Der Sport ''mit anderen Augen'' Kritik eines modernen Leitbildes
nach der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners
von Olga De Grazia
Hausarbeit im Rahmen des
Hauptseminars ''Lesen im Theatrum Philosophicum: Helmuth Plessner'' Sommersemester 2007 Prof. Dr. Helmar Schramm
Institut für Theaterwissenschaft Freie Universität Berlin Berlin, März 2008
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ...2
Kapitel 1 Theoretische Grundlagen für eine anthropologische Deutung des Sports: der Ausdruck...6
Die Verschränkungen des menschlichen Körpers ...8
Der Ausdruck: zwischen Zwang, Bedürfnis und Kraft ...11
Kapitel 2 Der Sport als kulturelle Ausdrucksform mit gesellschaftlicher Stellenwert ...14
Die Ausgleichsthese ...16
Sport als Ausgleichsreaktion ...20
Kapitel 3 Der Sport als (kultur)anthropologische Ausdrucksform ...23
Sport: zwischen Leistung, Spiel und Körperlichkeit ...24
Die goldene Medaille: Sport zwischen Instrumentalität und Expressivität...26
Fazit ...30
Literaturliste ...33
Einleitung
In der kultur und sozialwissenschaftlichen Literatur ist spätestens seit den achtziger Jahren von einer „Versportlichung“ der Gesellschaft die Rede. Auf eine kurze, trockene Formel zurückgeführt, verweist der Versportlichungsbegriff erstens auf eine gesamtgesellschaftliche Zunahme der Sportpraxis, zweitens auf die Ausbreitung bzw. das Eindringen des Sports und dessen Werte in das soziale Leben, drittens auf die sich daraus entwickelnden Wechselwirkungen zwischen dem Sport und der Gesellschaft, viertens und nicht zuletzt auf die Durchsetzung des Sports als Orientierungsmodell und die Etablierung von Sportlichkeit (bzw. Sportivität) als Leitwert1. Diese vier Aspekte sollen zunächst einmal kurz erläutert werden, um die Fragestellung dieser Arbeit nachvollziehen zu können.
Zuerst scheint es ein Kennzeichen der Geschichte der modernen Gesellschaft, dass sich mehr Menschen sportlich betätigen. Dieses Phänomen entspringt wie wir es im zweiten Kapitel sehen werden aus der Industrialisierung und Verstädterung der westlichen Welt, in der man den Körper anders als durch lebensnotwendige bzw. arbeitsbedingte Aktivität bewegen will. Die Expansion des Sports in der Gesellschaft2 führt zu entscheidenden Veränderungen in ihren Strukturen und Prozessen. Dadurch, dass Sport über die eigenen Grenzen hinaus in verschiedene Lebensbereiche expandiert, durchdringt er zweitens die Alltagskultur was man bspw. an seiner Präsenz in der Mode gut festmachen kann und prägt die individuellen und kollektiven Handlungs, Wahrnehmungs und Deutungsweisen mit den eigenen Mustern.3 Dass in der Arbeitswelt heutzutage
1 So sieht zum Beispiel Wolfgang Kaschuba die Etablierung der „Sportivität“ als ein Grundprinzip des
gesellschaftlichen Alltagsbewusstseins: „[...] 'Sportivität' als eine demonstrative Bezugnahme auf Praxisformen, Symbole und Werte des Sports sie ist als gesellschaftliches Verhaltens und Deutungsmuster in der Tat
allgegenwärtig und selbstverständlich.“ (Kaschuba, Wolfgang : „Sportivität: Die Karriere eines neuen Leitwertes.
Anmerkungen zur „Versportlichung“ unserer Alltagskultur“ (1989), in: Caysa, Volker (Hrsg.), Sportphilosophie.
Leipzig 1997, S. 230.)
2 Soziologisch betrachtet ist diese Expansion sicherlich keine Entwicklung, die jenseits der sozialen Strukturen und Unterschiede stattfindet. Vielmehr hängt sie stark von den sozialen Schichten ab: Die unteren Bildungsschichten treiben weniger Sport in ihrer Freizeit als die höheren. Zur Entwicklung des Sporttreibens in Deutschland und ihre Analyse im sozialstrukturellen Zusammenhang, siehe: Becker, S., Klein, T., Schneider, S.: „Sportaktivität in Deutschland im 10JahresVergleich: Veränderungen und soziale Unterschiede“, in: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jahrgang 57, Nr. 9 (2006), S. 226232. URL: http://www.dgsp.de/zeitschrift/ [13.03.2008]
3 Hierzu führt Wolfgang Kaschuba eine interessante Bemerkung ein: „Bis vor wenigen Jahren noch hätte man bestimmte Alltagsszenen doch wohl ganz unbedenklich wie folgt interpretiert: Wenn ein Mensch auf der Straße schnell lief, wenn er rannte, hatte er es ganz einfach eilig. [...] Heute indessen scheint diese Logik zweifelhaft, ja ungültig: Die Laufenden und Rennenden sie joggen [...]. Die einen rennen nicht etwa deshalb, weil sie es eilig
von Training, Coaching, Team, usw. die Rede ist vor allem wenn es um die Optimierung der menschlichen Produktionsprozesse geht liefert ein weiteres gutes Beispiel hierfür. Diese Penetration des sozialen Lebens durch den Sport stellt jedoch weniger eine einseitige Einflussnahme, als vielmehr eine wechselseitige Rückwirkung dar. Zwischen dem Sport und der Gesellschaft finden drittens Wechselwirkungen statt, die in unterschiedlicher Art und Weise sichtbar werden. Beispielsweise wurde der Sport im Laufe der dritten Industrialisierungsrevolution, die auf eine 'Wiedervermenschlichung' der Arbeitsprozesse abzielte, neben Betriebsfeiern, sozialen Veranstaltungen und Reisen zum gewöhnlichen Instrumentarium dieser Umgestaltung4.
Die vierte und letzte Dimension des Versportlichungsbegriffs worum es uns hier eigentlich geht kann als die Folge einer Intensivierung dieser Wechselwirkungen zwischen dem Sport und der Gesellschaft betrachtet werden: Der Sport ist zu einem Leitbild schlechthin geworden, das Wertvorstellungen und Symbole anbietet, aus denen sich die Gesellschaft bedienen kann.5 So können die heute sehr präsenten Diskurse über die gesundheitsfördernde Funktion des Sports als ein Ergebnis dieser hegemonialen Ausbreitung des Sports innerhalb des gesellschaftlichen und kulturellen Gewebes ohnehin gelten. Das Appellieren an die Gesundheitsgesinnung der Bevölkerung durch die Sportförderung findet im deutschsprachigen Raum spätestens durch die sogenannten Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts eine starke Verbreitung und hat den verschiedenen bürgerlichen Körperkulturen vieles zu verdanken. Diese Kulturen, die für den Sport als Praxis aktiv plädierten, trugen zweifelsohne stark dazu bei, aus dem Sport ein gesellschaftsübergreifendes Phänomen zu machen, nämlich durch die Kopplung der Begriffe Sport und Gesundheit.6 In anderen Worten prägt der Sport unsere Wertvorstellungen mehr als wir es vielleicht ahnen können, wie am Beispiel der Assoziation 'Bewegung bringt Gesundheit' veranschaulicht wurde.
hätten. Sie haben im Gegenteil viel Zeit, Freizeit, genauer gesagt: freie SportZeit.“ (Kaschuba, „Sportivität“, ibid., S. 22930.)
4 Vgl. Habermas, Jürgen: „Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum“, in:
Ders., Arbeit, Freizeit, Konsum. Frühe Aufsätze, Gravenhage 1973, S. 126.
5 Hierzu betont Volker Caysa die Wichtigkeit der kritischen Herangehensweise an der „Sportlichkeit“ als Leitbild:
„Durch eine nicht vorhersehbare Verknüpfung von Politik, Wirtschaft, Medien, Mode und Sport ist die Sportlichkeit zu einem wenig hinterfragten Leitwert in der modernen Kultur geworden. Er bestimmt die Lebensführung von immer mehr Menschen. Gerade deshalb muss der Sport, wenn er seine positiven Selbstgestaltungsmöglichkeiten für die Individuen behalten soll, kritisch betrachtet werden.“ (Caysa, Volker, „Nachbemerkungen“, in: Ders. (Hrsg.), Sport ist Mord. Texte zur Abwehr körperlicher Betätigung, Leipzig 2004 (1996), S. 196.)
6 Die Assoziation zwischen Bewegung und Gesundheit ist zweifelsohne geschichtlich älter als hier postuliert.
Dennoch vermuten wir, dass es einen Unterschied zwischen der früheren und neueren Formen dieser
Begriffenkopplung gibt, der mit der Institutionalisierung des Sports und der Medizin im 19. Jahrhundert zu tun hat.
Dieser Kerngedanke der Versportlichungsthese entspricht unserer eigenen These, welche die Auswahl des Themas Sport rechtfertigt. Der Erkenntnis zufolge, dass der Sport längst kein eingegrenzter Gesellschaftsbereich mehr ist, wollen wir die Selbstverständlichkeit seiner Präsenz im sozialen Leben im breiten Sinne hinterfragen. Der Sport, der zu einem suggestiven Leitbild geworden ist, hat zwar auf die heutige Gesellschaft einen mächtigen Einfluss, doch ist er als soziales und kulturelles System dadurch auch völlig entgrenzt: Indem er überall ist, ist er nirgendwo und gerade deswegen gilt er als selbstverständlich. Um die Etablierung des Sports als Orientierungsmodell besser zu verstehen, wollen wir uns fragen, worin seine soziale und kulturelle Wirksamkeit grundsätzlich liegt. Dafür nehmen wir uns eine (sozial)philosophische Analyse des Sports als Leitbild vor, die diesen paradoxerweise auf sein ursprüngliches Wesen zurückführen soll, und zwar auf die körperliche Betätigung.
Diesen methodischen Gedankengang entleihen wir dem deutschen Philosophen Helmuth Plessner (18921985), der für Paradoxien eine spezielle Vorliebe hatte besonders für diejenigen, die Selbstverständlichkeiten aufdecken konnten... Dieser Vertreter der philosophischen Anthropologie gilt aber in dieser Arbeit nicht nur als Inspirations sondern auch als Theoriequelle. Denn in seinen Texten meinen wir einen Begriff entdeckt zu haben, der sich für unsere Fragestellung gut anbietet:
den Ausdruck. Das Ausdruckskonzept Plessners wie es im ersten Kapitel vorgestellt wird setzt an den Körper des Menschen und schließt zugleich alle kulturellen Erscheinungen mit ein. Deshalb ist er für unsere Zwecke, die Analyse der Leitbildrolle des Sports, angemessen: Er kann sowohl die Körperbezogenheit als auch die sozial und kulturellgeschichtliche Dimension des Sports in Betracht ziehen sogar beide Aspekte aufeinander beziehen. In anderen Worten: Um die historischen und anthropologischen Wurzeln dieses besonderen Stellenwertes des Sports für die moderne westliche Gesellschaft herauszustellen, wollen wir den Sport als eine bestimmte Ausdrucksform des Menschen begreifen.
Dieses Vorhaben stellt einen Erweiterungsversuch der Theorie Plessners insofern dar, als er es selbst in dieser Form nicht durchgeführt hat. Seine Abhandlungen zum Thema Sport, die sich auf zwei Beiträge beschränken, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956, abgekürzt:
FKT) und Spiel und Sport (1966, abgekürzt: SuS)7, sprechen nicht wortwörtlich vom Sport als
7 Plessner, Helmuth: „Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft“ (1956), in: Caysa, Volker ,
Ausdrucksform. Vielmehr liefern sie jeweils zwei Bestände von Erkenntnissen, die wir anhand seiner Ausdruckstheorie erschließen werden. Der erste Sportaufsatz, die Funktion, begründet den Sport als ein Produkt des Industrialisierungsprozesses und untersucht, wie und warum er in diesem spezifischen Kontext an Bedeutung gewann. Hierbei wird er aus der Perspektive einer bestimmten historischen Entwicklung heraus analysiert, die unserer Meinung nach insofern Sinn macht, als sie den Sport mit einem nüchternen, entromantisierten, (sozial)kritischen Blick betrachtet: Der Sport fängt mit Plessner nicht in der Antike oder im England des 17. Jahrhunderts an, sondern er entspringt einer „fundamentalen Erfahrung“, die der Mensch in der industriellen Gesellschaft machte, nämlich dem Erleben der „zunehmenden Verstädterung“ (FKT: 47). Im zweiten Beitrag, Spiel und Sport, geht er wieder auf diese geschichtliche Verortung des Sports im Industrialisierungsprozess ein, wobei er sie mit der anderen, anthropologisch ausgelegten These konfrontiert, dass der Sport aus dem sogenannten ursprünglichen Spieltrieb des Menschen heraus gewachsen sei. Aus dieser Gegenüberstellung entstehen weniger historisch als anthropologisch angelegte Betrachtungen, die für unseren Zweck der Begründung vom Sport als Ausdrucksform von Belang sind.
Dieser bipolaren Perspektive entsprechend gliedert sich der Hauptteil der Arbeit in zwei Abschnitte, die um es auf den Punkt zu bringen das Ziel verfolgen, die Leitbildfunktion des Sports in der (post)modernen Gesellschaft (sozial)philosophisch nachzuvollziehen. Im ersten Schritt wird gezeigt, inwieweit man in Plessners Sinne den Sport als einen wichtigen Bestandteil unserer modernen Kultur, d.h. als eine leitende kulturelle Ausdrucksform begründen kann (Kapitel 2). Dafür werden insbesondere die gesellschaftlichen Bedingungen seines Aufkommens berücksichtigt, da diese eine historische Erklärung liefern, weshalb der Sport sich als ein kulturelles Orientierungsmodell etablieren konnte. Im zweiten Schritt wird die anthropologische Dimension der Leitbildrolle des Sports untersucht, wobei eine höhere Aufmerksamkeit auf dessen Bezug zum Spiel und zur Körperlichkeit gerichtet wird. Als erstes muss dennoch ein Einblick in die philosophische Anthropologie Plessners verschafft und sein Ausdrucksbegriff erläutert werden (Kapitel 1).
Sportphilosophie, S. 4667. Ders., „Spiel und Sport“ (1966), in: Ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Düsseldorf/Köln 1974 (1966), S. 160172.
Kapitel 1 Theoretische Grundlagen für eine anthropologische Deutung des Sports: der Ausdruck
Um sich der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners anzunähern, muss zunächst einmal auf zentrale Grundbegriffe seiner philosophischen Anthropologie eingegangen werden. Bei der Frage 'Was ist der Mensch?' legt er den Schwerpunkt nicht auf das ist wie existenzialistische Philosophien es tun
sondern auf den Menschen, der dabei als ein lebendiges Wesen verstanden wird. Dieser Fokus auf die Lebendigkeit des Menschen impliziert, dass der Mensch als ein Teil aus dem Gesamtbereich des Natürlichen betrachtet wird. Lebendigkeit wird also als etwas aufgefasst, das nicht nur den Menschen sondern auch den anderen Lebensformen (Pflanzen und Tiere) eigen ist womit ein ethischer Grundsatz der Plessnerschen Philosophie aufgezeigt sei. In diesem Sinne stellt das Leben im organischen Sinne die Basis für seine Anthropologie, die damit als eine Lebensphilosophie, die sich einen naturwissenschaftlichen Gestus angeeignet hat, bestimmt werden kann.8
Aus dieser Perspektive des in der Natur verorteten Menschen fragt Plessner dem Biologen gleich nach dem Organismus des Menschen, d.h. nach seinem Körper, und wie ein Ökologe nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt. In diesem Kapitel wird der menschliche Körperbezug ausführlich erläutert, zumal der Ausdrucksbegriff aus einer spezifischen Körperlichkeitsauffassung hergeleitet wird. Bezüglich des menschlichen Weltbezugs stellt Plessner eine These auf, die es nun gilt zu umreißen, auch weil sie eine Denkfigur offenlegt, die seinem Körper und Ausdrucksbegriff zugrunde liegt.
Laut Plessner lebt der Mensch in der Welt aus einer konflikthaften Position heraus. Er ist in der Welt, weil er genau so wie die Pflanzen und Tieren darin lebt, aber er kann sich damit nicht abfinden. Dem 'InderWeltSein' setzt Plessner ein Missverhältnis zwischen dem Menschen und der Welt gegenüber, das er unter dem Begriff „Exzentrizität“ auffasst. Damit ist ein 'Außerhalbder
WeltSein' genauer gesagt: ein 'ÜberdieWeltGestelltsein' gemeint, in dem der Mensch aus einer nicht zu überbrückenden Distanz zur Welt lebt. In der Plessnerschen Terminologie ist der Mensch
8 In Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) legt Plessner die Grundlage seiner Lebensphilosophie offen, indem er den Reich des Organischen in drei Stufen gliedert: die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Als erste Stufe stellen die Pflanzen eine „Organisationsform des Lebendigen“ dar, die der Organisationsform der Tiere zugrunde liegt, worauf wiederum die Organisationsform der Menschen aufbaut. Damit ist weniger ein
evolutionistisches Denkmodell als ein Gegenentwurf zur Anthropomorphismus angeboten, da der Mensch auf die anderen Stufen (Pflanzen, Tiere) angewiesen ist was gegen seine Obrigkeit auf sie spricht. Zu den Stufen, der ein der komplexesten Werke Plessners darstellt, siehe : Haucke, Kai, Plessner zur Einführung, Hamburg 2000.
insofern über die Welt gestellt, als er dank seinem „Geist“9 von der Welt Abstand nehmen bzw. aus ihr 'heraustreten' kann.10 Somit ist er in der Lage, über die Welt (und damit über die Pflanzen, Tiere und andere Menschen) zu verfügen und sie zu instrumentalisieren. Diese Fähigkeit der
„Instrumentalisierung“ der Welt, die sich auf das Körperverhältnis übertragen lässt (vgl. unten), ermöglicht ihm jene Außenposition gegenüber der Welt einzunehmen, die er als Exzentrizität bezeichnet.
Ferner ergibt sich aus dieser paradoxen Kopplung von Innen und Außenposition ein ebenso paradoxer Welt, Selbst und Körperbezug, den Plessner „Gebrochenheit“ benennt. Diese stellt eine
„prekäre“ bzw. „paradoxe“ Lage dar und ist dafür verantwortlich, dass der Mensch immer weiter versucht, aus der Prekarität und dem Paradox seines leiblichen Daseins herauszukommen. Die Gebrochenheit schafft nämlich eine unaufhebbare Spannung, die der Mensch beständig ausgleichen will (und muss11), obwohl er das gesuchte Gleichgewichtsmoment nie erreichen wird. In dem Gebrochenheitskonzept liegt die Crux des Plessnerschen Denkstils: Weil der Mensch keine andere Wahl hat, als über die Welt gestellt zu sein, kann er sich niemals mit der Welt bzw. mit sich selbst vereinigen, womit im Grunde genommen jegliche Möglichkeit eines Harmonie bzw.
Ganzheitlichkeitszustandes ausgeschlossen wird. Deshalb ist er gezwungen, sich der Welt zu
„vermitteln“, d.h. mit ihr aus der Distanz heraus in Verbindung zu kommen.
Um dieses notwendige, von seiner Daseinslage bedingte Ziel zu erreichen, hat er keine andere Option, als sich auszudrücken. Dafür verfügt er sowohl über die Möglichkeiten, die ihm die Welt anbietet (Natur, andere Lebewesen, Gesellschaft, Kultur, Technik, Wissen, Kunst, usw.), als auch über sich selbst und die eigenen (körperliche und geistige) Gegebenheiten und Fähigkeiten. Aus dem spezifischen Verhältnis des Menschen zur Welt, zu seinem Selbst und vor allem zu seinem
9 Vgl. Plessners Definition des Geistes: „Geist bedeutet die Fähigkeit der Abstandnahme und nur in der Abstandnahme zu ihr wird menschliche Umwelt zur Welt von sachlichem Charakter.“ (Zitiert aus: Plessner,
Helmuth, „Mensch und Tier“ (1946), in: Ders., Gesammelte Schriften VIII, Conditio Humana, Frankfurt/M. 1983, S.
5266.)
10 Diese Fähigkeit haben die Tiere nicht, die daher als anthropologische Eigenschaft fungiert: „Beim Menschen tritt jedoch eine aus seinem Benehmen ablesbare Komplikation ein, die ihn »über« die tierische Form des Verhaltens hinaushebt: die Fähigkeit, Realitäten, d.h. eigenständiges, in sich ruhendes Sein zu erfassen, eine Fähigkeit, die gleichursprünglich zum Bewusstsein seiner selbst, zum Erlebnis der Lebendigkeit im Hier, wie zum Bewusstsein fremder Objekte im Dort führt.“ (Plessner, Helmuth, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs“ (1925), in: Ders., Gesammelte Schriften VII. Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt/M. 2003, S. 114.)
11 Der Mensch steht nämlich unter einem Ausgleichszwang: „Er ist weder allein Leib noch hat er allein Leib (Körper).
Jede Beanspruchung der physischen Existenz verlangt einen Ausgleich zwischen Sein und Haben, Draußen und Drinnen.“ (Plessner, Helmuth, „Lachen und Weinen, Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“
(1941), in: Ders., Gesammelte Schriften VII, ibid., S. 241.)
Körper, entspringt also der Ausdruck. Kurzum: Das Menschenleben hat als konstitutives Merkmal die „Gebrochenheit“, deshalb ist der Mensch zur Expressivität verurteilt.
Die Verschränkungen des menschlichen Körpers
Wie schon angedeutet, stellt die Verortung des Menschen im Gesamtbereich des Lebendigen den Ausgangspunkt der Philosophie Plessners. Er setzt am leiblichen Dasein des Menschen an, um die Besonderheit des menschlichen Lebens herauszustellen. Dieser Gestus läuft jedoch auf eine (produktive) Paradoxie hinaus: Der Körper gilt ihm zwar als die organische Gegebenheit, die den Menschen mit dem Tier verbindet, er erklärt aber gleichzeitig, wie der Mensch sich vom Tier unterscheidet.12 Wenn bei Plessner vom tierischen bzw. menschlichen Körper die Rede ist, handelt es sich allerdings weniger um eine rein materielle als um eine vom Leben durchgedrungene Gegebenheit. Anders gesagt gilt beim Körperbegriff die Prämisse der Lebendigkeit: Es gibt keinen tierischen bzw. menschlichen Körper, der nicht belebt ist außer wenn der Tod kommt. Hiermit erlangt der Körperbegriff eine zweite Dimension: den Leib. Den Körper definiert Plessner gleichsam als Körper und als Leib, wobei mit dem Leibbegriff der vom Lebewesen belebte Organismus zu verstehen ist, während der Körper als das physische, aus Körperteilen zusammengesetzte Körperding fungiert.
Bei Mensch und Tier ist der lebendige Leib mit dem organischen Körper insofern verschränkt, als der erste den zweiten braucht, um existieren zu können. Der Verschränkung von Leib und Körper entsprechend, kann man im tierischen und menschlichen Körper hierfür zwei Aspekte erkennen: das AmLebenSein (Lebendigkeit) und die physische Existenz (Organische), wobei diese Aspekte wenn man sich doch auf ein physikalisches Modell stützen will in einem Oszillationsverhältnis zueinander stehen: Die Grenze, die zwischen Leib und Körper verläuft, ist eine fließende und dynamische, die sich in jedem Moment erneut aktualisiert.13
Dieses Körperbild, das sich aus zwei Aspekten zusammensetzt, gilt nicht nur für seinen Körperbegriff sondern kennzeichnet die Plessnersche Auffassung des Lebendigen par excellence.
12 Hiermit kann der Verdacht, dass es Plessner darum gehen könnte, das Menschsein auf seine biologischen Existenz zu reduzieren, aufgeräumt werden: Wenn der Körper zugleich Gemeinsamkeit und Diskrepanz zwischen Mensch und Tier ist, kann er nicht als die einzige Voraussetzung des Menschseins fungieren.
13 Hier sehen wir eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Konzept der „Falte“ (le pli) von Gilles Deleuze, das nicht nicht ohne ihr Pendant, das „Entfalten“ (le dépli) zu denken ist und, das eine dynamische Dimension beinhaltet:
„Darum ist das Entfalten niemals das Gegenteil der Falte, sondern die Bewegung, die von den einen zu den anderen geht.“ (Deleuze, Gilles, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 2000 (frz.: 1988), S. 152.)
Alles ist vom „Doppelaspekt“ bzw. „Doppelaspektivität“ charakterisiert, womit das folgende Prinzip gemeint ist: Jedem lebendigen Ding sind zwei Aspekte innewohnend, die insofern miteinander verschränkt sind, als sie zwar distinkt aber abhängig voneinander sind. Anders gesagt liegt dem Doppelaspekt ein Differenzverhältnis zugrunde, das sich in jedem Moment neu vollzieht und dadurch jeden Aspekt permanent mit konstituiert. Mit diesem Denkmodell des Doppelaspekts wird ein anderes, tradiertes überwunden: der Dualismus. An die Stelle von dessen beiden charakteristisch geschlossenen Sphären treten zwei offene Aspekte, die sich gegenseitig bedingen und permanent beeinflussen. So setzt Plessner den herkömmlichen Dichotomien, wie denen zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist, Innen und Außen, seine „Doppelaspekte“ und
„Verschränkungen“ entgegen, die solche Einheiten wie Natur, Körper, Innen, als untrennbar von ihren Korrelaten, d.h. von Kultur, Geist, Außen, bestimmen. Doppelaspektivität stellt also ein antidualistisches Abstraktum dar, um das Leben in seiner Konstitutions und Funktionsweise zu erfassen kurz: eine Denkfigur der Lebensphilosophie Plessners.14
Um diese Denkfigur der Doppelaspektivität ins Auge zu fassen, werden wir in diesem Kapitel eine Metapher anwenden. Wir werden einen der Grundsteine der Ausdruckstheorie Plessners veranschaulichen, nämlich das Verhältnis des Menschen zum eigenen Körper. Die Metapher stellt das Bild der Medaille dar, weil diese zwei Seiten hat, die voneinander wohl distinkt und auch abhängig voneinander sind. So können die Medaillenseiten für die jeweiligen Aspekte des betrachteten Gegenstands stehen und die Medaille selbst die Verschränktheit zwischen diesen verbildlichen. Mithilfe einer solchen Medaille soll das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper herausgearbeitet werden, wobei die unterschiedlichen Doppelaspekte dieses Verhältnis anhand mehrerer solcher Medaillen erläutert werden.
Die erste Medaille haben wir bereits identifiziert: den Doppelaspekt des tierischen und menschlichen Körpers als Leib und Körper. Da die Tiere und die Menschen diesen KörperLeib miteinander teilen, muss der Unterschied zwischen dem Menschsein und Tiersein anderswo liegen, als in der Biologie der jeweiligen Lebewesen. Aus der Perspektive des Körpers heraus gesehen sind wir nämlich wie die Tiere innerhalb unserer Körper gehalten und schicksalhaft an sie gebunden. In
14 Ähnliche Denkfigure sind bei anderen Autoren auch zu finden. Zum Beispiel gibt es eine große Ähnlichkeit zwischen der Doppelaspektivität Plessners und dem Konzept der „Falte“ („le pli“) von Gilles Deleuze. Vgl. Fußnote 13.
der Plessnerschen Terminologie wird dieser Zustand als „KörperSein“ bezeichnet, wobei der Körper als eine „Hülle“ bzw. ein „Futteral“ begriffen wird.15 Diesem Futteral können sich weder die Tiere noch die Menschen entziehen. Um den entscheidenden Unterschied zu identifizieren, muss Plessner zufolge genauer gefragt werden, in welcher Position sich jeweils Tiere und Menschen in ihren Körpern befinden. Wie oben erörtert, besitzen Menschen eine besondere Fähigkeit, die der Distanzierung von der Welt, von sich selbst und nicht zuletzt vom eigenen Körper. Demnach hat das KörperSein sein Pendant im „KörperHaben“, das auf diese spezifisch menschliche Stellung, die die Exzentrizität darstellt, anspielt. Das KörperHaben bildet den Kernunterschied zu den Tieren, die diese Fähigkeit nicht besitzen und daher in ihren Körpern verhaftet bleiben.16 Im Gegensatz zu diesen kann der Mensch von seinem Körper Abstand nehmen, weil er sich über diesen bewusst ist.
Dieses Bewusstsein17 des eigenen Körpers gewährt ihm die Möglichkeit und Fähigkeit zugleich, aus seinem Körper herauszutreten und ihn dadurch als ein Objekt seines Besitzes zu behandeln (Objektivierung).
Wie sieht schließlich unsere erste Medaille, die der Position des Menschen in seinem Körper nun aus? Ihre eine Seite ist das KörperSein, also der Zustand der „Insichversenktheit in den eigenen Leib, die 'Futteralsituation' unserer selbst“ (SuS: 162). Ihre zweite Seite, das KörperHaben, weist auf die (geistigen und körperlichen) Fähigkeiten hin, die uns ermöglichen, uns sogar zwingen, unseren Körper auf objektivierende Distanz zu bringen was wiederum die Eingebundenheit im Körper, das KörperSein, relativiert. Beide Seiten zusammengeführt bilden die Medaille der berühmten Plessnerschen Formel: „Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) [...] und hat diesen Leib als diesen Körper.“18 Der Mensch hat also einen Leib, den er als „diesen Körper“ aus der Distanz heraus vergegenständlicht.
15 Diese Begriffe kommen in mehreren Aufsätzen vor, z.B. in: Plessner, Helmuth, „Anthropologie der Sinne“ (1970), in: Ders., Gesammelte Schriften III. Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M. 1980. S. 317395.
16 Hierzu: „Auch das Tier muss seinen Leib einsetzen, situationsgemäß einsetzen, sonst erreicht er sein Ziel nicht. Aber der Umschlag von Sein ins Haben, vom Haben ins Sein, den das Tier beständig vollzieht, stellt sich ihm nicht noch einmal dar und bietet ihm infolgedessen auch kein „Problem“. (Plessner, „Lachen und Weinen“, ibid., S. 242.)
17 Bei Plessner ist das Bewusstsein nicht nur geistig sondern auch körperlich aufzufassen, weil es mit den Sinnen eng zusammenhängt eine These, die Plessner in seiner „Ästhesiologie“ verteidigt (vgl. Plessner, Helmuth, „Über die Möglichkeit einer Ästhetik“ (1925), in. Ders., Gesammelte Schriften VII, S. 5159). Darüber hinaus stellt es eine Art selbstbezügliches Selbstbewusstsein dar: „Des Menschen Verfassung umgreift den Gegensatz zwischen Leben und 'Geist'. Sie ist nicht nur eine LeibSeele, sie ist eine LeibGeistEinheit, aber von übergreifender Art, die den Gegensatz ihrer selbst in sich trägt.“ (Zitiert aus: Plessner, Helmuth, „Mensch und Tier“ (1946), in: Ders., Gesammelte Schriften VIII, ibid., S. 5266)
18 Plessner, „Lachen und Weinen“, ibid, S. 238.
An diese erste Medaille, die veranschaulicht hat, wie der Mensch in seinem Körper positioniert ist, knüpft die zweite an, die erläutern soll, wie der Mensch sich seinem Körper vermittelt: die Medaille des menschlichen Körperverhältnisses. Die erste Seite dieser Medaille lässt sich folgendermaßen charakterisieren. Zwischen dem KörperSein und dem KörperHaben herrscht zunächst keine Harmonie, sondern ein unaufhebbares Missverhältnis. Dieses entspringt aus der Binnenlage des Menschen, der einerseits in seinem Körper eingebunden ist (KörperSein), andererseits aber seinen Körper instrumentell einsetzen kann sogar einsetzen muss, weil er ihn „hat“ (KörperHaben).
Diese zwangsläufige Instrumentalisierung des Körpers fasst Plessner unter dem Begriff
„Instrumentalität“ auf. Als Beispiel dafür führt Plessner das Erlernen lebensnotwendiger Handlungen, wie dem aufrechten Gang, an. Dabei erweist sich der Körper als etwas, das der Mensch manipuliert, wobei es sich der Manipulation jederzeit entziehen kann wie etwa bei Missgeschicken, die diese Tatsache besonders bildlich machen. Deshalb „streitet“ der Mensch mit seinem Körper:
Der Mensch liegt eben mit seinem Körper in Streit, auch wenn er weiß, dass es sein eigener Leib ist, der ihm dazwischenkommt. Als Leib bin ich ein Außending, das anderen Körpern im Wege steht oder Platz macht und im Unterschied zur Selbstempfindung meines Leibes mich zur Wahrnehmung und Abschätzung von Distanzen und Tragfähigkeiten zwingt.19 Hiermit erweist sich der Körper als ein 'unzuverlässiges Instrument' des Menschen. Einmal ist er das Werkzeug, das der Mensch einsetzt, um gehen zu lernen. Einmal ist er das Werkzeug, das der Hand seines Besitzers entgleitet und ihm auf dem Fuß fällt. Fazit: Die eine Seite der Medaille des Verhältnisses zum Körper stellt die Instrumentalität dar, die allerdings durch den widerspenstigen distanzierten Körper in gewissen Grenzen gehalten wird.
Der Ausdruck: zwischen Zwang, Bedürfnis und Kraft
Doch, ähnlich wie das Körperhaben, hat Instrumentalität auch ihr Pendant: die Expressivität.
Ausgehend von der charakteristischen Diskrepanz zwischen KörperSein und KörperHaben stellt Plessner wie schon angedeutet fest, dass unser Körperverhältnis von „Gebrochenheit“ konstitutiv gekennzeichnet ist, und dass diese nicht nur für Hindernisse (der menschlichen Bewegungen) verantwortlich ist, sondern auch für den Ausdruck.
19 Zitiert aus: Plessner, „Anthropologie der Sinne“ (1970), ibid., Kapitel 6. „Ästhesiologie des propriozeptiven Systems: Der Leib“, zweite Seite.
Lachen und Weinen stellen für diese aus der Gebrochenheit entspringende Expressivität paradigmatische Momente dar: Der lachende oder weinende Mensch beherrscht seinen Körper nicht mehr, vielmehr wird er umgekehrt von seinem Körper „überwältigt“20. Diese Möglichkeit der Eigenexpressivität des Körpers betrachtet Plessner jedoch nicht als Ausnahmezustand sondern als eine für den Körperbezug des Menschen grundlegende Dimension: Der Körper steht dem Menschen nur begrenzt zur Verfügung, weil er sich aus seiner Distanz heraus 'verselbstständigen' kann. Diese Verselbstständigung ist dennoch nicht so zu verstehen, als ob der Körper sich vom Subjekt ganz ablösen würde was aufgrund der Insichversenkheit des Menschen in seinem Körper wohl gar nicht denkbar ist. Vielmehr ist damit gemeint, dass der Körper sich vom Willen, von der Kontrolle des Subjekts jederzeit loslösen kann, um aus jeglichem Handlungsvollzug etwas Unintendiertes hervorzubringen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der handelnde Mensch immer ein sich ausdrückender Mensch ist, da er in seinem expressiven Körper eingebunden ist. In anderen Worten, weil sein Körperbezug gebrochen ist, hat der Mensch keine andere Wahl, als sich mit oder ohne Absicht über seinen Körper auszudrücken. Dieses immanente Potential der Eigenexpressivität des Körpers bestimmt den Ausdruck als einen unübersehbaren Bestandteil des menschlichen Daseins.
Schließlich hat die Medaille der doppelten Positionalität des Menschen in seinem Körper (Körper
Sein und Haben) ihr Korrelat in der des doppelten Verhältnisses zum Körper, das Instrumentalität und Expressivität als ihre zwei Aspekte hat.21 Zwischen den jeweiligen, miteinander verschränkten Aspekten KörperSein und Haben auf der einen Seite, und zwischen Instrumentalität und Expressivität auf der anderen, läuft ein Missverhältnis (Gebrochenheit), weswegen sich eine Spannung in der menschlichen Daseinslage aufbaut. Wie schon angedeutet, läuft diese Gebrochenheit insofern auf einen Ausdruckszwang hinaus, als sie den Menschen in eine prekäre Situation versetzt, die er durch einen expressiven Einsatz seines Körpers permanent auszugleichen versucht. In anderen Worten scheint der Körper ein zentraler Grund dafür zu sein, dass der Mensch auf den Ausdruck rekurriert. Mehr noch: Der Körper ist der Ort der Artikulation des Ausdrucks,
20 Hierzu: „In den starken Affekten und in den explosiven Reaktionen des Lachens und Weinens sind wir hingenommen und überwältigt.“
Und: „[Lachen und Weinen] stellen sinnvolle Fehlreaktionen auf die Unmöglichkeit dar, zwischen der Person und ihrem Körper das zum Verhalten entsprechende Verhältnis zu sichern. An ihnen wird die Distanziertheit der Person als Bruch im Verlust ihrer auf Ordnung der Verhältnisse bezogenen und gestützten Selbstbeherrschung sichtbar.“
(Zitiert aus: Plessner, Helmuth, „Elemente menschlichen Verhaltens“ (1961), in: Ders., Gesammelte Schriften VIII, ibid., S. 218235.)
21 Hierzu: „Expressivität teilen wir mit sehr vielen Tieren. Aber die unsrige ist gebrochen, weil der Instrumentalisierung ausgesetzt.“ (SuS: 1623.)
denn der Mensch vermittelt sich der Welt immer über seinen Körper der sich überdies jenseits seines Willens selbst äußern kann. In diesem Sinne ist der Mensch aufgrund seines Körperverhältnisses zur Expressivität verurteilt und steht deswegen unter dem Ausdruckszwang.
Die Ausdruckstheorie Plessners ist deswegen interessant, weil sie das menschliche Leben nur auf ihre instrumentelle Seite reduziert, wie sozialwissenschaftliche Theorien es häufig tun, wenn sie die pragmatische Bedeutung von Handlungen, Praxen, Vorstellungen erfassen wollen. Hier wird die Expressivität des Menschen als die andere Seite der Medaille der Instrumentalität angesehen und als eine grundlegende, existentielle Dimension seines Daseins begründet. Der Mensch wird also nicht nur als homo faber sondern als homo ludens aufgefasst. Also steht die Produktivität des Menschen nicht mehr allein im Vordergrund, sondern wird von der Kreativität eingeholt wobei wir die Kreativität keineswegs nur künstlerischschöpferisch sondern im Sinne Plessners, als eine in jedem Handlungsvollzug präsente Dimension verstehen.
Allerdings „erschöpft die Charakterisierung des Homo Faber die des Homo Ludens nicht ganz“
(SuS: 5). Hiermit weist Plessner darauf hin, dass die Produktivität des Menschen mit seiner Kreativität nicht ganz zusammenfällt. Auf unsere Metapher zurückgeführt, betont er damit, dass die Medaillen der Verhältnisse des Menschen zur Welt, zu sich selbst und zu seinem Körper zwei sich bedingende aber unvereinbare Seiten haben: die Instrumentalität und die Expressivität. Diese beiden Aspekte stehen in einer Art Konflikt (oder Konkurrenz) zueinander, weil ihr Verhältnis von Differenz bzw. von Gebrochenheit gekennzeichnet ist. Aus diesem Missverhältnis zwischen den beiden Aspekten entsteht der Drang, dieses auszugleichen. Daraus speist sich im Endeffekt das menschliche Leben insofern, als der Ausdruck dem Leben seine Energie und Produktivität gibt.
Demnach gilt das Leben als konstitutiv expressiv, wobei sich diese Charakteristik aus einer anderen, der Gebrochenheit im Doppelaspekt, ableitet. Schließlich fungiert der Ausdruck als ein Bestandteil und als eine treibende Kraft des Menschenlebens, darum kann er als zu den menschlichen Grundbedürfnissen zugehörig betrachtet werden.
Diese anthropologische Grundlegung des Ausdrucksbegriffes deklariert den Menschen als ein schöpferisches Wesen, das ständig auf der Suche nach Ausdrucksformen ist. Diese umfassen, so Gerhard Arlt, „das ganze Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten von der Mimik, Gestik über
Lachen und Weinen bis zur Sprache und Kulturformen, Kunst und Schauspiel“22 und nicht zuletzt:
den Sport. Vor diesem Hintergrund soll es in den zwei darauffolgenden Kapiteln darum gehen, diesen als eine Ausdrucksform aufzufassen. Mit dieser Zuordnung des Sports zu den Ausdrucksformen soll untersucht werden, was ihn zu einem gesellschaftlichen Leitbild, d.h. zu einer leitenden kulturellen Ausdrucksform macht. Dafür wird im zweiten Kapitel herausarbeitet, inwiefern sich der Sport in seiner historischen Entwicklung als Orientierungsmodell etabliert hat und daher als eine leitende kulturelle Ausdrucksform fungieren kann. Im dritten Kapitel wird versucht die anthropologischen Grundlagen der Leitbildrolle zu identifizieren, wobei hinterfragt wird, ob die gesellschaftliche Relevanz des Sports mit seiner Besonderheit als prinzipiell körperliche Ausdrucksform zusammenhängt. In jedem Kapitel greifen wir jeweils auf einen der zwei Aufsätze Plessners zurück, die das Sportthema spezifisch behandeln, um uns im Endeffekt an eine Anwendung der Ausdruckstheorie des Sports heranzutasten.
Kapitel 2 Der Sport als kulturelle Ausdrucksform mit gesellschaftlicher Stellenwert
Plessners Abhandlungen über das Thema Sport thematisieren diesen nicht explizit als Ausdrucksform, sondern bevorzugen eine sozialphilosophische Perspektive, die den Sport als ein gesellschaftliches Phänomen begreift. Dabei wird insbesondere die historische Dimension der Entwicklung dieses Phänomens hervorgehoben. Bei diesem Thema, das unmittelbar mit dem Körper verbunden ist, setzt Plessner merkwürdigerweise nicht am Körper an. Vielmehr verankert er den Sport im Spannungsverhältnis mit dem gesellschaftlichen Leben und veranschaulicht, inwiefern das Aufkommen des Industrialismus in der Kulturgeschichte der modernen Gesellschaft das körperliche Dasein des Menschen transformiert hat. Mit diesem Wandel soll die Entstehung des Sports eng zusammenhängen.
In verkürzter Form lautet Plessners Hauptthese, dass der Sport ein Produkt der Industrialisierung darstelle womit er ihn gleichzeitig als spezifische, von unserer modernen, westlichen Kultur hervorgebrachten Erscheinung begründet. Darum präge das Industrialismus (als kulturelles
22 Arlt, Gerhard, Anthropologie und Politik. Ein Schlüssel zum Werk Helmuth Plessners, München 1996, S. 56.
Wertesystem) den Sport als Praxis und als soziales Phänomen von Grund auf. In diesem Sinne kommen die zwei sportbezogenen Aufsätze Plessners23 weniger der Sportphilosophie im engen Sinne als einer Sportkritik nahe, welche in die Gesellschaftstheorie und Kulturkritik mündet. Dies kann wohl daran liegen, dass ihr Autor wie er selbst bescheiden gesteht „auf diesem Gebiet ein Mann, der sich tastend an eine Frage heranwagt“ (FKT: 46) ist, die zu seiner Spezialität nicht angehört. Trotzdem erkennt man in seinen nach eigener Aussage „soziologischen“ Betrachtungen einen scharfen und nüchternen Blick: Ohne diesen apologetisch noch abwertend24 zu behandeln, sieht Plessner im Sport „ein wesentliches Symptom, eine wesentliche Erscheinung unseres kulturellen Zustandes unserer modernen Gesellschaft“ (FKT: 46) und erörtert die eigene Interpretation dieses Tatbestandes. Um das „kulturelle Symptom“ Sport zu verstehen, sollte man nicht es nicht anhand einzelnen, spezialisierten Ansätzen aus betrachten wie Einzelwissenschaften wie die Medizin, die Trainingswissenschaft, die Physiologie oder die Psychologie dies tun , sondern es als ein gesamtes Phänomen begreifen, das im „tiefen“ Zusammenhang mit der sozialen Struktur und „unserem eigenen sozialen Leben“ (FKT: 46) steht. Mit dieser Einbettung des Sports in den breiteren gesellschaftlichen Kontext wird der Sport als eine sozial, kulturell und historisch konstruierte Ausdrucksform begründet. Daher zielt Plessners Untersuchung auf die Herausarbeitung der kultur und gesellschaftshistorischen Bedingungen, in denen sowohl die Sportgesinnung des Menschen als auch die Sportbegeisterung in der Gesellschaft entstanden sind. Im Grunde genommen geht er vom Sport als gesellschaftsübergreifendes Phänomen25 aus, und sucht die Wurzeln seiner Popularität in der sozialen und kulturellen Geschichte der modernen Gesellschaft.
Demnach wollen wir die folgende Analyse der Plessnerschen Argumentation auf die Frage hin ausrichten, welche gesellschaftlichen Prozesse, Faktoren und Mechanismen der Bestimmung des Sports als ein kulturelles Orientierungsmodell bzw. als eine leitende kulturelle Ausdrucksform zugrunde liegen. Wenn das folgende Fazit stimmt,
23 Zur Erinnerung: Plessner, „Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft“ (1956 abgekürzt: FKT) und
„Spiel und Sport“ (1966 abgekürzt: SuS). Vgl. Fußnote 7.
24 Bemerkenswert ist, dass er sich dazu weigert, den Sport zu einem Massenphänomen abzusetzen, obwohl seine Thesen dem nah liegen könnten: „So wenig, wie es erlaubt ist, den Sport generell mit bestimmten auffallenden Phänomenen der Massensportes zu identifizieren dagegen behauptet sich zum Beispiel der Sport im Alpinismus oder der Skisport und viele andere Sportarten, die durchaus nicht zu solchen Massensveranstaltungen und zu Massenbetrieb taugen , so glaube ich doch, solle man einmal versuchen vor allen Dingen nun diese massenhaften Symptome im Blick, sich als Soziologe an dieses Phänomen heranzuwagen.“ (FKT: 467)
25 Hierzu: „Im Grunde genommen ist also der Sport in allen seinen Formen an keine besondere Gesellschaftsschicht mehr gebunden. Er ergreift alle.“ (FKT: 55)
Der Sport nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaftsordnung, der er entstammt und für die er einen Ausgleich darstellt. (FKT: 67).
woran macht Plessner den gesellschaftlichen Stellenwert des Sports fest?
Die Ausgleichsthese
Der Titel des ersten Sportaufsatzes Plessners legt seinen Anspruch offen, die „Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft“ in einer gesellschafts und kulturhistorischen Perspektive herauszustellen. In diesem Beitrag stellt Plessner seine erste Hauptthese über den gesellschaftlichen Stellenwert des Sports auf: die sogenannte „Ausgleichsthese“. Wie schon angedeutet, verortet Plessner die Genese des Sports im Kontext des Industrialisierungsprozesses, der im 19. Jahrhundert in England begann. Zufällig (oder nicht) gilt England in der Geschichtsschreibung als das Vaterland des modernen Sports. Der englische Adel tat sich bereits im 17. Jahrhundert mit Spielen hervor, die als Vorreiter modernster Sportarten wie Fußball oder Tennis gelten. In Abkehr zu dieser Verankerung der Ursprünge des Sports in der frühen Neuzeit postuliert Plessner, dass dieser in erster Linie vor dem Hintergrund des Verstädterungsprozesses entstand, den die sich rasch industrialisierende Welt erfuhr (FKT: 47).
Davon ausgehend erarbeitet er, welche neuen Anforderungen an der Lebensweise der (Groß)Städter dieser Wandel der Gesellschaft mit sich brachte. Darüber hinaus hinterfragt er, wie sich die Bedürfnisse der Menschen im Zusammenhang mit den neuen Lebensbedingungen entwickelten und inwiefern der Sport eine Antwort auf diese transformierten Wünschen darstellte. Seine Betrachtungen nehmen als Ausgangspunkt zwar den spezifischen Kontext der industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, dürfen aber für die heutige Situation auch noch gelten, da unsere postindustrielle Gesellschaft auf dieser aufbaut.
Mit seinem scharfen Sinn für grundsätzliche Probleme deckt Plessner common sense gewordene
„Selbstverständlichkeiten“ auf: Die im Zuge der Industrialisierung zunehmenden Mechanisierung, Spezialisierung und Bürokratisierung der Arbeitsweisen führten zu einem tiefgründigen und dauerhaften Wandel der Lebensformen und damit der Sozialstruktur. Diese Feststellung mag wohl in der aktuellen Soziologie und auch in den Köpfen vieler heutiger Stadtbewohner auf der Hand liegen, ist sie aber nicht genug hinterfragt worden. Plessners Abhandlungen zum Sport erheben dagegen den Anspruch, hinter diese Selbstverständlichkeiten zu schauen, um herauszustellen,
welche tiefen Transformationen des Menschenlebens sich hinter diesen verstecken. Die drei benannten Tendenzen, Mechanisierung, Spezialisierung und Bürokratisierung, sollen das menschliche und soziale Dasein dermaßen geprägt haben, dass diese neue Merkmale übernommen haben, die bis in die heutige Zeit hinein spüren sind: Entkörperlichung, Anonymisierung und Intellektualisierung.
Mit Entkörperlichung ist gemeint, dass der arbeitende Mensch „in seiner leibhaften, körperlichen Gesamtexistenz nicht [mehr] zu seinem Recht kommt“ (FKT: 48) sei es wegen der Überanstrengung des Körpers in der Fabrik, sei es infolge der körperfeindlichen Büro und Kopfarbeit. Die Über bzw. Unterbeanspruchung des Körpers beim Berufsausüben verwandeln den Körper zu einem Instrument, das der bloßen Leistungserbringung dient. Der in der Gesellschaft herrschende Arbeitsethos der die Leistung zu seinem obersten Prinzip erhebt begründet den Körper als eine Art 'funktionale Hülle' und etabliert eine von Entkörperlichung gekennzeichnete Sozialstruktur, die das Ganze des sozialen und menschlichen Lebens bedingt. Demzufolge sieht sich der Mensch von der leiblichen Dimension seiner Existenz beraubt, wobei sein Körper von der Gesellschaft zu ihren Produktivitätszwecken instrumentalisiert wird. Dadurch wird der Körper in eine Spannungslage gerückt, in der er auf einer Seite nicht relevant sein soll, auf der anderen aber als notwendige Produktivitätsressource fungiert. In anderen Worten hat die Entkörperlichung eine Kehrseite, und zwar die Steigerung der körperlichen Bedürfnisse (bspw. nach Entspannung und Erholung) des Menschen: Um so mehr von seinem Leib (durch die entkörperlichte Gesellschaft) entfremdet, sieht sich der Mensch desto stärker gezwungen, für sich selbst körperlich zu sorgen, um den „Gleichgewicht zwischen geistigen Möglichkeiten und körperlichen Beanspruchungen“ (FKT:
4950) zu finden.
Mit Anonymisierung weist Plessner auf die Tatsache hin, dass in der modernen Arbeitswelt nicht nur der Körper sondern auch die Individualität der Menschen entwertet wird. Der letzten wird nicht gewertschätzt, weil wie ihre Körper die Menschen zu austauschbaren Elementen der Produktionsprozesse26 (von Gütern, Dienstleistungen oder Ideen27) funktionalisiert werden.
26 Hierzu: „[Die Menschen] sind alle mehr oder weniger zu Rädern in einem Getriebe geworden, das sie selbst kaum noch überblicken und in dem sie nur noch eine Teilfunktion in einer unpersönlichen Einrichtung, in
hochspezialisierter Verantwortung für irgendeine Teilaufgabe haben, die eine besondere Leistung von ihnen verlangt, aber an ihrer Person gewissermaßen vorbeigeht.“ (FKT: 50 unsere Hervorhebung)
27 Heutzutage ist im wirtschaftlichen Bereich mehr und mehr von Ideen als Produkt und von „Ideenwirtschaft“ die Rede. Zum Beispiel, vgl.: brand eins. Das Wirtschaftsmagazin 5/2007 (Ausgabe zur Ideenwirtschaft)
Dementsprechend unterscheidet man unter den Einzelnen nicht anhand der individuellen Eigenschaften sondern anhand der von ihnen erbrachten Leistungen. Diese werden außerdem nach standardisierten Skalen bewertet und danach untereinander verglichen, was wiederum dazu führt, dass die menschliche Individualität nicht nur funktional sondern auch formal bestimmt wird.
Plessner kritisiert hier die Normalisierungs und Wettbewerbstendenzen der industriellen Gesellschaft, die den Menschen nicht nur von seiner leiblichen Existenz entfremdet, sondern auch von seiner wesenhaften Individualität. In der Sozialstruktur verschwindet der Mensch als Individuum ins Massenhafte, in dem er wenn man so will nur als 'einen möglichen Leistungserbringer unter anderen' gilt. Dann tendiert er dazu, um sich von der Masse wieder abzuheben, sich der Gesellschaft (und vielleicht auch sich selbst) über seine Leistungen zu vermitteln. Kurzum: Indem er „sich nach oben boxen“ will, um als Person in der Gesellschaft zu gelten, gibt der Mensch dem gesellschaftlichen Leistungsdruck nach.28 Dabei hält er sich allerdings an die funktionellen und formalen Leistungskriterien, um sich im Wettbewerb unter den 'Leistungserbringern' zu integrieren. Dieser Wettbewerb stellt laut Plessner jedoch keinen freien dar, weil er, wie das Leistungsprinzip, vom Arbeitsethos, daher von dessen Funktionalismus und Formalismus geprägt ist. So ist die Freiheit im Wettbewerb von der Voraussetzung eingeschränkt, dass bestimmte Kriterien beim Leisten erfüllt werden. Schließlich hat die Anonymisierung der Sozialstruktur für Korrelat zwei sich ergänzende gesellschaftliche Prinzipien: das Leistungs und Wettbewerbsprinzip.
Mit der Intellektualisierungstendenz ist Folgendes gemeint. In der industriellen Gesellschaft werden menschliche Leistungen nach anderen Kriterien als in der vorindustriellen bewertet und gegeneinander abgewogen. In der letzten unterschied man die verschiedenen Tätigkeiten und Berufe zwar auch voneinander, wobei diese Aufteilung bzw. Spezialisierung aber „als gottesgewollt und natürlich galt“ (FKT: 51). In Abkehr zu dieser selbstverständlichen Gleichberechtigung der verschiedenen Leistungsarten entwickelte sich in der industrialisierten Welt eine Hierarchisierung der letzten, die auf intellektuelle Werte beruht: Bildung und Qualifikation sorgen für die Einstufung von bestimmten Aufgaben in einen wertvolleren Leistungsbereich. So wird eine höhere Bedeutung denjenigen Leistungen zugeschrieben, die von einem gebildeten Kreis für ein elitäres Publikum
28 Hierzu. „Genug, der Impuls [zur Aggressivität] ist da, verstärkt durch die in der offenen Klassengesellschaft abstrakt gleichen Chancen, in der jedem das Bewusstsein eingeimpft ist, sich nach oben boxen zu müssen.“ (FKT: 61). Auf den Aspekt der Chancengleichheit wird später näher eingegangen.
hervorgebracht werden, höher, als jenen ohne wissenschaftliche bzw. technische Voraussetzungen, die keine besonderen, erlernten Fähigkeiten verlangen. Damit wird ein der modernen Gesellschaft innewohnender Widerspruch erschlossen: Der auf intellektualistischen Werten basierte Elitarismus steht dem demokratischen Ideal der Chancengleichheit im Wege.
Dieses wirkt sich dann auf den im vorigen Absatz angedeuteten Leistungsdruck unmittelbar insofern aus, als der Mensch sich in seinem Können gleichzeitig gefördert und verhindert fühlt. Dies versetzt ihn in eine Spannungslage, in welcher er den Leistungsdruck umso stärker empfindet, als er diesen in seiner paradoxen Wirkung erlebt. Vor diesem Hintergrund leben die Menschen mit einem
„gespaltenen Bewusstsein“ (FKT: 52) über die eigene Leistungsfähigkeit. Zwischen dem, was sie 'theoretisch' leisten könnten und gern leisten würden, und dem, was sie sich 'tatsächlich' zutrauen, entsteht eine Kluft. Diese Diskrepanz zwischen der individuell gewünschten und der sozial erwünschten Leistungsbereitschaft verursacht bei den Menschen eine Unzufriedenheit, eine Frustration, eine „Stauung“ von unerfüllten Wünschen. Darum antworten sie auf den Leistungsdruck nicht mit einer eindeutigen Ablehnung. Vielmehr wollen sie ihn ausgleichen, womit sie sich wiederum paradoxerweise für ihn vorbereiten. Schließlich führt die Hochspezialisierung bzw. Intellektualisierung der Gesellschaft dazu, dass die Menschen sowohl bereit sind, sich dem Leistungsdruck zu entziehen, als auch sich ihm unterzuordnen.
Um diese weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen auf den Punkt zu bringen: Diese Tendenzen entspringen der Entkörperlichung, Anonymisierung und Intellektualisierung aus dem herrschenden Arbeitsethos, der Leistung zu seinem obersten Prinzip erhebt. Dieses Prinzip prägt nicht nur die Arbeitswelt sondern die ganze Sozialstruktur, wodurch die Arbeits und Lebensweise der Menschen beeinflusst wird. Diese soziologische Diagnose der modernen Gesellschaft liefert die Grundlage für Plessners Erklärung der Popularität des Sports:
In einer solchen Lage bietet sich ein idealer Ausgleich im Sport, der das Element der Nichtarbeit mit dem Prinzip der Leistung verbindet und eine aus der Welt der Arbeit herausführende Befriedigung der in ihr gestauten Antriebe zur Überbietung des anderen, zur Bestätigung der eigenen Person und der eigenen Gruppe gewährt. (FKT: 57)
An diesem Zitat kann man die zwei zentralen Argumente der Ausgleichsthese ablesen, die nach Plessner den hohen Stellenwert des Sports erklären kann. Erstens findet der Mensch im Sport eine ideale Form des Erfüllens seiner „elementare Wünsche“ , die von der Arbeitsweise in der modernen
Gesellschaft widersprüchlicherweise gleichzeitig stimuliert und unterdrückt werden. Zweitens knüpft der Sport an das Leistungsprinzip unmittelbar an, das in der Gesellschaft eine kulturell gesehen hegemoniale Stellung besetzt. Nun soll zuerst näher darauf eingegangen werden, inwiefern der Sport in der Lage ist, auf die Bedürfnisse des modernen Menschen zu antworten, die sich aus den bereits dargelegten neuen Anforderungen an seiner Lebensweise ergeben.
Sport als Ausgleichsreaktion
In Abkehr zur Entkörperlichungstendenz der modernen Arbeitsgesellschaft bietet der Sport erstens die Möglichkeit, den Körper zwecks der Erholung und Entspannung zu bewegen, ihn „künstlich wiederzupflegen“ (Max Scheler)29. Die Popularität des Sports erklärt sich also damit, dass dieser das „gestörte Körpergefühl“ (FKT: 53) ausgleicht. Dadurch erfährt der Körper eine positive Aufwertung, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar wird was man heutzutage in der Mode zum Beispiel gut beobachten kann: Die Prävalenz sportlicher Kleidungsstile erhebt den Körper zum Rang eines „symbolischen Kapitals“ (Pierre Bourdieu), das es zu pflegen gilt, um ihn zu verwerten.30 Die Deutung des Sports als körperlicher Ausgleich stellt also ein kulturell wirksames Argument für seine Popularität dar, weil sie den Sport als eine Betätigung zeigt, die mit positiven Werten (Gesundheit, Jugend, Schönheit, Dynamismus...) besetzt und damit auch als ein soziales Leitbild begründet ist. Daran orientieren sich die Menschen, um ihren körperlichen Bedürfnissen gerecht zu werden was sie nicht lediglich in der unmittelbaren Sportpraxis sondern auch in indirekten Formen der Sportbegeisterung tun, die vom passiven, mehr oder weniger leidenschaftlichen Zuschauen über die Mitgliedschaft eines Fansclubs, bis zum Tragen von sportarten bzw. sportlerbezogenen Kleidungen (man denke an Basketball oder Skatermode oder noch an Trikots von Fußballmannschaften) reichen.
Im Kontext der modernen Gesellschaft sieht sich der Mensch in einer von Anonymisierung gekennzeichneten Sozialstruktur gerückt. Diesbezüglich stellt der Sport zweitens ein Feld dar, wo
29 Hierzu: „[...] ich zitiere ein Wort von Max Scheler: 'da er der Sport Resublimierung (das heißt Zurückerstattung eines Maßes der dem Denken und der Arbeit vorher übermäßig zugeleiteten Triebenergien an den Leib und die ''Körperkultur'' in künstlich geregelter Form) ja ausdrücklich will', ist 'er nicht reiner schöner Ausdruck und Höherformung des wohlgeborenen Leibes (wie das griechische Gymnasion), sondern Reflektion und künstliche Wiederpflege eines Jahrhunderte lang schwer vernachlässigten Eigenwertes des leiblichen Daseins'.“ (FKT: 50 unsere Hervorhebung)
30 Hierzu behauptet Volker Caysa: „Denn der Körper ist eines der wichtigsten Statussymbole geworden, ein Erbgut, ein symbolisches Kapital, mit dem entsprechend umgegangen, das zweckentsprechend bewirtschaftet und verwaltet werden muss, wenn es Gewinn bringen soll.“ (Caysa, Sport ist Mord, ibid., S. 197.)
der Mensch der Anonymisierung der großen Masse wiederstehen kann: Indem er sich in der sportlichen Eigenleistung auszeichnet, kann er sich dadurch als Einzelperson in der Öffentlichkeit sichtbar machen. Laut Plessner bietet der Sport eine einzigartige (weil gesellschaftlich mangelnde)
„Chance der Publikation“ (FKT: 59), die dem Verlangen des Menschen nach Anerkennung bzw.
Bewunderung, also seinem Ausdrucksbedürfnis, gerecht werden kann. Weil der Sport die Prinzipien der Leistung, der Nichtarbeit und der Körperlichkeit in sich verbindet, kann der Mensch durch ihn seinem Wunsch nachgehen, durch die selbstauferlegte, körperliche Leistung seine Person sichtbar zu machen und diese hierbei gesellschaftlich gelten zu lassen. Der Sport verleiht dem Menschen eine öffentliche Existenz dadurch, dass sich der Einzelne durch ihn in einem sozialen Zusammenhang (Mannschaft, Club, Sportzentrum, ...) integrieren und daher eine soziale Anerkennung holen kann.
Drittens wendet der Mensch den Sport an, um sich so Plessner gegen die Intellektualisierung der hochspezialisierten Gesellschaft zu wehren. Im Sport findet er einen Ausweg aus dem Druck, zu den Besten, den Spezialisten bzw. den Kennern zu zählen. Dieser Druck zum Spitzkönnertum, der zugleich als komplementäre Reaktion zur Anonymisierung betrachtet werden kann, soll im Sport insofern nicht vorhanden sein, als er sich, historisch betrachtet, durch einen grundlegenden Amateurcharakter auszeichnet. Im Sport sind die Menschen prinzipiell gleich, dies ist unabhängig davon, ob sie gute oder schlechte Leistungen erbringen. Diese fundamentale Toleranz für Qualitätsvariationen in der Leistungserbringung ist dem Funktionalismus und Formalismus, welche für die Bewertung von Arbeitsleistungen zentral sind, diametral entgegengesetzt. Weil der Mensch im Beruf und Alltag bestimmten Kriterien erfüllen muss, um aus der Masse hervorzuragen, sieht er im Sport eine gute Alternative, seinem Anerkennungsbedürfnis nachzugehen: Im Sport muss er weniger ein Spezialist der erbrachten Leistungen als ein Mitspieler in der Leistungshervorbringung sein. Anders formuliert muss der Mensch im Sport keine Spitzkönnertum (idealerweise) aufweisen, sondern Teilnahmebereitschaft und Engagement.
Schließlich ist dieser unspezialisierte, dafür aber offene und demokratische Charakter des Sports für seine Popularität insofern wichtig, als die Gesellschaft die Prinzipien der Chancengleichheit und des freien Wettbewerbs nur verzerrt, wenn nicht sogar gar nicht mehr vertritt. Im Sport hingegen sollen diese gesellschaftlich versagten Ideale (mindestens ansatzweise) noch herrschen. Genau deswegen kann der Mensch seinem Verlangen nach sozialer Sichtbarkeit und Anerkennung, kurz: dem Ausdrucksbedürfnis, im Sport gut nachgehen, weil seine Chancen der Publikation durch dessen