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16. Januar 2015D
as Bundessozialgericht hat am 31. Oktober 2012 grund- sätzliche Entscheidungen getrof- fen, die zu wesentlichen Änderun- gen im Befreiungsverfahren von der gesetzlichen Rentenversiche- rungspflicht (§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) geführt haben. Galt früher der Grundsatz, dass die einmal aus- gesprochene Befreiung zugunsten der Versicherung in der Ärztever- sorgung ein ganzes Berufsleben lang Bestand hat, muss seit gerau- mer Zeit bei jedem Arbeitgeber- wechsel und/oder bei jeder wesent- lichen Änderung des Tätigkeitsin- halts ein erneuter Befreiungsantrag gestellt werden.Auch wenn die Deutsche Ren- tenversicherung im Januar 2014 be- schrieben hat, wie mit sogenannten Altfällen umzugehen ist, sind die Fragen, was generell unter ärztli- cher Tätigkeit zu verstehen ist, wem die Definitionshoheit hierüber zu- kommt und ob die Deutsche Ren- tenversicherung an einen kammer- rechtlich definierten (weiten) Be-
griff der ärztlichen Tätigkeit gebun- den ist, weiterhin kontrovers ge- blieben. Die Haltung der Ärzte- schaft hierzu war und ist – soweit ersichtlich – eindeutig.
Die hierzu nicht zuletzt in West- falen-Lippe sowohl vom Kammer- vorstand als auch von den Gre- mien der Ärzteversorgung vertretene Auffassung deckt sich mit einem jetzt vorliegenden rechtswissen- schaftlichen Gutachten. Das Gut- achten des Münsteraner Lehrstuhl- inhabers für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizin- recht, Prof. Dr. jur. Thomas Gut- mann, vom 31. Oktober 2014 hat eindrucksvoll zweierlei bestätigt:
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Die Definitionshoheit in der Frage, was ärztliche Tätigkeit ist, hat die Selbstverwaltung; rechtssyste- matisch richtig: das Kammerrecht.●
Der über eine Befreiung von der Versicherungspflicht entschei- dende Träger der Rentenversiche- rung hat das einschlägige Kammer- recht anzuwenden und ist hierbei an den (weiten) kammerrechtlichenBegriff der ärztlichen Tätigkeit, die zur Pflichtmitgliedschaft in einer Landesärztekammer und in einem Versorgungswerk führt, gebunden.
Das Ergebnis des in jeder Hin- sicht überzeugenden Gutachtens ist wie folgt zusammengefasst:
„Maßgeblich für die Möglichkeit der Befreiung von der Rentenversi- cherungspflicht für Ärztinnen und Ärzte gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI ist das weite kammerrecht- liche Verständnis der ärztlichen Be- rufsausübung. Der Wortlaut dieser Norm liefert für die Anwendung weiterer Filter (wie etwa für die An- sicht, dass für eine ärztliche Tätig- keit nur dann eine Befreiung in Be- tracht komme, wenn diese Tätigkeit unmittelbar auf die Heilung eines Patienten ziele oder sie als solche eine ärztliche Approbation zur Vor- aussetzung habe) keinen Anknüp- fungspunkt.
Im Ergebnis haben alle Ärztinnen und Ärzte gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI einen Anspruch auf Befreiung von der Rentenversiche- rungspflicht, die den ärztlichen Be- ruf ausüben und aus diesem Grund verkammerte Mitglieder einer be- rufsständischen Versorgungseinrich- tung sind. Die hierfür maßgebliche, von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in ständiger Rechtsprechung bestä- tigte kammerrechtliche Definition des Begriffs der ‚Ausübung des ärztlichen Berufs‘ ist (allgemein und insbesondere auch mit Blick auf den Bereich der Ärztekammer Westfa- len-Lippe) weit und umfasst nicht nur den typischen Kernbereich ärzt- lichen Handelns, sondern grundsätz- lich ebenso eine Tätigkeit beispiels- weise in Lehre und Forschung, in Wirtschaft und Industrie, in der Ver- waltung, als Fachjournalist sowie die gelegentliche Tätigkeit als ärztli- cher Gutachter, als Praxisvertreter oder im ärztlichen Notfalldienst, die Tätigkeit als Honorararzt, ärztli- cher Direktor, Medizincontroller oder ärztlicher Qualitätsmanager sowie die ehrenamtliche Tätigkeit in der Berufspolitik und in der ärztlichen Selbstverwaltung.
Voraussetzung ist, dass eine ap- probierte Person eine solche Tätig- keit ausübt und sie hierbei aus ihren in der ärztlichen Ausbildung erwor- BEFREIUNG VON RENTENVERSICHERUNGSPFLICHT
Rechtsgutachten bestätigt Auffassung der Ärztekammern
Die Definitionshoheit darüber, was ärztliche Tätigkeit ist, hat die Selbstverwaltung.
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16. Januar 2015 pieoptionen werden dargestellt und mit entsprechender Literatur oder Leitlinieninformation untermauert.Eine solche Vision einer mo - dellbasierten Therapieentscheidung verfolgt die Nachwuchsforschungs- gruppe „Digitales Patientenmodell“
am Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) in Leip- zig. Neue technische und medizini- sche Erkenntnisse tragen in den letzten Jahren zur Weiterentwick- lung klinischer Untersuchungsme- thoden bei, die kontinuierlich in die Praxis eingeführt werden. Sie bie- ten bessere Behandlungsmöglich- keiten und eine individuelle, auf den Patienten zugeschnittene medi- zinische Versorgung.
Ein großes Problem stellt je- doch die Komplexität der Untersu-
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r. Geiger ist sich unschlüs- sig über die Behandlung ei- ner Patientin. Seit Monaten leidet sie unter Rückenschmerzen. Der Arzt startet sein modellbasiertes Entscheidungsunterstützungssystem.Es präsentiert ihm relevante Ent- scheidungsparameter, die aus ver- schiedenen Untersuchungen resul- tieren. Automatisiert wird auch das Radiologiebild verarbeitet und der Befund dem Krankheitsbild der Lis- these zugeordnet. Aus dem Anam- nesebericht werden die von der Pa- tientin geschilderten Schmerzberei- che identifiziert, mit den anderen Parametern assoziiert und dem Arzt angezeigt. Einige besonders wichti- ge Informationen sind hervorgeho- ben. So erhält der Arzt ein ganzheit- liches Bild der Erkrankung. Thera- DIGITALES PATIENTENMODELL
Evidenz sichtbar machen
Forscher am Innovation Center Computer Assisted Surgery in Leipzig arbeiten an Methoden, die Therapieent- scheidungen modellieren und Ärzte so unterstützen sollen.
benen Kenntnissen und Fähigkeiten Nutzen zieht, weil bei dieser Tätig- keit ärztliche Fachkenntnisse vor- ausgesetzt oder zumindest einge- setzt oder mitverwendet werden oder werden können. Letzteres kann als Regelfall unterstellt werden. Ei- ne ärztliche Tätigkeit einer appro- bierten Person liegt jedenfalls dann vor, wenn bei ihr Fachkenntnisse, die zum ärztlichen Fachwissen ge- hören, vorausgesetzt und/oder tat- sächlich angewendet werden.
Der nach § 6 Abs. 3 SGB VI über die Befreiung entscheidende Träger der Rentenversicherung (§§ 125, 127 ff., 242c SGB VI) hat das ein- schlägige Kammerrecht anzuwen- den und ist hierbei an den wei- ten, kammerrechtlichen Begriff der
‚ärztlichen Tätigkeit, die zur Pflicht- mitgliedschaft in einer Landesärzte- kammer und in einem Versorgungs- werk führt‘, gebunden.“
Jedem mit dem Thema Konfron- tierten und von einer Auseinander- setzung mit der Deutschen Renten- versicherung Betroffenen kann nur geraten werden, sich selbstbewusst auf das Gutachten zu berufen. In diesem Zusammenhang darf man wissen: Fast alle Landesärztekam- mern haben in vorbildlicher Weise von der Definitionshoheit Gebrauch gemacht. So hat zum Beispiel die Kammerversammlung der Ärzte- kammer Westfalen-Lippe erst kürz- lich noch durch am 15. November 2014 einstimmig gefasste Beschlüs- se für eine einheitliche Definition der ärztlichen Tätigkeit in allen ein- schlägigen westfälisch-lippischen Regelungswerken – (Haupt-)Sat- zung, Beitragsordnung und auch in der Berufsordnung – gesorgt. So heißt es jetzt zum Beispiel in § 2 Abs. 1 der (Haupt-)Satzung: „Den Beruf als Arzt/Ärztin übt aus, wer die Tätigkeit ganz oder teilweise wegen oder aufgrund seiner ärztli- chen Kenntnisse und Fertigkeiten ausübt und diese Tätigkeit unmittel- bar oder mittelbar dem Menschen oder der Allgemeinheit dient.“
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Bertram F. Koch Justiziar der Ärztekammer Westfalen-Lippe
Interessierte können das Gutachten kosten- frei im Ressort Recht der Ärztekammer Westfalen-Lippe (Telefon: 0251/929-2050/54;
E-Mail: recht@aekwl.de) erhalten.