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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)»Aufgeben ist nicht mein Weg«Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft

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Academic year: 2022

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Die Bildungsbenachteiligung von jungen Menschen aus Zuwandererfamilien in Deutschland ist empirisch belegt.

Hinter den Zahlen stehen persönliche Schicksale.

»Aufgeben ist nicht mein Weg«, sagen dreizehn junge Zuwanderer und schildern ihre Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem. Ihre Geschichten stehen beispielhaft für die Schwierigkeiten, die Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsbiographie überwinden müssen. Dennoch handelt es sich durchweg um »Erfolgs- geschichten«. Die Porträts dokumentieren, wie sich diese jungen Menschen für die Gesellschaft, in der sie leben, ein- setzen. Ihr Bildungserfolg ist ein Gewinn für unser Land.

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

ISBN 978-3-89204-982-1

Aufgeben ist nicht mein Weg

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

»Aufgeben ist nicht mein Weg«

Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft

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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Aufgeben ist nicht mein Weg

Bildungswelten in der Einwanderungsgesellschaft

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh Verantwortlich: Ulrich Kober, Orkan Kösemen Lektorat: Sabine Stadtfeld, München Herstellung: Christiane Raffel Umschlaggestaltung: Nadine Humann

Umschlagabbildung und Portrait-Fotos innen: Marc Darchinger, Berlin Innengestaltung: Katrin Berkenkamp, Designwerkstatt 12, Bielefeld 2. Auflage 2008

© 2010 E-Book-Ausgabe (PDF)

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Inhalt

Vorwort . . . 7 Rita Süssmuth

Porträt Ali Dog˘an . . . 10

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

So war ich. So bin ich bis heute.

Porträt Andreas Wojcik . . . 22 Jetzt erst recht!

Jetzt erst recht!

Zieht durch, was ihr euch vorgenommen habt.

Zieht durch, was ihr euch vorgenommen habt.

Portät Canan Ulufer . . . 34 Ich bin die, die ich bin.

Das ist vielleicht der größte Erfolg in meinem Leben.

Porträt Eleonora Faust . . . 48 Kommt raus aus eurer Ecke, verkriecht euch nicht,

ihr seid gut, ihr schafft, was ihr euch vornehmt!

Porträt Hülya Eksi-Yılmaz . . . 60 Am wichtigsten ist es, nicht zu resignieren.

Porträt José Ramón Álvarez Orzáez . . . 72 In Momenten der Ohnmacht habe ich mir immer gesagt:

»Mich kriegen die nicht. Mich machen die nicht fertig.«

Porträt Martin Hyun . . . 84 Ich möchte mein Wissen und meine Erfahrungen

hierzulande einsetzen. Ich hoffe auf eine Chance.

Porträt Musgana Tesfamariam . . . 96 Bildung ist die beste Waffe, um sich Gleichberechtigung

und ein gutes Leben zu erkämpfen.

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Porträt Sadık Cicin . . . .108 Dranbleiben, Jungs, ihr müsst dranbleiben, nicht aufhören, weitermachen, auch wenn es in der letzten Zeit für euch schlecht gelaufen ist.

Porträt Antonella Sgroi . . . .122 Wenn ich mich jetzt nicht melde,

dann wird nichts von selbst passieren.

Porträt Waldemar Eisenbraun . . . .136 Wo ein Wille ist, da passieren großartige Dinge.

Aufgeben ist nicht mein Weg.

Porträt Armin Suceska . . . .148 Geht mal in die Bibliothek. Und jetzt los, beeilt euch.

Bevor es zu spät ist!

Porträt Lamya Kaddor . . . .162 Lernt, Leute, lernt! Worauf wartet ihr noch?

Erfolg darf nicht unwahrscheinlich sein.

Was sich ändern muss, damit »neue« Deutsche faire

Chancen bekommen . . . 173 Ulrich Kober | Orkan Kösemen

Die Autoren . . . .182

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Vorwort

Fortschreitende Globalisierung und weltweite Migration haben unsere Gesellschaft tiefgreifend verändert. Wir leben in einem Einwanderungsland. Es hat lange – viel zu lange – gedauert, bis sich unser Land dieser veränderten Wirklichkeit gestellt hat. Ange- messen darauf eingestellt haben sich manche Einrichtungen immer noch nicht, allen voran das Bildungssystem. Hier schneiden Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien in der Regel immer noch schlechter ab als ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund.

Unsere Bildungseinrichtungen sind im Alltagsgeschäft noch zu wenig sensibilisiert für die kulturelle, sprachliche und ethnische Vielfalt unseres Landes.

In unseren Kindergärten und Schulen werden die Weichen für eine erfolgreiche Integration und die gleichberechtigte Teilhabe aller am gesellschaftlichen Leben gestellt. Der Zusammenhalt in einer Einwanderungsgesellschaft ist aber akut gefährdet, wenn es hier nicht gelingt, Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrer Herkunft faire Chancen einzuräumen und es ihnen zu ermöglichen, Zugehörigkeit zu entwickeln.

Die Weiterentwicklung unseres Bildungssystems auf dem Hinter- grund des demographischen Wandels und der zunehmenden Viel- falt in unseren Städten und Gemeinden ist eine der drängendsten Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Allerdings dürfen wir nicht nur auf die Probleme fokussieren. Klassische Einwanderungs- gesellschaften feiern die Erfolge ihrer Einwanderer. Auch wir in Deutschland haben Anlass zum Feiern. Denn längst gibt es auch bei uns viele Einwanderer, die unser Bildungssystem erfolgreich durchlaufen und beruflichen Erfolg haben. In diesem Band wer- den 13 solcher Erfolgsgeschichten erzählt. Sie zeigen individuelle Wege zum Gelingen, machen aber auch deutlich, wie groß die Widerstände waren und noch sind.

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»Aufgeben ist nicht mein Weg« – Waldemar Eisenbraun hat dieses Motto für die hier beschriebenen Bildungswelten in der Einwande- rungsgesellschaft vorgeschlagen. Es bringt trefflich auf den Punkt, wie »unwahrscheinlich« der Bildungserfolg vieler Einwanderer bei uns noch ist und welche Bedeutung deshalb individueller Erfolg hat.

Er ist das Ergebnis von Anstrengung und Durchhaltevermögen.

Wir dürfen es aber nicht bei der Bewunderung für die Leistungen Einzelner belassen. Die beschriebenen Wege dürfen nicht die Wege einzelner weniger bleiben. Dafür setzen sich die hier Porträtierten selbst ein: Sie engagieren sich in Vereinigungen von Zuwanderern für bessere Integration, mehr Chancengleichheit und ein friedliches Zusammenleben in Deutschland. Die Bertelsmann Stiftung unter- stützt sie dabei in einem Leadership-Programm für junge Füh- rungskräfte aus Migrantenorganisationen. Für dieses Programm habe ich gern die Schirmherrschaft übernommen. Denn ich bin überzeugt davon, dass erfolgreiche junge Menschen aus Zuwan- dererfamilien wichtige »Brückenbauer für Integration« sind. Ihr Erfolg ist wegweisend für andere. Wegweisend für andere Kinder und Jugendliche in vergleichbarer Lage, damit sie nicht aufgeben.

Wegweisend aber auch für uns alle, damit wir endlich gemeinsam die angemessenen Rahmenbedingungen für Chan cengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in unserem Land schaffen.

Professor Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a. D.

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Porträt Ali Dog˘an

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

So war ich. So bin ich bis heute.

Ich treffe Ali Dog˘an in einem großbürgerlichen Restaurant.

Wir setzen uns an einen Tisch inmitten der barocken Dekoration: Schwere Bilderrahmen hängen an den Wän- den, opulente Stuckleisten zieren die hohe Decke, die weiblichen Bedienungen servieren mit weißer Schürze. Ali legt seine zwei Handys neben sich auf den Tisch, die in den nächsten drei Stunden gelegentlich summen. Bei jedem Klingeln schaut Ali kurz auf das Display, ohne die Telefonate anzunehmen, während er unbeirrt weiterredet.

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Ali hat einen akkuraten Kurzhaarschnitt, er trägt eine moderne Brille, ein graues Sakko, weißes Hemd, Krawatte, ausgebleichte Jeans und Lederschuhe. Er trinkt einen Cappuccino, dazu stilles Wasser, und hat keine Scheu, offen über sich, seine Familie und seinen Glauben zu reden. Wovon er stets zu wenig hat, ist Zeit. Ali Dog˘an ist ein rastloser Mensch. Er redet in hoher Frequenz und benötigt nicht mehr als wenige Stunden Schlaf pro Nacht, wie er sagt.

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Ich weiß nicht genau, vielleicht machen das alle Kinder auf der Welt. Ich denke aber, bei mir war es besonders ausgeprägt: Meine Eltern erzählen mir, ich hätte als Kind schon immer gesagt, ich würde später Arzt oder Rechtsanwalt werden. Wahrscheinlich ent- sprang das meinem dringenden Wunsch heraus, meinen Eltern zu helfen. Mein Vater Ihsan, 58, ist seit 25 Jahren erwerbsunfähig. Er hat jahrelang als Gerber gearbeitet. Meine Mutter Yeter, 56, schuf- tet seit über 30 Jahren als Hilfsarbeiterin in einem Papierverar bei- tungsunternehmen. Bald geht sie in Frührente. Ich habe einen Bruder, er heißt Can, 31, er ist geschieden. Meine Schwester Özlem, 32, ist verheiratet und hat ein Kind. Ich bin ledig und habe eine Freundin, sie heißt Sevil, 24. Dass ich heute mein Jurastudium beendet habe und vor dem 2. Staatsexamen stehe, habe ich vor allem der Unter stützung und Liebe meiner Familie zu verdanken.

Mein Vater stammt aus Sivas und ist 1972 nach Deutschland einge- wandert. Er war Gerbermeister und sollte in Mainz-Bingen in der Möbelindustrie arbeiten. Später ist er ins Metallgewerbe gewechselt.

Das Unternehmen meiner Mutter produziert Staubsaugerbeutel. Sie beide waren zeit ihres Lebens als Hilfsarbeiter beschäftigt. Meine Mutter muss noch bis zur Mitte dieses Jahres arbeiten, dann geht sie in Rente. Die Behinderung meines Vaters ist für jemanden, der ihn nicht kennt, kaum sichtbar. Er bewegt sich normal. Schwere Arbeiten kann er aber nicht mehr tun. Die Bandscheiben seines Rückens sind demoliert. Er hat einen Schwerbehindertenausweis.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sie beide eine romantischere Vor- stellung vom Auswandern hatten. Am Ende bestand ihr Leben fast ausschließlich aus harter Arbeit und den körperlichen Folgen davon. Wer weiß, wie es ihnen in der Türkei ergangen wäre, wenn sie nicht nach Deutschland aufgebrochen wären.

Mein Vater hat in der Türkei immerhin eine Oberschule besucht.

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niemals eine Schule frequentiert. Er war ein alevitischer Geistlicher, ein Dede, der im Umkreis von 200–250 Kilometern seiner Ge mein- de Gebete und Zeremonien geleitet hat. Mein Opa väterlicherseits war ebenfalls sehr gebildet. Er war Händler und hat in der Provinz Sivas Viehzucht betrieben. Sivas liegt im östli chen Anatolien. Übri- gens bezeichnet man als Anatolien den gesamten asiatischen Teil der Türkei, das wissen die wenigsten. Jedenfalls war mein Opa Händler. Er konnte zwei kurdische Sprachen, Ara bisch und Türkisch.

Er war wohlhabend, deshalb bekam mein Vater die Gelegen heit, in der Hauptstadt Ankara die Schule zu besuchen. Meine Mutter hatte dagegen eine schwierige Kindheit. Ihre Mutter ist gestorben, als sie zehn Jahre alt war. Danach musste sie das Haus führen, kochen, bügeln, putzen. Sie wusch auch die Wäsche ihres Vaters und ihrer Brüder, die alle arbeiteten. Ihre Schwestern waren bereits verheiratet. Das ist der Grund, weswegen meine Mutter kaum eine Schule besucht hat.

Meine Eltern lernten sich im Heimatort meiner Mutter kennen. Es war damals üblich, dass man sich bei Hochzeiten begegnete, zu denen auch Gäste aus den umliegenden Dörfern eingeladen wur- den. Auf einem dieser Feste hat mein Vater meine Mutter gesehen, er fand sie sehr hübsch und hat dann über Mittelsmänner den Kontakt gesucht. Natürlich hat er sie nicht einfach angesprochen.

Das war damals nicht möglich. Auch unter Aleviten nicht. Meine Familie ist alevitischen Glaubens und ich bin Vorsitzender des Bun- des der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V.

Das Alevitentum ist der einzige Glaube, der über die Jahrhunderte nur mündlich tradiert wurde, und zwar u.a. durch die Musik mit einer Saz, einem anatolischen Saiteninstrument. Wir folgen keinem Buch, wie Moslems dem Koran oder die Christen der Bibel. Das wird jedoch auch unter uns Aleviten differenziert betrachtet, und so gibt es immer noch im Programm der Alevitischen Gemeinde Deutschlands, unserem Dachverband, eine Passage, die besagt, dass das Alevitentum eine islamische Konfession sei. Ich persön- lich und eine immer größer werdende Gruppe sehen das anders.

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Wir glauben, dass das Alevitentum ein eigenständiger Glaube ist. Die Tatsache, dass wir Aleviten offen über solche Meinungs- verschiedenheiten diskutieren können, halte ich für progressiv und richtig. Die Werke der Aleviten wurden vernichtet. Aus diesem Grund wird die Saz auch als der »Koran mit Saiten« bezeichnet.

Wie gesagt, meine Eltern heirateten später und mein Vater kam 1972 nach Deutschland. Er wurde mit einer größeren Gruppe aus Familienmitgliedern vorgeschickt, um eine Arbeit aufzunehmen.

Ein Jahr später sollten die Frauen nachgeholt werden. Das war der Plan. Einige der Männer kehrten jedoch wieder zurück. Andere blieben, auch mein Vater. Er holte 1973 meine Mutter nach. Sie traten die große Reise ins Ungewisse also getrennt voneinander an.

Sie zogen nach Bingen, später nach Gummersbach und ab 1979 nach Herford bei Bielefeld.

Mit fünf Jahren kam ich in den Kindergarten. Nicht nur dort, gleichgültig, in welche Schule ich später kam, war ich der soge- nannte Exot. Gut, es gab in der Grundschulklasse einen anderen Jungen türkischer Herkunft. Streng genommen habe ich eigent- lich einen kurdischen Hintergrund. Aber, was heißt das schon:

Kurde oder Türke – ich unterscheide da nicht großartig, wichtig sind für mich menschliche Qualitäten, nicht die Nationalität. Im Kindergarten aber war ich das einzige ausländische Kind. Auf meinem Gymnasium später gab es vielleicht unter tausend Schülern fünf oder sechs türkischer Herkunft.

Im Vergleich zu meinen Geschwistern konnte ich schnell sehr gut Deutsch sprechen. Ich glaube, es lag daran, dass meine Geschwister schon ein wenig Deutsch konnten und sie mir als Vorbild dienten.

Ich konnte mit ihnen auch zu Hause Deutsch sprechen, während sie als die älteren Kinder zu Hause mit meinen Eltern die türkische Sprache pflegten. So wurde ich bereits in der Grundschule nicht nur

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Jungen an. Er löste die fünf Aufgaben zweifelsohne schneller als ich.

Er hatte aber zwei Fehler. Ich keinen einzigen. Alle gratulierten mir und klatschten. Es war ein Gefühl von Anerkennung und Respekt, der mir gezollt wurde. Ich habe das bis heute nicht vergessen.

Diese Form von Anerkennung kannte ich von zu Hause nicht. Wie denn auch. Meine Eltern konnten mir keine Hausaufgabenhilfe geben. Sie sprachen ungenügend Deutsch. Meine Mutter kannte nicht einmal die Notenskala von 1 bis 6. Natürlich wollte sie, dass ich erfolgreich bin, und sie hat auch alles dafür getan, mich dabei zu unterstützen. Aber sie hätte auch nicht mitbekommen, wenn ich in der Schule nicht erfolgreich gewesen wäre.

Einmal bekam ich in einer Matheklausur eine Drei plus, das war die beste Note der Klasse. Die Arbeit war insgesamt schlecht aus- gefallen. Als ich nach Hause kam und sie meiner Mutter zeigte, sagte sie, ich solle mir keine Sorgen machen, das nächste Mal würde es wieder besser werden. Ich hatte sonst immer Einsen in Mathe. Weil meine Mutter mich aber nicht verstand, hat es mich stark aufgeregt und ich habe gesagt: »Mutter, das ist die beste Klausur der Klasse gewesen, verstehst du nicht?! Ich habe eine Drei plus!« Aber sie dachte weiterhin, es wäre total mies für mich ge - laufen. An ihrer Version hält sie bis heute noch fest, wenn man sie darauf anspricht.

Aus Büchern vorgelesen wurde bei mir zu Hause nicht. Nur ein Mal hat mir mein Vater etwas vorgelesen, das werde ich auch niemals vergessen. Ich war krank, hatte 40 Grad Fieber. Ich muss elf, zwölf Jahre alt gewesen sein. Da hat mir mein Vater aus einem Buch von Aziz Nesin etwas vorgetragen, einem türkischen Schriftsteller, der sich bis zu seinem Tode als stolzen Atheisten bezeichnete und da für in der Türkei verfolgt wurde. Wir hatten sehr viele politische Bücher zu Hause. Mein Vater las sehr gern Sachbücher und poli- tische Schriften. Für eine türkische Familie aus unserem Milieu hat- ten wir viele Bücher, 200 bis 300, würde ich sagen. Mit anderen Einwandererfamilien war das nicht zu vergleichen. Bei keinem mei-

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ner Freunde standen so viele Bücher herum wie bei uns. Meine Freunde waren zumeist Kinder und Jugendliche aus Ein wanderer- familien, ein Kosovo-Albaner war dabei, auch Türken, Jugoslawen, Italiener. Zusammen besuchten wir gern die Stadtbücherei. Wir la - sen Comics von »Lucky Luke« und »Asterix und Obelix«, oder auch Sachbücher. Der Hit unter uns aber war: das Guinnessbuch der Rekorde. Das haben wir verschlungen.

Weil meine Eltern mich schulisch kaum unterstützen konnten, war ich gezwungen, frühzeitig sehr schnell eigenständig zu Hause zu lernen. Ich rettete mich daher in den Fleiß und würde sogar sagen, ich war gewissermaßen ein Musterschüler, einer, der nach der Schule direkt nach Hause ging und als Erstes seine Hausaufgaben machte, bevor es zum Spielen ging. Es war wie ein Prinzip von mir, das ich mit diesem deutschen Sprichwort am besten getroffen fühle:

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« So war ich. So bin ich bis heute: Wenn Arbeit liegen bleibt, beschäftigt sie mich. Deshalb ist es besser, ich schaffe sie weg, bevor sie mich schafft. Ich glaube, dieses Prinzip wurde mir von meiner Mutter übertragen. Mein Vater – und ich meine das hier durchaus positiv – ist ein fauler Mensch, ein Schöngeist, der Muße benötigt, um seine Gedankenwelt zu durchdringen. Meine Mutter erzählt immer die Anekdote, mein Vater habe in den wenigen Jahren, in denen er gearbeitet hat, 20 Wecker zerstört, weil er sie gegen die Wand schmiss, sobald sie ihn weckten. Meine Mutter dagegen ist eine Frau, die immer arbeitet und sich nicht gehen lässt, bevor die Arbeit fertig ist. Den Fleiß habe ich also von ihr, die Neugier zum Lesen und zum Studieren von meinem Vater bekommen.

Nach der Grundschule sollte ich aufs Gymnasium. Obwohl ich Klassen- und Jahrgangsbester war, empfahl meine Lehrerin meinen Eltern, mich auf eine Realschule zu schicken. Sie war der Meinung,

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sechs Jahre älter als ich, aber er hat der Lehrerin mit dem Anwalt gedroht, wenn ich nicht diese Empfehlung für das Gymnasium erhalte. Mein Bruder wollte nicht, dass mir dasselbe Schicksal wie ihm und meiner Schwester widerfährt. Sie waren durchschnitt liche Schüler und hatten es nur bis zur Hauptschule geschafft. Das hat ihm zugesetzt, und er wollte mir diesen Weg ersparen. Alles, was mein Vater und meine Mutter nicht verstanden und also auch nicht für mich durchsetzen konnten, übernahm mein Bruder. Er ist ein Vorbild für mich, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte.

Am Ende gehörte ich auch dort zu den Jahrgangsbesten. Aber um dies zu erreichen, musste ich lernen, mich gegen Widerstände zu wehren, einen eigenen Kopf zu entwickeln und gegen die Isolation, die man als Nichtdeutscher in einer deutschen Schulklasse manch- mal spürt, anzukämpfen.

Ich kann mich etwa an ein Gespräch erinnern, das ich mit unserem Beratungslehrer in der 11. Jahrgangsstufe geführt habe. Ich hatte damals zehn Einsen im Zeugnis und eine Zwei plus. Er hat mich zu sich gerufen und gemeint: »Ali, ich kenne Sie ziemlich lange und war auch vorher Ihr Klassenlehrer. Wie es aussieht, werden Sie als Ausländer das beste Abitur in der Geschichte der Schule machen – ich bin richtig stolz auf Sie. Lassen Sie sich nicht von Ihrem Weg abbringen.« Ich habe damals gedacht: Was ist Besonderes daran, dass ausgerechnet ein Ausländer wie ich das beste Abitur in der Geschichte der Schule macht? Warum hat er meiner nichtdeutschen Herkunft besondere Gewichtung gegeben? Am Ende hatte ich dann einen Notenschnitt von 1,3 – was nicht ganz zum besten Abi aller Zeiten gereicht hat.

Die Wahl meines Studiengangs war eine Sommerferienentschei- dung. Ich hätte gern ein geisteswissenschaftliches Studium gewählt.

Sprachen mochte ich auch sehr gerne, aber dann dachte ich, spä ter würde ich keinen Job bekommen, wenn ich etwa Germanistik oder Philosophie wählen würde. Dann habe ich über BWL nachgedacht, aber ich fand, nur Snobs studieren Wirtschaftswissenschaften. Als

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wären Juristen keine Snobs. Dann habe ich also mein Jurastudium begonnen, obwohl ich nicht sonderlich zufrieden war mit meiner Entscheidung. Die Rechtswissenschaften und ich lebten zunächst in einer Vernunftehe. Ich habe diese Entscheidung aus Pflichtgefühl getroffen, weil ich glaubte, damit beruflich später weit kommen zu können. Zudem hält mein Vater sehr viel von Juristen. Sein Onkel, von dem er immer spricht, ist Rechtsanwalt in der Türkei.

Mittlerweile gefällt mir die Juristerei aber sehr gut und ich bin passionierter Rechtsverdreher. Jedenfalls habe ich mich bereits im 7. Semester für das erste Staatsexamen angemeldet. Das zweite steht noch bevor. Ich bin gerade 25 Jahre alt. In etwa einem Jahr werde ich Volljurist sein und spiele mit dem Gedanken, mich für eine Richterstelle zu bewerben.

Zurzeit bin ich in der Anwaltsstation im Referendariat. In NRW ist man im Rechtsreferendariat in einem öffentlich-rechtlichen Aus- bildungsverhältnis und bekommt dafür ein Gehalt. Die ehrenamt- lichen Tätigkeiten für den alevitischen Jugendverband arbeite ich in der übrigen Zeit ab. Mein Bruder fördert mich finanziell. Ich bin sehr stolz auf ihn, denn eigentlich wäre er der perfekte Kandidat für dieses Porträt: Er war Hauptschüler. Der Lehrer dort hat ihn eines Tages zur Seite genommen und gemeint: »Wenn du eine Lehre abschließt, dann ist das schon eine große Leistung für dich, das ist ausreichend.« Mein Bruder aber hatte sich in den Kopf gesetzt zu studieren. Er schloss also die Hauptschule ab und begann tatsäch- lich eine Lehre. An den Wochenenden holte er sein Fachabitur nach und begann danach ein Studium in Maschinenbau. Schon im Alter von 22 Jahren hatte er das abgeschlossen, und zwar mit einer Note von 1,3. Heute ist der ehemalige Hauptschüler Geschäftsführer in einem Kunststoffunternehmen und will bald selbstständig in der Unternehmensberatung tätig werden. Ich kann dies nur noch mal hervorheben, mein Bruder Can ist mein Idol.

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dem Abitur vorgezogen. Vielleicht wurde sie von meinen El tern auch nicht wirklich unterstützt in dem latenten Wunsch, Abi tur zu machen. Meine Schwester hätte sicherlich ähnliche Fähig keiten wie mein Bruder entwickeln können. Doch meine Eltern hielten sozusagen die schützende Hand über sie: Özlem arbeitete später in der Rechtsanwaltskanzlei auf der anderen Straßenseite unserer Wohnung. Danach wurde meine Schwester Versiche rungsfach- angestellte. In diesem Bereich war sie lange Jahre als Büro leiterin eines großen Versicherungsunternehmens tätig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Für meine Geschwister und mich galt immer der türkische Glaubenssatz unserer Eltern: »Durch Lesen und Lernen kannst du zwar die Ungebildetheit überwinden, aber nicht dein rückständiges Gedankengut, wenn es Teil deines Charak ters ist.«

In diesem Fall hilft einem auch das beste Wissen oder das meiste Geld der Welt nicht.

Ständig zielstrebig auf hohem Niveau zu lernen, zu studieren und zu arbeiten ist anstrengend. Ich habe das als Druck empfunden, was nicht immer angenehm ist. Auch habe ich aus Pflichterfüllung immer die Arbeit gemacht, die anstand. Zeit für Reisen hatte ich selten. Anders als viele andere meiner Altersgenossen habe ich die Welt kaum gesehen. Mir sind nur die wenigen Klassenfahrten und die Reisen in die Türkei in Erinnerung. Seit 2002 habe ich keinen Urlaub mehr gemacht. Immer wieder setze ich mir neue Ziele und versuche, sie zu erreichen. Sobald ich dann dort angekommen bin, halte ich wieder Ausschau nach Neuem. Ich bin rastlos und benöti- ge wenig Schlaf. Mein Freundin sagt, ich sei wie Leonardo da Vinci:

Der soll mit nicht mehr als zwei bis drei Stunden Schlaf pro Nacht ausgekommen sein. Ich kann tatsächlich viele Tage mit wenig Schlaf auskommen. In den letzten Wochen etwa lag der Wahlkampf zum Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland an. Dafür war ich rund um die Uhr im Einsatz. In den letzten sechs Tagen habe ich jeweils nur ein bis zwei Stunden am Tag geschlafen.

Mit meiner Freundin bin ich seit über sechs Jahren zusammen. Wir führen eine Fernbeziehung. Sie ist bald auch im Referendariat, sie

Referenzen

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