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Der Sport „mit anderen Augen"

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Academic year: 2022

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Der Sport ''mit anderen Augen'' Kritik eines modernen Leitbildes 

nach der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners

von Olga De Grazia

Hausarbeit im Rahmen des 

Hauptseminars ''Lesen im Theatrum Philosophicum: Helmuth Plessner'' Sommersemester 2007  Prof. Dr. Helmar Schramm

Institut für Theaterwissenschaft ­ Freie Universität Berlin Berlin, März 2008

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ...2

Kapitel 1 ­Theoretische Grundlagen für eine anthropologische Deutung des Sports: der Ausdruck...6

Die Verschränkungen des menschlichen Körpers ...8

Der Ausdruck: zwischen Zwang, Bedürfnis und Kraft ...11

Kapitel 2 ­Der Sport als kulturelle Ausdrucksform mit gesellschaftlicher Stellenwert ...14

Die Ausgleichsthese  ...16

Sport als Ausgleichsreaktion ...20

Kapitel 3 ­Der Sport als (kultur)anthropologische Ausdrucksform ...23

Sport: zwischen Leistung, Spiel und Körperlichkeit ...24

Die goldene Medaille: Sport zwischen Instrumentalität und Expressivität...26

Fazit ...30

Literaturliste ...33

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Einleitung 

In der kultur­ und sozialwissenschaftlichen Literatur ist spätestens seit den achtziger Jahren von  einer „Versportlichung“ der Gesellschaft die Rede. Auf eine kurze, trockene Formel zurückgeführt,  verweist   der   Versportlichungsbegriff   erstens   auf   eine   gesamtgesellschaftliche   Zunahme   der  Sportpraxis, zweitens auf die Ausbreitung bzw. das Eindringen des Sports und dessen Werte in das  soziale Leben, drittens auf die sich daraus entwickelnden Wechselwirkungen zwischen dem Sport  und   der   Gesellschaft,   viertens   ­   und   nicht   zuletzt   ­   auf   die   Durchsetzung   des   Sports   als  Orientierungsmodell und die Etablierung von Sportlichkeit (bzw. Sportivität) als Leitwert1. Diese  vier Aspekte sollen zunächst einmal kurz erläutert werden, um die Fragestellung dieser Arbeit  nachvollziehen zu können.  

Zuerst   scheint   es   ein   Kennzeichen   der   Geschichte   der   modernen   Gesellschaft,   dass   sich   mehr  Menschen sportlich betätigen. Dieses Phänomen entspringt ­ wie wir es im zweiten Kapitel sehen  werden ­ aus der Industrialisierung und Verstädterung der westlichen Welt, in der man den Körper  anders als durch lebensnotwendige bzw. arbeitsbedingte Aktivität bewegen will. Die Expansion des  Sports   in   der   Gesellschaft2  führt   zu   entscheidenden   Veränderungen   in   ihren   Strukturen   und  Prozessen. Dadurch, dass Sport über die eigenen Grenzen hinaus in verschiedene Lebensbereiche  expandiert, durchdringt er zweitens die Alltagskultur ­ was man bspw. an seiner Präsenz in der  Mode   gut   festmachen   kann   ­   und   prägt   die  individuellen   und   kollektiven   Handlungs­,  Wahrnehmungs­ und Deutungsweisen mit den eigenen Mustern.3 Dass in der Arbeitswelt heutzutage 

1 So sieht zum Beispiel Wolfgang Kaschuba die Etablierung der „Sportivität“ als ein Grundprinzip des 

gesellschaftlichen Alltagsbewusstseins: „[...] 'Sportivität' als eine demonstrative Bezugnahme auf Praxisformen,  Symbole und Werte des Sports ­ sie ist als gesellschaftliches Verhaltens­ und Deutungsmuster in der Tat 

allgegenwärtig und selbstverständlich.“ (Kaschuba, Wolfgang : „Sportivität: Die Karriere eines neuen Leitwertes. 

Anmerkungen zur „Versportlichung“ unserer Alltagskultur“ (1989), in: Caysa, Volker (Hrsg.), Sportphilosophie. 

Leipzig 1997, S. 230.)

2 Soziologisch betrachtet ist diese Expansion sicherlich keine Entwicklung, die jenseits der sozialen Strukturen und  Unterschiede stattfindet. Vielmehr hängt sie stark von den sozialen Schichten ab: Die unteren Bildungsschichten  treiben weniger Sport in ihrer Freizeit als die höheren. Zur Entwicklung des Sporttreibens in Deutschland und ihre  Analyse im sozialstrukturellen Zusammenhang, siehe: Becker, S., Klein, T., Schneider, S.: „Sportaktivität in  Deutschland im 10­Jahres­Vergleich: Veränderungen und soziale Unterschiede“, in: Deutsche Zeitschrift für  Sportmedizin, Jahrgang 57, Nr. 9 (2006), S. 226­232. ­ URL: http://www.dgsp.de/zeitschrift/ [13.03.2008]

3 Hierzu führt Wolfgang Kaschuba eine interessante Bemerkung ein: „Bis vor wenigen Jahren noch hätte man  bestimmte Alltagsszenen doch wohl ganz unbedenklich wie folgt interpretiert: Wenn ein Mensch auf der Straße  schnell lief, wenn er rannte, hatte er es ganz einfach eilig. [...] Heute indessen scheint diese Logik zweifelhaft, ja  ungültig: Die Laufenden und Rennenden ­ sie joggen [...]. Die einen rennen nicht etwa deshalb, weil sie es eilig 

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von Training, Coaching, Team, usw. die Rede ist ­ vor allem wenn es um die Optimierung der  menschlichen   Produktionsprozesse   geht   ­   liefert   ein   weiteres   gutes   Beispiel   hierfür.   Diese  Penetration   des   sozialen   Lebens   durch   den   Sport   stellt   jedoch   weniger   eine   einseitige  Einflussnahme, als vielmehr eine wechselseitige Rückwirkung dar. Zwischen dem Sport und der  Gesellschaft finden drittens Wechselwirkungen statt, die in unterschiedlicher Art und Weise sichtbar  werden. Beispielsweise wurde der Sport im Laufe der dritten Industrialisierungsrevolution, die auf  eine   'Wiedervermenschlichung'   der   Arbeitsprozesse   abzielte,   neben   Betriebsfeiern,   sozialen  Veranstaltungen und Reisen zum gewöhnlichen Instrumentarium dieser Umgestaltung4

Die vierte und letzte Dimension des Versportlichungsbegriffs ­ worum es uns hier eigentlich geht ­  kann als die Folge einer Intensivierung dieser Wechselwirkungen zwischen dem Sport und der  Gesellschaft   betrachtet   werden:   Der   Sport   ist   zu   einem   Leitbild   schlechthin   geworden,   das  Wertvorstellungen   und   Symbole   anbietet,   aus   denen   sich   die   Gesellschaft   bedienen   kann.5  So  können die heute sehr präsenten Diskurse über die gesundheitsfördernde Funktion des Sports als ein  Ergebnis   dieser   hegemonialen   Ausbreitung   des   Sports   innerhalb   des   gesellschaftlichen   und  kulturellen   Gewebes   ohnehin   gelten.   Das   Appellieren   an   die   Gesundheitsgesinnung   der  Bevölkerung durch die Sportförderung findet im deutschsprachigen Raum spätestens durch die  sogenannten Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts eine starke Verbreitung und hat  den verschiedenen bürgerlichen Körperkulturen vieles zu verdanken. Diese Kulturen, die für den  Sport   als   Praxis   aktiv   plädierten,   trugen   zweifelsohne   stark   dazu   bei,   aus   dem   Sport   ein  gesellschaftsübergreifendes Phänomen zu machen, nämlich durch die Kopplung der Begriffe Sport  und Gesundheit.6  In anderen Worten prägt der Sport unsere Wertvorstellungen mehr als wir es  vielleicht   ahnen   können,   wie   am   Beispiel   der   Assoziation   'Bewegung   bringt   Gesundheit'  veranschaulicht wurde.  

hätten. Sie haben im Gegenteil viel Zeit, Freizeit, genauer gesagt: freie Sport­Zeit.“ (Kaschuba, „Sportivität“, ibid.,  S. 229­30.)  

4 Vgl. Habermas, Jürgen: „Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum“, in: 

Ders., Arbeit, Freizeit, Konsum. Frühe Aufsätze, Gravenhage 1973, S. 1­26.  

5 Hierzu betont Volker Caysa die Wichtigkeit der kritischen Herangehensweise an der „Sportlichkeit“ als Leitbild: 

„Durch eine nicht vorhersehbare Verknüpfung von Politik, Wirtschaft, Medien, Mode und Sport ist die Sportlichkeit  zu einem wenig hinterfragten Leitwert in der modernen Kultur geworden. Er bestimmt die Lebensführung von  immer mehr Menschen. Gerade deshalb muss der Sport, wenn er seine positiven Selbstgestaltungsmöglichkeiten für  die Individuen behalten soll, kritisch betrachtet werden.“ (Caysa, Volker, „Nachbemerkungen“, in: Ders. (Hrsg.),  Sport ist Mord. Texte zur Abwehr körperlicher Betätigung, Leipzig 2004 (1996), S. 196.)

6 Die Assoziation zwischen Bewegung und Gesundheit ist zweifelsohne geschichtlich älter als hier postuliert. 

Dennoch vermuten wir, dass es einen Unterschied zwischen der früheren und neueren Formen dieser 

Begriffenkopplung gibt, der mit der Institutionalisierung des Sports und der Medizin im 19. Jahrhundert zu tun hat.

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Dieser   Kerngedanke   der   Versportlichungsthese   entspricht   unserer   eigenen   These,   welche   die  Auswahl   des   Themas   Sport   rechtfertigt.   Der   Erkenntnis   zufolge,   dass   der   Sport   längst   kein  eingegrenzter Gesellschaftsbereich mehr ist, wollen wir die Selbstverständlichkeit seiner Präsenz im  sozialen   Leben   im   breiten   Sinne   hinterfragen.   Der   Sport,   der   zu   einem   suggestiven   Leitbild  geworden ist, hat zwar auf die heutige Gesellschaft einen mächtigen Einfluss, doch ist er als soziales  und kulturelles System dadurch auch völlig entgrenzt: Indem er überall ist, ist er nirgendwo ­ und  gerade   deswegen   gilt   er   als   selbstverständlich.   Um   die   Etablierung   des   Sports   als  Orientierungsmodell besser zu verstehen, wollen wir uns fragen, worin seine soziale und kulturelle  Wirksamkeit grundsätzlich liegt. Dafür nehmen wir uns eine (sozial)philosophische Analyse des  Sports als Leitbild vor, die diesen paradoxerweise auf sein ursprüngliches Wesen zurückführen soll,  und zwar auf die körperliche Betätigung.

Diesen methodischen Gedankengang entleihen wir dem deutschen Philosophen Helmuth Plessner  (1892­1985),   der   für   Paradoxien   eine   spezielle   Vorliebe   hatte   ­   besonders   für   diejenigen,   die  Selbstverständlichkeiten aufdecken konnten... Dieser Vertreter der philosophischen Anthropologie  gilt aber in dieser Arbeit nicht nur als Inspirations­ sondern auch als Theoriequelle. Denn in seinen  Texten meinen wir einen Begriff entdeckt zu haben, der sich für unsere Fragestellung gut anbietet: 

den Ausdruck. Das Ausdruckskonzept Plessners ­ wie es im ersten Kapitel vorgestellt wird ­ setzt an  den Körper des Menschen und schließt zugleich alle kulturellen Erscheinungen mit ein. Deshalb ist  er für unsere Zwecke, die Analyse der Leitbildrolle des Sports, angemessen: Er kann sowohl die  Körperbezogenheit   als   auch   die   sozial­   und   kulturellgeschichtliche   Dimension   des   Sports   in  Betracht   ziehen   ­   sogar   beide   Aspekte   aufeinander   beziehen.   In   anderen   Worten:   Um   die  historischen und anthropologischen Wurzeln dieses besonderen Stellenwertes des Sports für die  moderne   westliche   Gesellschaft   herauszustellen,   wollen   wir   den   Sport   als   eine   bestimmte  Ausdrucksform des Menschen begreifen. 

Dieses Vorhaben stellt einen Erweiterungsversuch der Theorie Plessners insofern dar, als er es selbst  in dieser Form nicht durchgeführt hat. Seine Abhandlungen zum Thema Sport, die sich auf zwei  Beiträge beschränken, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft (1956, abgekürzt: 

FKT) und  Spiel und Sport  (1966, abgekürzt: SuS)7, sprechen nicht wortwörtlich vom Sport als 

7 Plessner, Helmuth: „Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft“ (1956), in: Caysa, Volker , 

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Ausdrucksform. Vielmehr liefern sie jeweils zwei Bestände von Erkenntnissen, die wir anhand  seiner Ausdruckstheorie erschließen werden. Der erste Sportaufsatz, die  Funktion,  begründet den  Sport als ein Produkt des Industrialisierungsprozesses und untersucht, wie und warum er in diesem  spezifischen Kontext an Bedeutung gewann. Hierbei wird er aus der Perspektive einer bestimmten  historischen Entwicklung heraus analysiert, die unserer Meinung nach insofern Sinn macht, als sie  den Sport mit einem nüchternen, entromantisierten, (sozial)kritischen Blick betrachtet: Der Sport  fängt   mit   Plessner   nicht   in   der   Antike   oder   im   England   des   17.   Jahrhunderts   an,   sondern   er  entspringt   einer   „fundamentalen   Erfahrung“,   die   der   Mensch   in   der   industriellen   Gesellschaft  machte, nämlich dem Erleben der „zunehmenden Verstädterung“ (FKT: 47). Im zweiten Beitrag,  Spiel   und   Sport,  geht   er   wieder   auf   diese   geschichtliche   Verortung   des   Sports   im  Industrialisierungsprozess ein, wobei er sie mit der anderen, anthropologisch ausgelegten These  konfrontiert, dass der Sport aus dem sogenannten ursprünglichen Spieltrieb des Menschen heraus  gewachsen   sei.   Aus   dieser   Gegenüberstellung   entstehen   weniger   historisch   als   anthropologisch  angelegte Betrachtungen, die für unseren Zweck der Begründung vom Sport als Ausdrucksform von  Belang sind.

Dieser bipolaren Perspektive entsprechend gliedert sich der Hauptteil der Arbeit in zwei Abschnitte,  die ­um es auf den Punkt zu bringen ­ das Ziel verfolgen, die Leitbildfunktion des Sports in der  (post)modernen Gesellschaft (sozial)philosophisch nachzuvollziehen. Im ersten Schritt wird gezeigt,  inwieweit man in Plessners Sinne den Sport als einen wichtigen Bestandteil unserer modernen  Kultur, d.h. als eine leitende kulturelle Ausdrucksform begründen kann (Kapitel 2). Dafür werden  insbesondere die gesellschaftlichen Bedingungen seines Aufkommens berücksichtigt, da diese eine  historische   Erklärung   liefern,   weshalb   der   Sport   sich   als   ein   kulturelles   Orientierungsmodell  etablieren konnte. Im zweiten Schritt wird die anthropologische Dimension der Leitbildrolle des  Sports   untersucht,   wobei   eine   höhere   Aufmerksamkeit   auf   dessen   Bezug   zum   Spiel   und   zur  Körperlichkeit   gerichtet   wird.   Als   erstes   muss   dennoch   ein   Einblick   in   die   philosophische  Anthropologie Plessners verschafft und sein Ausdrucksbegriff erläutert werden (Kapitel 1). 

Sportphilosophie, S. 46­67. Ders., „Spiel und Sport“ (1966), in: Ders., Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge  zur Kultursoziologie, Düsseldorf/Köln 1974 (1966), S. 160­172. 

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Kapitel 1 ­Theoretische Grundlagen für eine anthropologische  Deutung des Sports: der Ausdruck

Um sich der Ausdruckstheorie Helmuth Plessners anzunähern, muss zunächst einmal auf zentrale  Grundbegriffe seiner philosophischen Anthropologie eingegangen werden. Bei der Frage 'Was ist  der Mensch?' legt er den Schwerpunkt nicht auf das ist ­ wie existenzialistische Philosophien es tun 

­ sondern auf den Menschen, der dabei als ein lebendiges Wesen verstanden wird. Dieser Fokus auf  die Lebendigkeit des Menschen impliziert, dass der Mensch als ein Teil aus dem Gesamtbereich des  Natürlichen   betrachtet   wird.   Lebendigkeit   wird   also   als   etwas   aufgefasst,   das   nicht   nur   den  Menschen sondern auch den anderen Lebensformen (Pflanzen und Tiere) eigen ist ­ womit ein  ethischer Grundsatz der Plessnerschen Philosophie aufgezeigt sei. In diesem Sinne stellt das Leben  im organischen Sinne die Basis für seine Anthropologie, die damit als eine Lebensphilosophie, die  sich einen naturwissenschaftlichen Gestus angeeignet hat, bestimmt werden kann.8

Aus dieser Perspektive des in der Natur verorteten Menschen fragt Plessner ­ dem Biologen gleich ­ nach dem Organismus des Menschen, d.h. nach seinem Körper, und ­ wie ein Ökologe ­ nach dem  Verhältnis   des   Menschen   zur   Welt.   In   diesem   Kapitel   wird   der   menschliche   Körperbezug  ausführlich erläutert, zumal der Ausdrucksbegriff aus einer spezifischen Körperlichkeitsauffassung  hergeleitet wird. Bezüglich des menschlichen Weltbezugs stellt Plessner eine These auf, die es nun  gilt zu umreißen, auch weil sie eine Denkfigur offenlegt, die seinem Körper­ und Ausdrucksbegriff  zugrunde liegt.  

Laut Plessner lebt der Mensch in der Welt aus einer konflikthaften Position heraus. Er ist in der  Welt, weil er genau so wie die Pflanzen und Tieren darin lebt, aber er kann sich damit nicht  abfinden. Dem 'In­der­Welt­Sein' setzt Plessner ein Missverhältnis zwischen dem Menschen und der  Welt gegenüber, das er unter dem Begriff „Exzentrizität“ auffasst. Damit ist ein 'Außerhalb­der­

Welt­Sein' ­ genauer gesagt: ein 'Über­die­Welt­Gestelltsein' ­ gemeint, in dem der Mensch aus einer  nicht zu überbrückenden Distanz zur Welt lebt. In der Plessnerschen Terminologie ist der Mensch 

8 In Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) legt Plessner die Grundlage seiner Lebensphilosophie offen,  indem er den Reich des Organischen in drei Stufen gliedert: die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Als erste  Stufe stellen die Pflanzen eine „Organisationsform des Lebendigen“ dar, die der Organisationsform der Tiere  zugrunde liegt, worauf wiederum die Organisationsform der Menschen aufbaut. Damit ist weniger ein 

evolutionistisches Denkmodell als ein Gegenentwurf zur Anthropomorphismus angeboten, da der Mensch auf die  anderen Stufen (Pflanzen, Tiere) angewiesen ist ­ was gegen seine Obrigkeit auf sie spricht. Zu den Stufen, der ein  der komplexesten Werke Plessners darstellt, siehe : Haucke, Kai, Plessner zur Einführung, Hamburg 2000. 

(7)

insofern über die Welt gestellt, als er dank seinem „Geist“9 von der Welt Abstand nehmen bzw. aus  ihr 'heraustreten' kann.10 Somit ist er in der Lage, über die Welt (und damit über die Pflanzen, Tiere  und   andere   Menschen)   zu   verfügen   und   sie   zu   instrumentalisieren.   Diese   Fähigkeit   der 

„Instrumentalisierung“ der Welt, die sich auf das Körperverhältnis übertragen lässt (vgl. unten),  ermöglicht   ihm   jene   Außenposition   gegenüber   der   Welt   einzunehmen,   die   er   als   Exzentrizität  bezeichnet. 

Ferner   ergibt   sich   aus   dieser   paradoxen   Kopplung   von   Innen­   und   Außenposition   ein   ebenso  paradoxer Welt­, Selbst­ und Körperbezug, den Plessner „Gebrochenheit“ benennt. Diese stellt eine 

„prekäre“ bzw. „paradoxe“ Lage dar und ist dafür verantwortlich, dass der Mensch immer weiter  versucht, aus der Prekarität  und dem Paradox seines  leiblichen Daseins herauszukommen. Die  Gebrochenheit schafft nämlich eine unaufhebbare Spannung, die der Mensch beständig ausgleichen  will   (und   muss11),   obwohl   er   das   gesuchte   Gleichgewichtsmoment   nie   erreichen   wird.   In   dem  Gebrochenheitskonzept liegt die Crux des Plessnerschen Denkstils: Weil der Mensch keine andere  Wahl hat, als über die Welt gestellt zu sein, kann er sich niemals mit der Welt bzw. mit sich selbst  vereinigen,   womit   im   Grunde   genommen   jegliche   Möglichkeit   eines   Harmonie­   bzw. 

Ganzheitlichkeitszustandes   ausgeschlossen   wird.   Deshalb   ist   er   gezwungen,   sich   der   Welt   zu 

„vermitteln“, d.h. mit ihr aus der Distanz heraus in Verbindung zu kommen. 

Um dieses notwendige, von seiner Daseinslage bedingte Ziel zu erreichen, hat er keine andere  Option, als sich auszudrücken. Dafür verfügt er sowohl über die Möglichkeiten, die ihm die Welt  anbietet (Natur, andere Lebewesen, Gesellschaft, Kultur, Technik, Wissen, Kunst, usw.), als auch  über sich selbst und die eigenen (körperliche und geistige) Gegebenheiten und Fähigkeiten. Aus  dem spezifischen Verhältnis des Menschen zur Welt, zu seinem Selbst und vor allem zu seinem 

9 Vgl. Plessners Definition des Geistes: „Geist bedeutet die Fähigkeit der Abstandnahme und nur in der  Abstandnahme zu ihr wird menschliche Umwelt zur Welt von sachlichem Charakter.“ (Zitiert aus: Plessner, 

Helmuth, „Mensch und Tier“ (1946), in: Ders., Gesammelte Schriften VIII, Conditio Humana, Frankfurt/M. 1983, S. 

52­66.) 

10 Diese Fähigkeit haben die Tiere nicht, die daher als anthropologische Eigenschaft fungiert: „Beim Menschen tritt  jedoch eine aus seinem Benehmen ablesbare Komplikation ein, die ihn »über« die tierische Form des Verhaltens  hinaushebt: die Fähigkeit, Realitäten, d.h. eigenständiges, in sich ruhendes Sein zu erfassen, eine Fähigkeit, die  gleichursprünglich zum Bewusstsein seiner selbst, zum Erlebnis der Lebendigkeit im Hier, wie zum Bewusstsein  fremder Objekte im Dort führt.“ (Plessner, Helmuth, „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur  Lehre vom Bewusstsein des anderen Ichs“ (1925), in: Ders., Gesammelte Schriften VII. Ausdruck und menschliche  Natur, Frankfurt/M. 2003, S. 114.) 

11 Der Mensch steht nämlich unter einem Ausgleichszwang: „Er ist weder allein Leib noch hat er allein Leib (Körper). 

Jede Beanspruchung der physischen Existenz verlangt einen Ausgleich zwischen Sein und Haben, Draußen und  Drinnen.“ (Plessner, Helmuth, „Lachen und Weinen, Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens“ 

(1941), in: Ders., Gesammelte Schriften VII, ibid., S. 241.)

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Körper, entspringt also der Ausdruck. Kurzum: Das Menschenleben hat als konstitutives Merkmal  die „Gebrochenheit“, deshalb ist der Mensch zur Expressivität verurteilt.  

Die Verschränkungen des menschlichen Körpers 

Wie schon angedeutet, stellt die Verortung des Menschen im Gesamtbereich des Lebendigen den  Ausgangspunkt der Philosophie Plessners. Er setzt am leiblichen Dasein des Menschen an, um die  Besonderheit   des   menschlichen   Lebens   herauszustellen.   Dieser   Gestus   läuft   jedoch   auf   eine  (produktive) Paradoxie hinaus: Der Körper gilt ihm zwar als die organische Gegebenheit, die den  Menschen mit dem Tier verbindet, er erklärt aber gleichzeitig, wie der Mensch sich vom Tier  unterscheidet.12 Wenn bei Plessner vom tierischen bzw. menschlichen Körper die Rede ist, handelt  es   sich   allerdings   weniger   um   eine   rein   materielle   als   um   eine   vom   Leben   durchgedrungene  Gegebenheit. Anders gesagt gilt beim Körperbegriff die Prämisse der Lebendigkeit: Es gibt keinen  tierischen bzw. menschlichen Körper, der nicht belebt ist ­ außer wenn der Tod kommt. Hiermit  erlangt   der   Körperbegriff   eine   zweite   Dimension:   den   Leib.   Den   Körper   definiert   Plessner  gleichsam   als   Körper  und  als   Leib,   wobei   mit   dem   Leibbegriff   der   vom   Lebewesen   belebte  Organismus   zu   verstehen   ist,   während   der   Körper   als   das   physische,   aus   Körperteilen  zusammengesetzte Körperding fungiert. 

Bei Mensch und Tier ist der lebendige Leib mit dem organischen Körper insofern verschränkt, als  der erste den zweiten braucht, um existieren zu können. Der Verschränkung von Leib und Körper  entsprechend, kann man im tierischen und menschlichen Körper hierfür zwei Aspekte erkennen: das  Am­Leben­Sein (Lebendigkeit) und die physische Existenz (Organische), wobei diese Aspekte ­  wenn man sich doch auf ein physikalisches Modell stützen will ­ in einem Oszillationsverhältnis  zueinander stehen: Die Grenze, die zwischen Leib und Körper verläuft, ist eine fließende und  dynamische, die sich in jedem Moment erneut aktualisiert.13 

Dieses   Körperbild,   das   sich   aus   zwei   Aspekten   zusammensetzt,   gilt   nicht   nur   für   seinen  Körperbegriff sondern kennzeichnet die Plessnersche Auffassung des Lebendigen  par excellence. 

12 Hiermit kann der Verdacht, dass es Plessner darum gehen könnte, das Menschsein auf seine biologischen Existenz  zu reduzieren, aufgeräumt werden: Wenn der Körper zugleich Gemeinsamkeit und Diskrepanz zwischen Mensch  und Tier ist, kann er nicht als die einzige Voraussetzung des Menschseins fungieren. 

13 Hier sehen wir eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Konzept der „Falte“ (le pli) von Gilles Deleuze, das nicht  nicht ohne ihr Pendant, das „Entfalten“ (le dépli) zu denken ist und, das eine dynamische Dimension beinhaltet: 

„Darum ist das Entfalten niemals das Gegenteil der Falte, sondern die Bewegung, die von den einen zu den anderen  geht.“ (Deleuze, Gilles, Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 2000 (frz.: 1988), S. 152.)

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Alles   ist   vom   „Doppelaspekt“   bzw.   „Doppelaspektivität“ charakterisiert,   womit   das   folgende  Prinzip   gemeint   ist:   Jedem   lebendigen   Ding   sind   zwei   Aspekte   innewohnend,   die   insofern  miteinander verschränkt sind, als sie zwar distinkt aber abhängig voneinander sind. Anders gesagt  liegt dem Doppelaspekt ein Differenzverhältnis zugrunde, das sich in jedem Moment neu vollzieht  und dadurch jeden Aspekt permanent mit konstituiert. Mit diesem Denkmodell des Doppelaspekts  wird   ein   anderes,   tradiertes   überwunden:   der   Dualismus.   An   die   Stelle   von   dessen   beiden  charakteristisch geschlossenen Sphären treten zwei offene Aspekte, die sich gegenseitig bedingen  und   permanent   beeinflussen.   So   setzt   Plessner   den   herkömmlichen   Dichotomien,   wie   denen  zwischen   Natur   und   Kultur,   Körper   und   Geist,   Innen   und   Außen,   seine   „Doppelaspekte“   und 

„Verschränkungen“ entgegen, die solche Einheiten wie Natur, Körper, Innen, als untrennbar von  ihren   Korrelaten,   d.h.   von   Kultur,   Geist,   Außen,   bestimmen.   Doppelaspektivität   stellt   also   ein  antidualistisches Abstraktum dar, um das Leben in seiner Konstitutions­ und Funktionsweise zu  erfassen ­ kurz: eine Denkfigur der Lebensphilosophie Plessners.14

Um diese Denkfigur der Doppelaspektivität ins Auge zu fassen, werden wir in diesem Kapitel eine  Metapher   anwenden.   Wir   werden   einen   der   Grundsteine   der   Ausdruckstheorie   Plessners  veranschaulichen, nämlich das Verhältnis des Menschen zum eigenen Körper. Die Metapher stellt  das Bild der Medaille dar, weil diese zwei Seiten hat, die voneinander wohl distinkt und auch  abhängig   voneinander   sind.   So   können   die   Medaillenseiten   für   die   jeweiligen   Aspekte   des  betrachteten   Gegenstands   stehen   und   die   Medaille   selbst   die   Verschränktheit   zwischen   diesen  verbildlichen. Mithilfe einer solchen Medaille soll das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper  herausgearbeitet   werden,   wobei   die   unterschiedlichen   Doppelaspekte   dieses   Verhältnis   anhand  mehrerer solcher Medaillen erläutert werden. 

Die   erste   Medaille   haben   wir   bereits   identifiziert:   den   Doppelaspekt   des   tierischen   und  menschlichen Körpers als Leib und Körper. Da die Tiere und die Menschen diesen Körper­Leib  miteinander teilen, muss der Unterschied zwischen dem Menschsein und Tiersein anderswo liegen,  als in der Biologie der jeweiligen Lebewesen. Aus der Perspektive des Körpers heraus gesehen sind  wir nämlich wie die Tiere innerhalb unserer Körper gehalten und schicksalhaft an sie gebunden. In 

14 Ähnliche Denkfigure sind bei anderen Autoren auch zu finden. Zum Beispiel gibt es eine große Ähnlichkeit  zwischen der Doppelaspektivität Plessners und dem Konzept der „Falte“ („le pli“) von Gilles Deleuze. Vgl. Fußnote  13. 

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der   Plessnerschen   Terminologie   wird   dieser   Zustand   als   „Körper­Sein“   bezeichnet,   wobei   der  Körper als eine „Hülle“ bzw. ein „Futteral“ begriffen wird.15 Diesem Futteral können sich weder die  Tiere noch die Menschen entziehen. Um den entscheidenden Unterschied zu identifizieren, muss  Plessner zufolge genauer gefragt werden, in welcher Position sich jeweils Tiere und Menschen in  ihren Körpern befinden. Wie oben erörtert, besitzen Menschen eine besondere Fähigkeit, die der  Distanzierung von der Welt, von sich selbst und nicht zuletzt vom eigenen Körper. Demnach hat das  Körper­Sein sein Pendant im „Körper­Haben“, das auf diese spezifisch menschliche Stellung, die  die Exzentrizität darstellt, anspielt. Das Körper­Haben bildet den Kernunterschied zu den Tieren,  die diese Fähigkeit nicht besitzen und daher in ihren Körpern verhaftet bleiben.16 Im Gegensatz zu  diesen kann der Mensch von seinem Körper Abstand nehmen, weil er sich über diesen bewusst ist. 

Dieses Bewusstsein17 des eigenen Körpers gewährt ihm die Möglichkeit und Fähigkeit zugleich, aus  seinem   Körper   herauszutreten   und   ihn   dadurch   als   ein   Objekt   seines   Besitzes   zu   behandeln  (Objektivierung). 

Wie sieht schließlich unsere erste Medaille, die der Position des Menschen in seinem Körper nun  aus? Ihre eine Seite ist das Körper­Sein, also der Zustand der „Insichversenktheit in den eigenen  Leib, die 'Futteralsituation' unserer selbst“ (SuS: 162). Ihre zweite Seite, das Körper­Haben, weist  auf die (geistigen und körperlichen) Fähigkeiten hin, die uns ermöglichen, uns sogar zwingen,  unseren Körper auf objektivierende Distanz zu bringen ­ was wiederum die Eingebundenheit im  Körper,   das   Körper­Sein,   relativiert.   Beide   Seiten   zusammengeführt   bilden   die   Medaille   der  berühmten   Plessnerschen   Formel:   „Ein   Mensch  ist  immer   zugleich   Leib   (Kopf,   Rumpf,  Extremitäten mit allem, was darin ist) [...] und hat diesen Leib als diesen Körper.“18 Der Mensch hat  also einen Leib, den er als „diesen Körper“ aus der Distanz heraus vergegenständlicht.

15 Diese Begriffe kommen in mehreren Aufsätzen vor, z.B. in: Plessner, Helmuth, „Anthropologie der Sinne“ (1970),  in: Ders., Gesammelte Schriften III. Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M. 1980. S. 317­395. 

16 Hierzu: „Auch das Tier muss seinen Leib einsetzen, situationsgemäß einsetzen, sonst erreicht er sein Ziel nicht. Aber  der Umschlag von Sein ins Haben, vom Haben ins Sein, den das Tier beständig vollzieht, stellt sich ihm nicht noch  einmal dar und bietet ihm infolgedessen auch kein „Problem“. (Plessner, „Lachen und Weinen“, ibid., S. 242.)

17 Bei Plessner ist das Bewusstsein nicht nur geistig sondern auch körperlich aufzufassen, weil es mit den Sinnen eng  zusammenhängt ­ eine These, die Plessner in seiner „Ästhesiologie“ verteidigt (vgl. Plessner, Helmuth, „Über die  Möglichkeit einer Ästhetik“ (1925), in. Ders., Gesammelte Schriften VII, S. 51­59). Darüber hinaus stellt es eine Art  selbstbezügliches Selbstbewusstsein dar: „Des Menschen Verfassung umgreift den Gegensatz zwischen Leben und  'Geist'. Sie ist nicht nur eine Leib­Seele, sie ist eine Leib­Geist­Einheit, aber von übergreifender Art, die den  Gegensatz ihrer selbst in sich trägt.“ (Zitiert aus: Plessner, Helmuth, „Mensch und Tier“ (1946), in: Ders.,  Gesammelte Schriften VIII, ibid., S. 52­66)

18 Plessner, „Lachen und Weinen“, ibid, S. 238. 

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An diese erste Medaille, die veranschaulicht hat, wie der Mensch in seinem Körper positioniert ist,  knüpft die zweite an, die erläutern soll, wie der Mensch sich seinem Körper vermittelt: die Medaille  des menschlichen Körperverhältnisses. Die erste Seite dieser Medaille lässt sich folgendermaßen  charakterisieren.   Zwischen   dem   Körper­Sein   und   dem   Körper­Haben   herrscht   zunächst   keine  Harmonie, sondern ein unaufhebbares Missverhältnis. Dieses entspringt aus der Binnenlage des  Menschen, der einerseits in seinem Körper eingebunden ist (Körper­Sein), andererseits aber seinen  Körper instrumentell einsetzen kann ­ sogar einsetzen  muss, weil er ihn „hat“ (Körper­Haben). 

Diese   zwangsläufige   Instrumentalisierung   des   Körpers   fasst   Plessner   unter   dem   Begriff 

„Instrumentalität“   auf.   Als   Beispiel   dafür   führt   Plessner   das   Erlernen   lebensnotwendiger  Handlungen,  wie  dem  aufrechten  Gang,  an. Dabei  erweist  sich der  Körper als  etwas, das  der  Mensch   manipuliert,   wobei   es   sich   der   Manipulation   jederzeit   entziehen   kann   ­   wie   etwa   bei  Missgeschicken, die diese Tatsache besonders bildlich machen. Deshalb „streitet“ der Mensch mit  seinem Körper:  

Der Mensch liegt eben mit seinem Körper in Streit, auch wenn er weiß, dass es sein eigener  Leib ist, der ihm dazwischenkommt. Als Leib bin ich ein Außending, das anderen Körpern  im Wege steht oder Platz macht und im Unterschied zur Selbstempfindung meines Leibes  mich zur Wahrnehmung und Abschätzung von Distanzen und Tragfähigkeiten zwingt.19 Hiermit erweist sich der Körper als ein 'unzuverlässiges Instrument' des Menschen. Einmal ist er das  Werkzeug, das der Mensch einsetzt, um gehen zu lernen. Einmal ist er das Werkzeug, das der Hand  seines  Besitzers  entgleitet  und  ihm   auf  dem   Fuß  fällt.   Fazit:  Die  eine   Seite   der  Medaille   des  Verhältnisses zum Körper stellt die Instrumentalität dar, die allerdings durch den widerspenstigen  distanzierten Körper in gewissen Grenzen gehalten wird.  

Der Ausdruck: zwischen Zwang, Bedürfnis und Kraft 

Doch,   ähnlich   wie   das   Körperhaben,   hat   Instrumentalität   auch   ihr   Pendant:   die   Expressivität. 

Ausgehend von der charakteristischen Diskrepanz zwischen Körper­Sein und Körper­Haben stellt  Plessner ­ wie schon angedeutet ­ fest, dass unser Körperverhältnis von „Gebrochenheit“ konstitutiv  gekennzeichnet   ist,   und   dass   diese   nicht   nur   für   Hindernisse   (der   menschlichen   Bewegungen)  verantwortlich ist, sondern auch für den Ausdruck. 

19 Zitiert aus: Plessner, „Anthropologie der Sinne“ (1970), ibid., Kapitel 6. „Ästhesiologie des propriozeptiven  Systems: Der Leib“, zweite Seite. 

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Lachen   und   Weinen   stellen   für   diese   aus   der   Gebrochenheit   entspringende   Expressivität  paradigmatische Momente dar: Der lachende oder weinende Mensch beherrscht seinen Körper nicht  mehr,   vielmehr   wird   er   umgekehrt   von   seinem   Körper   „überwältigt“20.   Diese   Möglichkeit   der  Eigenexpressivität des Körpers betrachtet Plessner jedoch nicht als Ausnahmezustand sondern als  eine für den Körperbezug des Menschen grundlegende Dimension: Der Körper steht dem Menschen  nur begrenzt zur Verfügung, weil er sich aus seiner Distanz heraus 'verselbstständigen' kann. Diese  Verselbstständigung ist dennoch nicht so zu verstehen, als ob der Körper sich vom Subjekt ganz  ablösen würde ­ was aufgrund der Insichversenkheit des Menschen in seinem Körper wohl gar nicht  denkbar ist. Vielmehr ist damit gemeint, dass der Körper sich vom Willen, von der Kontrolle des  Subjekts   jederzeit   loslösen   kann,   um   aus   jeglichem   Handlungsvollzug   etwas   Unintendiertes  hervorzubringen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der handelnde Mensch immer ein sich  ausdrückender Mensch ist, da er in seinem expressiven Körper eingebunden ist. In anderen Worten,  weil sein Körperbezug gebrochen ist, hat der Mensch keine andere Wahl, als sich ­ mit oder ohne  Absicht ­ über seinen Körper auszudrücken. Dieses immanente Potential der Eigenexpressivität des  Körpers bestimmt den Ausdruck als einen unübersehbaren Bestandteil des menschlichen Daseins. 

Schließlich hat die Medaille der doppelten Positionalität des Menschen in seinem Körper (Körper­

Sein und ­Haben) ihr Korrelat in der des doppelten Verhältnisses zum Körper, das Instrumentalität  und Expressivität als ihre zwei Aspekte hat.21 Zwischen den jeweiligen, miteinander verschränkten  Aspekten   Körper­Sein   und   ­Haben   auf   der   einen   Seite,   und   zwischen   Instrumentalität   und  Expressivität   auf   der   anderen,   läuft   ein   Missverhältnis   (Gebrochenheit),   weswegen   sich   eine  Spannung   in   der   menschlichen   Daseinslage   aufbaut.   Wie   schon   angedeutet,   läuft   diese  Gebrochenheit insofern auf einen Ausdruckszwang hinaus, als sie den Menschen in eine prekäre  Situation versetzt, die er durch einen expressiven Einsatz seines Körpers permanent auszugleichen  versucht. In anderen Worten scheint der Körper ein zentraler Grund dafür zu sein, dass der Mensch  auf den Ausdruck rekurriert. Mehr noch: Der Körper ist der Ort der Artikulation des Ausdrucks, 

20 Hierzu: „In den starken Affekten und in den explosiven Reaktionen des Lachens und Weinens sind wir  hingenommen und überwältigt.“

Und: „[Lachen und Weinen] stellen sinnvolle Fehlreaktionen auf die Unmöglichkeit dar, zwischen der Person und  ihrem Körper das zum Verhalten entsprechende Verhältnis zu sichern. An ihnen wird die Distanziertheit der Person  als Bruch im Verlust ihrer auf Ordnung der Verhältnisse bezogenen und gestützten Selbstbeherrschung sichtbar.“ 

(Zitiert aus: Plessner, Helmuth, „Elemente menschlichen Verhaltens“ (1961), in: Ders., Gesammelte Schriften VIII,  ibid., S. 218­235.)

21 Hierzu: „Expressivität teilen wir mit sehr vielen Tieren. Aber die unsrige ist gebrochen, weil der  Instrumentalisierung ausgesetzt.“ (SuS: 162­3.)

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denn der Mensch vermittelt sich der Welt immer über seinen Körper ­ der sich überdies jenseits  seines   Willens   selbst   äußern   kann.   In   diesem   Sinne   ist   der   Mensch   aufgrund   seines  Körperverhältnisses zur Expressivität verurteilt und steht deswegen unter dem Ausdruckszwang. 

Die Ausdruckstheorie Plessners ist deswegen interessant, weil sie das menschliche Leben nur auf  ihre instrumentelle Seite reduziert, wie sozialwissenschaftliche Theorien es häufig tun, wenn sie die  pragmatische Bedeutung von Handlungen, Praxen, Vorstellungen erfassen wollen. Hier wird die  Expressivität des Menschen als die andere Seite der Medaille der Instrumentalität angesehen und als  eine grundlegende, existentielle Dimension seines Daseins begründet. Der Mensch wird also nicht  nur als homo faber sondern als homo ludens aufgefasst. Also steht die Produktivität des Menschen  nicht mehr allein im Vordergrund, sondern wird von der Kreativität eingeholt ­ wobei wir die  Kreativität keineswegs nur künstlerisch­schöpferisch sondern im Sinne Plessners, als eine in jedem  Handlungsvollzug präsente Dimension verstehen. 

Allerdings „erschöpft die Charakterisierung des Homo Faber die des Homo Ludens nicht ganz“ 

(SuS:   5).   Hiermit   weist   Plessner   darauf   hin,   dass   die   Produktivität   des   Menschen   mit   seiner  Kreativität nicht ganz zusammenfällt. Auf unsere Metapher zurückgeführt, betont er damit, dass die  Medaillen der Verhältnisse des Menschen zur Welt, zu sich selbst und zu seinem Körper zwei sich  bedingende aber unvereinbare Seiten haben: die Instrumentalität und die Expressivität. Diese beiden  Aspekte   stehen   in   einer   Art   Konflikt   (oder     Konkurrenz)   zueinander,   weil   ihr   Verhältnis   von  Differenz bzw. von Gebrochenheit gekennzeichnet ist. Aus diesem Missverhältnis zwischen den  beiden Aspekten entsteht der Drang, dieses auszugleichen. Daraus speist sich im Endeffekt das  menschliche Leben insofern, als der Ausdruck dem Leben seine Energie und Produktivität gibt. 

Demnach gilt das Leben als konstitutiv expressiv, wobei sich diese Charakteristik aus einer anderen,  der Gebrochenheit im Doppelaspekt, ableitet. Schließlich fungiert der Ausdruck als ein Bestandteil  und   als   eine   treibende   Kraft   des   Menschenlebens,   darum   kann   er   als   zu   den   menschlichen  Grundbedürfnissen zugehörig betrachtet werden.  

Diese   anthropologische   Grundlegung   des   Ausdrucksbegriffes   deklariert   den   Menschen   als   ein  schöpferisches Wesen, das ständig auf der Suche nach Ausdrucksformen ist. Diese umfassen, so  Gerhard   Arlt,   „das   ganze   Spektrum   der   Ausdrucksmöglichkeiten   von   der   Mimik,   Gestik   über 

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Lachen und Weinen bis zur Sprache und Kulturformen, Kunst und Schauspiel“22 ­ und nicht zuletzt: 

den Sport. Vor diesem Hintergrund soll es in den zwei darauffolgenden Kapiteln darum gehen,  diesen   als   eine   Ausdrucksform   aufzufassen.   Mit   dieser   Zuordnung   des   Sports   zu   den  Ausdrucksformen soll untersucht werden, was ihn zu einem gesellschaftlichen Leitbild, d.h. zu einer  leitenden kulturellen Ausdrucksform macht. Dafür wird im zweiten Kapitel herausarbeitet, inwiefern  sich der Sport in seiner historischen Entwicklung als Orientierungsmodell etabliert hat und daher  als eine leitende kulturelle Ausdrucksform fungieren kann. Im dritten Kapitel wird versucht die  anthropologischen Grundlagen der Leitbildrolle zu identifizieren, wobei hinterfragt wird, ob die  gesellschaftliche   Relevanz   des   Sports   mit   seiner   Besonderheit   als   prinzipiell  körperliche  Ausdrucksform zusammenhängt. In jedem Kapitel greifen wir jeweils auf einen der zwei Aufsätze  Plessners   zurück,   die   das   Sportthema   spezifisch   behandeln,   um   uns   im   Endeffekt   an   eine  Anwendung der Ausdruckstheorie des Sports heranzutasten. 

Kapitel   2   ­Der   Sport   als   kulturelle   Ausdrucksform   mit  gesellschaftlicher Stellenwert 

Plessners   Abhandlungen   über   das   Thema   Sport   thematisieren   diesen   nicht   explizit   als  Ausdrucksform, sondern bevorzugen eine sozialphilosophische Perspektive, die den Sport als ein  gesellschaftliches   Phänomen   begreift.   Dabei   wird   insbesondere   die   historische   Dimension   der  Entwicklung   dieses   Phänomens   hervorgehoben.   Bei   diesem   Thema,   das   unmittelbar   mit   dem  Körper verbunden ist, setzt Plessner merkwürdigerweise nicht am Körper an. Vielmehr verankert er  den Sport im Spannungsverhältnis mit dem gesellschaftlichen Leben und veranschaulicht, inwiefern  das   Aufkommen   des   Industrialismus   in   der   Kulturgeschichte   der   modernen   Gesellschaft   das  körperliche Dasein des Menschen transformiert hat. Mit diesem Wandel soll die Entstehung des  Sports eng zusammenhängen. 

In verkürzter Form lautet Plessners Hauptthese, dass der Sport ein Produkt der Industrialisierung  darstelle   ­  womit   er  ihn   gleichzeitig   als   spezifische,   von  unserer   modernen,   westlichen   Kultur  hervorgebrachten   Erscheinung   begründet.   Darum   präge   das   Industrialismus   (als   kulturelles 

22 Arlt, Gerhard, Anthropologie und Politik. Ein Schlüssel zum Werk Helmuth Plessners, München 1996, S. 56. 

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Wertesystem) den Sport als Praxis und als soziales Phänomen von Grund auf. In diesem Sinne  kommen die zwei sportbezogenen Aufsätze Plessners23  weniger der Sportphilosophie im engen  Sinne als einer Sportkritik nahe, welche in die Gesellschaftstheorie und Kulturkritik mündet. Dies  kann wohl daran liegen, dass ihr Autor ­ wie er selbst bescheiden gesteht ­ „auf diesem Gebiet ein  Mann, der sich tastend an eine Frage heranwagt“ (FKT: 46) ist, die zu seiner Spezialität nicht  angehört. Trotzdem erkennt man in seinen nach eigener Aussage „soziologischen“ Betrachtungen  einen scharfen und nüchternen Blick: Ohne diesen apologetisch noch abwertend24  zu behandeln,  sieht   Plessner   im   Sport   „ein   wesentliches   Symptom,   eine   wesentliche   Erscheinung   unseres  kulturellen   Zustandes   unserer   modernen   Gesellschaft“   (FKT:   46)   und   erörtert   die   eigene  Interpretation dieses Tatbestandes. Um das „kulturelle Symptom“ Sport zu verstehen, sollte man  nicht es nicht anhand einzelnen, spezialisierten Ansätzen aus betrachten ­ wie Einzelwissenschaften  wie   die   Medizin,   die   Trainingswissenschaft,   die   Physiologie   oder   die   Psychologie   dies   tun   ­,  sondern es als ein gesamtes Phänomen begreifen, das im „tiefen“ Zusammenhang mit der sozialen  Struktur und „unserem eigenen sozialen Leben“ (FKT: 46) steht. Mit dieser Einbettung des Sports  in den breiteren gesellschaftlichen Kontext wird der Sport als eine sozial, kulturell und historisch  konstruierte Ausdrucksform begründet. Daher zielt Plessners Untersuchung auf die Herausarbeitung  der kultur­ und gesellschaftshistorischen Bedingungen, in denen sowohl die Sportgesinnung des  Menschen   als   auch   die   Sportbegeisterung   in   der   Gesellschaft   entstanden   sind.   Im   Grunde  genommen   geht   er   vom   Sport   als   gesellschaftsübergreifendes   Phänomen25  aus,   und   sucht   die  Wurzeln seiner Popularität in der sozialen und kulturellen Geschichte der modernen Gesellschaft. 

Demnach wollen wir die folgende Analyse der Plessnerschen Argumentation auf die Frage hin  ausrichten, welche gesellschaftlichen Prozesse, Faktoren und Mechanismen der Bestimmung des  Sports  als  ein  kulturelles  Orientierungsmodell  bzw.  als  eine  leitende  kulturelle  Ausdrucksform  zugrunde liegen. Wenn das folgende Fazit stimmt, 

23 Zur Erinnerung: Plessner, „Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft“ (1956 ­ abgekürzt: FKT) und 

„Spiel und Sport“ (1966 ­ abgekürzt: SuS). Vgl. Fußnote 7. 

24 Bemerkenswert ist, dass er sich dazu weigert, den Sport zu einem Massenphänomen abzusetzen, obwohl seine  Thesen dem nah liegen könnten: „So wenig, wie es erlaubt ist, den Sport generell mit bestimmten auffallenden  Phänomenen der Massensportes zu identifizieren ­ dagegen behauptet sich zum Beispiel der Sport im Alpinismus  oder der Skisport und viele andere Sportarten, die durchaus nicht zu solchen Massensveranstaltungen und zu  Massenbetrieb taugen ­, so glaube ich doch, solle man einmal versuchen ­ vor allen Dingen nun diese massenhaften  Symptome im Blick­, sich als Soziologe an dieses Phänomen heranzuwagen.“ (FKT: 46­7)

25 Hierzu: „Im Grunde genommen ist also der Sport in allen seinen Formen an keine besondere Gesellschaftsschicht  mehr gebunden. Er ergreift alle.“ (FKT: 55)  

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Der Sport nicht besser und nicht schlechter als die Gesellschaftsordnung, der er entstammt  und für die er einen Ausgleich darstellt. (FKT: 67). 

woran macht Plessner den gesellschaftlichen Stellenwert des Sports fest? 

Die Ausgleichsthese  

Der Titel des ersten Sportaufsatzes Plessners legt seinen Anspruch offen, die „Funktion des Sports  in   der   industriellen   Gesellschaft“   in   einer   gesellschafts­   und   kulturhistorischen   Perspektive  herauszustellen. In diesem Beitrag stellt Plessner seine erste Hauptthese über den gesellschaftlichen  Stellenwert   des   Sports   auf:   die   sogenannte   „Ausgleichsthese“.   Wie   schon   angedeutet,   verortet  Plessner die Genese des Sports im Kontext des Industrialisierungsprozesses, der im 19. Jahrhundert  in England begann. Zufällig (oder nicht) gilt England in der Geschichtsschreibung als das Vaterland  des modernen Sports. Der englische Adel tat sich bereits im 17. Jahrhundert mit Spielen hervor, die  als   Vorreiter   modernster   Sportarten   wie   Fußball   oder   Tennis   gelten.   In   Abkehr   zu   dieser  Verankerung der Ursprünge des Sports in der frühen Neuzeit postuliert Plessner, dass dieser in  erster   Linie   vor   dem   Hintergrund   des   Verstädterungsprozesses   entstand,   den   die   sich   rasch  industrialisierende Welt erfuhr (FKT: 47). 

Davon ausgehend erarbeitet er, welche neuen Anforderungen an der Lebensweise der (Groß­)Städter  dieser   Wandel   der   Gesellschaft   mit   sich   brachte.   Darüber   hinaus   hinterfragt   er,   wie   sich   die  Bedürfnisse der Menschen im Zusammenhang mit den neuen Lebensbedingungen entwickelten und  inwiefern   der   Sport   eine   Antwort   auf   diese   transformierten   Wünschen   darstellte.   Seine  Betrachtungen   nehmen   als   Ausgangspunkt  zwar  den   spezifischen   Kontext   der   industriellen  Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, dürfen aber für die heutige Situation auch noch gelten, da unsere  postindustrielle Gesellschaft auf dieser aufbaut.  

Mit seinem scharfen Sinn für grundsätzliche Probleme deckt Plessner  common sense  gewordene 

„Selbstverständlichkeiten“ auf: Die im Zuge der Industrialisierung zunehmenden Mechanisierung,  Spezialisierung   und   Bürokratisierung   der   Arbeitsweisen   führten   zu   einem   tiefgründigen   und  dauerhaften Wandel der Lebensformen und damit der Sozialstruktur. Diese Feststellung mag wohl  in der aktuellen Soziologie ­ und auch in den Köpfen vieler heutiger Stadtbewohner ­ auf der Hand  liegen, ist sie aber nicht genug hinterfragt worden. Plessners Abhandlungen zum Sport erheben  dagegen   den   Anspruch,   hinter   diese   Selbstverständlichkeiten   zu   schauen,   um   herauszustellen, 

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welche   tiefen   Transformationen   des   Menschenlebens   sich   hinter   diesen   verstecken.   Die   drei  benannten   Tendenzen,   Mechanisierung,   Spezialisierung   und   Bürokratisierung,   sollen   das  menschliche und soziale Dasein dermaßen geprägt haben, dass diese neue Merkmale übernommen  haben,   die   bis   in   die   heutige   Zeit   hinein   spüren   sind:   Entkörperlichung,   Anonymisierung   und  Intellektualisierung.

Mit Entkörperlichung ist gemeint, dass der arbeitende Mensch „in seiner leibhaften, körperlichen  Gesamtexistenz   nicht  [mehr]  zu   seinem   Recht   kommt“   (FKT:   48)   ­   sei   es   wegen   der  Überanstrengung   des   Körpers   in   der   Fabrik,   sei   es   infolge   der   körperfeindlichen   Büro­   und  Kopfarbeit. Die Über­ bzw. Unterbeanspruchung des Körpers beim Berufsausüben verwandeln den  Körper zu einem Instrument, das der bloßen Leistungserbringung dient. Der in der Gesellschaft  herrschende Arbeitsethos ­ der die Leistung zu seinem obersten Prinzip erhebt ­ begründet den  Körper als eine Art 'funktionale Hülle' und etabliert eine von Entkörperlichung gekennzeichnete  Sozialstruktur, die das Ganze des sozialen und menschlichen Lebens bedingt. Demzufolge sieht sich  der Mensch von der leiblichen Dimension seiner Existenz beraubt, wobei sein Körper von der  Gesellschaft zu ihren Produktivitätszwecken instrumentalisiert wird. Dadurch wird der Körper in  eine Spannungslage gerückt, in der er auf einer Seite nicht relevant sein soll, auf der anderen aber  als notwendige Produktivitätsressource fungiert. In anderen Worten hat die Entkörperlichung eine  Kehrseite, und zwar die Steigerung der körperlichen Bedürfnisse (bspw. nach Entspannung und  Erholung) des Menschen: Um so mehr von seinem Leib (durch die entkörperlichte Gesellschaft)  entfremdet, sieht sich der Mensch desto stärker gezwungen, für sich selbst körperlich zu sorgen, um  den „Gleichgewicht zwischen geistigen Möglichkeiten und körperlichen Beanspruchungen“ (FKT: 

49­50) zu finden. 

Mit Anonymisierung weist Plessner auf die Tatsache hin, dass in der modernen Arbeitswelt nicht  nur der Körper sondern auch die Individualität der Menschen entwertet wird. Der letzten wird nicht  gewertschätzt,   weil   ­   wie   ihre   Körper   ­   die   Menschen   zu   austauschbaren   Elementen   der  Produktionsprozesse26  (von   Gütern,   Dienstleistungen   oder   Ideen27)   funktionalisiert   werden. 

26 Hierzu: „[Die Menschen] sind alle mehr oder weniger zu Rädern in einem Getriebe geworden, das sie selbst kaum  noch überblicken und in dem sie nur noch eine Teilfunktion in einer unpersönlichen Einrichtung, in 

hochspezialisierter Verantwortung für irgendeine Teilaufgabe haben, die eine besondere Leistung von ihnen verlangt,  aber an ihrer Person gewissermaßen vorbeigeht.“ (FKT: 50 ­unsere Hervorhebung)

27 Heutzutage ist im wirtschaftlichen Bereich mehr und mehr von Ideen als Produkt und von „Ideenwirtschaft“ die  Rede. Zum Beispiel, vgl.: brand eins. Das Wirtschaftsmagazin 5/2007 (Ausgabe zur Ideenwirtschaft)

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Dementsprechend   unterscheidet   man   unter   den   Einzelnen   nicht   anhand   der   individuellen  Eigenschaften sondern anhand der von ihnen erbrachten Leistungen. Diese werden außerdem nach  standardisierten Skalen bewertet und danach untereinander verglichen, was wiederum dazu führt,  dass   die   menschliche   Individualität   nicht   nur   funktional   sondern   auch   formal   bestimmt   wird. 

Plessner   kritisiert   hier   die   Normalisierungs­   und   Wettbewerbstendenzen   der   industriellen  Gesellschaft, die den Menschen nicht nur von seiner leiblichen Existenz entfremdet, sondern auch  von   seiner   wesenhaften   Individualität.   In   der   Sozialstruktur   verschwindet   der   Mensch   als  Individuum   ins   Massenhafte,   in   dem   er   ­   wenn   man   so   will   ­   nur   als   'einen   möglichen  Leistungserbringer   unter   anderen'   gilt.   Dann   tendiert   er   dazu,   um   sich   von   der   Masse   wieder  abzuheben,   sich   der   Gesellschaft   (und   vielleicht   auch   sich   selbst)   über   seine   Leistungen   zu  vermitteln. Kurzum: Indem er „sich nach oben boxen“ will, um als Person in der Gesellschaft zu  gelten, gibt der Mensch dem gesellschaftlichen Leistungsdruck nach.28 Dabei hält er sich allerdings  an   die   funktionellen   und   formalen   Leistungskriterien,   um   sich   im   Wettbewerb   unter   den  'Leistungserbringern' zu integrieren. Dieser Wettbewerb stellt laut Plessner jedoch keinen freien dar,  weil   er,   wie   das   Leistungsprinzip,   vom   Arbeitsethos,   daher   von   dessen   Funktionalismus   und  Formalismus geprägt ist. So ist die Freiheit im Wettbewerb von der Voraussetzung eingeschränkt,  dass bestimmte Kriterien beim Leisten erfüllt werden. Schließlich hat die Anonymisierung der  Sozialstruktur für Korrelat zwei sich ergänzende gesellschaftliche Prinzipien: das Leistungs­ und  Wettbewerbsprinzip.  

Mit der Intellektualisierungstendenz ist Folgendes gemeint. In der industriellen Gesellschaft werden  menschliche   Leistungen   nach   anderen   Kriterien   als   in   der   vorindustriellen   bewertet   und  gegeneinander abgewogen. In der letzten unterschied man die verschiedenen Tätigkeiten und Berufe  zwar auch voneinander, wobei diese Aufteilung bzw. Spezialisierung aber „als gottesgewollt und  natürlich   galt“   (FKT:   51).   In   Abkehr   zu   dieser   selbstverständlichen   Gleichberechtigung   der  verschiedenen Leistungsarten entwickelte sich in der industrialisierten Welt eine Hierarchisierung  der letzten, die auf intellektuelle Werte beruht: Bildung und Qualifikation sorgen für die Einstufung  von bestimmten Aufgaben in einen wertvolleren Leistungsbereich. So wird eine höhere Bedeutung  denjenigen Leistungen zugeschrieben, die von einem gebildeten Kreis für ein elitäres Publikum 

28 Hierzu. „Genug, der Impuls [zur Aggressivität] ist da, verstärkt durch die in der offenen Klassengesellschaft abstrakt  gleichen Chancen, in der jedem das Bewusstsein eingeimpft ist, sich nach oben boxen zu müssen.“ (FKT: 61). Auf  den Aspekt der Chancengleichheit wird später näher eingegangen.  

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hervorgebracht werden, höher, als jenen ohne wissenschaftliche bzw. technische Voraussetzungen,  die keine besonderen, erlernten Fähigkeiten verlangen. Damit wird ein der modernen Gesellschaft  innewohnender Widerspruch erschlossen: Der auf intellektualistischen Werten basierte Elitarismus  steht dem demokratischen Ideal der Chancengleichheit im Wege.  

Dieses wirkt sich dann auf den im vorigen Absatz angedeuteten Leistungsdruck unmittelbar insofern  aus, als der Mensch sich in seinem Können gleichzeitig gefördert und verhindert fühlt. Dies versetzt  ihn in eine Spannungslage, in welcher er den Leistungsdruck umso stärker empfindet, als er diesen  in   seiner   paradoxen   Wirkung   erlebt.   Vor   diesem   Hintergrund   leben   die   Menschen   mit   einem 

„gespaltenen Bewusstsein“ (FKT: 52) über die eigene Leistungsfähigkeit. Zwischen dem, was sie  'theoretisch' leisten könnten und gern leisten würden, und dem, was sie sich 'tatsächlich' zutrauen,  entsteht   eine   Kluft.   Diese   Diskrepanz   zwischen   der   individuell   gewünschten   und   der   sozial  erwünschten   Leistungsbereitschaft   verursacht   bei   den   Menschen   eine   Unzufriedenheit,   eine  Frustration,   eine   „Stauung“   von   unerfüllten   Wünschen.   Darum   antworten   sie   auf   den  Leistungsdruck nicht mit einer eindeutigen Ablehnung. Vielmehr wollen sie ihn ausgleichen, womit  sie sich wiederum paradoxerweise für ihn vorbereiten. Schließlich führt die Hochspezialisierung  bzw. Intellektualisierung der Gesellschaft dazu, dass die Menschen sowohl bereit sind, sich dem  Leistungsdruck zu entziehen, als auch sich ihm unterzuordnen. 

Um   diese   weitreichenden   gesellschaftlichen   Veränderungen   auf   den   Punkt   zu   bringen:   Diese  Tendenzen entspringen der Entkörperlichung, Anonymisierung und Intellektualisierung aus dem  herrschenden Arbeitsethos, der Leistung zu seinem obersten Prinzip erhebt. Dieses Prinzip prägt  nicht nur die Arbeitswelt sondern die ganze Sozialstruktur, wodurch die Arbeits­ und Lebensweise  der  Menschen beeinflusst wird. Diese soziologische Diagnose der modernen Gesellschaft liefert die  Grundlage für Plessners Erklärung der Popularität des Sports: 

In  einer  solchen  Lage  bietet  sich  ein  idealer   Ausgleich  im  Sport,  der  das  Element   der  Nichtarbeit   mit   dem   Prinzip   der   Leistung   verbindet   und   eine   aus   der   Welt   der   Arbeit  herausführende Befriedigung der in ihr gestauten Antriebe zur Überbietung des anderen, zur  Bestätigung der eigenen Person und der eigenen Gruppe gewährt. (FKT: 57)

An diesem Zitat kann man die zwei zentralen Argumente der Ausgleichsthese ablesen, die nach  Plessner den hohen Stellenwert des Sports erklären kann. Erstens findet der Mensch im Sport eine  ideale Form des Erfüllens seiner „elementare Wünsche“ , die von der Arbeitsweise in der modernen 

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Gesellschaft   widersprüchlicherweise   gleichzeitig   stimuliert   und   unterdrückt   werden.   Zweitens  knüpft der Sport an das Leistungsprinzip unmittelbar an, das in der Gesellschaft eine kulturell  gesehen hegemoniale Stellung besetzt. Nun soll zuerst näher darauf eingegangen werden, inwiefern  der Sport in der Lage ist, auf die Bedürfnisse des modernen Menschen zu antworten, die sich aus  den bereits dargelegten neuen Anforderungen an seiner Lebensweise ergeben. 

Sport als Ausgleichsreaktion 

In Abkehr zur Entkörperlichungstendenz der modernen Arbeitsgesellschaft bietet der Sport erstens  die Möglichkeit, den Körper zwecks der Erholung und Entspannung zu bewegen, ihn „künstlich  wiederzupflegen“ (Max Scheler)29. Die Popularität des Sports erklärt sich also damit, dass dieser  das   „gestörte   Körpergefühl“   (FKT:   53)   ausgleicht.   Dadurch   erfährt   der   Körper   eine   positive  Aufwertung, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar wird ­ was  man   heutzutage   in   der   Mode   zum   Beispiel   gut   beobachten   kann:   Die   Prävalenz   sportlicher  Kleidungsstile erhebt den Körper zum Rang eines „symbolischen Kapitals“ (Pierre Bourdieu), das  es zu pflegen gilt, um ihn zu verwerten.30 Die Deutung des Sports als körperlicher Ausgleich stellt  also   ein   kulturell   wirksames   Argument   für   seine   Popularität   dar,   weil   sie   den   Sport   als   eine  Betätigung zeigt, die mit positiven Werten (Gesundheit, Jugend, Schönheit, Dynamismus...) besetzt  und damit auch als ein soziales Leitbild begründet ist. Daran orientieren sich die Menschen, um  ihren körperlichen Bedürfnissen gerecht zu werden ­ was sie nicht lediglich in der unmittelbaren  Sportpraxis sondern auch in indirekten Formen der Sportbegeisterung tun, die vom passiven, mehr  oder weniger leidenschaftlichen Zuschauen über die Mitgliedschaft eines Fansclubs, bis zum Tragen  von sportarten­ bzw. sportlerbezogenen Kleidungen (man denke an Basketball­ oder Skatermode  oder noch an Trikots von Fußballmannschaften) reichen. 

Im   Kontext   der   modernen   Gesellschaft   sieht   sich   der   Mensch   in   einer   von   Anonymisierung  gekennzeichneten Sozialstruktur gerückt. Diesbezüglich stellt der Sport zweitens ein Feld dar, wo 

29 Hierzu: „[...] ich zitiere ein Wort von Max Scheler: 'da er ­ der Sport ­ Resublimierung (das heißt Zurückerstattung  eines Maßes der dem Denken und der Arbeit vorher übermäßig zugeleiteten Triebenergien an den Leib und die  ''Körperkultur'' in künstlich geregelter Form) ja ausdrücklich will', ist 'er nicht reiner schöner Ausdruck und  Höherformung des wohlgeborenen Leibes (wie das griechische Gymnasion), sondern Re­flektion und künstliche  Wiederpflege eines Jahrhunderte lang schwer vernachlässigten Eigenwertes des leiblichen Daseins'.“ (FKT: 50 ­  unsere Hervorhebung)

30 Hierzu behauptet Volker Caysa: „Denn der Körper ist eines der wichtigsten Statussymbole geworden, ein Erbgut, ein  symbolisches Kapital, mit dem entsprechend umgegangen, das zweckentsprechend bewirtschaftet und verwaltet  werden muss, wenn es Gewinn bringen soll.“ (Caysa, Sport ist Mord, ibid., S. 197.)

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der   Mensch   der   Anonymisierung   der   großen   Masse   wiederstehen   kann:   Indem   er   sich   in   der  sportlichen Eigenleistung auszeichnet, kann er sich dadurch als Einzelperson in der Öffentlichkeit  sichtbar machen. Laut Plessner bietet der Sport eine einzigartige (weil gesellschaftlich mangelnde) 

„Chance der Publikation“ (FKT: 59), die dem Verlangen des Menschen nach Anerkennung bzw. 

Bewunderung, also seinem Ausdrucksbedürfnis, gerecht werden kann. Weil der Sport die Prinzipien  der Leistung, der Nichtarbeit und der Körperlichkeit in sich verbindet, kann der Mensch durch ihn  seinem Wunsch nachgehen, durch die selbstauferlegte, körperliche Leistung seine Person sichtbar zu  machen und diese hierbei gesellschaftlich gelten zu lassen. Der Sport verleiht dem Menschen eine  öffentliche Existenz dadurch, dass sich der Einzelne durch ihn in einem sozialen Zusammenhang  (Mannschaft, Club, Sportzentrum, ...) integrieren und daher eine soziale Anerkennung holen kann. 

Drittens wendet der Mensch den Sport an, um sich ­ so Plessner ­ gegen die Intellektualisierung der  hochspezialisierten Gesellschaft zu wehren. Im Sport findet er einen Ausweg aus dem Druck, zu  den Besten, den Spezialisten bzw. den Kennern zu zählen. Dieser Druck zum Spitzkönnertum, der  zugleich als komplementäre Reaktion zur Anonymisierung betrachtet werden kann, soll im Sport  insofern   nicht   vorhanden   sein,   als   er   sich,   historisch   betrachtet,   durch   einen   grundlegenden  Amateurcharakter auszeichnet. Im Sport sind die Menschen prinzipiell gleich, dies ist unabhängig  davon,   ob   sie   gute   oder   schlechte   Leistungen   erbringen.   Diese   fundamentale   Toleranz   für  Qualitätsvariationen in der Leistungserbringung ist dem Funktionalismus und Formalismus, welche  für die Bewertung von Arbeitsleistungen zentral sind, diametral entgegengesetzt. Weil der Mensch  im Beruf und Alltag bestimmten Kriterien erfüllen muss, um aus der Masse hervorzuragen, sieht er  im Sport eine gute Alternative, seinem Anerkennungsbedürfnis nachzugehen: Im Sport muss er  weniger ein Spezialist der erbrachten Leistungen als ein Mitspieler in der Leistungshervorbringung  sein. Anders formuliert muss der Mensch im Sport keine Spitzkönnertum (idealerweise) aufweisen,  sondern Teilnahmebereitschaft und Engagement. 

Schließlich ist dieser unspezialisierte, dafür aber offene und demokratische Charakter des Sports für  seine Popularität insofern wichtig, als die Gesellschaft die Prinzipien der Chancengleichheit und des  freien Wettbewerbs nur verzerrt, wenn nicht sogar gar nicht mehr vertritt. Im Sport hingegen sollen  diese gesellschaftlich versagten Ideale (mindestens ansatzweise) noch herrschen. Genau deswegen  kann   der   Mensch   seinem   Verlangen   nach   sozialer   Sichtbarkeit   und   Anerkennung,   kurz:   dem  Ausdrucksbedürfnis, im Sport gut nachgehen, weil seine Chancen der Publikation durch dessen 

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