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Archiv "Was ist geblieben? Zum 50. Todestag von Sigmund Freud" (28.09.1989)

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Sigmund Freud, Radierung von Ferdinand Schmutzer, 1926

Was ist geblieben?

Zum 50. Todestag von Sigmund Freud

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT MEDIZINGESCHICHTE

W

ie viele geniale Men- schen, wußte der jugendliche Sigmund Freud schon, daß er einmal auf irgend einem Gebiet der Wis- senschaften eine Theorie ent- wickeln werde, die die Welt verändern würde. Freud war aber nicht abergläubisch, und er führte diese Überzeugung nicht auf den Umstand zurück, daß er in einer Glückslaube, der unverletzten Eihaut, gebo- ren wurde.

Sein Vater Kallomon Ja- kob Freud war Wollhändler.

Die Vorfahren der Familie waren deutsche Juden aus dem Kölner Raum, die wäh- rend der Judenverfolgung nach Litauen geflohen waren.

Zeitlebens spielte für Freud das Judentum eine große Rolle. Er betonte immer wie- der: „Meine Eltern waren Ju- den, auch ich bin Jude geblie- ben."

Dem Vater warf er später den zu geringen Stolz auf das Judentum vor, und Freud- Kenner glauben, daß diese in- nerliche Ablehnung vom Va- ter die Entstehung der Ödi- pus-Theorie erklären könnte.

Sigismund Freud wurde am 6. Mai 1856 in der kleinen mährischen Stadt Freiburg, 200 km nordöstlich von Wien, geboren und wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf.

Freud selbst, und die meisten Forscher auch, waren der Meinung, daß die extrem en- gen Wohnverhältnisse (er verbrachte die ersten Jahre seines Lebens mit Vater und Mutter in einem einzigen Zimmer) und die komplizier- te Familiengeschichte (seine beiden Stiefbrüder waren äl- ter als seine Mutter, der Va- ter zum dritten Mal verheira- tet, bei seiner Geburt schon 40, die Mutter erst 20 Jahre) einen enormen Einfluß auf die Entstehung der Psycho- analyse hatten.

In seiner ersten wissen- schaftlichen Arbeit studierte Freud die Hoden des Aals.

Kurze Zeit später, während der intensiven Beschäftigung mit der Physiologie — er stütz- te die Darwinsche Evolu- tionstheorie durch Untersu- chungen der Nervenzellen

von Neunauge und Flußkrebs

— kam Freud zu der Ansicht, daß die Wirkung im seeli- schen wie im physikalischen Bereich den gleichen Ursa- chen folgen müsse.

Freuds eigentlicher Leh- rer und sein Vorbild wurde der vierzehn Jahre ältere Jo- sef Breuer, ein Mediziner oh- ne Scheuklappen, der sich als angesehener Arzt mit gutge- hender Praxis auch noch für Musik, Malerei und Literatur interessierte. Das breitgefä- cherte Interesse der beiden ließ eine langdauernde innige Freundschaft entstehen.

Freuds Medizinstudium wurde für ein Jahr vom Mili- tärdienst unterbrochen. Aber der 24jährige nutzte die Zeit und übersetzte ein Buch des englischen Philosophen Mill ins Deutsche. Das Werk be- schäftigte sich unter anderem auch mit der Gleichberechti- gung der Frau, die der zeitle- bens antifeministisch einge- stellte Freud nicht nachvoll- ziehen konnte. Neid und Ei- fersucht spielten für ihn im Seelenleben der Frau die Hauptrolle, was Freud später mit dem Penisneid erklärte.

Trotzdem, 1881 heiratete der

frischgebackene Doktor der Medizin seine langjährige Verlobte Martha Bamays, mit der er sechs Kinder be- kam.

Es war schon eine phanta- stische Idee, die auch seinen Fachkollegen damals gar nicht in den Kopf wollte, daß man durch die Rückholung der Erinnerung aus dem Be- reich des Unbewußten in die Sphäre des Bewußtseins see- lische Krankheiten, zum Bei- spiel Neurosen, heilen kann Freud erklärte, daß ein Teil dieser Störungen auf ver- drängte sexuelle Empfindun- gen und Erlebnisse zurück- gehe.

Daß Scham und Keusch- heit für viele echte Werte darstellen, konnte und wollte er nicht wahrhaben. Er se- zierte die Seele, reduzierte al- les Wollen weitgehend auf die sexuellen Triebe, enthu- manisierte regelrecht den Menschen. Auch kulturelles Schaffen sei lediglich ver- drängter, sublimierter Trieb, sagte er.

Gerade hatte Darwin an der Leiter der Selbstüberheb- lichkeit der Menschen so kräftig gerüttelt, indem er ih- nen knallhart sagte, daß sie von den Affen abstammten.

Und nun kommt dieser Jude daher und behauptet, die Menschen täten nicht das, was sie wollten, sondern das, was sie müßten. Hatte ihnen Darwin wenigstens noch die Freiheit der Entscheidung ge- lassen, so wagte Freud auch das noch in Frage zu stellen.

Die Entthronung des Intel- lekts war perfekt!

Freud hat sich mehr als einmal geirrt, aber sein Hauptirrtum war wohl der, daß er in seinem extremen Patriarchalismus glaubte, Sexualität sei immer männ- lich und die Frau fühle sich als kastrierter Mann. Er irrte sich, wenn er glaubte, daß Liebe lediglich eine Sublimie- rung des Sexualinstinkts sei.

Sexualität war für ihn nicht viel mehr als ein Juckreiz, den man beseitigen muß. Freud hat die Sexualität nicht nur überbewertet, er sah sie auch nicht tief genug.

A-2730 (42) Dt. Ärztebl.

86,

Heft 39, 28. September 1989

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sten bildeten sich auch in an- deren Ländern, so in der Schweiz, in Deutschland, in England und Ungarn.

Schon zu Freuds Lebzei- ten war die Ernte überreich.

In den Nachkriegsjahren, als der Glaube an die alten Fun- damente gründlich zerstört war, wurde die Psychoanalyse in Europa und in Amerika zur Ersatzpolitik, zur Ersatz- moral, zur Ersatzreligion. Auf Cocktailparties kursierten Verdrängungswitze; die Pres- se und das Theater, die Lite- ratur übernahmen Freud- sches Gedankengut.

Es wurde sehr schnell mo- dern, sich analysieren zu las- sen. Die Pschoanalyse geriet immer mehr in Gefahr, zum Salongeplauder zu degradie- ren, war sie doch dazu ange- tan, die freie Liebe zu ideali- sieren und die Untreue zu verherrlichen (was keines- wegs die Meinung des purita- nischen Freud war). Während sich Freud an seine Theorie von der Wunscherfüllung klammerte, liefen ihm seine Schüler davon. Die berühm- testen: Alfred Adler und Carl Gustav Jung.

Alfred Adler lehnte Freuds Pansexualismus ab und sah mit seiner „Indivi- dualpsychologie" im Verlan- gen des Menschen nach Macht die treibende Kraft des Seelenlebens. Seiner Meinung nach ist der „Min- derwertigkeitskomplex" die Ursache für alle seelischen Störungen. Jung, den Freud ursprünglich zum Stabchef

und Kronprinzen auserkoren hatte, sah die Leitlinie gei- stigseelischer Tätigkeiten in der Vergangenheit der Menschheit, in ererbten Glaubensvorstellungen und Mythen, was er das „kollekti- ve Unbewußte" nannte. Da- mit fiel der Mann aus, der

„später einmal die Leitung der ganzen Bewegung über- nehmen" sollte.

Mit Wagner-Jauregg, dem einzigen Psychiater, der je ei- nen Nobelpreis erhielt, geriet sich Freud in die Haare we- gen dessen Behandlung von Soldaten des 1. Weltkrieges mit Elektroschocks. Andere, besonders die jungen Kolle- gen, verehrten ihn zwar, aber machten sich nicht selten schnell selbständig, wie zum Beispiel Wilhelm Reich, der 1924 durch seine umstrittene Orgasmustheorie auffiel.

Hieraus entwickelte sich übri- gens in dritter Generation die heute so hoch im Kurs ste- hende Bio-Energetik von Alexander Lowen.

Seinen verbliebenen Jün- gern predigte Freud immer wieder, sie sollten die Lämp- chen sorgfältig hüten, es wer- de noch lange Nacht bleiben.

Er glaubte fest daran, daß durch Vernunft das Leben sinnvoll zu gestalten sei, und er glaubte mit aller Leiden- schaft an die Kraft der Wahr- heit. Nicht irritieren ließ er sich vom sogenannten gesun- den Menschenverstand und vom Wunsch nach Bequem- lichkeit. Und schon gar nicht von Gefühlen.

Die legendäre Couch (Ausschnitt) Fotos: © A W.

Freud et al.;

Sigmund Freud Copyrights, Col- chester, England Sicher ist die Beichte gut für

die Seele. Sicher lag seiner neuen Technik ein genialer Menschenverstand zugrunde.

Sicher werden viele körper- liche Beschwerden von Moti- ven bestimmt, die uns nicht bewußt sind. Aber viele Theorien Freuds sind nur deshalb unwiderlegbar, weil sie nicht überprüfbar sind.

Doch wer Freud angreift, muß ihn zugleich verteidigen.

Sobald wir unsere Kanonen zum Feuer gegen ihn laden, wird uns bewußt, was wir die- sem Genie verdanken. Die Psychoanalyse macht die Kunst, die Wissenschaft, un- ser ganzes Leben unendlich viel reicher.

Die Theorie Sigmund Freuds: Die Seele unterglie- dert er in das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es ist das Unterbewußte, in dem die In- stinkte wurzeln. Von hier kommt unser Gefühl, unsere Leidenschaft. Das Ich ist un- ser freies Handeln, unsere Vernunft, während das Über- Ich für Vorbilder und tradi- tionelle Werte steht.

Diese drei Instanzen lie- gen nicht selten im Clinch miteinander. Es kann sein, daß bestimmte Gedanken vom Ich oder Über-Ich daran gehindert werden, vom Un- terbewußtsein ins Bewußtsein vorzudringen bzw. daß gewis- se Regungen aus dem Be- wußtsein ins Unbewußtsein verdrängt werden. Das Ich versagt dem Es die Lusterfül- lung!

Vertragen sich beide, d. h.

stimmt das Ich dem Es zu, so haben wir einen glücklichen Zustand, die Befriedigung.

Wird die Triebenergie des Es ( = Libido) vom Ich auf ein edles Ziel umgebogen, so spricht Freud — und inzwi- schen wir auch — von einer Sublimierung.

Der große Durchbruch, aber auch erbitterte Ausein- andersetzungen kamen zu Anfang unseres Jahrhun- derts, als Freuds Schriften ins Englische übersetzt wurden.

Die Amerikaner, aufgeschlos- sen für alles Neue, nahmen sich mit großem Enthusias- mus der Lehre an. Außenpo-

Obwohl im Werk Freuds so oft das Wort Lust auf- taucht, mangelte es ihm of- fenbar selbst an Wärme, Lie- be und Zuneigung. Oft fühlte sich der im Grunde unsichere Mann bedroht und verraten.

Liebe war ihm zwar etwas sehr Wertvolles, aber er dach- te auch immer an den Nut- zen, den sie ihm bringen soll- te. Der/die andere mußte die Liebe verdienen.

Heute ist allerdings der von Freud gepflegte Nimbus der Unersetzlichkeit dahin.

Seine Nachfolger müssen ak- zeptieren, daß seelisch Irri- tierte heute ihr Heil in der Gruppe mit Gleichgesinnten finden können und dort oft schneller und billiger von ih- ren Qualen befreit werden.

Sie alle spüren, daß es in er- ster Linie auf das Gespräch ankommt und nicht so sehr auf den Psychotherapeuten.

Freud erkrankte an Mundkrebs, wurde dreißig- mal operiert, bekam eine Oberkieferprothese, die ihn schmerzte, hatte Schwierig- keiten mit dem Essen und Reden. Sechzehn Jahre über- lebte er die Erkrankung. Am 3. Juni 1938 mußte er im Al- ter von 82 Jahren nach Eng- land fliehen. Vier seiner hochbetagten Schwestern wurden in Wien von den Na- zis ermordet.

Sigmund Freud starb um 3.00 Uhr morgens am 23. Sep- tember 1939 in London, nach- dem ihm sein Arzt, Dr. Schur, die erlösende Morphium- spritze gegeben hatte, die er ihm für diese letzte Stunde bereits sechzehn Jahre zuvor versprochen hatte.

Verblassen kann das Bild dieses großen Mannes nie.

Wir dürfen ihn jedoch nicht zum Messias hochstilisieren oder zum Geisterfahrer de- gradieren. Wünschen wir ihm eine gerechte, eine richtige Beurteilung ohne Kampf- geschrei zwischen Freud- Feinden und Freud-Enthu- siasten.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Reiner Gödtel Dr.-Albert-Jung-Straße 2 6798 Kusel

Dt. Ärztebl. 86, Heft 39, 28. September 1989 (45) A-2731

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