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Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht

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Academic year: 2022

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1. Die Formulierung der Erklärung der Menschenrechte vor 60 Jahren war und ist eine Antwort der Menschheit auf eine der größten Katastrophen ihrer Ge- schichte. 1948 waren die Folgen des zweiten Weltkriegs noch sichtbar, das kol- lektive Leiden prägte noch die Stimmung in vielen Ländern. Das Gefühl des Versagens der Menschheit führte zu einer kraftvollen Betonung der Würde des Menschen und der Notwendigkeit, diese zu schützen.

2. 60 Jahre nach der Proklamierung der Allgemeinen Erklärung der Menschen- rechte hat die Weltgemeinschaft viele bedeutsame Schritte vollbracht. Es gibt immer noch Kriege, kulturell und/oder religiös begründete Traditionen und autokratische Machtsysteme, welche die Würde des Menschen verletzen und seine Entfaltung verhindern. Aber das Bewusstsein um die Notwendigkeit des Schutzes des Menschen und der Justitiabilität der Menschenrechte sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene sind zumindest theoretisch größer geworden.

3. Es ist nicht überflüssig zu betonen, dass es Afrika nur im Plural gibt. Trotz dieser Differenzierung ist der Lebensbegriff für viele afrikanische Kulturkreise zentral. Leben steht im Zentrum der Gesellschaftsordnung, sein Schutz und seine Förderung ist das zentrale Kriterium des Handelns der Menschen. Leben ist sowohl in seiner kulturell-politischen, sozialen als auch kosmischen Dimen- sion zu begreifen.

4. Malu Nyimi, ein kongolesischer Theologe, bezeichnet die afrikanische Gegen- wartsgeschichte als thanatologisch. »Sie ist nicht nur Ausrottung des Menschen, sondern Abwesenheit Gottes (...) Bei aller politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Unterschiedlichkeit seiner Parameter ist der (aktuelle) Kontext doch eins: eine Geschichte der Missachtung der Würde der menschlichen Person, der Pervertierung der politischen Geschichte ihrer Gemeinschaft und demzufolge der Zerstörung der psychologischen Ressourcen (...)«.

5. »Das Leben, das es zu fördern gilt, wird als das kostbarste Geschenk erfah- ren, das Gott den Menschen hat zuteil werden lassen«, schreibt Bénézet Bujo.

Dies suggeriert eine schöpfungstheologische Begründung für den Respekt des Menschenlebens. Aber diese Begründung, die oft das Motiv der Ebenbildlich- keit in den Vordergrund stellt, ist nicht zwingend. Auch ohne religiöse Bezüge ist das Leben wert und verdient es, verteidigt zu werden. Der religiöse Bezug liefert eine zusätzliche Motivation für die Verteidigung des Lebens in seiner Multidimensionalität.

6. Die Kirchen taten sich schwer, sich zum Menschenrechtsansatz zu beken- nen. Dies hatte mit der Ungleichzeitigkeit der Kirchen zu tun, nicht mit der In- kompatibilität des Menschenrechtsansatzes mit dem christlichen Glauben.

Das christliche Gebot der Nächstenliebe ist sogar radikaler als der Menschen- rechtsansatz.

7. Aus dem traditionellen afrikanischen Lebensverständnis ergibt sich das Ge- bot, alles zu vermeiden, was Lebensvitalität und Lebenswachstum zerstört

Die Theologie der Menschenrechte

aus afrikanischer Sicht 1

Editorial 2

Menschenrechte und Armutsbekämp-

fung im Südlichen Afrika 3

Souveränität des Marktes und neue globale Apartheid aus der Perspektive

Wolfram Kistners 4

Menschenrechte und Unternehmen:

Rückkehr der /zur Politik? 6

Das Recht auf soziale Sicherheit –

ein vergessenes Menschenrecht? 8 Privatisierung und Aneignung in Krisenzeiten 11

25 Jahre Werkstatt Ökonomie 12

Aus der laufenden Arbeit

7. Asia Europe People’s Forum in Beijing 15

Aktion fair spielt 16

Deutsches NRO-Forum Kinderarbeit 17

Jahrbuch Gerechtigkeit 17

Website 18

Mitgliederversammlung 2008 18

Neu im Team 19

Werkstatt-Projekte 20

Impressum 20

Die Theologie der Menschenrechte aus afrikanischer Sicht

Thesen von Boniface Mabanza

Inhaltsverzeichnis

Boniface Mabanza

FÜR MITGLIEDER & FREUNDE · NUMMER 50 · DEZEMBER 2008

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oder vermindert. Ein durch Leiden gezeichneter Mensch verliert seine Lebenskraft und kann auch zur Stär- kung der Lebenskraft der Gemein- schaft nicht beitragen. Lebenskraft hat mit dem universellen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben zu tun. Dieses misst sich an der Möglich- keit von Menschen, zumindest ihre Grundbedürfnisse auf gesicherter Ba- sis zu befriedigen.

8. Vor dem Hintergrund eines Lebens ohne Kampf analysierte die kamer- unische Bischofskonferenz die struk- turellen Ursachen der Menschen- rechtsverletzungen: »Ursache und Ursprung des Übels, unter dem wir leiden, finden sich in erster Linie in den sündigen Strukturen, die die Welt von heute beherrschen (...). Es scheint (...), dass diese sündigen Strukturen aufs engste mit der im internationalen Leben waltenden po- litischen, wirtschaftlichen und kultu- rellen Ordnung zusammenhängen.

Die Krise ist zuallererst ein Phäno- men, das durch die Weltwirtschafts- ordnung hervorgerufen ist, die ihrer- seits allein auf Profit, Egoismus, Aus- beutung der Armen, Schwachen und Unterdrückten durch die Reichen und Mächtigen dieser Welt basiert.«

9. Die Erwähnung struktureller und auf globale Zusammenhänge zurück- zuführende Menschenrechtsverlet- zungen darf nicht den Eindruck er- wecken, dass alle Menschenrechts- probleme auf die Weltwirtschaftsord- nung zurückzuführen sind. Es gibt ohne Zweifel kontextspezifische Menschenrechtsverletzungen, die die jeweiligen Gesellschaften vor erhebli- che Herausforderungen stellen. Es erfordert Selbstkritik, um einen kon- struktiven Umgang mit positiven Im- pulsen von außen und einen kreati- ven und innovativen Umgang mit den eigenen aus heutiger Sicht men- schenrechtsverletzenden kulturellen Traditionen zu erzwingen. Aus afrika- nisch-theologischer Sicht gibt es kei- nen Grund für die Rechtfertigung der Unterdrückung von Menschen.

10. Ohne die traditionsspezifischen Ursachen von Menschenrechtsverlet- zungen vernachlässigen zu wollen, empfiehlt es sich aus theologischer Sicht, die schon erwähnte neoliberale Globalisierung aufgrund ihrer Struk- turen der Gewalt und des Todes in den Blick zu nehmen.

11. Zur Bewahrung und Förderung der Würde der Menschen bedarf es einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ordnung, die dieser Würde zu ihrem Recht verhilft und sie schützt. Menschenrechts- schutz bedarf strukturpolitischer Maßnahmen. Nur menschenrechts- und entwicklungsfreundliche globale Rahmenbedingungen, die eine konse- quente Transformationspolitik auf den Weg bringen, bieten eine Chance, Armut, Hunger und Gewalt erfolg- reich zu bekämpfen.

12. Nur demokratische und starke multilaterale Institutionen, die tat- sächlich in der Lage sind, auf globale Herausforderungen wie den Klima- wandel, explodierende Rohstoffprei- se und die Welternährungskrise, die das Leben bedrohen, menschen- und umweltgerecht zu reagieren, können einen positiven Beitrag zum Schutz der Menschenrechte leisten.

13. Menschenrechtsaktivisten und Umweltschützer in Afrika und überall in der Welt sehnen sich nach einer starken internationalen Organisation, die nach dem Vorbild der Welt - handels organisation (WTO), ausge- stattet mit einem Schiedsgericht und mit Sanktionsmacht, ihre Belange durchzusetzen vermag. Das WTO-Re- gime verfügt über diese Instrumente und bringt sie immer zur Geltung, so- bald ein Verstoß gegen die Wettbe- werbsregel vorliegt. Dabei wird in Kauf genommen, demokratisch abge- stimmte und auf soziale Gestaltung gerichtete Entscheidungen außer Kraft zu setzen. Dass die WTO selbst noch nicht bereit ist, ökologische und soziale Fragen konsequent auf die Agenda zu setzten und stattdessen das überholte Leitbild eines unge- bremsten Freihandels weiter fördert, sagt viel über den Stellenwert der Menschenrechte aus.

14. Wirtschaftliche, soziale und kultu- relle Menschenrechte werden oft für die Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen missach- tet oder missbraucht. Politik und Wirtschaft sind kein Selbstzweck. Sie haben die Aufgabe, Menschen zu die- nen. Theologie der Menschenrechte aus der Sicht der Leidenden hat die Pflicht, jeden Versuch der Instrumen- talisierung des Menschenrechtsdis- kurses zu denunzieren. Menschen- rechte dürfen nicht zu einer Legiti- mationskategorie verkommen.

Editorial

Zwei Jubiläen im Dezember 2008 prägen diesen Rundbrief:

Am 1. Dezember wurde die Werkstatt Ökonomie 25 Jahre alt. Und neun Tage später, am 10. Dezember jährte sich die Verabschiedung der Allgemei- nen Erklärung der Menschen- rechte durch die Vollversamm- lung der Vereinten Nationen zum 60. Mal.

Das erste Jubiläum war Anlass, einige – zum Teil langjährige – Wegbegleiter und Koopara- tionspartner um eine Rück- schau und Würdigung dieses gemeinsamen Engagements zu bitten. Allen, die dieser Einla- dung gefolgt sind, sei herzlich gedankt.

Das zweite Jubiläum war An- lass, die Menschenrechte – ins- besondere die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rech- te, die den zentralen Bezugs- punkt der Arbeit der Werkstatt Ökonomie darstellen – von un- seren jeweiligen Arbeitsschwer- punkten her zu thematisieren.

Im Namen des Vorstands und des Teams möchte ich mich auch an dieser Stelle für das Vertrauen und die Unterstüt- zung bedanken, mit denen Sie uns als Mitglied des Trägerver- eins oder als Kooperationspart- ner über die Jahre beschenkt haben.

Ich wünsche Ihnen ein gesegne- tes Weihnachtsfest und ein gu- tes, gesundes Jahr 2009.

Uwe Kleinert

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Menschenrechte und Armutsbekämpfung im Südlichen Afrika

von Simone Knapp

15. Die Theologie der Menschenrech- te aus der Sicht des Südens denun- ziert sowohl die Stilisierung der Men- schenrechte zu einem Identitäts- merkmal des Westens, das ihn in sei- nem Wesen von den Anderen unter- scheidet und die Überlegenheit sei- ner geistigen Entwicklung untermau- ert, als auch die reaktive Selbstdefini- tion derer, die den kulturellen Kampf schüren, die eigenen kulturellen Tra-

Konformität mit den WSK-Rechten hin zu überprüfen. Die Justitiabilität der WSK-Rechte wird somit an kon- kreten Situationen erprobt. Die Justiz muss sich also immer wieder der Ein- gangsfrage stellen: Was macht den Menschen zum Menschen? Was braucht er zum Leben, oder besser:

für ein »gutes« Leben?

David Bilchitz identifiziert zwei Grundbedingungen für ein lebenswer- tes Leben: die Möglichkeit, positive Erfahrungen zu machen, und die Mög- lichkeit, seiner Bestimmung nachzu- kommen. Dabei gebe es zwar Überein- stimmungen, aber eben auch kulturel- le Unterschiede in der Definition, was ein gutes Leben sei. Umso wichtiger sei es in einem kulturell sehr hetero- genen Land wie Südafrika, möglichst viele Interpretationsebenen offen zu halten.

Grundsicherung für manche Die Verfassung schreibt eine progres- sive Realisierung der WSK-Rechte vor.

Hier gibt es zwei unterschiedliche Interpretationen, was »progressiv« in Bezug auf die Umsetzung bedeuten kann. Erstens: Die einzelnen Rechte können je nach Ressourcenlage suk- zessive – eines nach dem anderen – umgesetzt werden. Dem gegenüber steht zweitens die Interpretation, nach der – unabhängig von den zur

Verfügung stehenden Ressourcen2– jeder zumindest genügend zum Über- leben erhalten muss (Minimalstan- dard); danach können die Lebensbe- dingungen Schritt für Schritt auf ein angemessenes Niveau angehoben wer- den.

Die Umsetzung des Minimalstandards würde allerdings voraussetzen, dass die Politik eine Armutsgrenze defi- niert. Wer unterhalb dieser Grenze liegt, dessen Überleben müsste als massiv gefährdet gelten und hätte An- spruch auf staatliche Hilfe. Südafrika hat bis heute keine solche Armuts- grenze definiert. Die Konsequenz da- von ist, dass das relativ aufgefächerte soziale Sicherungssystem sich nicht an der Erfüllung des Minimalstan- dards orientiert, eklektisch wirkt und daher Lücken aufweist. Die an Bedin- gungen geknüpften Versicherungen oder staatlichen Zuwendungen errei- chen nicht alle Bedürftigen.

So wird das Kindergeld nur für Kinder bis 14 Jahre gezahlt, eine Unterstüt- zung für Arbeitslose gibt es nicht. Die Zuwendungen sind an Anträge ge- knüpft, die oft gerade von den Bedürf- tigsten nicht gestellt werden können, da ihnen Unterlagen– etwa ihre Ge-

»… [Ich] komme immer wieder auf die Frage: Was macht uns zum Menschen? [Ich] habe keine endgültige Erklärung.«1(Wolfram Kistner)

ditionen missbrauchen, um die Ver- wirklichung der Menschenrechte zu verhindern.

16. Die Aufmerksamkeit der Theologie der Menschenrechte aus der Sicht des Südens gilt nicht der Praxis der Men- schenrechte in Europa oder Nordame- rika, sondern ihrer Relevanz zur Ent- faltung des Menschen als Menschen.

Menschenrechte sind dafür da, Le-

bensvitalität und Lebenswachstum zu schützen und zu fördern. Theologie ist dem Gerechtigkeitsprinzip verpflich- tet. Sie erkennt die Würde der Men- schen an und setzt sich für ihre Vollen- dung ein. Dort, wo diese Würde ver- letzt wird, tritt sie für ihre Wiederher- stellung ein.

Südafrika hat seit 1996 eine der pro- gressivsten Verfassungen der Welt, in deren zweiten Kapitel, dem Bill of Rights, auch die wirtschaftlichen, sozi- alen und kulturellen Menschenrechte (WSK-Rechte) ihren Platz fanden.

Gleichzeitig ist Südafrika eines der Länder mit dem höchsten Gini-Koeffi- zienten (zwischen 0,55 und 0,59), ein Land also, in dem die Kluft zwischen Arm und Reich extrem groß ist.

Die Frage nach der Menschenwürde, nach dem Wert des Menschen, drängt sich angesichts der Situation in Län- dern wie Südafrika auf. Wie steht es mit der Umsetzung des Rechts auf ausreichend Nahrung und Wasser, Ge- sundheitsversorgung oder freie Wohn- ortwahl?

In der südafrikanischen Verfassung sind die Werte Gleichheit, Freiheit, Recht auf Leben und Menschenwürde verankert; die Formulierungen sind allerdings sehr vage gehalten und be- dürfen der Interpretation. Der Begriff der Menschenwürde (human dignity) zum Beispiel wird nicht weiter ausge- führt. Aber die Verfassung legt auch fest, dass jeder ein Recht auf Zugang zu angemessener Unterkunft, genü- gend Nahrungsmitteln sowie sozialer Sicherheit hat.

Die Justiz – besonders das Verfas- sungsgericht – hat die Aufgabe, Geset- ze und Programme der Regierung auf

Simone Knapp

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burtsurkunde – fehlen, sie keinen Zu- gang zu den relevanten Informationen haben oder durch Korruption in den Ämtern an einer Antragstellung gehin- dert werden. Oft fehlt schlicht das Geld, um bei dem entsprechenden Amt vorstellig zu werden.

Noch dramatischer ist die Situation, wenn bei Veränderungen Gelder weg- brechen, bevor andere Maßnahmen greifen. So wird zwar HIV/AIDS-Kran- ken eine Invalidenrente gezahlt, die ihnen die Einnahme von antiretrovira- len Medikamenten ermöglicht. Geht es ihnen aber wegen der Medikation wie- der besser, fällt der Anspruch auf die Rente weg.

Studien zeigen zwar, dass diejenigen, die von sozialen Sicherungssystemen profitieren, sich materiell verbessern, dass sie sich aber aufgrund der relati- ven finanziellen Unsicherheit keine nachhaltige wirtschaftliche Grundlage schaffen können.

Grundeinkommen für alle

Der Vorteil eines universellen oder be- dingungslosen Grundeinkommens hingegen ist die finanzielle Sicherheit auch in Zeiten von sich verändernden Lebenssituationen, die Ausschaltung der Korruption sowie die Wahrung des Gleichheitsanspruchs.

In Namibia wird derzeit das Basic In- come Grant (BIG) in einem Pilotpro- jekt3getestet: Die im Pilotdorf Otjive- ro registrierten Menschen zwischen 0

und 59 Jahren – danach setzt die staatliche Rente ein – erhalten pro Monat 100 namibische Dollar, was et- wa acht Euro entspricht. Die erste Studie nach einer halbjährlichen Lauf- zeit belegt, dass die Menschen in Otji- vero nicht nur besser ernährt sind, ih- re Kinder in die Schule schicken und sich früher medizinisch behandeln las- sen, sondern dass sie sich darüber hin- aus selbständig Einkommen schaffen und auf ausbeuterische Arbeitsbedin- gungen nicht mehr angewiesen sind.

Hier zeigte sich bereits vor der ersten Auszahlung, dass die Aussicht auf eine soziale Grundsicherung den bisher marginalisierten Menschen Hoffnung und eine Zukunftsperspektive gab.

Das Recht auf die Auszahlung jenseits von entwürdigenden Antragsverfah- ren, die Gleichbehandlung aller gab ih- nen ihre Menschenwürde zurück und erfüllt so die Bedingungen für die Wahrnehmung des Rechts auf ein menschenwürdiges und selbstbe- stimmtes Leben.

Das BIG allein ist sicher kein Allheil- mittel gegen Armut, es stellt jedoch ei- ne Basis dar, auf der andere soziale Si- cherungssysteme aufbauen können.

Es entbindet die Regierung also nicht davon, weitere flankierende Maßnah- men zur Armutsbekämpfung bereitzu- stellen, um die progressive Realisie- rung der WSK-Rechte zu gewährleis- ten.

Was viele wissenschaftliche Studien aufzeigen, wird auch in Otjivero deut-

lich: Die Menschen sind mehr als be- reit, für ein besseres Leben zu arbei- ten, wenn sie denn die Möglichkeit da- zu haben und ein entsprechender Ar- beitsplatz zur Verfügung steht.

Für Wolfram Kistner hatten Men- schenrechte immer mit Gerechtigkeit im biblischen Sinne zu tun. Der hebrä- ische Ausdruck für Gerechtigkeit kann auch mit »gemeinschaftsgemäßes Ver- halten« übersetzt werden. Und auch das wurde bereits im Vorfeld des Pilot- projektes deutlich: Die Aussicht auf etwas mehr wirtschaftliche Gerechtig- keit veranlasste die zusammen gewür- felten Menschen in Otjivero dazu, sich zu einer echten strukturierten Ge- meinschaft zu entwickeln – auch um Namibia und der ganzen Welt zu zei- gen, dass »Armut nicht gleichbedeu- tend mit Unfähigkeit und Dummheit«4 ist.

1. Wolfram Kistner in einem Interview mit Gisela Al- brecht, CD zu Wolfram Kistner, Gerechtigkeit und Versöhnung, 2008

2. Laut Allgemeinem Kommentar des UN-Ausschus- ses für WSK-Rechte

3. www.bignam.org

4. Bischof Zephania Kameeta in einem Gespräch mit Abgeordneten in Berlin (1.12.2008)

Literatur:

Bilchitz, David:Poverty and Fundamental Rights. The Justification and Enforcement of Socio-Economic Rights. Oxford, 2007

Kallmann, Karen:Towards a BIG paradigm shift: a rights based approach to poverty alleviation. Cape Town, 2006

Kistner, Wolfram:Gerechtigkeit und Versöhnung.

Theologie und Kirche im Transformationsprozess des neuen Südafrika. Hannover, 2008

Souveränität des Marktes und neue globale Apartheid aus der Perspektive Wolfram Kistners

Globalisierung und Menschenrechte

von Hanns Lessing

Am 13. November wurde in Berlin im Rahmen einer unter anderem von der KASA durchgeführten Ver- anstaltung das Buch »Wolfram Kist- ner. Gerechtigkeit und Versöhnung.

Theologie und Kirche im Transfor- mationsprozess des neuen Südafri- ka. Sammelband mit Beiträgen aus den Jahren 1985 bis 2006« (LVH, Hannover 2008) vorgestellt. Der fol- gende Text ist ein Auszug aus dem dort gehaltenen Vortrag von Dr.

Hanns Lessing. Er ist Pfarrer der

Evang. Kirche von Westfalen, Mit- herausgeber des Sammelbandes und Mitglied im Geschäftsführen- den Ausschuss der KASA.

Die aktuelle Finanzkrise hat in Deutschland eine neue wirtschafts- ethische Debatte provoziert. Im Juli hat die EKD eine Denkschrift zum Thema »Unternehmerisches Han- deln in evangelischer Perspektive«

veröffentlicht, in der sie die Wirt- schaft in liberaler Tradition als das

Ergebnis von Entscheidungen be- greift, die freie Unternehmer in eige- ner Verantwortung treffen. Die Frage, ob der gegenwärtige Zusammen- bruch unter Umständen das Produkt einer Systemkrise des neoliberalen Kapitalismus darstellt, kommt aus dieser Perspektive überhaupt nicht in den Blick.

Wolfram Kistner †

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Die Gegenreaktion fiel entsprechend scharf aus. Die von Ulrich Duchrow und Franz Segbers herausgegebene Streitschrift Frieden mit dem Kapi- tal? Wider die Anpassung der evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft verortet die Denk- schrift in der deutschen Tradition der Allianz von Thron und Altar und for- dert in Aufnahme von Bonhoeffers berühmtem Diktum, dass die Kirche dem Rad in die Speichen fallen muss.

Die Autoren dieses Buches sehen die Lösung der gegenwärtigen Probleme in der Formation einer starken Gegenmacht, die wenigstens die

»gröbsten Fehlentwicklungen, Schieflagen und verheerenden so- zialen und ökologischen Verwer- fungen«einzudämmen sucht.

Wolfram Kistner hat sich schon vor der Befreiung Südafrikas immer wie- der mit wirtschaftlichen Fragen be- schäftigt. Wie die historischen Beiträ- ge in dem Sammelband belegen, sah er die Wurzeln des Systems der Apart heid in den Strukturen des glo- balen Kapitalismus begründet, der Menschen nicht unter dem Gesichts- punkt ihrer von Gott geschaffenen Würde, sondern allein aus der Per- spektive des Verwertungsinteresses beurteilt [79]. Auch die neue Demo- kratie in Südafrika sah Kistner von Anfang an durch wirtschaftliche Machtstrukturen bedroht. Scharf kri- tisiert er in diesem Zusammenhang die Entstehung einer »neuen globa- len Apartheid«[210].

Es ist deutlich, dass Kistner aus die- ser Perspektive die Unternehmens- denkschrift der EKD genau so kriti- siert hätte, wie er auch schon die Wirtschaftsdenkschrift von 1992 in Frage gestellt hatte [260]. Gleichzei- tig präsentiert er eine ganz eigene Form der Globalisierungskritik. Die Kritik des neoliberalen Kapitalismus artikuliert sich bei ihm nicht primär in der Form einer Ablehnung des Sys- tems oder in der Forderung nach ei- nem Regelwerk für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, sondern zielt auf eine neue Betonung der Menschenrechte. Wichtig ist ihm da- bei, dass menschliches Leben niemals vollständig in den Verfügungsbereich politischer oder wirtschaftlicher Macht geraten darf und gerade in die- ser Unverfügbarkeit geschützt wer- den muss. Die Debatte um die Not- wendigkeit einer Grundsicherung

und die Versuche, in den aktuellen Diskussionen um Folter, Flugzeugab- schüsse und medizinische Ethik den Begriff der Menschenwürde aufzu- weichen, zeigen, wie aktuell Kistners Gedanken sind.

Klassische Menschenrechtsformulie- rungen in Verfassungen und interna- tionalen Verträgen werden, wie Kist- ner in Anschluss an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben argu- mentiert, dadurch geschwächt, dass sich die wirklich Mächtigen, die diese Kataloge beschließen, selbst nicht an sie halten und von niemandem zu ei- ner Einhaltung gezwungen werden können. Gerade in der südlichen He- misphäre wird deutlich, dass sich we- der die Regierungen noch die trans- kontinentalen Konzerne an die Rechtsordnungen halten, die sie selbst propagieren. Kistner macht sich mit Blick auf die Macht keine Illusionen:

Wer wirklich souverän ist, hält sich nicht an Gesetze, sondern versucht die, die unter seiner Macht stehen, zu beherrschen und auszubeuten.

Es reicht nach Kistners Überzeugung deshalb nicht aus, die Menschenrechte in Verfassungstexte einzutragen. Eine wirklich starke Begründung der Men- schenrechte muss nach seiner Ansicht das Ergebnis eines neuen Exodus sein, der das menschliche Leben aus der Verfügung durch politische und wirt- schaftliche Macht befreit.

In einer Bibelarbeit über die Gabe der Zehn Gebote am Sinai weist Kistner darauf hin, dass die Gerechtigkeit Gottes von einem Ort in der Wüste ausgeht. Gottes Gerechtigkeit kann nie eine Gerechtigkeit der Macht sein, die den Menschen nur als Unter- tan oder als Ware kennt. In der Un- wirtlichkeit der Wüste erledigt sich jeder Machtanspruch von selbst und es wird deutlich, dass sich Gottes Ge- rechtigkeit in der Befreiung von jeder Form der Knechtschaft ausdrückt.

In einem Text zu den Bedingungen für eine tiefgreifende Entkolonialisie- rung des südlichen Afrika entwickelt Kistner aus diesen Gedanken eine ganze Gesellschaftskonzeption: Un- abhängig davon, ob Gott in einer Ver- fassung erwähnt wird, zeichnen sich wirklich demokratische Gesellschaf- ten dadurch aus, dass der Thron der Herrschaft sich an einem Ort befin- det, der außerhalb der Verfügung des Menschen steht [274]. Nur dann kön-

nen Gerechtigkeit und Menschlich- keit von dem Missbrauch durch die Macht geschützt werden. Aufgabe der Kirchen ist es unter diesen Um- ständen, immer wieder darauf hinzu- wirken, dass menschliche Macht nicht mit göttlicher Macht verwech- selt wird und die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens geachtet und geschützt wird.

In seiner Auslegung der Sinaige- schichte fasst Kistner dieses Ver- ständnis der Menschenrechte in die folgenden Worte:

»Als Herrscher befreit der ,Souverän‘

sich selbst von den Gesetzen oder er wendet sie für sich selbst nur insofern an, als sie seinen Zwecken dienen.

Innerhalb einer auf solchem Ver- ständnis von Herrschaft beruhenden politischen und wirtschaftlichen Ord- nung ist das Leben der Menschen nicht etwas, was unter allen Umstän- den geachtet werden muss. Menschli- ches Leben kann vom Herrschenden gebannt oder zerstört werden. […]

Wie dem Konzept des Nationalstaates liegt auch dem Neo-Liberalismus ein besonderes Verständnis von Souverä- nität zugrunde, die sich hier nicht auf den Nationalstaat, sondern auf den Markt bezieht. Keine äußere Macht hat das Recht, sich in die inneren An- gelegenheiten des Marktes einzumi- schen. […]

Zu fragen ist: Wie verhält sich der christliche Glaube zum Prinzip der Souveränität und zu der Tatsache, dass in vielen Ländern Menschen ge- bannt und im Stich gelassen werden?

Als Gott die Not seines/ihres Volkes in Ägypten sah und die Menschen aus der Sklaverei Pharaos befreite, […]

führte er sie nicht unmittelbar in das Gelobte Land. Er führte sie in die Wüste.

Der Berg Sinai liegt in einem Nie- mandsland, das keinem Herrscher mit absoluter Macht untersteht. Die- ser Ort hat symbolische Bedeutung.

Israel erhält seine Anweisungen für Gerechtigkeit nicht von einem welt- lichen Regenten, sondern von Gott, dem Schöpfer der Erde und dem Er- halter allen Lebens. Allein dieser Gott ist der Höchste.

Gott, der die Israeliten befreit hat, hörte die Schreie der Unterdrückten, die im Dienste des Pharao, der abso- lute Herrschaft über ihr Leben bean-

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Rückkehr der Politik – Rückkehr zur Politik?

Menschenrechte und Unternehmen

von Uwe Kleinert

Unternehmen dort, wo durch ihre Ge- schäftstätigkeit Menschenrechte ver- letzt werden, in ihre Schranken zu weisen, zumindest Ansätze dazu zu er- proben, war von Beginn an ein zentra- les Element der Arbeit der Werkstatt Ökonomie. Am Anfang stand die Aus- einandersetzung mit deutschen Fir- men in Südafrika, ihren Geschäften mit dem Apartheidregime und ihrem Beitrag zu dessen Stabilisierung. Um das Recht der Arbeiterinnen und Ar- beiter, sich unabhängig zu organisie- ren und mit der Unternehmensseite Verhandlungen zu führen, ging es in Südafrika und Brasilien. Strategisch setzten (nicht nur) wir auf die Gegen- macht von Gewerkschaften, Kirchen und Basisbewegungen in Nord und Süd, mit der "die Multis" gebändigt und in ein internationales Regelwerk eingebunden werden sollten. Die Tä- tigkeit transnationaler Unternehmen wurde damals auf UN-Ebene kritisch begleitet, sollte tatsächlich weltweiten verbindlichen Normen unterworfen werden – bis die Diskussion darüber schließlich abgebrochen und die zu- ständige Abteilung geschlossen wur- de.

Mit dem angesichts der Globalisierung seit Anfang der 90er Jahre um sich greifenden Verzicht der Politik auf ih- ren bis dahin wenigstens proklamier- ten Primat gegenüber der Ökonomie, mit dem Siegeszug des neoliberalen Modells, begann die hohe Zeit der Cor- porate Social Responsibility (gesell- schaftliche Verantwortung von Unter- nehmen, CSR), die von der Wirt- schaftslobby als freiwillige Alternative zu staatlicher Regulierung massiv und erfolgreich in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht worden war.

Sei es die Einschätzung gewesen, dass

"die Politik" als Partner gänzlich verlo- ren sei, oder Anpassung an den neuen Mainstream von Privatisierung und Entstaatlichung: Jedenfalls gerieten bei den Nichtregierungsorganisatio- nen "marktliche Instrumente" in den Blick, um mit ihnen menschenrechtli- che Standards im Umfeld von Unter- nehmen durchzusetzen. Die Politik rückte aus dem Zentrum an den Rand des Adressatenkreises zivilgesell- schaftlicher Forderungen, die nun mehr an die Unternehmen selbst ge- richtet wurden. Am Markt sollten Unternehmen, welche die Menschen- rechte in ihrem Einflussbereich ach- ten, belohnt, diejenigen, die das nicht tun, bestraft werden. Der Markt wur- de als Plattform hoffähig, auf der die Bürgerinnen und Bürger – nun als (hoffentlich) kritische Verbraucherin- nen und Verbraucher – ihre politi- schen Überzeugungen artikulieren können.

Das Warenzeichen Rugmark für Teppi- che ohne ausbeuterische Kinderarbeit war – ab 1993 – der erste Versuch die- ser Art, an dem die Werkstatt Ökono- mie beteiligt war; die Aktion fair spielt, die – seit nunmehr zehn Jahren – men- schenwürdige Arbeitsbedingungen in der Spielzeugproduktion durchsetzen will und deshalb die Umsetzung eines Verhaltenskodexes des Weltverbandes der Spielzeugindustrie kritisch beglei- tet, ist ein aktuelles Projekt, das dieser Strategie folgt.

Die Bilanz ist freilich ernüchternd:

Rugmark wurde als Erfolg wahrge- nommen, solange die Kampagne ge- gen Kinderarbeit in der Teppichindus- trie die öffentliche Aufmerksamkeit

auf das Projekt lenkte. Seit es dem Markt alleine überlassen wurde, ist es ruhig geworden um das Warenzeichen und es muss sich mit einer kleinen Ni- sche im Fairen Handel bescheiden.

Und der Spielzeugkodex? Zunächst einmal brauchte der Weltverband schon fast zehn Jahre, um sein System zur Überprüfung von Arbeitsstan- dards in einem einzigen Land, China, zu etablieren. Dort sind nach weiteren fünf Jahren gerade einmal knapp 1.500 der schätzungsweise 10.000 Spielzeugfabriken von diesem System erfasst; zahlreiche westliche Spiel- zeughersteller weigern sich nach wie vor, sich dem Thema zu stellen. Und alle Beteiligten sind sich im Klaren darüber, dass durch die Fabrikkontrol- len bestenfalls die Arbeitssicherheit verbessert wird, in den anderen zen- tralen Problembereichen – Arbeits- zeit, Löhne und Gewerkschaftsrechte – aber keine nennenswerten Erfolge erzielt wurden.

Außerdem gibt es solcherlei Initiati- ven in, sagen wir: zwei Handvoll Pro- duktbereichen, und die decken fast ausnahmslos lediglich die in der Ex- portproduktion beschäftigten oder mit spruchte, versklavt waren. […] Ge-

rechtigkeit wird anhand dieser Richt- linien nicht aus Sicht der Mächtigen wahrgenommen, sondern aus der Perspektive der Verachteten. […] Die Wirtschaft hat nicht das letzte Wort über das Leben der Menschen und Tiere und über die Ressourcen.

[…] Am Sinai wird eine Geschichtsbe- wegung eingeleitet, die das Volk Got-

tes immer wieder dazu zwingt, sich von Strukturen und Praktiken zu tren- nen, die unterdrückerisch werden und zu Ungerechtigkeiten führen könnten.

Die Tora darf nie ein festgelegtes Ge- setz werden, das über den Willen Got- tes entscheidet, ohne die sich verän- dernden Lebensbedingungen und die Bedürfnisse der Menschen zu berück- sichtigen. Auf seiner Pilgerreise durch

die Geschichte muss das Volk Gottes immer wieder zu einem neuen Auszug bereit sein. […] Das Volk Gottes ge- hört zum Gott der Gerechtigkeit, der Unterdrückung nicht toleriert und der die Schreie der Unterdrückten und Entrechteten hört, wo immer sie auch sind.« [232-236]

Uwe Kleinert

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dieser verbundenen Arbeiterinnen und Arbeiter ab. Alle anderen sind al- lein mit marktlichen Instrumenten nicht zu erreichen.

Schließlich leistet der Ansatz einer weiteren schleichenden Entpolitisie- rung Vorschub: "Die Politik" zieht sich mehr und mehr auf die Rolle eines Mo- derators zurück (ein Beispiel dafür ist die neue CSR-Strategie der Bundesre- gierung), statt Position zu beziehen und den eigenen Gestaltungsspiel- raum zu nutzen. Allenfalls appelliert man an Unternehmen, sich verant- wortlich zu verhalten und auf die Ein- haltung der Menschenrechte in ihrem Einflussbereich zu achten (was ja nicht falsch ist, aber nicht ausreicht), und an die Verbraucherinnen und Ver- braucher, "Politik mit dem Einkaufs- korb" zu machen (was auch nicht falsch ist, aber eben nur bei wenigen Produkten, für die entsprechende In- formationen vorliegen, wirklich zu ma- chen ist). Nicht genug damit: Zuhauf wurden Nichtregierungsorganisatio- nen und Gewerkschaften im Rahmen so genannter Multi-Stakeholder-Pro- zesse in Dialoge an Runden Tischen (zwischen Unternehmen, Regierungs- vertretern und zivilgesellschaftlichen Gruppen) eingebunden und/oder als Ko-Manager für Unternehmensinitiati- ven vereinnahmt – was nicht nur Ka- pazitäten bindet, sondern sich auch in einer Annäherung der Perspektiven niederschlägt.

Nach 15 Jahren Erfahrung mit den

"marktlichen Instrumenten" lassen sich die folgenden grundsätzlichen Fragen stellen:

Sollte die Einhaltung der Menschen- rechte im Umfeld von Unternehmen tatsächlich allein davon abhängig ge- macht werden, …

– ob ein Unternehmen auf der Grundlage eines betriebswirt- schaftlichen Kosten-Nutzen- oder Risikokalküls zur Einhaltung bereit ist;

– ob ein Unternehmen angesichts der ökonomischen Rahmenbedingun- gen, denen es unterliegt, die Ein- haltung gewährleisten kann;

– ob die Verbraucherinnen und Ver- braucher dazu bereit sind, die Ein- haltung zur Grundlage ihrer Kauf- entscheidung zu machen;

– ob die Verbraucherinnen und Ver- braucher in der Lage sind, die für eine solche Kaufentscheidung nöti- gen Informationen zu beschaffen;

– ob zivilgesellschaftliche Organisa- tionen bereit und in der Lage sind, auf Dauer und umfassend die für solche Kaufentscheidungen nöti- gen Informationen bereit zu stel- len?

Es liegt nahe, diese Fragen mit Nein zu beantworten und eine Re-Politisie- rung einzuleiten, welche die Politik wieder ins Zentrum der Adressaten von Forderungen nach Gewährleis- tung der Menschenrechte im Umfeld von Unternehmen rückt und sie her- ausfordert, ihren verlorengegangenen bzw. aufgegebenen Primat gegenüber der Wirtschaft zurückzuerobern.

Was wir brauchen, ist ein international vereinbartes Rahmenwerk, das wirt- schaftliche Akteure verbindlich dazu verpflichtet, die Menschenrechte in ihrem Einflussbereich zu gewährleis- ten. Die Voraussetzungen dafür sind besser denn je in den letzten 20 Jah- ren: Die globalen Krisen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, schreien förmlich nach einer neuen Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung. Dass diese auf den Weg gebracht wird und die Menschenrechte darin den ihnen gebührenden Platz finden, ist eine Herausforderung an die Zivilgesell- schaft und sollte auf deren Agenda obenan gesetzt werden.

PS: Im Mai 2009 begehen wir einen weiteren 60. Jahrestag, den unseres Grundgesetzes – erneut eine Gelegen- heit, über unser Staats- und Politik- verständnis nachzudenken.

PPS: Politik und Unternehmen mit der Forderung nach Schutz der Men- schenrechte zu adressieren, sind kei- ne Alternativen, die sich gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Es wäre völlig falsch, die Unternehmen aus ih- rer Verantwortung zu entlassen. Nur sollten wir dabei Freiwilligkeit nicht mit Unverbindlichkeit gleichsetzen:

Unternehmen, die sich freiwillig zur Einhaltung von Standards verpflich- ten, sollten verbindlich dazu stehen.

Was das im Hinblick auf Inhalte, Kon- trollen, Beteiligung Dritter, Transpa- renz usw. bedeutet, das zu definieren könnte wiederum eine Aufgabe der Politik sein – und Bewährungsprobe einer wirklich neuen CSR-Strategie.

Verpflichtung für Politik und Unternehmen: die Achtung der Menschenrechte bei der Arbeit zu fördern und ihre Anerken- nung und Einhaltung zu gewährleisten (Foto: Uwe Kleinert)

Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Be- rufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.

2. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.

3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf ge- rechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der mensch- lichen Würde entsprechende Existenz si- chert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen.

4. Jeder hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

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I. Das Recht auf soziale Sicherheit als Menschenrecht

Weltweit gehen Globalisierungspro- zesse einher mit einer Verschärfung sozialer Unsicherheit: Das Recht auf soziale Sicherheit scheint kaum noch praktische Bedeutung zu haben.

Doch gerade deshalb ist daran zu er- innern, dass dieses Recht mehr ist als eine bloße sozialpolitische Zielvor- stellung ohne Rechtskraft, mit der Regierungen je nach politischer und wirtschaftlicher »Großwetterlage«

nach Belieben verfahren könnten.

Denn das Recht auf soziale Sicherheit ist auch im engeren rechtlichen Sinne ein Menschenrecht, das in einer Rei- he internationaler Instrumente niedergelegt und definiert ist.

So heißt es im Artikel 22 der Allge- meinen Erklärung der Menschen- rechte: »Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Si- cherheit«. Der Internationale Pakt der Vereinten Nationen über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahre 1966 präzisiert

ein wenig: »Die Vertragsstaaten er- kennen das Recht eines jeden auf So- ziale Sicherheit an; diese schließt die Sozialversicherung ein« (Artikel 9)«.

Weiter findet sich dieses Recht zum Beispiel im Übereinkommen der Ver- einten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 (Artikel 26a), in mehreren Übereinkommen der Inter- nationalen Arbeitsorganisation, etwa im Übereinkommen 102 über die Min- destnormen der Sozialen Sicherheit (1952), im Europäischen Kodex über Soziale Sicherheit (1964) und in der Revidierten Europäischen Sozial - charta von 1996 (Artikel 12 bis 14).

Die breite Aufnahme des Rechtes auf soziale Sicherheit in Instrumente des internationalen Menschenrechts- schutzes zeigt, dass es als Grundsatz weithin unbestritten ist. Strittig ist aber dessen materiell-rechtlicher Ge- halt. Daher hat der für die Überwa- chung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kul- turelle Rechte zuständige Ausschuss der Vereinten Nationen am 23. No- vember 2007 mit seiner Allgemeinen

Bemerkung (General Comment) Nr.

191das Recht auf soziale Sicherheit interpretiert und ausgeführt, wie es zu achten, zu schützen und zu ge- währleisten2sei.

Nach dieser Allgemeinen Bemerkung umfasst das Recht auf soziale Sicher- heit das Recht, ohne Diskriminierung Unterstützungen (»benefits«) in An- spruch zu nehmen und zu erhalten als Schutz (unter anderem) vor (a) einem Mangel an Arbeitseinkommen, etwa verursacht durch Krankheit, Arbeits- losigkeit oder Alter, (b) einem unbe- zahlbaren Zugang zum Gesundheits- wesen und (c) einer unzureichenden Unterstützung der Familie, vor allem im Blick auf Kinder und abhängige Er- wachsene. Hierbei ist das Diskriminie- rungsverbot von entscheidender Be- deutung: So müssen Unterstützungen, die für einen Teil der Bevölkerung zu- gänglich sind, allen gewährt werden.

Zugleich wird den Vertragsstaaten die Verpflichtung auferlegt, die notwendi- gen Schritte zur Umsetzung des Rech- tes unter Einsatz der größtmöglichen Mittel (im englischen Original: »maxi- mum available resources«) zu unternehmen.

Im Einzelnen benennt die Allgemeine Bemerkung neun Bereiche, die durch ein System sozialer Sicherheit abge- deckt werden müssten – von der Ge- sundheitsfürsorge bis hin zur Unter- stützung von Waisen und Hinterblie- benen. Allerdings enthält die Allge- meine Bemerkung unbestimmte Rechtsbegriffe wie »Mangel«, »unbe- zahlbar«, »unzureichend« und

»größtmögliche Mittel«, die offen für Interpretationen sind. Daher bleibt auch nach den Erläuterungen des UN-Ausschusses für die wirtschaft- lichen, sozialen und kulturellen Rech- te eine definitorische Unschärfe. Des- halb auch ist nicht ohne weiteres zu bestimmen, was im juristischen Sinne eine Verletzung des Rechtes auf sozi- ale Sicherheit darstellt und was eine Bedrohung der Umsetzung dieses Rechtes im Sinne einer sozialpoliti- schen Herausforderung ist: Gerade wer die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in ihrem juristischen Kern ernst nehmen und davon ausgehen möchte, dass diese Rechte Rechts- verhältnisse stiften, die gerichtlich überprüfbar sind (Justitiabilität), wird gut daran tun, nicht jeden sozial- politischen Misstand als Rechtsver- letzung zu bezeichnen.

Das Recht auf soziale Sicherheit – ein vergessenes Menschenrecht?

Anmerkungen von Klaus Heidel

zur Frage, warum dieses Recht in der EU verwirklicht werden muss und wie dies geschehen kann

Wenn im Dezember 2008 an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklä- rung der Menschenrechte vor 60 Jahren durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen in Paris erinnert wurde, dann standen häufig politi- sche und bürgerliche Menschenrechte im Mittelpunkt. Doch immerhin sieben der 30 Artikel der damaligen Erklärung beschäftigen sich mit wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Zu diesen gehört das Recht auf so- ziale Sicherheit. Weltweit haben rund 80 Prozent der Menschen keinen Zugang zu diesem Recht – es gehört damit zu den am häufigsten missach- teten Menschenrechten. Selbst in der Europäischen Union gerät das Recht auf soziale Sicherheit zunehmend unter Druck.

Dies skizzierte Klaus Heidel in zwei Vorträgen, die sich mit völkerrecht- lichen und sozialpolitischen Aspekten des Rechtes auf soziale Sicherheit beschäftigten. Der erste Vortrag wurde am 13. Oktober 2008 beim 7. Asia Europe People’s Forum in Peking gehalten. Dieses Forum, an dem rund 500 Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Europa und Asien Teil nahmen, fand im Vorfeld des 7. Treffens asia- tischer und europäischer Regierungen (Asia Europe Meeting, ASEM) statt. Der zweite Vortrag am 11. November 2008 in Berlin war Teil der Vortragsreihe des Deutschen Institutes für Menschenrechte über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Der folgende Text fasst Kern- aussagen beider Vorträge thesenartig zusammen.

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2. Bedrohungen und Verletzungen des Rechtes auf soziale Sicherheit in der Europäischen Union Unbeschadet der Tatsache, dass sich die Systeme sozialer Sicherheit in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgrund historischer Entwick- lungen beträchtlich voneinander unterscheiden, und trotz des Umstan- des, dass sie im weltweiten Vergleich ein sehr hohes Niveau aufweisen, gibt es dennoch allgemein zu beobachten- de Bedrohungen und Verletzungen des Rechtes auf soziale Sicherheit.

Das soziale und wirtschaftliche Um- feld erschwert selbst innerhalb der Europäischen Union die Einhaltung des Rechtes auf soziale Sicherheit und zeigt zugleich dessen sozialpoliti- sche Notwendigkeit. Zu den Er- schwernissen gehören zum Beispiel in nahezu allen EU-Mitgliedsländern – die hohe und nach einem

zwischenzeitlichen Rückgang wie- der (als Folge der globalen Krise der Finanzmärkte) ansteigende Arbeitslosigkeit,

– die Restrukturierung des Arbeits- marktes mit ihrer Verdrängung des Normalarbeitsverhältnisses durch befristete so wie geringfügige Be- schäftigungsverhältnisse und die Ausweitung des Niedriglohnsek- tors (mit Löhnen unter zwei Drit- teln des nationalen Medianloh- nes3),

– hohe Armutsquoten bei verbreite- ter Kinderarmut (die Armutsrisi- koquote für Kinder liegt in vielen EU-Ländern über der allgemeinen Armutsrisikoquote),

– die Veränderung von Mustern fa- milialen Lebens (wie die Zunahme der Frauenbeschäftigung), die zu Veränderungen im Blick auf die häusliche Pflege führten, – der demographische Wandel

(»aging societies«) und nicht zu- letzt

– der globale Steuerwettlauf, der tendenziell zu öffentlicher Armut führte.

Auch allgemeine politische Entwick- lungen, die in nahezu allen EU-Mit- gliedsländern (wenngleich in unter- schiedlichen Ausprägungen) zu be- obachten sind, bedrohen die Verwirk- lichung des Rechtes auf soziale Si- cherheit, so zum Beispiel …

– die zunehmende Ausbreitung der Auffassung, dass öffentliche Syste-

me sozialer Sicherheit zumindest teilweise bzw. in gewisser Hinsicht ineffizient seien,

– die generelle Tendenz zur Liberali- sierung und Privatisierung von zu- mindest Teilen der öffentlichen Systeme sozialer Sicherheit auf- grund der Überzeugung, (a) dass der Staat nicht mehr in der Lage sei, alle erforderlichen Unterstüt- zungen bereitzustellen und (b) dass es die Aufgabe der/des Ein- zelnen sei, auch selbst für Maß- nahmen zur Gewährleistung sozia- ler Sicherheit zu sorgen und – die Tatsache, dass Wirtschaftsver-

bände und Unternehmen die Re- gierungen, Medien und die Öffent- lichkeit davon überzeugen konn- ten, dass der »Wohlfahrtsstaat« in Zeiten der Globalisierung durch ei- nen »schlanken Wettbewerbs- staat« ersetzt werden müsse.

Hinzu kommt, dass in den »neuen«

EU-Mitgliedsstaaten die unvermeid- bare Transformation ehemaliger Sys- teme sozialer Sicherheit nach dem Zusammenbruch kommunistischer Systeme zu weit verbreiteter Unsi- cherheit führte.

Zusätzlich zu diesen allgemeinen Be- drohungen des Rechtes auf soziale Si- cherheit gibt es mehrere Entwicklun- gen, die einzelne Dimensionen dieses Rechtes aushöhlen.

In nahezu allen EU-Mitgliedsländern wird ein bezahlbarer und nicht-diskri- minierender Zugang zum Gesund- heitswesen erschwert durch dessen Ökonomisierung und Liberalisierung und den damit einhergehenden Aus- gabenkürzungen. Die zunehmende Arbeitsverdichtung in Krankenhäu- sern und Heimen erzwingt Ein- schränkungen bei der Pflege, von de- nen nicht alle Patientinnen und Pa- tienten in gleicher Weise getroffen sind. Die Liberalisierung des Arznei- mittelmarktes und Rückgang heim- ischer Produktion von Arzneimitteln führte in Ländern wie Rumänien zu einem starken Anstieg der Preise für Arzneimittel, wodurch der Zugang är- merer Bevölkerungsgruppen zu Ge- sundheit weiter erschwert wurde. Vor allem aber – und hier dürfte in der Tat eine Verletzung des Rechtes auf sozi- ale Sicherheit vorliegen – haben in vielen EU-Mitgliedsländern bestimm- te Gruppen wie Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende oder Min- derheiten (etwa die Roma in Rumä-

nien) nur begrenzen Zugang zum Ge- sundheitswesen. Ein Beispiel für die- se rechtlich problematische Praxis ist, dass das Asylbewerberleistungs- gesetz in Deutschland den Zugang zu Gesundheitsdiensten einschränkt und keinen Leistungsanspruch bei chronischen Erkrankungen vorsieht, so erhielt in einem Falle ein Kind trotz massiver Schädigung der Sprachentwicklung kein Hörgerät.

Die Systeme der Altersvorsorge sind zum Teil unter Druck geraten, und das gilt vor allem für die so genannten

»Pay-as-you-go«-Systeme der ersten der drei Säulen der Altersvorsorge4. Deren Krise resultiert unmittelbar aus einer hohen Arbeitslosigkeit, der Ausbreitung des Niedriglohnsektors, dem demographischen Wandel und aus weiteren, länderspezifischen Fak- toren (Deutschland: versicherungs- fremde Leistungen nach der Herstel- lung der deutschen Einheit). Die von den Regierungen gewählten Lösungs- strategien (wie Privatisierungen, An- hebung des Renteneintrittsalters und Verlängerung der Zeiten der Beitrags- zahlung) machen die Qualität der Al- tersvorsorge noch stärker als bisher abhängig von der finanziellen Res- sourcenausstattung von Haushalten, was gegen das Diskriminierungsver- bot verstoßen könnte. Die gegenwär- tige globale Finanzkrise zeigt die Pro- blematik privater Pensionsfonds hin- sichtlich ihrer Investitionen in Hedge und Private Equity Fonds. Außerdem dürften in vielen EU-Mitgliedsländern die Renten im Jahre 2050 deutlich unter dem Niveau von 2005 liegen, ei- ne drastische Leistungskürzung aber könnte unter Umständen als Verstoß gegen das Recht auf soziale Sicher- heit gewertet werden. Vor allem aber

Klaus Heidel

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zeigen sich in mehreren Ländern deutliche Diskriminierungen, die in jedem Falle eine Verletzung der Men- schenrechte sind. So gibt es in Bulga- rien keinen Ausgleich für das ge- schlechtsspezifische Lohngefälle in den neuen privaten Pensionskassen der zweiten Säule der Altersvorsorge, die Folge sind niedrigere Renten für Frauen, hinzu kommt, dass Frauen durch die Einführung eines Faktors für die Lebenserwartung diskrimi- niert werden (ihr niedrigeres Renten- niveau wird mit ihrer höheren Le- benserwartung gerechtfertigt).

Ob die in vielen EU-Mitgliedsländern durchgeführten Absenkungen der Leistungen bei Arbeitslosigkeit einen Verstoß gegen das Recht auf soziale Sicherheit darstellen, ist nicht ohne Weiteres auszumachen und hängt si- cher davon ab, ob die jeweiligen Re- gelsätze armutsfest sind. Hier sind in Deutschland auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsge- setz zu betrachten, da die Leistungs- empfangenden aufgrund ihres recht- lichen Ausschlusses vom Arbeits- markt (Arbeitsverbot) auf diese Leis- tungen als Ersatzleistung für Markt- einkommen angewiesen sind. Diese Regelsätze nach dem Asylbewerber- leistungsgesetz sind in keiner Weise armutsfest. Einen eindeutigen Rechtsverstoß stellt schließlich der Ausschluss bestimmter Gruppen von Leistungen für Arbeitslose dar. So gibt es zum Beispiel in Italien keine oder nur eine ungenügende Abde- ckung des Arbeitsplatzverlustes für unregelmäßig Beschäftigte oder für junge Beschäftigte mit geringer Be- schäftigungsdauer und im Allgemei- nen nur einen unzureichenden Schutz für »atypisch« Beschäftigte (zum Beispiel in flexiblen Beschäfti- gungsverhältnissen). Einschlägig ist weiter, dass der Ausgleich für Niedri- glöhne in vielen Ländern (darunter auch in Deutschland) unzureichend ist, was ebenfalls gegen das Diskrimi- nierungsverbot verstoßen könnte.

Besonderen Wert legt die Allgemeine Erklärung auf die Schaffung eines diskriminierungsfreien Zuganges für Alle zum Recht auf soziale Sicherheit, der auch und gerade für soziale Grup- pen gewährleistet sein muss, die in besonderer Weise von sozialer Aus- grenzung bedroht sind. Hiergegen wird in vielen EU-Mitgliedsländern verstoßen.

In Polen werden die sozialen Risiken der meisten der 1,3 Millionen »illegal«

beschäftigten polnischen Staatsbür- gerinnen und Staatsbürger und der 1,5 Millionen »illegal« beschäftigten Ausländerinnen und Ausländer nicht durch die Systeme sozialer Sicherheit abgefedert.

In fast allen EU-Mitgliedsländern ha- ben bestimmte Gruppen von Auslän- derinnen und Ausländern (wie Flüchtlinge und Asylsuchende) nur einen eingeschränkten Zugang zum Recht auf soziale Sicherheit. Dies gilt in besonderer Weise für Menschen, die sich ohne Papiere (»illegal«) in ei- nem Staatsgebiet aufhalten (»undo- cumented migrants«), im Blick auf diese soziale Gruppen sind in der Eu- ropäischen Union eindeutige Verlet- zungen des Menschenrechtes auf so- ziale Sicherheit zu beobachten.

Schließlich erwähnt die Allgemeine Bemerkung die Staatenverpflichtung, das Recht auf soziale Sicherheit auch in ihren Außenbeziehungen zu ach- ten und zu schützen. In diesem Zu- sammenhang stellt der UN-Aus- schuss für die wirtschaftlichen, sozia- len und kulturellen Rechte fest: »Ab- kommen über die Handelsliberalisie- rung dürfen die Fähigkeit eines Ver- tragsstaates, die vollständige Ver- wirklichung des Rechtes auf soziale Sicherheit zu verwirklichen, nicht einschränken.« Hiergegen verstößt die Europäische Union mit ihren Han- delsabkommen mit Afrika.

3. Ist das Recht auf soziale Sicherheit einklagbar?

In den ersten fünfzig Jahren nach der Verabschiedung der Allgemeinen Er- klärung der Menschenrechte herrsch- te in den westlichen Industriestaaten die Auffassung vor, die wirtschaft- lichen, sozialen und kulturellen Men- schenrechte seien bloße Programm- sätze und hätten nur deklaratori- schen Wert. Dies änderte sich seit der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993, die die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte unterstrich. Seither wurden Ansätze zur Entwicklung einer konkreten Normativität von wirtschaftlichen, so- zialen und kulturellen Menschen- rechten verfolgt. So war der zuständi- ge UN-Ausschuss um eine Konkreti- sierung bei einer »Entpolitisierung«

dieser Rechte bemüht und veröffent-

lichte zu diesem Zweck seine Reihe Allgemeiner Bemerkungen.

Von besonderer Bedeutung war, dass sich in der völkerrechtlichen Litera- tur und bei internationalen Gerichten wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Ansicht durchsetzte, dass das Diskriminie- rungsverbot nach Artikel 26 des Internationalen Paktes für die bür- gerlichen und politischen Rechte (1966) vollständig auch auf die wirt- schaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte anzuwenden sei.

Vor diesem Hintergrund (und teil- weise schon zuvor) entwickelten sich in den letzten Jahren mehrere Ansät- ze, um zumindest einzelne Dimensio- nen des Rechtes auf soziale Sicher- heit einklagbar und folglich justitiabel zu machen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entwickelte die Jus- titiabilität des Rechtes auf soziale Si- cherheit entlang von Verfahrensga- rantien. So ging es 1986 in einem Streitfalle um die Fortzahlung der In- validenrente an eine aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung arbeitsunfä- hig geschriebene Frau aus den Niederlanden nach der Geburt ihres Kindes. Diese Leistung war mit der Begründung eingestellt worden, aller Erfahrung nach würden junge Mütter ohnehin aus dem Berufsleben aus- scheiden. Der Europäische Gerichts- hof sah in dieser Leistungseinstellung einen Verstoß gegen das Diskriminie- rungsverbot und ordnete die Fortzah- lung der Leistung an. Allerdings be- deutet dieses Diskrimnierungsverbot nicht, dass eine bestimmte Höhe von Leistungen rechtlich vorgeschrieben ist, wohl aber, dass Leistungen, die gewährt werden, allen grundsätzlich Anspruchsberechtigten gewährt wer- den müssen.

Als zweiten Ansatz verknüpfte der Eu- ropäische Gerichtshof das Recht auf soziale Sicherheit mit dem Recht auf Eigentum und machte es auf diesem

»Umwege« justitiabel. Danach schließt das Recht auf Eigentum An- sprüche auf gesetzlich geregelte Transfers (zum Beispiel Pensionsan- sprüche) ein. Wiederum wird auf diese Weise keine bestimmte Höhe von Leis- tungen garantiert, vielmehr dieselbe in das Ermessen des Staates gestellt.

Dessen Ermessensspielraum findet aber – so das Gericht – seine Grenze, wenn Kürzungen die Substanz berüh-

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Ist Privatisierung das Allheilmittel überall auf der Welt? Die von den Agenturen des neoliberalen Kapita- lismus betriebene Propaganda sugge- rierte dies. Großunternehmen und internationale Finanzinstitutionen, die den Kurs der wirtschaftlichen Globalisierung bestimmen, warben für eine grenzenlose Öffnung der Volkswirtschaften für den Privatsek- tor, dem per se Effizienz nachgesagt wurde. Sie setzten sich überall für Rahmenbedingungen ein, die den Pri-

vatsektor prosperieren lassen sollten, und nahmen in Kauf, den Staat in die Enge zu treiben und zu diskreditie- ren, damit ihr Ansatz als alternativlos erscheine. Mit Erfolg! Privatisierun- gen erstrecken sich mittlerweile in vielen Ländern auf alle Lebensberei- che: Wasser- und Stromversorgung, Gesundheits- und Bildungssektor, Verkehr, Versicherungen ... Alles, was in großem Stil Gewinne bringen kann, wurde von der Privatisierungswelle erfasst. Vom Staat wurde immer mehr

Großzügigkeit und Entgegenkommen gegenüber dem Privatsektor verlangt.

Zwischen den Ländern wurde ein Wettbewerbsklima um die günstig- sten Bedingungen geschaffen, um Di- rektinvestitionen anzulocken.

In vielen Ländern machten und ma- chen transnationale Konzerne große Gewinne und trugen zur Verschöne- rung makroökonomischer Daten bei, ohne den Menschen in diesen Län- dern wirklich zu nützen.

Privatisierung und Aneignung in Krisenzeiten:

Werden die neuen Chancen genutzt?

von Boniface Mabanza ren oder wenn gegen das Diskriminie-

rungsverbot verstoßen würde.

Grundsätzlich setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass zumindest einzelne Dimensionen des Rechtes auf soziale Sicherheit einklagbar sind – eine nicht zu unterschätzende Weiterentwicklung des internationa- len Menschenrechtsschutzes.

Allerdings ist eine Weiterentwicklung des gerichtlichen Menschenrechts- schutzes nicht ausreichend, um das Recht auf soziale Sicherheit selbst in der Europäischen Union vollständig zu verwirklichen. Vielmehr bedarf es auch im Blick auf dieses Recht, was grundsätzlich für die Stärkung von Menschenrechten gilt, dass es näm- lich auch darauf ankommt, sozialpoli- tische Forderungen gesellschaftlich und politisch durchzusetzen.

4. Einige sozialpolitische Forderungen

Erforderlich ist zunächst, dass der Tendenz gewehrt wird, universelle öf- fentliche Systeme sozialer Sicherheit als »Irrweg« zu sehen, der in Zeiten der Globalisierung nicht mehr finan- zierbar sei. Der britische Wirtschafts- wissenschaftler Peter Townsend5hat kürzlich nachgewiesen, dass öffentli- che Investitionen in Systeme sozialer Sicherheit nicht nur keinen Hemm- schuh für die wirtschaftliche Ent- wicklung der OECD-Staaten darstell- ten, sondern im Gegenteil eine Vor- aussetzung für diese Entwicklung bil-

deten. Es ist eben gerade nicht so, dass Privatisierungen und Deregulie- rungen von sich aus zu einer Verwirk- lichung des Rechtes auf soziale Si- cherheit führen würden. Erforderlich sind vielmehr sozialpolitische Maß- nahmen, die von dem Wissen um die rechtliche Verantwortung des Staates für die Gewährleistung des diskrimi- nierungsfreien Zuganges zu diesem Recht geprägt sind. Hierzu gehören unter anderem:

– Steuerreformen, die den Staat in die Lage versetzen, seiner Verantwor- tung gerecht zu werden, dies setzt jeder Politik sozial unausgewogener Steuersenkungen Grenzen,

– Beschränkungen und Regeln für Privatisierungen und Liberalisierun- gen von Teilsystemen sozialer Si- cherheit,

– Stärkung solidarischer Elemente in den Systemen sozialer Sicherheit, – Festlegung messbarer Ziele für die

unterschiedlichen Dimensionen so- zialer Sicherheit.

– Einführung von Mindest- und/oder Grundeinkommenssystemen und eines Benchmarking-Prozesses hin- sichtlich öffentlicher Investitionen in diese Systeme und

– Stärkung der sozialpolitischen In- strumente der Europäischen Union (die Methode der offenen Koordi- nation für Sozialpolitik hat sich als unzureichend erwiesen).

Alles in allem ist die Europäische Union ein Testfall dafür, ob es gelingt, 60 Jahre nach der Verabschiedung

der Allgemeinen Erklärung der Men- schenrechte ein Kernrecht wenig- stens regional durchzusetzen. Dass dies selbst in der EU noch notwendig ist, dürften die obigen Anmerkungen gezeigt haben. Dass keine andere Re- gion in der Welt hierfür so viele Ressourcen hat wie die EU, stellt eine besondere Verpflichtung dar – auch in der gegenwärtigen Weltwirt- schaftskrise.

1. United Nations, Committee on Economic, Social and Cultural Rights (2007): General Comment No. 19. The Right to Social Security (article 9). – Allgemeine Bemerkungen (General Comments) sind autoritative Auslegungen der Menschen- rechtsabkommen der Vereinten Nationen durch die Vertragsorgane, die für die Überwachung der internationalen Verträge zuständig sind.

2. Staaten haben die Pflicht, die wirtschaftlichen, so- zialen und kulturellen Rechte zu achten, zu schüt- zen und zu gewährleisten.

3. Der Median ist der Wert in der Mitte einer Vertei- lung. – In Deutschland finden sich 22 Prozent al- ler Beschäftigten im Niedriglohnbereich. Dies führte unter anderem dazu, dass in Deutschland selbst zu Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwun- ges 2005 bis 2007 die Zahl der Vollzeitbeschäf- tigten, die ihr Einkommen mit staatlichen Trans- ferleistungen aufstocken mussten (Arbeitslosen- geld II), um ein Drittel auf 1,3 Millionen anstieg – und mit dem Beginn der jüngsten schweren Wirt- schaftskrise verschärfte sich dieser Trend.

4. Erste Säule: gesetzliche Systeme der Altersvorsor- ge, entweder steuerfinanziert oder »Pay-as-you- go«-Systeme (abgekürzt PAYG, »Generationenver- trag”: Beschäftigte erbringen die Renten für an- spruchsberechtigten Rentnerinnen und Rentner);

zweite Säule: Systeme, die an eine Beschäftigung gebunden sind; dritte Säule: private Vorsorge (z.B. Lebensversicherungen).

5. Peter Townsend (2007): The Right to Social Se- curity and National Development: Lessons from OECD experience for low-income countries, Ge- neva (=International Labour Office, Social Securi- ty Department: Issues in Social Protection, Dis- cussion Paper 18).

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In vielen Industrieländern werden trotz starken Wirtschaftswachstums und existierender sozialer Strukturen immer mehr Menschen an den Rand gedrängt und der Gerechtigkeitsge- danke, der zu der Anstrengung auf- fordert, Menschen, die auf der Stecke bleiben, immer in die Mitte zurückzu- holen, gerät in Vergessenheit.

In vielen Entwicklungsländern be- trifft die Marginalisierung eher die Mehrheit. Vor allem in Postkonflikt- ländern erreicht sie erschreckende Dimensionen. In diesen Ländern müsste die Übergangszeit von einem gewalttätigen Konflikt zu einer fried- lichen und nachhaltigen Gesell- schaftsordnung eng mit dem Streben nach Gerechtigkeit verbunden sein.

Genau die Zeit, wo sich Gesellschafts- verhältnisse zu stabilisieren scheinen, nehmen Agenturen des neoliberalen Kapitalismus in Anspruch, massive Privatisierungen durchzusetzen. Sie setzen ihre finanzielle Macht ein und verschaffen sich billigen Zugang zu Ressourcen und Arbeitskräften. So werden Bemühungen um Gerechtig- keit untergraben und politische Pro- zesse beeinflusst, um Menschen an die Macht zu bringen oder Machtver- hältnisse zu stabilisieren, welche Pri- vatisierungen zugunsten transnatio- naler Konzerne begünstigen. Ver- handlungen zwischen finanzstarken Partnern und Regierungen der durch Konflikte geschwächter Länder unter Androhung von Sanktionen führten zu Zugeständnissen, die mit den Interessen der Bevölkerung dieser Länder gar nichts zu tun haben.

In vielen Postkonfliktländern konzen- trieren sich Privatisierungen zunächst auf wertvolle und leicht abbaubare Rohstoffe. Mancherorts, wie etwa in der Demokratischen Republik Kongo, entpuppen sie sich als Billigmärkte, sind tatsächlich mit Plünderungen gleichzusetzen. Sie bringen keinen Se- gen für die Mehrheit der Bevölkerung, sondern Marginalisierung. Wo Regie- rungen massive Privatisierungspro- zesse von Staatsbetrieben in Gang set- zen und dazu mit skandalösen Steuer- senkungen Entgegenkommen und Großzügigkeit zugunsten neuer Pri- vatunternehmen zeigen, bedanken sich diese mit massenhaften Entlas- sungen von Arbeitern.

Aber für die Eliten selbst sind Privati- sierungen ein Segen. Sie erweisen sich als der beste Weg der Selbstbe- reicherung. Mit der persönlichen Be- reicherung wächst die Konzentration der Macht in ihren Händen. Damit tragen Privatisierungen durch die Verschärfung der Ungleichheiten zur Untergrabung der Demokratie bei.

Krisen als Chance?

Seit ein paar Jahren ist eine Denkpau- se eingetreten. In vielen Ländern wur- den schon viele Schlüsselsektoren wieder vergesellschaftlicht, nachdem die nur auf Gewinn bedachten Privat- unternehmen scheiterten, die von ih- nen erwartete Effizienz nicht zustan- de brachten oder zur Umverteilung des erwirtschafteten Gewinns nicht bereit waren. Mit der Finanzkrise ist der Staat als wirtschaftlicher Akteur wieder interessant geworden. Alleror-

ten aktivieren sich Regierungen, um marode Banksysteme zu retten und Konjunkturprogramme zu schmieden.

Bedeutet dies das Ende der Privatisie- rungsideologie? Es ist früh für zuver- lässige Prognosen. Die Schwierigkei- ten vieler Schlüsselbranchen der Wirt- schaft stützen diesen Gedanken. Aber es gibt auch Stimmen, die die Meinung vertreten, dass gerade die aktuelle

»Hilfspaket-Politik« die Regierungen der Industrieländer in eine Hand- lungsunfähigkeit treiben könnte. Von dieser Situation könnten diejenigen profitieren, deren marode Strukturen jetzt stabilisiert werden. In vielen Ent- wicklungsländern lässt sich die Macht- losigkeit der Regierungen auch in der aktuellen Situation beobachten. Viele würden gerne zumindest in Schlüssel- sektoren die Kontrolle wieder über- nehmen, aber sie sind oder fühlen sich nicht in der Lage, diese Verantwor- tung zu übernehmen.

Fazit

Der aktuelle Kontext birgt gute Chan- cen, der Privatisierungsideologie ein Ende zu setzen. Nie waren die Voraus- setzungen in den letzen Jahrzehnten so gut wie jetzt. Ob diese Chance ge- nutzt werden wird, bleibt offen. Es wäre eine Katastrophe, wenn wiede- rum die Verfechter der Privatisie- rungsideologie von der aktuellen Situ- ation profitieren würden. So groß die- se Katastrophe auch sein möge, so wahrscheinlich ist sie angesichts der fehlenden politischen Fantasie bei den Entscheidungsträgern und des Ohn- machtgefühls bei den Bevölkerungen.

25 Jahre Werkstatt Ökonomie

»Die Werkstatt verbindet für mich zwei Di- mensionen sozialethischer Urteilsbildung, die unverzichtbar sind: Sachkompetenz und ethi- sche Orientierung. Ich schätze die Werkstatt Ökonomie und gehöre ihr seit langem als Mit- glied an, weil sie die biblisch begründete An- waltschaft für die Armen mit sachkundiger Analyse der Situation und konkreten Lösungs- ansätzen verbindet.«

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Lehrstuhl Systematische Theo- logie und theologische Gegenwartsfragen der Universität Bamberg

»Die analytischen Kompetenzen der Werkstatt Ökonomie … sind uns eine wichtige Hilfestellung, denn wer nicht richtig »sieht«, wer die »Zeichen der Zeit« nicht erfasst, der kann auch keine richtigen Handlungsoptionen treffen. Und wir wissen uns zu- dem einig in der Zielsetzung, die Globalisierung solidarisch und

gerecht zu gestalten.« Albin Krämer

Bundespräses der KAB

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Ich erinnere mich noch genau: Kurz nachdem ich im Sommer des Jahres 1979 das Pfarramt der Blumhardt-Ge- meinde Heidelberg-Kirchheim ange- treten hatte, fand ich mich mit meinem Kollegen an der benachbarten Wi- cherngemeinde, Gerhard Liedke, dem Leiter der in Kirchheim beheimateten Regionalstelle für Mission und Ökume- ne, Ulrich Duchrow, und meinem ka- tholischen Kollegen Paul Dieter Auer zu einem »konspirativen Treffen« zu- sammen. Die Apartheidpolitik im Süd- lichen Afrika zeigte damals ihre hässli- che Fratze, und wir waren gefragt, was wir zur Unterstützung unserer schwar- zen Schwestern und Brüder in Südafri- ka und zur Überwindung des Apart - heidregimes tun konnten, um unserem Auftrag, als Christen Salz der Erde zu sein, wenigsten ansatzweise entspre- chen zu können.

Wir gründeten damals eine Aktions- gruppe gegen die Apartheid mit dem an die Bekenntnissituation der ältes- ten Christenheit erinnernden Namen

»Katakombe«. Viel haben wir in den folgenden Jahren gegen das Apart - heidregime unternommen und auch erreicht: Mahnwachen auf den Straßen Kirchheims, Unterstützungsaktionen für südafrikanische Gefangene mit

Einschaltung des deutschen Außenmi- nisteriums, Friedenswochen… und immer wieder Fürbitte für das ge- schundene südafrikanische Volk.

Im Laufe der Zeit führte uns das En- gagement gegen die südafrikanische Apartheid immer stärker hinein in Fragestellungen der wirtschaftlichen Verflochtenheit unseres eigenen Lan- des mit der so genannten Dritten Welt. Unser Blick wurde weiter – nicht zuletzt dank der Mitarbeit brasi- lianischer Theologiestudenten, die uns mit der Situation in Lateinameri- ka vertraut machten. So entstand aus der Katakombe der Verein »Christen für Gerechtigkeit weltweit«, bei des- sen Zusammenkünften wir schwer- punktmäßig das Agieren transnatio- naler Konzerne diskutierten.

Allerdings gab es immer wieder ein gewisses Unbehagen über unsere Ar- beit, denn wir spürten, dass das Ver- stehen und Erforschen, Darstellen und Diskutieren globaler Wirtschafts- zusammenhänge dringend einer Pro- fessionalisierung bedurfte, wenn es nicht destruktiv werden, sondern auch zur Formulierung von Alternati- ven führen soll. So kam es zur Grün- dung der »Werkstatt Ökonomie« und der Anstellung wissenschaftlich aus- gewiesener Mitarbeiter. Allerdings waren deren Anstellungsverhältnisse stets sehr prekär, weil die Finanzie- rung der sehr schmalen Gehälter oft- mals über Monate ungesichert war.

Als wir dann die Initiative »Solidari- scher Lohn – Gerechtes Teilen« grün- deten, besserte sich die Situation et- was, denn de facto entwickelte sich diese Initiative zu einem Unterstüt- zerkreis, der mithalf, die Gehälter der Mitarbeiter der Werkstatt durch Spenden abzusichern.

Im Laufe der Jahre erwarb sich die Werkstatt Ökonomie durch die hohe Fachkompetenz von Klaus Heidel

(seit langem Mitglied unserer Lan- dessynode) und Uwe Kleinert (wie Klaus Heidel aus der evangelischen Jugendarbeit in Leimen hervorgegan- gen) ein solches Renommee, dass es gelang, immer wieder Forschungsauf- träge von kirchlichen Institutionen (leider hat sich unsere Evangelische Landeskirche in Baden mit der Inan- spruchnahme der Werkstatt immer schwer getan), Non-Profit-Organisa- tionen und Ministerien zu erhalten und damit erhebliche Drittmittel ein- zuwerben. Inzwischen gehört die Werkstatt zu den anerkanntesten Or- ganisationen, in denen auf hohem Ni- veau Alternativen zu einer rein neoli- beralen Weltwirtschaftsordnung dis- kutiert werden.

Besonders durch die Herausgabe des

»Jahrbuchs Gerechtigkeit« hat sich die Werkstatt großes Ansehen erwor- ben. Das in diesen Jahrbüchern aufbe- reitete Datenmaterial ist beeindru- ckend, die Analysen lassen hohen Sachverstand erkennen und helfen nicht nur gesamtwirtschaftliche Zu- sammenhänge zu erfassen, sondern auch intensiv über Alternativen nach- zudenken, die dringend geboten sind, wenn wir nach einer Gestaltung welt- weiten Zusammenlebens unter der Perspektive des Reiches Gottes als ei- nes Reiches der Gerechtigkeit ernst- haft fragen.

Ich danke den Mitarbeitern der Werk- statt für ihr Durchhalten in sehr schweren Zeiten, für ihr unermüdli- ches Wirken, mit dem sie nicht nur ein Stachel im Fleisch unserer Kirche sind, sondern mit dem sie auch mich in meinem kirchenleitenden Handeln immer wieder daran erinnern, dass wir in der Nachfolge Jesu den Weg der Ge- rechtigkeit gehen müssen – auch in- dem wir uns für eine Wirtschaftsord- nung einsetzen, in der den Armen der Welt Gerechtigkeit widerfährt.

Landesbischof Dr. Ulrich Fischer, Evangelische Landeskirche in Baden

Maria Theresia Opladen Bundesvorsitzende, Kath.

Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd)

»Ihre fundierten Recherchen, ihre gründliche Aufbe- reitung von Informationen und ihre kompetente Bera- tung zur strategischen Planung sind ein unverzichtba- rer Bestandteil der Aktion fair spielt. Die Werkstatt Ökonomie leistet mit … dieser Aktion einen herausra- genden Beitrag zur Alphabetisierung in wirtschaft- lichen und menschenrechtlichen Fragestellungen.«

Referenzen

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