Das Atlantic-Hotel als Ansichtskartenmotiv aus dem Jahre 1925
Ein Bauklotz mit Persönlichkeit
Das Atlantic-Hotel in Hamburg wird 75 Jahre jung DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Mauricio Kagel FEUILLETON
Fortsetzung von Seite 1469 nimmt Kagel übrigens recht wörtlich, wiewohl sich diese Fi- gur — ein exaktes Morsen des Sprachrhythmus wäre denn doch zu trivial — im II. Klavier bald motivisch verselbstän- digt.*) Währenddessen entwik- kelt sich im Klavier III eine ein- händige Zweistimmigkeit, und im II. Klavier tritt das dritte Ele- ment des Stückes hinzu, ein sanft dissonanter Klang, der sich traurig tröpfelnd, zögernd und mühsam in Halbtönen aufwärts schiebt und dabei sich intern verändert; Kagel nennt ihn
„sklerotisch". Solche Beschrän- kung der Mittel und das Ausspa- ren jeglicher Klangfülle — ganz zu schweigen von seiner techni- schen Anspruchslosigkeit — wird allein gegen Ende hin ein wenig aufgegeben, wo sich im II. Kla- vier, „cantabile" beginnend, ei- ne zarte Melodie andeutet (mit dem Kern einer kleinen Sexte), sich nur einen Augenblick lang hervorwagt, um wieder dem Schweigen anheimzufallen, das den stummen Schwur vorberei- tet.
„Für Klavier zu 3 Händen": liegt darin eine Erinnerung an Paul Wittgenstein (den einarmigen Pianisten des einhändigen Kla- vierkonzerts G-Dur von Maurice Ravel) oder eine Ahnung chirur- gischen Mißgeschicks? Vor al- lem folgt Kagel damit, wie auch sonst häufig, einem dramaturgi- schen Grundprinzip, demnach aus der Untätigkeit, dem Stumm-Bleiben erwartungsvolle Spannung erwachsen kann. Und zudem ist beiläufig die Gelegen- heit gegeben, darüber nachzu- denken, wieviel Töne für ein Kla- vierstück zwingend notwendig seien. Werner Klüppelholz
*) Kagels Prinzip von Gewöhnung und Verstörung folgend, demgemäß ein rhythmisches Muster beim Hörer so- gleich die Erwartung seiner Wiederho- lung weckt, die Kagel indes selten ein- löst, einfach, um einer gewissen schläfrigkeitsfördernden Bestätigung vorzubeugen.
„Der gewaltige Hotel-Neubau in der unvergleichlichen Lage am Alsterufer mit dem wundervol- len Blick über die weite Wasser- fläche ist nun vollendet. Er be- deckt fast das ganze Viertel, das von der Straße an der Alster, dem Holzdamm und der Alster- twiete umgrenzt wird, und stellt sich als ein Gebäude dar, das nicht nur in Hamburg seinesglei- chen sucht", schrieb 1909 der Berichterstatter des „Hamburgi- schen Correspondent".
Und in der Tat muß das Atlantic- Hotel in Hamburg damals ein aufsehenerregendes Bauwerk gewesen sein: nicht nur wegen seiner weithin über die Alster leuchtenden weißen, klassizisti- schen Fassade, sondern auch wegen seiner Ausmaße. Eine eben im Jahr 1907 fertig gewor- dene Anzahl Privathäuser ließ die Bauherrin, eine Berliner Ho- telgesellschaft, wieder abreißen, um in dieser exponierten Lage ein Grand-Hotel zu errichten.
Und das in der für damalige Zei- ten unvorstellbar kurzen Bauzeit von nur zwei Jahren. Am 2. Mai 1909 öffnete das Atlantic seine Pforten.
Es war eine Zeit der wirtschaft- lichen Expansion. Die Einwoh- nerzahl Hamburgs ging auf die Millionenmarke zu. Der Über- seehandel mit Amerika über den Atlantik nahm größere Ausmaße an, und die Passagierschiffahrt erlebte eine Blütezeit. Und nicht von ungefähr hat das Hotel den Namen „Atlantic" bekommen.
Denn zu den frühesten Freun- den des Hauses zählte der Ree- der Albert Ballin, Generaldirek- tor der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag), unter dessen Führung sich diese zur größten Reederei der Welt entwickelte. Die Passa- giere der gigantischen Luxus- Schiffe, wie zum Beispiel der 50 000 BRT großen „Imperator", waren bei Ankunft und Abfahrt Gäste des entsprechenden Lu- xus-Hotels.
Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 18 vom 4. Mai 1984 (99) 1473
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Atlantic-Hotel
So war das Atlantic von Anfang an das Hotel in Hamburg, in dem
„man" wohnte und wohnt. Herr- scher und Politiker, Künstler und Sportler, aber auch ganz
„normale" Menschen fühlen sich hier wohl. Um nur einige Namen zu nennen: König Chri- stian von Dänemark, der franzö- sische Botschafter Andre Fran- cgis-Ponget, König Bhumipol von Thailand und Königin Sirikit, der amerikanische Schauspieler Orson Welles, Max Schmeling, das berühmte Paar Pat und Pa- tachon, Heinz Rühmann, und zweimal auch der Schah von Persien — einmal mit Soraya, einmal mit Farah Diba. Blättert man das Gästebuch des Hotels durch, sind tatsächlich alle il- lustren Persönlichkeiten der Welt versammelt.
Auch für Nicht-V.I.P.'s attraktiv
Viele davon sind Stammgäste, und sie kommen immer gern wieder, weil sie wissen, daß ein großer Teil des Personals dem Hotel treu verbunden bleibt. So feiert beispielsweise der Chef- portier Oskar Schweser einen Monat vor dem Hotel-Ge- burtstag, am 1. April, sein 50jäh- riges Dienstjubiläum, Barkeeper Gerhard Wulf ist seit 46 Jahren im Atlantic; Hallen-Chef Werner von Appen betreut seit 42 Jah- ren die Gäste, und Chefgardero- biere Herta Timmermann ver- sieht ihren Dienst seit 30 Jahren.
Jeder Gast — nicht nur erlauchte Herrschaften —, der mehr als ein- mal kommt, fühlt sich wie zu Hause: Man kennt seine Ge- wohnheiten, seine Lieblings- drinks, seinen bevorzugten Tisch im Restaurant. Diese Vor- züge gegenüber einem anony- men Riesenbau einer großen Hotelkette weiß vielleicht gera- de heute in dieser hektischen Zeit so mancher wieder zu schätzen.
Von 1945 bis 1950 war das Atlan- tic von den Alliierten beschlag- nahmt und ein Club eingerichtet
worden. Einen der Säle hatte man zur Bar umfunktioniert, hin- ter deren Tresen allein acht Bar- mixer ihres Amtes walteten.
Woran sich die Angestellten tat- sächlich erst gewöhnen mußten:
Punkt 23 Uhr wurde „God save the King" gespielt, und danach gab es nicht einen Tropfen mehr. Nichts. Keine Ausnahme.
Nicht einmal für die höchsten Offiziere. Unvorstellbar für deut- sche Verhältnisse!
Tagungen von Ärzten aller Fachrichtungen
Nachdem 1950 das Atlantic frei- gegeben worden war, machte sich der damalige Geschäftsfüh- rer und Hoteldirektor Oscar H.
Geyer mit seiner Frau Trude und dem Personal an die Arbeit, das Hotel wieder schmuck und ein- ladend zu machen. Und ab März 1950 stand das Atlantic wieder für Gäste aus aller Welt bereit.
Die große, elegante Hotelhalle (mit ihrer wunderbaren Kasset- tendecke), die der Gast betritt, ist denn auch noch genau so wie vor 75 Jahren. Kein nüchterner Computer in der Rezeption zer- stört das stilvolle Ambiente — und doch ist er da, unsichtbar wie ein Heinzelmännchen.
Ebenso sind die Gästezimmer und Suiten von gediegener Ele- ganz; die für ein First-Class- Hotel unbedingt notwendigen
„modernen" Erfordernisse wie Farbfernseher und Tastentele- fon fügen sich vom Design her trotzdem unauffällig ein. Die Räume sind sehr hoch und ha- ben noch die alte Stuckdecke. In allen Zimmern reichen die Fen- ster vom Boden bis zur Decke.
In einem unauffällig eingeglie- derten Anbau ist ein schöner Swimmingpool untergebracht — mit Blick auf die Alster. Große und kleine Festsäle, Tagungs- räume und Verhandlungszim- mer, alle in gediegener Atmo- sphäre, bieten sich an für Veran- staltungen aller Art: von dem
jährlich stattfindenden „Ball über den Wolken" über Kon- gresse bis zu vertraulichen Ge- schäftsverhandlungen oder Fa- milienfeiern. So ist das Atlantic schon oft der Rahmen gewesen für Kongresse und Tagungen von Ärzten aller Fachrichtun- gen. Am 15. September 1984 fin- det eine Tagung des Ärzte- und
Apotheker-Wirtschaftsinstituts statt, und im Dezember — gewis- sermaßen als Geburtstagszwil- ling — feiert die Vereinigung Nordwestdeutscher Chirurgen im Atlantic ihr 75jähriges Beste- hen.
Da das Hotel überwiegend von Geschäftsleuten belegt wird, die am Wochenende natürlich wie- der zu Hause sein wollen, bietet das Management, um die freie Zimmerkapazität auszunutzen, ein preisgünstiges Wochenend- arrangement an. Nicht zuletzt, um auch die weiter südlich wohnenden Deutschen in das schöne Hamburg zu locken.
Nahtlos zwischen Stil und Technik
Fünf Minuten zu Fuß entfernt ist auf der einen Seite der Bahnhof und auf der anderen Seite, nur durch die Straße getrennt, die Anlegestelle des Alsterdamp- fers, der den Gast in wenigen
Minuten mitten in die Stadt bringt oder auch einmal rund um die Alster fährt.
Über eine weitere Besonderheit verfügt das Hotel: eine kleine Galerie, deren Ausstellung je- weils mit denen in der nahen
Kunsthalle korrespondiert. Zur Zeit stehen beide unter dem Thema: Leonardo da Vinci.
Im Sommer, wenn man in dem herrlichen Innenhof sitzen kann, unter grünen Pflanzen neben dem plätschernden Springbrun- nen, von Säulenportalen umge- ben, kommt man sich fast wie im Süden vor — denn auch in Ham- burg ist der Himmel (manchmal) azurblau. Renate Scheiper 1474 (100) Heft 18 vom 4. Mai 1984 81. Jahrgang Ausgabe A