Von Ebebhaed Otto, Hamburg
Die Bedeutung der unter dem Namen ,, Sargtexte" bekannten In¬
scliriften ist auf Grund ihres Inhalts, ihrer Herkunft und ihrer Entste¬
hungszeit vielseitig. Es handelt sich bei ihnen um religiöse Texte, die auf
Särgen aus der Zwischenzeit zwischen AR und MR (,,Herakleopoliten-
zeit") und dem MR geschrieben sind, zeitlich also zwischen den könig¬
lichen Pyramidentexten des AR und den Totenbuchhandschriften des
NR stehen. Zu den Texten auf Särgen gehören drei Papyri, Textsamm¬
lungen, denen die eigentlichen Sargtexte entnommen sind. Die Fundorte
der Särge verteilen sich auf Ober- und Unterägypten; das ist wichtig,
weil deshalb, wenn überhaupt, in ihnen lokales religiöses Gut gefunden
werden müßte^. Ihre örtliche Herkunft und ihre zeitliche Zugehörigkeit
zu einer der historisch und kulturgeschichtlich wichtigsten Epochen der
altägyptischen Geschichte machen sie zu einer erstrangigen Quelle der
ägyptischen Religion. Hinzu kommt die breite soziale Basis, der sie ent¬
stammen. Gegenüber den Pyr. , deren theologische Lehren eklektisch auf
die Person des Königs zugeschnitten sind, repräsentieren die Sargtexte
religiöse Anschauungen einer sehr viel breiteren Schicht.
Der Plan, die gewaltige Textmasse vollständig zu veröffentlichen, geht
bis in die Jahre nach dem ersten Weltkrieg zurück, als zwar einzelne
Texte und Särge veröffentlicht waren und ein Anfang der Edition durch
P. Lacau aus verschiedenen Gründen aufgegeben werden mußte. Be¬
sonders bemühten sich James H. Bbeasted *tnd Sib Alan H. Gaedinek
um sein Zustandekommen und gewannen als Mitarbeiter und jetzigen
Herausgeber A. de Bück. Ohne den wirtschaftlichen Rückhalt, den das
Oriental Institute Chicago gewährte, wäre das umfangreiche und lang¬
fristige Unternehmen nicht denkbar gewesen. Welche Mühen der Text¬
beschaffung aus den Museen der Welt und des Kollationierens, sowie der
möglichst fehlerfreien Wiedergabe der Abschriften aufgewendet werden
mußten und welche Schwierigkeiten in der Anordnung und Gliederung
der Textmasse zu überwinden waren, setzt klar und sachlich de Buck in
der Einleitung des ersten Bandes ausein^der. Unter den vielen Möglich-
^ Eine zusammenhängende Würdigung der Texte bei Jacques Vandiee,
La rehgion figyptienne, Mana I, Paris 1949, S. 86 ff. Heemann Kees, Sarg¬
texte und Totenbuch, Handbuch der Orientalistik, hrg. B. Spuleb, I Ägyp¬
tologie, 2. Abschnitt, Leiden 1952, S. 39ff.
J13 ZDMG 102/2
188 Ebebhard Otto
keiten, wie eine Edition hätte vorgenommen werden können, wählten die
Herausgeher folgende : Alle Texte sind vollständig wiedergegeben (nicht
nur Angabe von Varianten in Paralleltexten) und gleichmäßig aus dem
kursiven Schriftcharakter in Hieroglyphen übertragen. Begonnen wurde
mit Texten, die nicht als zusammenhängende Partien dem Corpus der
Pyr. entnommen worden sind. Die Anordnung im einzelnen ist in ge¬
wissem Sinne willkürlich. Am Anfang stehen die Texte, von denen eine
Menge Parallelen vorhanden sind. Eine Gliederung der Texte etwa nach
Themen oder nach innerlich zusammengehörigen Hs-Gruppen oder
(welche Möglichkeit nach dem Inhalt der Texte offenbar gar nicht er¬
wogen zu werden brauchte) nach Herkunft, hätte das Erscheinen des
Werkes um viele Jahre hinausgezögert; die Vorarbeiten, die eine solche
Gliederung ermöglichen, sollen und können im Gegenteil erst dann
durchgeführt werden, wenn das gesamte Material der wissenschaftlichen Welt zugänglich ist. Ein Schlußband der Publikation soll die notwendigen
Materialien dazu enthalten (Paläographische Einzelheiten, Verteilung
der Texte auf den Särgen, Textbestand der einzelnen Särge usw.).
Der erste Band des Werkes erschien 1935 als Vol. XXXIV der Or.Inst.
Publ. Ihm folgte 1938 der 2. Band (= Or. Inst. Publ. Vol. XLIX), 1947
der 3. Band (= Or. Inst. Publ. Vol. LXIV). Nun liegt der 4. Band
(= Or. Inst. Publ. LXVII) vor, der ebenso einen Überblick über Form,
Inhalt und wissenschaftliche Bedeutung der Textgruppe vermittelt, wie
er die Wichtigkeit des Editionsunternehmens deutlich werden läßt.
Zunächst und als Voraussetzung zu ihrem inhaltlichen Verständnis ein
Wort über die Sprache der Sargtexte. Gemäß ihrer Entstehungszeit
zwischen AR und MR enthalten sie noch manches Altertümliche in
Formen- und Wortschatz und zugleich (Gebrauch von Konjunktionen
und Hilfsverben) einen guten Teil der sprachlichen Elemente, die das
,, klassische" MittelägyptiscJi charakterisieren, ohne freilich den stilisti¬
schen und syntaktischen Reichtum der klassischen Literatursprache auf¬
zuweisen. Die altertümlichen Passiva mit Gemination des letzten Radi¬
kals (bei starken Verben) sind noch verhältnismäßig häufig (z. B. S. 20.
115. 232). Merkwürdig ist die Gemination beim starken, dreiradikaligen
Verbum hsd ,, schimmeln o. ä." vom Brot (S. 163, vgl. Bd. I 284): das
'BTot ,,{i)hm hsdd.w, das nicht schimmelt" (d.h. nicht schimmeln kann?),
in welcher Verbindung die Pyr. den zu erwartenden Infinitiv hsd haben
(z. B. Pyr. 655. 859. 1226). Das Verbum iw(t) ,, kommen" bildet S. 146
noch eine ,, emphatische" Form: iww.sn ,,wenn sie kommen", entspre¬
chend Pyr. 1268a ein fem. Infinitiv iw.t, also Formen, die auf ein Verbum
Illae inf. hinweisen. Dagegen lautet an der gleichen Stelle (S. 146) die
gewöhnliche Form sdm.f (nach rdj ,, veranlassen") iwt, also als handele es
sich um ein dreiradikaliges Verbum, dessen auslautendes -t zum Wort-
stamm gehört; zu diesem Verbum vgl. weiterhin Sethe, Verbum I
§ 469ff. Auch die Verwendung des , .Pseudopartizips" in optativischer
Bedeutung ist mehrfach anzutreffen, so S. 152 (ähnlich S. 66): hr.tj r.j
,, halte dich ferne von mir!"; zu dieser Verwendung der Form vgl.
Gabdineb, Grammar § 313.
Besonders reich ist auch dieser Band an lexikalischen Neuheiten,
sei es durch das Vorkommen tatsächlich bisher nicht belegter Wörter, sei
es durch Ableitungen von bekannten Wörtern oder durch das Vorkommen
von Wörtern, die erst aus viel späteren Texten belegt waren. Es sei nur
auf einige Beispiele hingewiesen, die als bisher unbekannte Ableitungen
zu bekannten Wortstämmen erklärt werden können oder die im WB
gegebenen Bedeutungen ergänzen, ohne alle jene Wörter aufzuzählen,
die zunächst einfach als hapax legomena mit meist sehr unsicherer Be¬
deutung zu notieren sind.
gw} H "^g^ WB V 160, 2 cc. r. Neuerdings schon von Vandiee,
Mo'allah, Inscr. II 7] 3 für diese frühe Zeit belegt. WB gibt ,, kriegerisch
vorgehen gegen" (nach der Pianchi-Inschrift) . Nach CT III 97, IV 13 und
59 (an letzter Stelle, falls kein Verschreiben vorliegt, transitiv) scheint
die im WB gegebene Grundbedeutung ,, ziehen" über die Verwendung
,,das Schiff ziehen an. .." =,, landen" zu einem allgemeinen „sich nähern"
zu kommen (vgl. Pyr. 662b, 709d).
sndndn 1 S. 83,, entflammen", trans, vgl. de Buck, JEA
35, 96. Das Verb ist klärlich als Kausativ (s-) eines intransitiven, redupli¬
zierten Verbums *n-dn-dn (mit w-Präfix gebildet) ,, feurig sein o. ä." auf¬
zufassen. Vom nicht belegten Simplex ist eine Nominalableitung dndn.t
„Feuer o. ä." belegt (WB V 580,1 = CT II 150). Vielleicht, falls ein Ver¬
schreiben vorliegt, gehört hierher auch der S. 328 genannte Dämon
imj-dndd.f [ - - -^^^^ ^ ,,Der in seinem Feuer".
nhd |—I c=^>*=^ S. 21. Das Verbum dürfte die nicht reduplizierte zu Form
n-hd-hd sein, ,, zittern, pulsieren" (WB II 288,8. Zu diesem Wort vgl.
Breasted, Pap. Edw. Smith S. 168/9) und die Bedeutung haben ,,(aus
Furcht) zittern". Es ist wohl identisch mit nhd Pyr. 397 vom Herzen des
Stieres ,,(aus Wut) zittern", für das WB II 288,2 etwas farblos ,, grimmig o. ä." gibt. Wahrscheinlich liegt ebenfalls eine Intransitivbildung mit n-
vor und das Simplex steckt in dem Verbum hd (Grundbedeutung
,, stoßen" ?), für das WB II 504/5 u. a. ,, entgegentreten (vom Stier)"gibt.
hibnw.t *f ^ le^ S. 5. Diese Göttin wird hier als Amme des Toten ge-
25-^
nannt, ähnlich CT I 48 als seine Ernährerin neben Isis, die ihn geboren
13*
190 Eberhard Otto
hat, und Hj.t, die seiner gewartet hat. Es handelt sich wohl um eine geier-
gestaltige Muttergottheit (zur Gestalt vgl. WB III 229,14: hsbj.t als
Bezeichnung eines Brustschmuckes in Geiergestalt = Kairo Cat. g6n.
28 123). Das Wort ist offenbar eine Ableitung vom Stamme hib/fi;b/h;m
mit der Grundbedeutung ,, krumm, gebückt sein, sich beugen" mit der
fem. Ableitungsendung -n{w).t (wie Tf.nw.t, rs-n.t, mh-n.t u. a. m.) im
Siime: ,, Die zum Krummsein Gehörige" = ,,die Gekrümmte, Gebeugte".
(Zu diesen Bildungen vgl. Sethe, Von Zahlen und Zahlworten S. 121ff.).
Es liegt also das Appellativum einer Himmels-Muttergöttin vor, die über
die Erde gebeugt gedacht ist ; als eine Sinnparallele ist an die späte Be¬
zeichnung Gb.t ,,die Gebeugte" = Himmel zu denken.
'^^ 1 1 P^i'^l'ß^ '^^'"^ ,, essen", vgl. II 394 und //,'/
in derselben Parallele. Nach dem Det. liegt offenbar eine Bezeichnung für
das Picken des Vogels vor, die in verschiedenen Verbalklassen (Illae inf.,
zweiradik., redupliz.) als in verschiedenen Aktionsarten ausgedrückt
werden kann. In dem Spruch unseres Bandes (Sp. 278) handelt es sich
um ,, Verwandlung in eine smw-Gans"; der Spr. des Bandes II ist der
bekannte Spruch von den vier Winden.
sib J S. 81 dürfte ebenfalls ein Ausdruck aus dem Tierreich
sein : wie ein Schakal (ssb) laufen. Dann wird das Wort auch speziell von
Flüssigkeiten gebraucht, vgl. WB III 420, 3/4. Belegstellen für die wohl
urspüngliche Bedeutung s. Bbeasted, Pap. Edw. Smith, Kommentar
zu XI 5.
Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, in welcher
Richtung die Texte unsere rein sprachlichen Kenntnisse zu erweitern
vermögen. Es wird daraus ebenfalls deutlich, daß auch von dieser Seite
die vollständige Veröffentlichung aller Parallel texte, wie die vorliegende
Edition es tut, erforderlich ist. Besonders bei bisher garnicht belegten
Wörtern können Unterschiede in der Orthographie oder Determinierung
aufschlußreich sein.
Der Inhalt der Sprüche des vorliegenden Bandes gibt einen guten
Querschnitt durch die thematische Mannigfaltigkeit und textgeschicht¬
liche Kompliziertheit der Sargtexte. Dabei soll hier die Frage nach dem
Verhältnis zwischen Sargtexten und Pyr. einerseits, und Sargtexten und
Totenbuch andererseits nicht erörtert werden. Sie würde notwendig zu
sehr weitreichenden Überlegungen der Tradierung von Texten, ihrer Aus¬
legung, den Möglichkeiten der Überarbeitung und Kompilation und
dergl. mehr führen und eine solche Fragestellung könnte nicht befriedi¬
gend auf der Basis der relativ bescheidenen Textmenge eines Bandes
gestellt werden. Aus diesem Fragenkreis sei nur auf das Verhältnis zwi-
schen Texten auf Särgen und auf Papyri hingewiesen. Es sind nur drei
Pap. bekannt, die Sargtexte enthalten: Pap. Berlin 10 482, Pap. Gardiner
II (im British Museum) und Pap. Gardiner III (im Museum des Oriental
Institute Chicago). Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Papyri und
Särgen ist aufschlußreich : Im vorliegenden Bande entsprechen den drei
Papyri Texte von 75 Särgen. Von den publizierten 86 Sprüchen dieses
Bandes finden sich nur vier in einem oder mehreren der Pap. (In den
anderen Bänden sind die Verhältniszahlen z. T. nicht so krass). Die
Papyrustexte zeichnen sich gegenüber den eigentlichen Sargtexten durch
strengere Zusammenfassung, weniger Einschübe und oftmals bessere
Orthographie aus^. Wir haben in ihnen eine Art ,, Quellenbücher" zu
sehen, aus deren Bestand die eigentlichen Sargtexte durch Kompilation,
Zerlegungen, Erweiterungen, Interpretationen usw. entwickelt sind.
Wie Inhalt und Art der Niederschrift anzeigt, sind die Texte zum
Nutzen des Toten gedacht. Sie sollen ihm zu den gewünschten Lebens¬
bedingungen im Jenseits verhelfen. Sie sollen ihn davor schützen, auf
seinem Weg zu dem ,, schönen Westen" oder zum himmlischen Jenseits
angehalten, verstümmelt oder vernichtet zu werden. Sie sollen ihm
Macht verschaffen und als ihren sichtbaren Ausdruck Wandelbarkeit der
Gestalt, sollen ihn befähigen, ,,die Gestalt eines jeden Gottes, den er will,
anzunehmen" (S. 42.51.53). Aber der magische Gehalt der Sprüche kann
auch Lebenden zugute kommen. Das lehren die ,, Gebrauchsanweisungen' ',
die bisweilen einzelnen Sprüchen beigegeben sind. Ein hübsches Beispiel
dafür lautet (S. 345):,, Ein Mann soll diesen [Spruch] sagen über 7 gemalten
Udjat-Augen; sie sollen abgewaschen werden mit Bier (bzw. Natron) und
von dem Manne getrunken werden". Diese bis heute geübte magische
Praktik zum buchstäblichen ,, Einverleiben" bildlich oder schriftlich fixierter Macht dürfte hier das erste Mal inschriftlich belegt sein.
Die religiöse Welt, die uns in den Sargtexten entgegentritt, ist grund¬
sätzlich eine andere als in den Pyr. Während in diesen der Gang des
Begräbnisrituals den Leitfaden der Texte gibt und die Welt, in der sie
wirksam werden, die der Mythe ist, in die der tote König eingeht^, liegt
für die Sargtexte die Sache grundsätzlich anders: Als Zeugnisse einer
späteren Zeit und einer sozial breiteren Schicht, als Texte einer offenbar meist nicht rituellen Bestimmung, ist die Fülle der religiösen Vorstellun¬
gen und Bilder, Begriffe und Formeln wesentlich vielschichtiger und un¬
einheitlicher. Gewiß liegt auch ihnen (und das oft noch viel unmittelbarer
1 Vgl. etwa Pap. Gardiner II Z. 317/319, zwei durch Titel getrennte
Sprüche, die auf drei Särgen unter Vertauschung ihrer Reihenfolge zu einem
Spruch zusammengefaßt sind = Sp. 301.
2 Siegfried Schott, Bemerkungen zum ägyptischen Pyramidenkult, Bei¬
träge zur ägyptischen Bauforschung 5, Kairo 1950.
192 Eberhabd Otto
als den Pyr.) der Wille zugrunde, dem, der sie , .besitzt", Macht zu ver¬
schaffen. Aber die Quelle dieser Macht und ihr Ziel lassen sich in keiner
Weise in einheitliche Begriffe fassen, weniger noch als bei den Pyr., wo
die Wesenheit des göttlichen Königs in seinen verschiedenen Aspekten
den Brennpunkt aller Beziehungen darstellt. Neben dem himmlischen
Jenseits beim Sonnengott steht das chthonische bei Osiris; der ,, schöne
Westen", offenbar eine der ältesten Jenseitsvorstellungen, gilt als Ziel
wie der Osten als Geburtsstätte des Sonnengottes, der aber zugleich auch
als Schlachtstätte der Götter" gefürchtet wird. Die Reise durch die
Unterwelt mit ihren Toren (Sp. 336), das Gericht an zahlreichen Kult¬
stätten des Landes (Sp. 337/38), aber auch das alte ,, Opfergefilde", der ,, gewundene See", die Himmelsleiter, alle diese Vorstellungen schieben
sich aus verschiedenen Sphären stammend übereinander und ergeben ein
mosaikartiges Bild, dessen Zerlegung im Einzelnen Ziel künftiger Arbeit
bleiben wird. Wie das Aufrollen textkritischer Fragen würde das Ein¬
gehen auf diese Probleme innerhalb des gegebenen Rahmens zu keinem
Ergebnis führen.
Hingegen erscheint es mir lohnend, an Hand des vorliegenden Text¬
bandes eine, wie ich glaube, wesentliche Frage zu stellen: Wie verhalten
sich die Texte zur mythischen Welt ? Daß in den Sargtexten die mythi¬
sche Welt der Pyr. weitgehend übernommen worden ist, war schon ange¬
deutet : Die Osirismythe, Horus und Seth als feindliches Paar, die Mythe
vom Horuskinde und auch vom König Horus, der Mjdihenkreis um das
Gottesauge, das Bild vom Schöpfergott in der Barke usw., das alles sind
Begriffe, mit denen die Sargtexte wie mit handlichem Werkzeug arbeiten.
Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Texten unter ihnen, die mythi¬
sche Themen zum Gegenstand haben, ja, bei denen ihre Verwendung als
Totentext durchaus sekundärer Art zu sein scheint. Aus dem II. Band
ist das ,, Göttergespräch" zwischen Isis und Atum über die noch in der
Zukunft liegende Gebmt des Horuskindes zu nennen, das Drioton^ zu den
,, dramatischen Texten" zählt. Im vorliegenden Band wäre besonders auf
Sp. 335 hinzuweisen, das spätere Totenbuchkapitel 17, das hier in nicht
weniger als 27 Paralleltexten vorliegt^. Seine Bedeutung für die Religions¬
und Literaturgeschichte beruht neben seinem Reichtum an mythischen
Einzelheiten vor allem in der Tatsache, daß mythische Begriffe bereits
hier theologisch kommentiert werden; den Nennungen von göttlichen
Wesen, Orten, Ereignissen ist häufig eine Glosse beigefügt, eingeleitet
mit der Frage: ,,Was ist das ?", der sich die Deutung anschließt. Oder es
wäre Sp. 312 zu normen, den de Buck in JEA 35, 87 ff. besprochen hat
^ IStienne Drioton, Le thöätre Egyptien, Kairo 1942, S. 54ff.
^ Hebsiann Grabow, Religiöse Urkunden = Urkunden des ägyptischen
Altertums, Abt. V.
(= Totenbuch 78), der ebenfalls zum guten Teil in Gesprächsform in die
mythische Welt führt. In Sp. 277 (,, Verwandlung in Thot") liegt eben¬
falls ein mythisches Thema vor: Die Wirksamkeit des Thot als Richter
im Streit des Horus und Seth und als Schöpfer der Zeiteinteilung (als
Mond = Horusauge), die sich der Tote mit magischer Gewalt nutzbar
machen will.
Aber so schätzenswert und unentbehrlich dergleichen für uns ist, als
Quellenmaterial zur Mythe und ihrem Werden, so wenig scheint es mir
die religiöse Welt der Sargtexte gegenüber und zum Unterschied von der
der Pyr. zu charakterisieren. Um die gleichsam ,, zusätzliche" Rolle
mythischer Stoffe in den Sargtexten zu verdeutlichen, möchte ich von
zwei Sprüchen, bzw. Spruchgruppen ausgehen. In Sp. 334, der den
Titel trägt: ,, Verwandlung in Ihi", wird die Wesensgleichheit des Toten
mit dem Götterkind Ihi, dem Sohn der Hathor und des Re, ausgespro¬
chen, der als urzeitliches Wesen erzeugt und entstanden ist. Am Schluß
werden die Körperteile des Toten mit den Emblemen seiner göttlichen
Mutter Hathor gleichgesetzt, um die unzerstörbare Qualität des Toten
Glied für Glied zu gewährleisten. Hier ist es selbstverständlich die
mythische Welt, in die der Tote emgehen soll, die Mächtigkeit des in der
Urzeit gezeugten Götterkindes, wobei die Namengebung wie meist etwas
relativ Willkürliches ist: Ihi — Hathor — Re, im Kult gilt gemeinhin
Horns von Edfu als Gemahl der Hathor von Dendera. Un-mythisch
begegnet der diesem Spruch zugrunde liegende Gedanke und Wunsch in
Sp. 290/91: Der Tote verwandelt sich in ein Kind, um der Fürsorge von
Vater und Mutter teilhaftig zu werden. Und damit treffen wir wohl
eigentlich auf die Grundvorstellung : Es ist der allgemeine Wunsch des
Kindseins, des Umsorgtwerdens; diesen Zustand schlechthin hält der
Tote für wünschenswert und seine behauptete Gleichheit mit Ihi ist nur
eine mögliche mythische Verwirklichung davon. Ähnlich steht es mit dem
zweiten Hauptgedanken des Spruches 334, mit der Behauptung, in der
Urzeit ,, entstanden", nicht nach menschlicher Weise geboren zu sein.
(,,Ich bin entstanden, als die Scheide noch nicht geschaffen und die
Gebärmutter noch nicht geboren hatte"). Es dürfte auch hier zunächst
eine un-mythische Wunschvorstellung vorliegen, daß nämlich der Prä¬
existenz auch eine unvergängliche Postexistenz innewohne. Und diese
Wunsch Vorstellung kann mythisch erhärtet werden: Es kann Wesens¬
gleichheit mit den Urgott-Begriffen Hu und Sia (Ausspruch und Er¬
keimen) behauptet werden (Sp. 325), mit dem ,,Einauge" als der urzeit¬
lich präexistenten ,, Göttin" (Sp. 331). In allen Fällen ist das zunächst
Gegebene, der Ausgangspunkt, eine un-mythische Vorstellung, zu deren
Erhärtung verschiedene (nicht notwendig einheitliche) mythische Bilder
und Begriffe herangezogen werden können. In der Freiheit, mit der sie
194 Ebebhasd Otto
verwendet werden, liegt auch jetzt noch ein wirkendes Element zur
Mythenbildung und -variation^.
Zm Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen Vorstellungsbild und
Mythe noch ein Beispiel aus einem Spruch (Sp. 353), der den Titel trägt:
,, Gewalthaben über Wasser" und der zu den zahlreichen Sprüchen ge¬
hört, die verhindern sollen, daß der Tote Durst leide. Es heißt an der
einen Stelle (S. 394/97): ,,0 großer Nil des oberen Himmels in jenem
deinem Namen ,Befruchter'2 ! Mögest du geben, daß ich Gewalt habe
(shm) über das Wasser wie die Sachmet-Löwin, die Raubende, in jener
Nacht des Unwetters". Wunsch und Vorstellung sind deutlich: Der
himmlische Nil in seiner Qualität als Befruchter des Landes soll dem
Toten freie Verfügung über Wasser geben. Die erwünschte Gewalt soll
durch ein mächtiges, zwingendes Wort gesichert werden. Das Wort
,, Gewalt haben über" (shm) ist das Stichwort, um den etymologisch
davon abgeleiteten Namen der mächtigen Löwengöttin Sachmet einzu¬
führen. Ihre Gewalt ist ,, räuberisch", besonders in der ,, Nacht des Un¬
wetters", womit wohl nicht — wie es sonst oft in diesen Wortprägungen
der Fall ist (,,in jener Nacht des Kampfes und des Niederwerfens der
Rebellen", ,,in jener Nacht des Aufstellens der beiden Djedpfeiler" usw.)
— auf ein bestimmtes, kultisch geformtes nächtliches Ereignis angespielt
ist, sondern die Nacht mit Unwetter als die Zeit genannt wird, in der die
räuberische Gewalt der Löwin am gefährlichsten in Erscheinung tritt' .
Die Nennung der Göttin aber, angeregt durch ein Wortspiel, führt das
Denken in die Mythe: Was soll die ,, Mächtige" rauben? Hier ist ein
mythischer Begriff von passiver Mächtigkeit einzuführen; es könnte
Osiris oder das ,, geraubte" Horusauge sein. Die Texte, die das Objekt des
Raubens einführen, wählen übereinstimmend Osiris, weil die Sargtexte
besonders gern mit Begriffen der Natursymbolik arbeiten, weil der Be¬
griff des Wassers, um den es hier geht, durch Ideenassoziation zu Osiris
führt und weil das hier für „rauben" gebrauchte Wort zugleich ,, ernten"
bedeutet. Damit wird aber ein neuer Sirm angedeutet und im Hinter¬
grund erscheint ein natmhaftes Bild : Macht, die die Kornernte in einer
Unwetternacht hinwegrafft. Ist aber einmal der Name Osiris gefallen, so
zieht er den seines Gegners gleichsam zwangsläufig nach; so fügt eine
Anzahl Texte auch diesen Namen noch ein und ersetzt den Namen der
Sachmet durch das Verbum shm. Nun lautet der macht-tragende Ver¬
gleichssatz: ,,Wie Seth Gewalt hat, den Osiris zu rauben in jener Nacht
1 Siegfried Schott, Mythe und Mythenbildung, Untersuchungen zur
ägyptischen Altertumskunde XV, Leipzig 1945, S. lllff.
2 Zum Wort vgl. Kubt Sethe, Pyr. Kom. III S. 438.
" Vgl. Lacau TR 11 (noch nicht bei de Buck): „die mit scharfen Augen
und spitzen Krallen, die Löwin, die bei Nacht Nahrung erblickt und errafft."
des großen Unwetters (oder: der großen Wut)". Ganz abgesehen von all
diesem Tasten und Suchen nach mächtigen Worten und Vergleichen, hat
am Anfang eine große Zahl der Texte anstelle des angerufenen ,, großen
Nil", den Gott Heka (,, Zauber") selbst, wodurch zwar die Bildhaftigkeit
verschwimmt, die Mächtigkeit aber durch die Nennung des in den Sarg¬
texten sehr beliebten ,, Gottes" eher zunimmt.
Alle diese Beispiele, die sich natürlich noch um ein Vielfaches vermehren
ließen, zeigen einerseits, wie wenig auch jetzt noch die Mythe etwas
Festes, Unveränderliches ist, welche Möglichkeiten der Variierung und
des Weiterbauens bestehen. Sie zeigen aber auch (und das ist hier das
Wichtigere), daß die religiöse Welt der Sargtexte primär und vorwiegend
nicht die Welt der Mythe ist. Diese tritt vielmehr fallweise als mögliche
Form der Präzisierung und Verdeutlichung religiöser Begriffe und An¬
liegen hinzu. Ihr gegenüber erscheint die Welt der Sargtexte weiter, ur¬
sprünglicher, reichhaltiger undogmatischer; sie ist von sich aus un¬
mythisch und — wie man vielleicht sogar sagen kann — vor-mythisch.
Zur weiteren Verdeutlichung dessen, was ich hier die eigentliche reli¬
giöse Welt der Sargtexte nenne, möchte ich auf drei Bild- oder Begriffs¬
kreise hinweisen, in denen diese Welt überzeugend zum Ausdruck
kommt: Die vegetative Unsterblichkeit; die urzeitliche Schöpfungs¬
macht ; die vogelgestaltige Überirdischkeit.
Der Gedanke der vegetativen Unsterblichkeit, d. h. das mächtige
Symbol des in der Erde absterbenden und wiederauferstehenden Saat¬
kornes, ist in Äg5rpten uralt^. In unseren Texten ist als Kernstück und
deutlichste Formung dieses Gedankens auf Sp. 330 zu verweisen, wo es
heißt: ,,Ich lebe, ich sterbe, ich bin Osiris, — Ich bin hervorgekommen
aus dir, ich bin eingetreten in dich, ich bin fett geworden in dir, ich bin
gewachsen in dir, ich bin in dich gefallen, ich bin auf meine Seite gefallen.
Die Götter leben von mir. Ich lebe, ich wachse als Nepre (Korngott), der
die Ehrwürdigen (Toten) (mit sich) herausnimmt. Geb hat mich ver¬
borgen. Ich lebe, ich sterbe; ich bin die Gerste; nicht vergehe ich". Oder (Sp. 269): ,,N ist jene 6/.<-Pflanze, die aus Osiris hervorgeht, die aus den
Rippen des Osiris wächst, die die Menschen am Leben erhält, die die
Götter göttlich macht, die die Verklärten verklärt sein läßt, die die
Herren der Nahrung und die Herren der Speisen speist, die die Opferbrote
für die Verklärten macht, die die Lebenden stärkt, die die Leiber der
Lebenden festigt. Dieser N ist lebendig als Nepre-Hetit (Korngott), dieser
N ist Nepre-Hetit [für] die Lebenden. Dieser N lebt und wird fett auf den
Rippen des Geb. Und die Liebe zu diesem N (wohl = der Wunsch nach
ihm) ist im Himmel und auf Erden, in den Gewässern und in der Weite
des Feldes". Das mächtige Symbol und die menschliche Not, für die es
' Alexander Scharit, Frühe Vorstufen des „Kornosiris", FuF Mai 1947.
196 Ebbehard Otto
trostwirkend stellt, sind in klaren. Formulierungen beschworen. Nepre
ist noch das Korn und Geb ist die Erde; ,, Osiris" ist die Fruchtbarkeit
der Erde. Es sind Namen für Begriffe, aber keine mythischen Götter. Der
Bildbegriff der vegetativen Unsterblichkeit wird in diesen Texten als
Eigenwert ausgedrückt und weist nur erst durch Namen auf die mögliche
Mythe hin. Deshalb nannte ich diese Welt vor-mythisch.
Aus gleicher Erlebnissphäre stammt das Vorstellungsbild vom Nil als
der jetzt und hier gegenwärtigen Manifestation des vorzeitlichen Ur-
gewässers. Der Nil, das ist ebenso der Inbegriff aller Fruchtbarkeit und
allen Lebens wie der des Urzeitlichen, des Präexistenten schlechthin, wie
der der Unaufhaltsamkeit und Unwiderstehlichkeit. ,,Ich bin der Älteste
der Achtheit, der Nile, der Urzeitlichen. Ich bin erschienen in meiner
Würde. Ich kam heute aus Elephantine (d. h. dem Orte der Nilquellen) ;
da wurde mir Nepre (Korn) zu meinem Gefolge gegeben durch den
, Großen in seiner Opferhalle'. Mir gehören die Speisen; man bereitete mir
Opfer und mir kam das Opferbier zu. Ich bin der mit wachsamen Gesicht
und erhabenen Vorderteil (vgl. Pyr. 507 b dieselbe Wortprägung für das
Suchoskrokodil), der älter ist als die vorzeitlichen. Ich entstand als die
Scheide noch nicht geschaffen und die Gebärmutter noch nicht geboren
hatte. Blickt auf mich, ihr Götter! Kommt in mein Gefolge!" (Sp. 317).
,,Ich habe die beiden Ufer überschwemmt. Meine Macht (bg) kam zum
Vorschein nach dem Nun (Urgewässer) über die beiden Länder hin. Ihr
Menschen! Seht mich: Ich bin der Nil, der vorgeburtliche (hntj miw.t),
der das Seiende schafft und das Nicht-Seiende entstehen läßt (d. h. der
alles erschafft). Die Furcht vor mir existiert. Ich, ich komme zu euch als
diese Seelenmacht {bs), die Licht bringt (?)" (Sp. 320). ,,Denn ich bin der
Nil, der breitgesichtige, der Schöpfer der Götter, der König der Urwesen
(hk.t, eigtl.: ,, Kröten"), der ehrwürdige Gott, mit geheimem Gehör, der,
auf dessen Geheiß alle Götter leben. Ich ließ Beseeltheit (bsw) über die
Länder kommen. Wenn sie kommt, so wachsen Kräuter" (Sp. 321).
Innerlich verwandt, gleichsam nur eine andere Verwirklichungsmög¬
lichkeit für die gleiche Begrtffsreihe, ist die Wandlung in ein Krokodil,
wobei es schon auffällig ist, daß ein Teil der Texte direkt msh (= Kro¬
kodil) schreibt, nicht wie Pyr. nur den Krokodilgott &bk (Suchos) nennt
<S. 4g; 35a)i. Er ist der ,, Greifer, der Herr der Flut" (S. 35 o). Er lebt von
Fischen {nämw.t, S. 3, 35); die Fische im Wasser schützen ihn^. Wer sich
1 Nach WB kommt das Wort msh in den Pyr. überhaupt nicht vor.
" „Fische" = hdw. Das Wort ist sonst erst griech. belegt. Hier begegnet es noch S. 127 e. In einem anderen Spruch (Coff. texts II S. 43), der das ,,Ijeben"
selbst als allgewaltige Gottheit zum Gegenstand hat, kommt dasselbe Wort
nochmals vor: Der Tote als ,, Leben" erhält am Leben „die Fische und das
Gewürm auf dem Rücken des Geb (Erde)."
dem in den Nil Verwandelten widersetzt, , ,den packen die Krokodile, die vor mir sind; den fressen die Fische, die hinter mir sind".
Es ist kein Zufall, daß die Wortwahl dem ,, unkanonischen" Charakter
der Gedanken entspricht. Der Nil, der in den Pyr. (126; 292) nur eben als
der Strom Ägyptens vorkommt, die Fische, die gemeinhin als ,,uiu-ein"
gelten, das Krokodil, das alt nur in seiner religiös determinierten Form
als ,,Gott" Suchos in die Götterwelt Eingang gefunden hat, — auch in
dieser Beziehung treffen wir hier auf eine maßlose, ungeformte Welt. Das
Jetzt und Hier, der Strom, von dem das Leben jedes Einzelnen abhängt,
das Krokodil, das dem Stromanwohner Angst und Schrecken einflößt,
die Gerste, von der er sein Brot bäckt, die gegenwärtige Welt um ihn ist
dem Menschen noch in all ihrer Buntheit, in jeder Einzelheit ihrer rätsel¬
vollen Erscheinungen religiöse Wirklichkeit, möglicher Träger göttlicher
Macht. Ihre Bilder und Wesen schließen religiöse Werte ein. Es ist
gleichsam der Rohstoff, dessen sich die Mythe bedient, um ihre benannten
und geformten Gestalten zu schaffen. Deshalb ist der Charakter der Welt
der Sargtexte vor-mythisch.
Die Enge und Dunkelheit des Grabes, das Bedrohtsein des bewegungs-
und wehrlosen Toten von bekannten und unbekannten Gefahren läßt den
Wunsch entstehen, in magischer Verwandlungskraft eine Form zu finden,
die von vornherein gerade diesen gefürchteten Beschränkungen am wenig¬
sten ausgesetzt erscheint: Die Gestalt als Vogel, der die Bewegungs¬
fähigkeit, die "Freiheit von erdhafter Gebundenheit, die Möglichkeit des
Himmelsfluges, die Raschheit des Kommens und Gehens am sinnfällig¬
sten ausdrückt. Der Tote möchte der Reiher Nwr sein, der über dem
Lande ,, Grenzenlos" schwebt (Sp. 272). Er ist aufgestiegen als die wr-
Schwalbe und gackert als smw-Gans (Sp. 278, 287). Er ist der *wtü.<-Vogel
(Sp. 293), der rrf-Vogel (S.26), der äiös- Vogel (ib.) und andere mehr^.
Dabei ist es für die Einstellung der Sargtexte bezeichnend, daß die beiden
bekannten vogelgestaltigen Machtbegriffe, Ba und Ach, die ursprünglich
zweifellos vom gleichen Sinngehalt der Vogelgestalt ausgegangen waren,
um ihrer begrifflichen Einengung willen — es sind funktionell deter¬
minierte Seelenbegriffe geworden — nicht in diesem Sirme in den Ver¬
wandlungssprüchen auftauchen. Grundsätzlich dasselbe trifft auf den
Horus-Falken zu. Natürlich kennen und verwenden die Texte sowohl den
mythischen Aspekt der Gestalt, den Gottessohn Horus, wie den dog¬
matischen, den Kerrschergott Horns, aber auch hier nur bisweilen als
mögliche und erwünschte mythologische Erhärtung einer erstrebten
Form. In den Spruchtiteln und in den Texten ist es der ,, Falke" oder der
,, göttliche Falke" als die vor-mythische Erscheinung des Horus-Be-
1 Vgl. Hermann Kees, Totenglauben S. 278 ff.
198 Ebebhaed Otto
griffes, die über noch zahlreichere Wirkungsmöglichkeiten verfügte als
diese selbst^.
Von hier aus ist überhaupt die reichhaltige Tierwelt der Sargtexte zu
verstehen: Noch sind die Tiere die einprägsamsten Erscheinungen mög¬
licher Mächtigkeit; in der Mythe liegt eine Auswahl und Beschränkung
vor. Das trifft, wie oben gezeigt, auf das Krokodil zu ; dieser Schicht ent¬
stammt der Pelikan^; ferner der ,, Kater" (Sp. 294) oder der ,, Große
Kater" (S. 282/3 = Totenbuch 17), den die Glosse als ,,Re" deutet.
Nichts wissen wir über die Bedeutung der Schildkröte, als die der Tote
,, geschmückt" ist (Sp. 310/11). Doch denkt man unwillkürlich an das
frühgeschichtliche Grab von Heluan, in dem über der verstümmelten (?)
Leiche ein Schildkrötenpanzer lag*. Wir halten nur ein typologisch spä¬
teres Stadium fest, wenn wir in solchen Fällen von einer , ,tierischen Er¬
scheinungsform" dieses oder jenes Gottes sprechen (wie bei Kater — Re,
Krokodil — Suchos) ; das Tier ist ein Numen sui generis und der ,,Gott"
ein anderes. Unter den uns vorliegenden religionsgeschichtlichen Quellen
dürften aber die Sargtexte diejenigen sein, die am unmittelbarsten und
reichhaltigsten aus dieser vor-mythischen, vor-göttlichen reichen Welt
der Mächte gespeist werden.
Im Anschluß an diese Überlegung sei schließlich noch eine Frage ange¬
rührt, zu deren Beantwortung die Sargtexte Wichtiges beisteuern können
und die für die gesamte ägyptische Religionsgeschichte von grundlegen¬
der Bedeutung ist: In wieweit enthalten die Sargtexte lokales religiöses
Gut ? Gerade in ihnen wäre die Bewahrung alter lokal geschiedener
religiöser Vorstellungen zu erwarten, da — wie soeben gezeigt — ihre
religiöse Welt zum guten Teil schichtenmäßig auf Vorstellungen zurück¬
greift, die der vereinheitlichenden theologischen Formung des AR vorauf¬
gehen, bzw. zugrunde liegen, und da sie im wesentlichen zu einer Zeit
entstanden sind, als alle Voraussetzungen bestanden, lokale Überliefe¬
rungen gegenüber den Konzeptionen des zentralen AR zur Geltung zu
qringen. Finden wir hier nun tatsächlich geographisch unterscheidbare
religiöse Überlieferungen, die es wenigstens in Grundzügen gestatteten,
etwa in Bersche oder Siut oder Gebelen oder Memphis (Saqqara) behei¬
matete religiöse Anschauungen zu erkennen ? Die Frage ist nicht leicht
zu beantworten. Ich glaube, sie ist in zwei Teilfragen zu zerlegen, deren
eine mit Ja, deren andere mit Nein beantwortet werden muß. Sie ist m.E.
zu bejahen, soweit es sich um Kulte im engeren Sinne und Riten handelt ;
1 Vgl. Hebmann Kees, Göttorglaube S. 41/42.
" Ebebhabd Otto, Das Pelikanmotiv in der altägyptischen Literatur,
Studies pres. to David M. Robinson, S. 215ff.
^ Zaki Saad, Royal excavations at Saqqara and Helwan 1941/45, =
Suppl. aux ASAE, Cahier 3, 1947, S. 108.
in dieser Sphäre giht es offensichtlich lokale Verschiedenheiten. Sie ist aher zu verneinen dann, wenn es sich um wirklich religiöse Vorstellungen,
Begriffe, um Mächte und Götter handelt. Ein paar Beispiele sollen das
verdeutlichen. Eine große Rolle spielt der Gott Thot, der den Streit
zwischen Horus und Seth schlichtet und Horus ,, rechtfertigt" ; er soll
a.uch den Toten rechtfertigen (Sp. 277, vgl. auch S. 88). Er ist es zugleich,
der die Monate schafft und die Halbmonate abteilt (S. 18). Seine Aspekte
als , .Ordner" und ,, Richter" (,, Stier der Maat") sind deutlich; aber ist er
irgendwie als ,, Lokalgott" von Hermopolis ausgezeichnet? Oder Hathor
sei genannt, deren Bild als gewaltige Urgöttin in Sp. 331 beschworen
wird, die schon bei der ersten Urzeugung zugegen war und als Schlangen-
Augen-Göttin wesenhaft zum ,,Einherrn" gehört, — ist sie die ,, Orts¬
göttin" von Dendera? Die den Text enthaltenden Särge stammen aus
Assuan, Gebelen, Siut. Noch schwieriger ist die Frage mit dem Gott
Snsw (Sp. 310/11, 334, vgl. auch Coff. texts III 90), der als gefährlicher
Mondgott (Mondsichel) und Götterkind Erscheinungsform des Toten
-werden solP ; wie verhält er sich zu dem thebanischen ,, Lokalgott' ' Chons,
dem Mondgott und Götterkind der thebanischen Triade ? Wesentlich ist
in diesem Zusammenhang nochmals Sp. 334 über den Gott Ihi, das
Götterkind des Re, dessen Mutter zugleich Isis und Hathor genannt
wird (s. O.S. 193). Er gilt, wie gesagt, als Sohn der Hathor von Dendera in
der lokalisierten Mythe; aber der Spruch läßt nichts davon ahnen. Hin¬
gegen spielt er auf ein sonst m.W. nicht bekanntes Schöpfungsbild an
(S. 181 j —1): ,, Meine Mutter Isis empfing( ?) mich; sie kannte sich nicht
(mehr) unter den Fingern des Götterherrn. Er zerbrach sie da an jenem
Tage, als die Tiefe erhoben wurde (?).... des Götterherrn an jenem
Tage der Unordnung".
Selbstverständlich ist es unmöglich, die Frage nach der Herkunft der
sogenannten Ortsgötter in Ägypten auf Grund der Sargtexte zu beant¬
worten. Es muß aber doch verwundern, daß es nicht möglich ist, mit
Hilfe des reichhaltigen und örtlich sehr unterschiedlichen Materials das
religiöse Weltbild irgendeines Ortes oder eines Gaues aufzuzeigen und
gegen andere abzugrenzen. Es scheint doch vielmehr so zu sein, daß der
Reichtum an religiösen Bildern, Gestalten und Kräften nicht aus dem
Zusammenwachsen lokaler Traditionen erwachsen ist, sondern einem
Reichtum religiösen Denkens entstammt und z. T. sekundär lokalisiert
worden ist. Wie sehr religiöse Dinge einen ,, Heimatort" finden können,
zeigt im Bereich der Sargtexte die Rolle, die Herakleopolis spielt, die
Residenz der 9./10. Dyn. 2. Eine Geschichte des Ortes ist noch nicht ge¬
schrieben und sein Ursprung, besonders die Bedeutung seines Namens
1 Zu Sp. 310 = S. 66 m vgl. Pyr. 402 und Sethe, Komm. II S. 157.
^ Vgl. Hermann Kees, Götterglaube S. 318/19.
200 Eberhard Otto, Sprüche auf altägyptischen. Särgen
Hnn-nswt ,, Stadt desKönigskindes" bleibt noch dunkel. Als Herrschafts- ort wird er zu dieser Zeit gern genannt (S. 88, 316ff.). Das Pest des ,, Erd¬
hackens", das vielleicht ursprünglich einen nicht lokalen landwirt¬
schaftlichen Ritus darstellte, dann als Kulthandlung des memphitischen
Erdgottes Sokaris bekannt ist, wird nun auch, verbunden mit memphi¬
tischen Begriffen, nach Herakleopolis verlegt: ,, Meine i/ww-Barke (die
Sokaris-Barke) ist auf ihrem Gestell. Ich bin es, der seinen Götterbart
(hbsw.t) empfängt an jenem Tage des Erdhackens (hbs-ti) in Herakleo¬
polis" (S. 95). Sprüche wie Sp. 313 oder 337 enthalten mit ihren Aufzäh¬
lungen von Göttern und ihren Kultorten, Gerichtsorten und Gerichts¬
tagen zahlreiche Anspielungen auf örtliche Überlieferungen, ohne daß im
einzelnen sich die Frage nach Herkunft und Entstehung solcher lokaler
Überlieferung erübrigte.
Die ganze ProblematUi der ägyptischen Religionsgeschichte schließen
die Sargtexte in sich ein, aber auch ihren Gestalten- und Bilderreichtum,
die Fülle echter religiöser Empfindungen wie das Netzwerk theologischer
Spekulationen. Und sie stellen eine noch keineswegs ausgeschöpfte
Quelle dar. Ihre weitere Bearbeitung wird vielen Zweigen unserer Wissen¬
schaft förderlich sein. Ihre hier vorliegende Veröffentlichung als Voraus¬
setzung dazu zählt nach der Bedeutung des Inhalts wie nach Zweck¬
mäßigkeit und Schönheit der Form zu den Standardwerken unserer
Wissenschaft,
der gublitischen Inschriften
Von Anton Jibku, Bonn
I. Einleitung
Im Sommer 1946 veröffentlichte E. Dhorme (Paris) seine Entzifferung
archaischer Inschriften^, die bei den französischen Ausgrabungen in
Bybios gefunden und dann von Dunand in der Zeitschrift Syria^ sowie
in seinem Werke , Byblia Grammata"* herausgegeben worden waren*.
Seiner ersten Publikation ließ Dhorme bald eine zweite, ausführlichere
folgen^, in der er die zehn in Frage kommenden Inschriften in Abschrift,
Umschrift und Übersetzung, nebst einem philologischen Kommentar
brachte.
Diese Entzifferung der gublitischen Inschriften durch E. Dhorme hat
in wissenschaftlichen Kreisen lange nicht die Beachtung gefunden, die sie
m. E. verdient; wurde uns durch sie doch die Kenntnis eines neuen (und
dazu noch des ältesten) kana'anäischen Dialektes erschlossen. Es hat
sogar den Anschein, als ob viele Forscher der Entzifferung E. Dhormes
skeptisch gegenüberstünden®.
Nach meinem Dafürhalten sind folgende vier Daten der schlagende
Beweis für die Richtigkeit von E. Dhormes Entzifferung der gublitischen
Inschriften :
1. Auf Grund seiner Deutung von Inschrift c konnte er die lange In¬
schrift d glatt lesen und übersetzen'.
1 Vgl. Oomptes rendus de rAcadömie des Inscriptions et Beiles Lettres.
August und September 1946.
2 1929, S. Iff.
' Beyrouth. 194.5. S. 71ff. Im Folgenden abgekürzt Bybl. Gram.
* Dunand nennt diese Inschriften ,,pseudo-hieroglyphische" (Dhoeme
schloß sich ihm an), welche Benennung ich nicht für glücklich halte, da sie
in keiner Weise charakteristisch ist. Da Bybios zu der Zeit, da diese Schrift
in Gebrauch war, Gublu hieß, habe ich für sie don Namen gublitisch gewählt.
° Syria 1946—48, S. Iff. — Im Folgenden abgekürzt : Dhorme.
° Auch die 1951 erschienene .phönizisch-punische Grammatik' von .1.
Friedeich erwähnt die Entziffenmgsarbeit Dhormes überhaupt nicht.
' Dies war bekanntlich auch eine Bestätigung von Champollions Ent¬
zifferung der ägyptischen Hieroglyphen, als er auf Gnmd seiner Arbeit
am Stein von Rosette eine 2. Inschrift (auch eine Bilinguis) übersetzen
konnte.