schwierigkeiten, die hier liegen, tief empfunden und sich daran fast bis zur Verzweiflung abgemüht hat, war Augustinus. ... herrlich weit gebracht und erheblich weiter gebracht als dieser große und ernst ringende Denker hat es die wissensstolze Neuzeit in diesen Dingen nicht."4 Ludwig Wittgenstein bemerkt in den .Philosophischen Untersuchungen' dazu: „Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muss."5

Und auch Hans-Georg Gadamer beginnt seinen Aufsatz „Über leere und erfüllte Zeit"

mit der Einleitung zu Augustins Analyse des Zeitproblems, die ihm als Prototyp aller echten philosophischen Verlegenheit erscheint. Denn: „Das Selbstverständliche zu denken ist eine Aufgabe von eigentümlicher Schwierigkeit." Gadamer sieht Augustins große Leistung darin, „diese Verlegenheit des Denkens zuzuspitzen und dann mit der ihm eigenen seelischen Erfahrungstiefe zu zeigen, dass sich in der Dimensionalität der Zeit eine Erfahrungsweise der menschlichen Seele spiegelt."6

Metrisches oder existentielles Zeitverständnis?

Aristoteles formuliert seine Zeittheorie im Rahmen der „Physik“. Eingangs stellt er die Frage, ob die Zeit zum Seienden gehört oder zum Nichtseienden. Er diskutiert Ansichten, nach denen der Zeit kein oder kaum Sein zukommt, weil sie entweder nicht mehr oder noch nicht ist und weil das Jetzt dauerlos bleibt.7 „Bewegung und Zeit nehmen wir zusammen wahr... Zeit ist demnach entweder Bewegung, oder etwas, das zur Bewegung gehört. Da sie nicht Bewegung ist, muss sie das andere sein... Zeit ist Zahl der Bewegung in Bezug auf früher und später ... Das Jetzt misst

4 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893-1917), in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenlogische Forschung 9 (1928) 367ff; Husserliana X, hg. R. Boehm, Haag 1966,3; Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969.

5 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, 61, Nr. 89.

6 Hans Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 4 Tübingen 1987, 137-153, hier 137f; auch Bernhard Welte beginnt eine „Meditation über Zeit" mit Confessiones 11,14: Zeit und Geheimnis.

Philosophische Abhandlungen zur Sache Gottes in der Zeit der Welt, Freiburg-Basel-Wien 1975,15.

7 Aristoteles, Physik IV.9-10,217b-218a, in: Philosophische Schriften Bd. 6,100-102.

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die Zeit, sofern Zeit auf davor und danach bezogen ist."8 Anschließend stellt er sich die Frage, was denn ihr wirkliches Wesen ist. Für Aristoteles gibt es einen grundlegenden Zusammenhang, aber keine Identität von Kinesis und Zeit: „Dass sie also nicht mit Bewegung gleichzusetzen ist, ist offenkundig."9 Er verwirft die Identifikation der Zeit mit der Himmelsschale oder mit dem Umschwung der Himmelsschalen. Aristoteles vertritt kein naiv kosmologisches Zeitkonzept, in dem das Zahlmoment und damit die Tätigkeit der Seele vernachlässigt würde. „Wenn dagegen ein ,davor' und ,danach' (wahrgenommen wird), dann nennen wir es Zeit.

Denn eben das ist Zeit: Die Messzahl von Bewegung des ,davor' und ,danach'. Also:

Nicht gleich Bewegung ist die Zeit, sondern insoweit die Bewegung Zahl an sich hat (gehört sie zu ihr). Ein Beleg dafür: Das ,mehr' oder ,weniger' entscheiden wir mittels der Zeit; eine Art Zahl ist also die Zeit."10

Augustinus lehnt wie Aristoteles die Ansicht ab, dass die Zeit überhaupt nicht sei;

beide verwerfen auch eine rein kosmologische Zeitdefinition. Zeit wird nicht mit der Bewegung, Veränderung des Weltalls oder der Himmelsschale identifiziert. „Einen Gelehrten hörte ich sagen, die Bewegungen von Sonne, Mond und Sternen seien selber die Zeit;... Also komme mir niemand mit der Behauptung, die Zeiten seien Bewegungen von Himmelskörpern. ... Befiehlst Du, ich solle zustimmen, wenn einer behauptet, Zeit sei Bewegung eines Körpers? Du befiehlst es nicht. Denn ich höre, dass kein Körper sich bewege, außer in der Zeit. ... Demnach ist Zeit nicht Bewegung eines Körpers" (11,23,29.30-11,24,31). Beide sehen eine Abhängigkeit von der Seele. Aristoteles ortet die Zeit primär in der Natur. Die Ewigkeit denkt Aristoteles kosmologisch und als göttlichen Nous, Augustinus sieht den Willen des personalen Gottes im Zentrum.11

Augustinus kennt durchaus das Messen: „Wir messen die Zeiten in ihrem Vorübergehen." (11,21,27). Insofern beseitigt er die physikalische Zeit nicht einfach.

Die Physik ist für ihn aber nicht Leitwissenschaft; die gemessene Zeit wird von der Zeit des Geistes abgeleitet und nicht umgekehrt. So kann man von einer Kritik des

8 Aristoteles, Physik IV.ll, 219a/b, in: Philosophische Schriften Bd. 6,105f.

9 Aristoteles, Physik IV,10,218b, in: Philosophische Schriften Bd. 6,104.

10 Aristoteles, Physik IV.ll, 219ab, in: Philosophische Schriften Bd. 6,106.

11 Vgl. dazu Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. His- torisch-philosophische Studie. Text - Übersetzung - Kommentar, Frankfurt a. M. 1993, 115-124.

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Metrischen und einer Rehabilitation des Subjektes in den Wissensformen sprechen.12

„Nicht die gehörten Silben selbst, die nicht mehr ,sind', messe ich, ich messe etwas in meinem Gedächtnis, was dort als Eindruck haftet" (11,27,35). „In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten" (11,27,36). Zeit wird vom Menschen also nicht als „Zeit an sich", sondern nur über unser Gedächtnis und unsere Voraussicht in die Zukunft erlebt. Stärker als Aristoteles kommt bei Augustinus im Denken von Zeit der Gesichtspunkt der inneren Erfahrung in den Blick. Von der Seele kommt die Zeit- Dauer. Insofern gibt es eine Wendung ins Innere, wenn auch nicht losgelöst vom

„Äußeren" und Messbaren.13

Augustinus sucht im Innenraum der Seele nicht nur das wahre Ich oder das Selbst, sondern den inneren Lehrer, das Wort Gottes, das sich erst dann aus Gnade enthüllt, wenn das Ich sich Gott übereignet. Es ist nicht einfach die Wende von Manichäismus und Skepsis zum überwältigenden Licht Plotins und zur Einübung in seine ekstatische Schau. Es ist die Wahrheit, die der Sohn ist, der Mittler zwischen Gott und den Menschen, es ist Gott selbst, den er sucht, bei dem er anklopft. In der Begegnung mit dem Neuplato-nismus wird ihm Christus zum entscheidenden Helfer.14 Die Gründung der Zeit in Christus führt so auch zu einer Korrektur der plotinischen Auffassung von Zeit.15 Vom Menschen Jesus, vom Herabsteigen Gottes in Menschengestalt, von Jesu demütigem Gang in die Erniedrigung bis ans Kreuz, davon konnte er bei den Neu-platonikern nichts finden (7,9,13). Ausdrücklich bringt er Menschwerdung und Erlösung durch Jesus Christus gegen die neuplatonische Philosophie vor. Unverzichtbar ist die Christologie für das Schöpfungsthema, das entscheidend vom Johannesprolog her beleuchtet wird. Am Ende des 10. Buches und zu Beginn des 11. Buches ruft er den Mittler zwischen Gott und den Menschen an bzw. ins Gedächtnis, um die Schöpfung besser zu begreifen (10,42,67; 10,3,68;

12 Stephen Toulmin/J. Goodfield, Entdeckung der Zeit, Hamburg 1964.

13 Schon Aristoteles spricht von diesem Bezug der Zeit zum menschlichen Bewusstsein: „Ob andrerseits, wenn es ein Bewusstsein (davon) nicht gäbe, die Zeit vorhanden wäre oder nicht, das könnte man wohl fragen: wenn das Dasein von jemand, der zählen kann, ausgeschlossen wäre, dann könnte auch unmöglich etwas sein, das gezählt werden kann, also klarerweise auch nicht Zahl.

... Wenn aber nichts anderes von Natur begabt ist zu zählen als das Bewusstsein (des Menschen), und von diesem das Verstandesvermögen, dann ist es unmöglich, dass es Zeit gibt, wenn es Bewusstsein (davon) nicht gibt." (Aristoteles, Physik. Vorlesung über die Natur IV,14,223a. Übersetzt von H. G. Zekl, in: Philosophische Schriften Bd. 6, Hamburg 1995,115f)

14 Klaus Kienzler, Gott in der Zeit berühren. Eine Auslegung der Confessiones des Augustinus, Würzburg 1998, 195.

15 Vgl. Klaus Kienzler, Gott in der Zeit berühren, 22-28 (Der Gott der Philosophen und der Gott des Glaubens).

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11,2,4). Jesus Christus ist Anfang und Prinzip der Schöpfung. Schöpfung durch das Wort: „Nur .gesprochen' hast Du, ,und es ward', und in Deinem Wort' hast Du es erschaffen" (11,5,7).

Zeit wird also nicht primär metrisch oder physikalisch gedacht, auch nicht rein subjektiv vom Menschen als entworfene, gedachte oder vorgestellte, sondern als Zeit zwischen Gott und Mensch, als Zeit der Beziehung zwischen mir und dem anderen.

Mit Ansätzen bei Augustinus kann man mit Emmanuel Levinas sagen: Die Zeit ist dasjenige, was zwischen mir und dem ganz anderen passiert.16 Die Zeit steht für die Dynamik, für die Spannung, für den Raum einer Beziehung. „Zeit" ist positiv bei Augustinus wesentlich durch Sehnsucht und Beziehung, durch Sprache und Liebe qualifiziert. Zeit ist ein dramatisches, dynamisches und offenes Beziehungsgeschehen.

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Die gelungene Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist zentral für menschliches Selbstverständnis, für menschliche Freiheit und Intersubjektivität.

Sören Kierkegaard hat in seinem Werk „Die Krankheit zum Tode“ diese Synthese angesprochen: „Der Mensch ist eine Synthese von Seele und Leib; er ist aber zugleich eine Synthese des Zeitlichen und des Ewigen“17, eine Synthesis „von Unendlichkeit und Endlichkeit, ... von Freiheit und Notwendigkeit.“18 Wenn der innere Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgelöst wird und wenn eine Dimension der Zeit (z.B. die Gegenwart) ausfällt, löst sich menschliche Identität auf. Wird von der Struktur der Zeit abstrahiert, so löst sich Leiblichkeit und Freiheit auf, so verschwindet die Gabe des Anderen, so kommen der Andere und die Anderen nicht mehr in den Blick.

Zeit ist dabei zweideutig: Sie greift gegenüber den Sehnsüchten nach Heil und Ganzsein zu kurz. Die Lebenszeit ist begrenzt. Die Zeit hält ins Nichts hinein, sie kann entfremden und misslingen. Pathologisches Misslingen von Zeit bzw. eine

16 Emmanuel Levinas, Die Zeit und der Andere. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler, Hamburg 1989.

17 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Ges. Werke (ed. E. Hirsch und H. Gerdes) 24. und 25. Abt. 86.

18 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode 8.

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pathologische Verformung der Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird zum pathologischen Misslingen menschlichen Lebens überhaupt. Dies ist der Fall, wenn sich jemand in je einer der temporalen Dimensionen verliert: Es gibt im alltäglichen Leben ein Sich-Verlieren in der Zukunft, in leerer Schwärmerei und Phantasterei; ein Sich-Verlieren in der Vergangenheit, das Nicht-Loskommen von ihr;

und ein Sich-Verlieren im Augenblick. Andere Phänomene bekommt man besser in den Griff, wenn man das Misslingen der Synthese als eine Art Ausfall je einer der Dimensionen charakterisiert, sodass das Leben zukunftslos, vergangenheitslos und gegenwartslos wird. Der Mangel an Gegenwart gründet entweder in einem Sich- Verlieren in der Zukunft oder in einem Sich-Verlieren in der Vergangenheit; das Sich- Verlieren im Augenblick gründet im Ausfall von Zukunft und Vergangenheit19.

Das soll noch etwas näher in den Blick genommen werden. „Die innere Realität eines Menschen besteht im Verhältnis zwischen der Vergangenheit und seiner Zukunft:

Wer ihm die eine oder die andere (oder beide) raubt, fügt ihm den größtmöglichen Schaden zu. Ganz wegschaffen, was ich gewesen bin: Entwurzelung, Herabsetzung, Versklavung. Hinsichtlich der Zukunft: Todesurteil.“20 Der Raub der Vergangenheit führt zu Entwurzelung und Versklavung. Die „damnatio memoriae“ war ein Mittel der Sieger und Herrscher, um Feinde, Konkurrenten und Opfer mit letzter Verachtung zu treffen. Positiv gewendet: Das Gedächtnis gehört zu unserem Leben in der Zeit. Es ist Bedingung für Identität und Selbstbewusstsein. Gedächtnisschwund kann so weit führen, dass ein Mensch von seiner Vergangenheit wie abgeschnitten ist: Er weiß nicht mehr, wer er ist.

Es gibt auch die Schattenseite der Erinnerung: Wer von der eigenen Vergangenheit nicht loskommt, muss an der Gegenwart verzweifeln. Und: Im Gedächtnis steckt nicht nur das Potential der Hoffnung, sondern auch das der Verzweiflung, der Verachtung, des Hasses und der Gewalt.

Auch Gegenwart ist nicht gleich Gegenwart. Wir kennen die Redeweise: Du bist doch ganz abwesend, du bist nur körperlich da und mit den Gedanken ganz woanders.

Solche defizienten Weisen der Präsenz sind nicht selten eine Konsequenz einer grundlegenden Einstellung zum Leben und zur Zeit bzw. Ausdruck eines tieferliegenden Mangels, worauf Blaise Pascal (1623-1662) in seinen Pensées hinweist: „Nie halten wir uns an die gegenwärtige Zeit. Wir nehmen das Zukünftige

19 Vgl. dazu Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 58ff.

20 Simone Weil, Cahiers, Aufzeichnungen I. Hg. und übers. von E. Edl und W. Matz, München-Wien o.J.,176.

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vorweg, als käme es zu langsam, oder wir rufen das Vergangene zurück, um es festzuhalten, als entschwände es zu rasch. ... Das ist so, weil uns das Gegenwärtige für gewöhnlich verletzt. ... Wir versuchen, ihm durch das Zukünftige Halt zu verleihen, und versuchen so über Dinge zu verfügen, die doch nicht in unserer Macht stehen, für eine Zeit, in die zu gelangen wir keinerlei Gewissheit haben. ... Also leben wir nie, sondern hoffen bloß zu leben. Und indem wir uns immerfort anschicken, glücklich zu werden, ist es unausweichlich, dass wir es niemals sind.“21

Die Unfähigkeit zur Gegenwart kann auch zum philosophischen Programm gehören.

Bei Martin Heidegger, in seinem Werk „Sein und Zeit“, ist „Geworfenheit“ ein Fundamentalcharakter des Daseins und seiner Selbsterfahrung22. Wichtig sind Vergangenheit und Zukunft, d.h. woher wir kommen und wohin wir eilen. Bloße

„Gegenwart“ ist für Heidegger gerade Versäumnis eigentlicher Zukunft- Vergangenheits-Relation im „Verfallensein“ an Gerede, Neugier und das Man.

„Gegenwart“ ist so ein abkünftiger, uneigentlicher und mangelhafter Modus der Existenz. Diese negative Qualifikation der Gegenwart als uneigentliches Dasein geht Hand in Hand mit der „Uneigentlichkeit“ eines von den anderen vereinnahmten Daseins: Es ist das Dasein in seiner Verfallenheit an das „Man“, ist das „Man-selbst“, das „uneigentliche Selbst“23. Eigentliches Dasein bedeutet ein Sich-selbst-Befreien von der Herrschaft der anderen. „Die eigenste Möglichkeit ist unbezügliche. ...

Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht.“24 - Hans Jonas wirft deshalb Martin Heidegger gnostische Verachtung und Entleerung der Gegenwart, aber auch Verrat am Du und die Auflösung von Verantwortung vor25.

Auch die Kultursoziologie weist auf verkürzte und auf Negation beruhende Ansätze von Identitäts- und Glückssuche hin, die zu einer Entfremdung von der Gegenwart, zu Wirklichkeitsverlust und Weltfremdheit führen26. Das konkrete Leben scheint zu wenig zu sein, zu unvollkommen. Der „Zeit“geist ist ungeduldig: Er hat Angst, zu kurz

21 Nr. 172 der Edition Brunschvicg.

22 Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 345.

23 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 121972, 129f.

24 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 263.

25 Hans Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, hg. und mit einem Nachwort versehen von Ch. Wiese, Frankfurt a. M./ Leipzig 1999, 393-400.

26 Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Frankfurt a. M. 1993.

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zu kommen, vom Leben zu wenig zu haben27. Der „Beschleunigungscharakter der modernen Kultur“ (H. Lübbe) führt nicht selten zum „Entzug der Fähigkeit, gegenwärtig zu sein“ (Eugen Rosenstock-Huessy) und somit auch zum Entzug der Fähigkeit zur Begegnung. Der „homo accelerandus“ verlernt das Verweilen, die Sammlung, die Aufmerksamkeit. Der Drang, Zeit einzusparen, führt letztlich zu Zeitverlust. Postmoderne Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben, zynische Bedeutungs- und Belanglosigkeit sind das Lebensgefühl, das der negativen Zeitauffassung entspricht. Dabei ist es in der gegenwärtigen Erlebnisgesellschaft durchaus en vogue, ‚in der Gegenwart zu leben’, im Augenblick aufzugehen. Es sind aber eher Zerstreuung und Ablenkung, die durch immer neue Hinwendung zu interessanten Tätigkeiten oder Gegenständen gesucht werden. Eine Tätigkeit bzw.

ein Gegenstand folgt dabei ohne Wendung nach Innen, ohne wirkliches Inter-esse auf den anderen. Man ist hingerissen von dem „Interessanten“. Diese Weise, ‚in der Gegenwart zu leben’, ist gerade der Verlust seiner selbst, nicht das Zu-sich-selbst- kommen und auch nicht reales Mit-Sein.

Keine Zukunft zu haben bedeutet Todesurteil (Simone Weil). Die andere pathologische Perversion dieses Zeitmodus ist Zukunftssucht. Martin Luther spricht von einer „concupiscentia futurorum“28, von der Zukunftssucht und Gegenwartsflucht.

Wer ständig nur weg will von hier, wie es Franz Kafka formuliert, wer in die Utopie abspringt, ist unfähig, gegenwärtig zu sein, Zeit zu gewähren und zu schenken.

Gegenwart bleibt hohl und leer, sie wird zum „Nichts“ degradiert. Damit werden aber auch das eigene Leben, die anderen und Gott für „Nichtse“ gehalten.

Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit

Jesus rettet und heilt die verlorene Zeit29. Er qualifiziert durch communio und traditio die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu. Durch die unbedingte Hingabe Jesu verlieren sie ihren bedrohlichen, leeren, nihilistischen Charakter:

27 Vgl. Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1993.

28 WA 20,59f; zu Koh 3,1.

29 Zu einem christologisch-trinitarischen Verständnis von Zeit vgl. Hans Urs von Balthasar, Endliche Zeit innerhalb ewiger Zeit, in: Homo Creatus est (Skizzen zur Theologie V), Einsiedeln 1986, 38-51;

ders. Theologie der Geschichte. Ein Grundriss, Einsiedeln 41959; ders. Das Ganze im Fragment.

Aspekte der Geschichtstheologie, Einsiedeln 1963; ders., Theodramatik III. Die Handlung, Einsiedeln 1980, 88-124. 189-388.

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Gewalt der Vergangenheit wird aufgebrochen und verwandelt; das Gift des Gewesenen und Verwesenden wird geheilt; Vergebung der Schuld schenkt einen neuen Anfang und somit Zukunft. Ein guter neuer Anfang ist nicht das Sich- Losreißen vom Vergangenen oder das bloße Vergessen, das Vergangenes doch nur weiterwuchern lässt30. „Gott schenkt Zeit, indem er von seiner Zukunft her in der Gegenwart die Möglichkeit eines Anfangs gewährt, in dem die Gefangenschaft in einem rettungslos zur bloßen Vergangenheit sich entziehenden Leben aufgebrochen wird und dem die Gott eigene Zukunft als Erfüllung des mit ihm Beginnenden verbürgt ist.“31

Der durch Jesus besiegelte Neue Bund steht nicht primär terminal zur Zeit, ist nicht zeit-beendend, sondern zeit-eröffnend.32 Gott ist nach einer Formulierung Christian Links „Zeitquelle“33. Zeit in der Signatur Jesu ist das, „was zwischen mir und dem ganz Anderen passiert. Die Zeit steht für die Dynamik und die Spannung einer Beziehung.“ (E. Levinas) Zeit wird durch Gottes Gemeinschaft stiftende Selbstmitteilung.34 „Kommunikation und kommunikatives Handeln im eigentlichen Sinn ist erst dann gegeben, wenn Menschen sich gegenseitig Raum und Zeit gewähren, so dass in diesem Zeit-Raum jeder da-sein und sich mitteilen kann und die Anliegen eines jeden gemeinsam beachtet und geachtet werden.“35

Manfred Scheuer

30 Vgl. dazu Gerd Haeffner, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart – Berlin – Köln 1996, 60.

31 Jürgen Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg i.B. 2000, 593.

32 Karl Rahner, Die Frage nach der Zukunft, in: SzTh IX, 524-525.

33 Christian Link, Die Transparenz der Natur für das Geheimnis der Schöpfung, in: G. Altner (Hg.), Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, Stuttgart 1989, 190ff.

34 Oswald Beyer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986, 129.

35 Erhard Kunz, Eucharistie – Ursprung von Kommunikation und Gemeinschaft, in: ThPh 58 (1983) 321-345, 325.

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