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egen Ende der Sechzigerjahre wurde die Hämodialyse mit der Entwicklung der Unterarmfistel und Etablierung der Acetatdialyse zu- nehmend als Routineverfahren auch in der ambulanten Versorgung einsetzbar.Es gelang jedoch nicht, mit den vorhan- denen ausschließlich stationären Dialy- seplätzen den dringenden Bedarf zu decken. Erst durch gezielte Förderung der Hämodialyse halfen ärztlich gelei- tete freigemeinnützige Initiativen zu Beginn der Siebzigerjahre, diesen Ver- sorgungsengpass zu beheben.
Die Situation in der Versorgung mit Dialyseleistungen entspannte sich in den folgenden Jahren durch die Bereit- schaft von Vertragsärzten, trotz ho- her Anfangsinvestitionen Dialysepra- xen aufzubauen und zu betreiben. Heu- te werden etwa zwei Drittel
aller Dialysen durch nieder- gelassene Vertragsärzte und ein Drittel durch ermächtig- te, ärztlich geleitete freige- meinnützige Einrichtungen erbracht.
Mit Beginn des Jahres 2001 wurden in Deutsch- land etwa 52 600 Patienten – davon mehr als 80 Prozent in der ambulanten ver- tragsärztlichen Versorgung – in chronischen Dialyse- programmen behandelt (16).
Damit setzt sich der stetige Anstieg der Anzahl dialyse- pflichtiger Patienten mit ei- ner jährlichen Steigerungs- rate zwischen 1994 und 2000 von etwa 4,5 Prozent fort, während die Zahl der Nie-
rentransplantationen in gleichem Zeit- raum in einer Größenordnung von et- wa 2 300 jährlichen Eingriffen stagniert (2, 5, 6, 7).
Epidemiologische Untersuchungen belegen, dass der Anstieg der Prä- valenz bei den so genannten chroni- schen Volkskrankheiten eine wesent- liche Rolle für die Zunahme nieren- kranker und dialysepflichtiger Patien- ten spielt. Bei mehr als der Hälfte aller Patienten, die neu in Dialyseprogram- me aufgenommen werden, steht die Dialysebedürftigkeit in direktem Zu- sammenhang mit einem bereits über mehrere Jahre behandelten Diabetes mellitus oder einem arteriellen Hyper- tonus (1, 9, 10, 15).
Diese Entwicklung führte zur Erar- beitung des hier vorgestellten Konzep-
tes zur Neuordnung der Versorgung chronisch niereninsuffizienter Patien- ten, dem mittlerweile alle Gremien der ärztlichen und gemeinsamen Selbstver- waltung zugestimmt haben. Die Rege- lungen können somit zum 1. Juli 2002 in Kraft treten. Vorrangiges Ziel ist es, die hoch qualitative ambulante Dialyse- versorgung für die Zukunft sicherzu- stellen und eine flächendeckende am- bulante Versorgung chronisch nieren- insuffizienter Patienten wohnortnah zu gewährleisten. Darüber hinaus wollen sich die Vertragsärzte den Herausfor- derungen der demographischen Ent- wicklung stellen (Grafik)(4). Die be- stehenden Konzepte zum Qualitätsma- nagement sollen mit dem Ziel einer besseren Ergebnisqualität weiterent- wickelt werden. Außerdem sollen strukturelle Anreize zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit al- ler Arztgruppen, die an der Betreuung nierenkranker Patienten beteiligt sind, gesetzt werden.
Eckpunkte des Reformkonzeptes
Die Kassenärztliche Bundesvereini- gung will die Dialyse als ärztliche Lei- stung in hoher Qualität und mit einer gesicherten Auslastung aller an der Versorgung beteiligten Praxen und Ein- richtungen erhalten. Die Besonderhei- ten gewachsener Versorgungsstruktu- ren mit der Koexistenz niedergelasse- ner Vertragsärzte in Dialysepraxen und ermächtigter freigemeinnütziger Dialy- seeinrichtungen sollen dabei berück- sichtigt werden. Somit erstreckt sich das
Dialysevereinbarung
Gegen den industriellen Verdrängungswettbewerb
Die KBV will auch künftig eine wohnortnahe und qualitativ gute
Dialysebehandlung sicherstellen. Nach fast zweijähriger Diskussion mit den Krankenkassen tritt am 1. Juli 2002 eine neue Regelung in Kraft (siehe Bekanntmachungen in diesem Heft).
Grafik
Altersstruktur der Patienten in chronischer Nieren- ersatztherapie (Dialysepatienten und Patienten in Transplantationsnachsorge) in Deutschland
4% 2% 0 2% 4%
(Quelle: QuaSi-Niere gGmbH 2001)
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10
0 männlich weiblich
Konzept über vier Regelungsbereiche:
neben der Weiterentwicklung der Qua- litätsvereinbarung zur Dialyse ist die Neugestaltung der Bedarfsplanungs- Richtlinien sowie die Einführung ver- gütungstechnischer Strukturanreize im EBM vorgesehen. Die Versorgungskon- zeption wird in den Bundesmantelver- trägen geregelt.
Qualitätssicherung und Bedarfsplanung
Die bestehende Qualitätssicherungs- Vereinbarung zu den Blutreinigungs- verfahren gemäß § 135 Abs. 2 SGB V wurde in wesentlichen Punkten weiter- entwickelt. Mit Ausnahme von Heim- dialysen wird einheitlich für alle Dialy- severfahren und -formen ein Arzt-Pati-
enten-Schlüssel eingeführt, um einen gleichmäßig hohen Betreuungsstandard zu gewährleisten. Für Dialysepraxen und Einrichtungen mit mehr als 30 Pati- enten wird ein zweiter Arzt, ab 100 Pa- tienten ein dritter Arzt notwendig. Dar- über hinaus benötigen Zentren mit mehr
als 100 Patienten einen weiteren Ver- tragsarzt je 50 weiterer Patienten. Die Qualifikationsvoraussetzungen orien- tieren sich in hohem Maß am Facharzt- standard. Sie treffen zu für Nephrologen sowie für Ärzte, welche die fachliche Befähigung für die Ausführung und Ab- rechnung für Leistungen der Dialyse nachweisen können. Unter Berücksich- tigung der zukünftigen Anforderungen werden zudem Interventionszeiten für die ärztliche Bereitschaft bei Dialyse- notfällen festgeschrieben. Als integraler Bestandteil werden weiterhin zusätzli- che Maßnahmen zur Ergebnisqualität nach § 136 a SGB V entwickelt.
Ein regelmäßiges standardisiertes Qualitätsmonitoring ist erklärtes Ziel von Ärzten und Krankenkassen. Hier- zu wird geprüft, mit der QuaSi-Niere gGmbH zusammenzuarbeiten, welche
die Infrastruktur für regelmäßige syste- matische Vollerhebungen vorhält. Ge- eignete Qualitäts- und Morbiditätsindi- katoren sind zu erarbeiten.
Aus Strukturerwägungen heraus wird ein kontinuierlicher Auslastungs- grad für eine Institution von mindestens
90 Prozent angesetzt. Zur Ermittlung dieses Auslastungsgrades dient der Arzt-Patienten-Schlüssel mit den oben genannten Schwellenwerten. Ein dar- über hinaus gesteigerter Auslastungs- grad durch zusätzliche Patienten führt dann zur Feststellung eines zusätzlichen Versorgungsbedarfs, wenn auch alle an- deren Dialysepraxen im Versorgungs- bereich ausgelastet sind. Die Prüfung auf Auslastung erfolgt auf der Grundla- ge von Versorgungsregionen innerhalb eines definierten Bereiches. Für Bal- lungsräume ist ein Umkreis von 10 Ki- lometern, für dünn besiedelte Regio- nen ein Umkreis von 30 Kilometern und für sonstige Regionen ein Umkreis von 20 Kilometern festgelegt.
Die Regelung verfolgt das Ziel, bun- desweit eine ortsnahe Dialyseversor- gung für alle Patienten sicherzustellen.
Erst die Feststellung eines zusätzlichen Versorgungsbedarfs führt zur Zulassung eines weiteren fachärztlich-nephrolo- gisch tätigen Vertragsarztes. Dabei wird dem Ausbau eines bestehenden Zen- trums der Vorzug vor einer Neugrün- dung gegeben.
Darüber hinaus kann in Einzelfäl- len zur Sicherstellung der wohnort- nahen Dialyseversorgung ein zusätz- licher Versorgungsbedarf genehmigt werden. Die Ermächtigung von Kran- kenhausärzten als Leiter einer nephro- logischen Schwerpunktabteilung zur Mitbehandlung von chronisch nierenin- suffizienten Patienten bleibt in be- grenztem Umfang weiter vorgesehen.
Vergütung
Dialyse ist eine ärztliche Leistung mit nichtärztlichen Leistungsanteilen (3).
Der ärztliche Leistungsanteil an der Dialysebehandlung wird derzeit bun- deseinheitlich auf Grundlage des EBM in Punkten vergütet. Die Vergütung der Sachkosten der Dialysebehandlung er- folgt über Pauschalen pro Dialyse- behandlung. Die Landesverbände der Krankenkassen verhandeln die Höhe dieser Pauschalen direkt mit den Kas- senärztlichen Vereinigungen im Rah- men der Gesamtverträge. Dabei haben sich zwangsläufig uneinheitliche Vergü- tungen für Dialysesachkosten im Bun-
desgebiet ergeben. ✁
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´ Tabelle CC´
Nierenersatztherapie im internationalen Vergleich – Stand: Juli 2000 (Quelle: Jahresbericht 1999, QuaSi-Niere gGmbH)
Land Jahr Bevölkerung Patienten in Nieren- Peritoneal- Diabetiker bei Transplan- ersatztherapie1 dialyse2 Therpiebeginn tationen3 Australien 1998 18 750 982 10 403 28,0 % 22,0 % 517 Deutschland 1998 82 037 000 62 657 6,1 % 35,0 % 2 340
Finnland 1998 5 160 000 2 654 10,2% 33,7 % 187
Großbritannien 1998 59 070 000 13 466 17,0 % 16,0 % 1 349
Italien 1997 57 563 356 35 104 10,0 % 15,0 % 1 190
Kanada 1997 30 286 268 18 474 29,6 % 28,9 % 1 010
Niederlande 1998 15 654 192 9 133 29,6 % 15,7 % 480
Norwegen 1998 4 445 000 2 318 18,3 % 10,2 % 203
Österreich 1998 8 091 000 5 405 8,0 % 30,6 % 375
Polen 1998 38 670 000 9 766 10,6 % 18,0 % 543
Schweden 1998 8 854 322 5 919 12,0 % 23,0 % 356
Ungarn 1998 1 030 000 4 394 3,1 % 15,4 % 241
USA 1998 270 299 000 311 586 10,2 % 39,8 % 12 956
1Alle Patienten in Transplantationsnachsorge oder chronischer Dialysebehandlung
2Anteil der Peritonealdialysen an den Dialyseverfahren
3Anzahl der jährlichen Nierentransplantationen
Dialysesachkosten werden außer- halb der Gesamtvergütungen direkt von den Krankenkassen honoriert, ihr Vergütungsvolumen hat also keine Auswirkung auf die Honorarverteilung der Vertragsärzte einer Kassenärztli- chen Vereinigung.
Zum Erhalt einer flächendeckend si- chergestellten Versorgung mit ambulan- ten Dialyseleistungen muss auch die Vergütungsregelung vor dem Hinter- grund bestehender regionaler Überka- pazitäten mit einer unwirtschaftlichen Leistungserbringung infolge von Aus- lastungsdefiziten neu gestaltet werden (7). Hier geht vom zunehmenden Inter- esse industrieller Anbieter an der ambu- lanten Dialyseversorgung eine bislang möglicherweise unterschätzte Gefahr aus. Eine vergleichbare Entwicklung in den USA führte zu einem Anstieg des Marktanteils industrieller Dialysean- bieter von 34 Prozent in 1980 auf 70 Pro- zent Ende der 90er-Jahre (8). Gleichzei- tig wurden deutlich erhöhte Mortalitäts- raten in US-Dialysezentren unter kom- merzieller Trägerschaft berichtet (17).
Sachkostenpauschale
Die Gründe des industriellen Interesses an der ambulanten Dialyseversorgung sind vielschichtig. Nach Auffassung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung würde eine Industrialisierung der Dia- lyseversorgung in Deutschland dazu führen, dass die Versorgungsstrukturen destabilisiert werden. Verdrängungsak- tivitäten kapitalstarker kommerzieller Anbieter könnten die wirtschaftliche Leistungserbringung bestehender Pra- xen auf absehbare Zeit unmöglich machen. Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob industrielle Anbieter nach der Schwächung der konkurrierenden ver- tragsärztlichen Dialysekapazitäten eine Sicherstellung im notwendigen Umfang auf hohem qualitativen Niveau garantie- ren würden. Aus diesen Gründen muss im Interesse der chronisch niereninsuffi- zienten Patienten ein Verdrängungs- wettbewerb und daraus resultierende Versorgungslücken in unrentablen Re- gionen konsequent verhindert werden.
Mit bundesweit gültigen Sachkosten- pauschalen wird eine kostendeckende Leistungserbringung in der Dialyse in
der vertragsärztlichen Versorgung auf Dauer gewährleistet, wobei finanzielle Fehlanreize beseitigt werden.
Die Situation in anderen hochent- wickelten Industrieländern offenbart noch eine weitere Motivation zur Neu- ordnung der Vergütungen: die Häufig- keitsverteilungen bei den Dialyseverfah- ren und -formen in Deutschland (Ta- belle). Der Anteil von Hämodialysever- fahren, welche die Eigenkompetenz ge- eigneter Patienten einbeziehen, wird in Deutschland allgemein als zu gering er- achtet. Darüber hinaus gilt der Stellen- wert der Peritonealdialyseverfahren CAPD und CCPD mit etwa sechs Pro- zent als verbesserungswürdig (13, 14).
Hier liegt eine Chance, die hohe Rate von Zentrumsdialysen – wo immer medi- zinisch möglich – durch geeignete finan- zielle Strukturanreize zugunsten von al- ternativen Dialyseverfahren und -for- men zu korrigieren. Ebenso kann Ten- denzen zu ineffektiven Dialysebehand- lungen entgegengewirkt werden (11).
Durch ein gestaffeltes indikations- bezogenes Vergütungssystem für ärztli- che Leistungen soll die Zusammenarbeit von Hausarzt und Spezialist bei der Be- treuung von nierenkranken Patienten gefördert werden. Geplant ist eine Glie- derung mit drei behandlungsfallbezoge- nen Betreuungspauschalen für chronisch niereninsuffiziente Patienten, nieren- transplantierte Patienten und Dialysepa- tienten. Die Schnittstelle zwischen haus- ärztlichem und fachärztlich-nephrologi- schem Versorgungsbereich wird durch definierte Übergabeparameter klar fest- gelegt. Hierdurch wird unter anderem ei- ne angemessene Vergütung für den Be- treuungsaufwand für Patienten mit prä- terminaler Niereninsuffizienz geschaf- fen. Das Fehlen einer adäquaten Vergü- tung für Leistungen der Dialysevorberei- tung und Anmeldung zur Nierentrans- plantation wurde allgemein als Schwach- punkt der jetzigen Gebührenordnung betrachtet, besonders mit Hinblick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Einfluss der Dialysezeit auf die Trans- plantatüberlebensrate (12).
Die ärztliche Dialysebetreuung wird als tagesbezogene Vergütung beibehal- ten. Daneben erfahren Trainingsdialy- sen eine Aufwertung und Neubewer- tung durch die Einführung einer Schu- lungswochenpauschale als notwendige
Konsequenz aus der beabsichtigten För- derung von unterstützten Heimdialyse- verfahren. Die Schulungs- und Betreu- ungsleistungen unterliegen nicht der fallzahlabhängigen Praxisbudgetierung.
Eine deutliche Vereinfachung im Vergleich zur derzeitigen Situation stellt die Regelung zu den Dialyse- sachkosten dar. Sie werden als ver- fahrensunabhängige bundeseinheitli- che Wochenpauschalen mit festem Ver- gütungsbetrag in den EBM aufgenom- men. Die Verfahrensunabhängigkeit schafft die notwendigen Anreize, um das vorhandene Potenzial der zentrali- sierten Heimdialyse (LC-Dialyse) und der Peritonealdialyseverfahren auszu- schöpfen. Darüber hinaus sind Auf- wandszuschläge für Infektionsdialysen und für Kinderdialysen vorgesehen.
Strukturanreize sollen greifen
Die Höhe der Wochenpauschale wird im Einführungsjahr 2002 bei 580 Euro (etwa 1 134 DM) liegen. Grundlage hierfür ist ein Kalkulationsmodell, das auf den aktuellen regionalen Vereinba- rungen und den Dialysehäufigkeiten in Deutschland fußt. Im Jahr 2003 wird ei- ne Anpassung auf 550 Euro (etwa 1 076 DM) erfolgen. Bis dahin sollten die Strukturanreize gegriffen haben. Für das Jahr 2004 ist eine Wochenpauschale von 520 Euro (etwa 1 017 DM) vorgese- hen. Die Degressionsschritte müssen dabei mit einer morbiditäts- und auf- wandsbezogenen Differenzierung der Pauschale verknüpft werden. Eine ent- sprechende Absichtserklärung ist Teil der bereits erwähnten Bundesempfeh- lung zur Neukonzeption der Versorgung niereninsuffizienter Patienten. Sie stellt klar, dass es nicht zu einer weiteren Ver- lagerung des Morbiditätsrisikos zula- sten der Vertragsärzte kommt. Die ge- setzlich vorgegebene extrabudgetäre Fi- nanzierung der Dialysesachkosten wird durch diese Maßnahmen nicht berührt.
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Dr. med. Andreas Köhler Kassenärztliche Bundesvereinigung Dezernat Gebührenordnung und Vergütung Herbert-Lewin-Straße 3, 50931 Köln E-Mail: AKoehler@kbv.de P O L I T I K
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