„Höre, ohne zu hören"
zu Koran 4, 46(48)
Von Arne A. Ambros, Wien
Zu den Koranversen, die bislang einer überzeugenden Deutung Trotz
geboten haben, zählen an prominenter Stelle diejenigen, die an den
medinensischen Juden böswillige Verballhornungen (von Schriftsatzun¬
gen) rügen. In den vorliegenden Zeilen soll der Versuch unternommen
werden, eine dieser Passagen neu zu überdenken und eine bisher nicht
beachtete Interpretation anzubieten; und zwar geht es um die in Sure 4,
Vers 46 (48 f.) ausgesprochene Rüge, bestimmte Juden sagten isma'
gayra musma'in (Paret: „Höre, ohne daß (es) zu Gehör gebracht wird
(?)!"), besser und richtiger sollten diese bloß isma' sagen.
Die unseres Wissens einzige bisher vorgeschlagene Deutung dieser
zunächst ganz rätselhaften Stelle stammt von H. Hirschfeld, der
isma' mit dem s'ma' in Deuteronomium 6,4 („Höre, Israel, . . ") identifi¬
ziert; mit isma' als substantivierter Verbalform sei somit hier das s 'm.a'-
Gebet (Dt. 6,4ff.), „das älteste und wichtigste Gebetsstück des
gesammten Ritus", gemeint'. Der Autor führt weiter aus: „Um es unge¬
stört beten zu können, wird nur der erste Satz . . . laut gerufen, das fol¬
gende aber leise gelesen, was vielleicht in den Worten: 'ohne dass
etwas gehört wird' angedeutet zu sein scheint."
Diese Deutung hat H. Speyer weiter ausgebaut. In durchaus ingeniö¬
ser Weise rekonstruiert er eine Auseinandersetzung wie folgt^: „Erin¬
nerte der Prophet des Islam die Juden daran, daß sie täglich [s 'ina' Yis-
rä'el] sprächen (Dt. 6,4f.), das er kurz, wie die Israeliten es heute noch
tun, isma' = [S'ma'] nannte und worin Israel aufgefordert wird, auf Got-
' Hartwig Hirschfeld: Beiträge zur Erklärung des Koran. Leipzig 1886, 64.
Vgl. auch Id., New Researches into the Composition and Exegesis ofthe Qoran. Lon¬
don 1902., (Asiatic Monographs. 8.), 109; dort wird übersetzt: „hear! that which cannot be heard", wozu der Autor anmerkt: „Palmer: 'Do thou listen without hearing' does not render the original accurately."
^ Heinrich Speyer: Die biblischen Erzählungen im Qoran. 1931 (Ndr. Hildes¬
heim 1961), 303. (Dies ist der einzige Verweis zur Stelle bei Rudi Paret: Der
Koran — Kommentar und Konkordanz. Stuttgart ^1977.)
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tes Wort zu hören, dann bekam er zur Antwort, sie hätten es als isma'
gaira musma'in gesagt, womit sie meinten, daß ihr Handeln ihm gegen¬
über keineswegs in Widerspruch mit der Forderung dieses Gebetes
stehe, denn: . . . 'Wer das Sema' so rezitiert, daß man es nicht hört, der
ist der Pflicht (, es zu rezitieren,) nicht nachgekommen' {MiSnä Beräköl
II, 3). Dieses Gebet könne also eigentlich als nicht gesprochen gelten,
denn sie sagten es leise."
An dieser Deutung^ läßt sich mancherlei bemängeln. Abgesehen von
dem natürlich gänzlich hypothetischen Charakter der Rekonstruktion
ist einmal festzuhalten, daß das Zentralthema der in das Gebet inkorpo¬
rierten Deuteronomium-Verse (6,4-9; 11,13-21) nicht ein Befehl bildet,
auf das aus Propheterunund überbrachte Gottes wort zu hören (d. h. Pro¬
phetenaussagen betreffend Moral etc. zu akzeptieren), sondern viel¬
mehr die nachdrückliche Aufforderung zur Gottesliebe. Ein Vorhalt der
Gebetsworte durch Mohammed — falls er diese in der Tat gekannt haben
sollte — ist fuglich nicht so gänzlich naheliegend. Des weiteren besteht
keine Verpflichtung, das gesamte Gebet laut zu rezitieren (vgl. oben
bei H. Hirschfeld), noch ist auch die Annahme plausibel, die betref¬
fenden Juden hätten das gesamte Gebet bloß unhörbar leise gespro¬
chen. Der entscheidende Punkt ist jedoch ein anderer: Die Deutung
setzt voraus, daß gayr musma' sich attributiv auf Gebetsworte bezieht
und „nicht gehört, unhörbar" bedeutet (also hier gayr musma' = gayr
masmü'). Dies ist aber keineswegs bedenkenlos zuzugeben. Vielmehr
steht man vor der folgenden linguistischen Ausgangssituation:
Falls das in Frage stehende isma' gayra miisma'in überhaupt eine syn¬
taktische Einheit bildet (schon dies ist hypothetisch, soll aber auch von
uns vorausgesetzt werden), dann bestehen prinzipiell zwei Möglichkei¬
ten, die Nominalphrase gayr musma' zum Imperativ isma' in Beziehung
zu setzen: entweder als direktes Objekt („Höre etwas, das gayrmusma'
ist") oder als Häl („Höre, indem/während du gayr musma'hist"). Alles
weitere hängt nun von der Entscheidung zwischen diesen beiden Mög¬
lichkeiten ab.
Der sich z.f?. Richard Bell anschfießt, wenn er übersetzt {The Qur'än.
Edinburgh 1937, vol. I, 75): „and 'Hear' something that is not made audible"
und anmerkt: „Probably refers to the Jewish manner of reciting the Shhna' . . .".
Dagegen erwähnt Regis Blachere diese Deutung nicht und annotiert seine
Übersetzung (Le Coran. Paris 1980, 112) „Entends sans qu'il te soit donne d'en¬
tendre (?)!" nur mit den Worten: „Cette phrase desespere toute tentative d'inter¬
pretation; il doit s'agir d'une phrase hebraique non comprise." — Aulfallend ist,
daß W. Montgomp;ry Watt in seinem Companion to the Qur'än. London 1967,
die von Arthur J. Arberry: The Koran Interpreted. London 1964, 79, gewählte Übersetzung „Hear, and be thou not given to hear" ohne Anmerkung beläßt.
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Es erscheint instruktiv, zunächst die Ta/str-Literatur zu befragen,
wobei wir uns mit je dem Hauptvertreter der traditionalistischen und
der grammatisch-rationalistischen Richtung begnügen dürfen.
At-Tabari bietet im wesentlichen drei exegetische Traditionen": 1.
gayr musma ' sei derjenige (im gegenständlichen Falle also der von den
Juden beschimpfte Prophet), an den die Verwünschungsformel lä
asma'aka Höh bzw. lä sami'ta gerichtet werde, 2. gayr musma' stehe für
gayr maqbül minka bzw. gayr maqbül mä taqülu (wovon at-Tabari sich je¬
doch mit der Bemerkung distanziert: „Wenn dies die (intendierte) Be¬
deutung gewesen wäre, dann hätte es gelautet: isma' gayra masmü'in"),
3. gayr musma' bedeute gayr $ägi. Man beobachtet, daß allen diesen
Erklärungen die Auffassung von gayr musma' als Häl gemeinsam ist.
Az-Zamahsari erklärt^ zunächst dezidiert gayr musma' als hol min al-
muÄätah und gibt dann zwei mögliche Deutungen, deren erste der
ersten Tradition bei at-Tabari entspricht, während die zweite die
Ellipse eines Objekts ^awäb yuwäfiquka vorsieht („Höre, wobei du aber
nicht die gewünschte/passende Antwort zu hören bekommst"). Drit¬
tens gibt der Autor auch die Möglichkeit zu, gayr musma' könnte Objekt
des Imperativs sein (und paraphrasiert dann: isma' kaläman gayra mus-
ma'in iyyäka li-anna udunaka lä ta'ihi nubüwan 'anhu). Viertens endlich
könnte der Satz — wiederum als Häl — auch komplimentierend (al-
madh) gemeint sein (nifäqan „heuchlerisch", wie al-Bay(Jäwi ergänzt^),
da das Verb asma'a auch „beschimpfen" bedeute.
Läßt sich eine definitive Entscheidung dem Tafsir somit auch (wie
freilich nicht unerwartet) nicht abgewinnen, so gewahrt man doch, daß
die Auffassung als Häl durchaus dominiert.
Angesichts dieser Ambiguitäten soll nun versucht werden, das isma'
gayra musma'in textimmanent zu deuten, d. h. die syntaktisch-seman¬
tische Struktur des Satzes ausschließlich aus dem koranischen Sprach¬
gebrauch zu derivieren.
Zunächst zeigt die FLtiGEL-Konkordanz, daß das Lexem asma'a
(abgesehen von zweimaligem asmi' als Admirativ und dem musma'
unserer Stelle) im Korantext zwölfmal vertreten ist, davon elfmal als
aktives finites Verb (Perfekt und Indikativ) und einmal als aktives Par¬
tizip. Subjekt ist dreimal Allah, neunmal Mohammed. Aus den (für
unseren Zusammenhang problemlos klaren) Kontexten der zwölf
Okkurrenzen ergibt sich einheitlich die Bedeutung „jemanden zum
■* öämi' al-bayän. Kairo: al-Bäbi al-IIalabi 1954, guz' 5, 1181'.
' al-KaSSäf. Kairo: al-Bäbi al-Halabi 1966, guz' 1, 530.
' Anwär at-tanzil. Ed. Fleischer. Leipzig 1846, vol. 1, 212}.
2 ZDMG 136/1
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Hören (im physiologischen Sinne) und damit auch zum Verstehen (des
Gehörten) bringen". In allen zwölf Fällen folgt als direktes Objekt die
Erwähnung des Lebenwesens, das zum Hören gebracht wird {dawäbb,
^umm, mawtä, man —); in zwei Fällen folgt danach als zweites Objekt die
Erwähnung des Gehörten (du'ä'). Damit erweist sich asma'aim korani¬
schen Sprachgebrauch unzweideutig als ditransitives Verb (Faktitiv zu
einfach transitivem Grundstamm: sami'a say'an > asma'a fulänan
say'an), wie es ja die Normalfunktion dieses Verbs im Hocharabischen
überhaupt ist.
Fragen wir weiter nach der Bedeutung bzw. Funktion des Passivparti¬
zips dieses Verbs. Im Normalfall (bezogen auf das Hocharabische i.a.)
bezeichnet dieses Partizip die zum Hören gebrachte Person, könnte sich
aber allenfalls auch auf die zu Gehör gebrachte Sache beziehen (vgl.
oben die dritte Interpretation bei az-Zamah§ari). Da musma' selbst im
Koran nur an unserer fraglichen Stelle vorkommt, erscheint es legitim
und sinnvoll, allgemein die lexikalische Gruppe der ditransitiven Ver¬
ben im IV. Stamm ins Auge zu fassen und zu beobachten, in welcher
Funktion passive Formen solcher Verben im Korantext auftreten. (Da
ferner Passivpartizipien derartiger Verben im Text nicht vertreten sind,
haben wir uns auf finite passive Verbformen zu stützen.)
Wiederum mittels der Flügel- Konkordanz stellt man fest, daß der
Korantext zehn fiir uns relevante Lexeme (ditransitive Verben im IV.
Stamm mit belegter passiver Form) bietet (ätä, atba'a, ahdara, ahlafa,
adhala, asraba, at'ama, a'tä, agsä, awrata).
Die Überprüfung der betreffenden Stellen zeitigt nun das folgende
Ergebnis: In ausnahmslos allen Fällen erscheint als grammatisches
Subjekt der passiven Verbform die Person, die den Rang des ersten
direkten Objekts des aktiven Verbs (des Objekts der faktitiven Kompo¬
nente der Verbbedeutung) einnimmt' — womit der koranische Sprachge¬
brauch wiederum durchaus der hocharabischen Norm entspricht.
Das somit am Korantext Beobachtete zusammenfassend folgert man,
daß alles dringend dafür spricht, daß das fragliche musma' „jemanden,
der zum Hören (und Verstehen) gebracht wird/wurde" bedeuten muß.
Der Satz isma' gayra musma'in kann dann aber nur zweierlei Deutungen
erfahren: „höre jemanden, der nicht zum Hören gebracht wird/wurde"
{gayr musma' als Objekt) oder „höre, indem/während du jemand bist,
der nicht zum Hören gebracht wird/wurde" (gayrmusma' als Häl). Von
' Zur Verdeutlichung nur zwei Beispiele: 2,93(87) v)a-uSribü . . . l-'i^la „und sie wurden das Kalb trinken gemacht", 7,43(41) ürittumukä „ihr seid es (al¬
canna) erben gemacht worden".
„Höre, ohne zu hören'", zu Koran 4, 46(48) 19
diesen beiden Interpretationsmöglichkeiten hat (soweit uns bekannt)
nur die letztere in der Tafsir- und westlichen Übersetzungsliteratur
Beachtung gefunden; da vor der ersteren jede weitere Exegese versagt,
möchten auch wir diese zurückstellen. Als Fazit bleibt dann, daß isma'
gayra musma'in mit dominierender Wahrscheinlichkeit aufzufassen ist
als (nun etwas freier verdeutscht) „höre, ohne zu hören (und zu verste¬
hen)". Dieser Auffassung folgen auch viele moderne westliche Koran¬
übersetzer*. (Zur Vervollständigung sei noch darauf hingewiesen, daß
das Syntagma, ein finites Verb mit einer Phrase aus gayr und Partizip
als Häl zu ergänzen, wobei im Deutschen ein „ohne zu . . ." entspricht,
im Koran zwar nicht übermäßig oft, aber doch hinlänglich gut belegt
ist').
Wenn die interne Evidenz des Korantextes nun eine Deutung „höre,
ohne zu hören" dringend nahelegt und damit gleichzeitig eine Auffas¬
sung als „ein nicht gehörtes/hörbares Isma'" gänzlich implausibel
macht, dann muß die HiRSCHFELD-SPEYERsche Erklärung aufgegeben
werden (ob es nun gelingt, eine bessere an deren Stelle zu setzen, oder
nicht). Läßt sich nun aber zu einem „Höre, ohne zu hören" eine dem
koranischen Kontext adäquate historisch-philologische Erklärung bei¬
bringen?
Hier soll nun in Erwägung gezogen werden, daß die fragliche Stelle
nichts anderes als ein Zitat aus dem Propheten Isaias darstellt. Dort
heißt es (6,9): „Und Er sprach: Geh und sag zu diesem Volk: Hört, aber
versteht nicht (Sim'ü Mmo"' w'-al-tähinü), und seht, aber erkennt
nicht!"
Man wird nicht leugnen können, daß die zitierten hebräischen Worte
und die fragliche Koranstelle semantisch genau kongruieren (abgese¬
hen von dem Unterschied im Numerus). Syntaktisch-lexikalisch beob¬
achtet man freilich nicht unwesentliche Diflerenzen (im Hebräischen:
Emphatisierung des Imperativs durch den Infinitiv, Parataxe der zwei¬
ten Hälfte des Syntagma, lexikalische Variation zwischen „hören" und
„verstehen"; im Arabischen: unverstärkter Imperativ, Hypotaxe durch
Häl, lexikalischer Parallelismus). Diese Differenzen sind nicht zu baga-
' Beispiele sind bereits weiter oben beigebracht. Eine erschöpfende Sichtung aller vorliegenden Ubersetzungen erschien fiir unsere Zwecke nicht vonnöten;
vgl. aber noch z.B. Max Henning: Der Koran. Stuttgart 1962, 95: „höre du,
ohne zu vernehmen". Auch die eingangs zitierte Übersetzung Rudi Parets fällt wohl unter diese Auffassung, obwohf man einen Klammerzusatz „(dir)" vermißt.
Z. B. 6,145(146) oder 24,60(59). Die betreffenden Stellen zeigen freüich alle aktives Partizip, abgesehen nur von gayra niuää.rrin in 4,12(16) (das jedoch syn¬
taktisch keinem finiten Verb klar zuordenbar ist).
I
20 Arne A. Ambros
tellisieren, reichen unseres Erachtens jedoch — angesichts der auffallen¬
den Bedeutungsübereinstimmung — keineswegs aus, um die Möglich¬
keit, daß hier ein Zitat vorliegt, von der Hand zu weisen. Welche
Gesichtspunkte lassen sich nun anfuhren, die zugunsten des Vorliegens
eines Zitats sprechen?
Die Aufffndung von Zitaten aus AT und NT im Korantext hat schon
geraume Zeit die besondere Aufmerksamkeit der westlichen Koranfor¬
schung beansprucht'". Die Ausbeute dieser Bemühungen reicht von
dem einzigen direkt kennthch gemachten AT-Zitat in 21,105 < Ps.
37,29 bis zu vagen Anklängen, deren Relevanz sehr fraglich bleiben
muß. Was nun insbesondere das Buch Isaias anbelangt, so zeigt die
Durchmusterung der von H. Speyer zitierten Loci" , daß auch bei Anle¬
gung feiner Maßstäbe ein Residuum von Stellen verbleibt, die schwer¬
lich anders denn als Zitate (bzw. enge textuelle Abhängigkeiten) auf¬
gefaßt werden können. Uns erscheint besonders bemerkenswert: 1.
57,3 huwa l-awwalu wa-l-ähiru < Is. 44,6 und 48,12; 2. 35,1 ^ä'ilu l-
malä'ikati msulan uii a^nihatin matnä wa-tuläta wa-rubä'a < Is. 6,2 (Be¬
schreibung der sechsflügeligen Seraphim); 3. 39,67 wa-s-samäwätu
matwiyatun < Is. 34,4. Darf man also festhalten, daß Berührungen mit
Isaias sicher vorliegen, dann entbehrt ein neu vermutetes Zitat jeden¬
falls nicht der „Präzedenzfälle".
Ein weiterer Gesichtspunkt liegt in der eminenten Bedeutung von Is.
6 (Gottesschau, Dialog mit dem Herrn, Prophetenberufung) allgemein,
gerade aber natürlich für Mohammed begründet, der sich ja als defini¬
tive Ausprägung des „prophetischen Typos" legitimierte. Ob er ein
besonderes Naheverhältnis zu Isaias empfand, läßt sich natürlich nicht
ausmachen'^ aber ohne in bloße Spekulation abzugleiten wird es doch
— hält man das bisher Gesagte zusammen — nicht implausibel erschei¬
nen, daß Mohammed in irgendeinen Zusammenhang mit der Stelle
bekanntgeworden sein könnte, in der wir die Quelle von isma' gayra
musma'in vermuten. (Was selbstredend nicht impliziert, daß er den
gesamten Isaiastext gekannt haben sollte.)
Aus der sehr reichen Literatur zu diesem Thema verweisen wir hier nur auf
die bereits oben (Aiun. 1-2) zitierten Werke sowie auf Wilhelm Rudolph: Die
Abhängigkeit des Qoräns von Judentum und Christentum. Stuttgart 1922, insb. 10- 17.
" A.a.O., 496 f
Hier wäre auch der merkwürdigen Parallele zwisehen Is. 40,6 {q'rä' — mä gqrä ') und dem aus der Sira bekannten Dialog am Beginn der Revelation ( iqra ' —
mäaqra'u) zu gedenken; vgl. Th. Nöldeke: Geschichte des Korans. Nachdr. Hü¬
desheim 1961, I, 81 f und Rudolph, a.a.O., 10.
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„Höre, ohne zu hören", zu Koran 4, 46(48) 21
Ein letzter, formaler Aspekt liegt in der semantischen Komplexität
(und prima facie Paradoxie) der Isaias- bzw. Koranstelle, die ein inde-
pendentes, bloß zufällig motiviertes Koinzidieren der beiden Stellen
sehr unwahrscheinlich macht (an welches sich bei einer „trivialen" Aus¬
sage wie „Gott ist erhaben" o.dgl. natürlich bald denken ließe).
Wenn man der hier ausgesprochenen Vermutung beipflichtet, bleibt
noch die Auseinandersetzung mit der Frage, warum bzw. in welchem
Sinne die zitierte Stelle im Koran als Verballhornung gerügt wird und
was die Korrektm- (isma') intendiert. Hier könnte man vielleicht an das
Folgende denken: daß der Prophet bestimmten medinensischen Juden
gegenüber mit dem Anspruch auftrat, eine Legitimation und Autorität
innezuhaben, die der ihrer Propheten (mindestens) ebenbürtig sei, wes¬
halb sie seine Verkündigung zu akzeptieren hätten; daß diese Personen
ihm Is. 6,9 (ironisch) entgegenhielten, um ihn der Zwecklosigkeit seiner
Bemühungen zu versichern; daß der Prophet die Korrektheit des Zitats
nicht wahrhaben mochte'^ und daher inspiriert wm'de, den zweiten Teil
als dem ersten fälschlich beigesellt (aus anderem Kontext
transponiert''') aufzufassen und das Zitat dementsprechend zu korrigie¬
ren. Es wäre auch verständlich, daß ein solcher Zwischenfall, der
Mohammed zwar tief getroffen, von seiner muslimischen Gefolgschaft
aber weitgehend unbemerkt sich abgespielt haben könnte, bald in Ver¬
gessenheit geraten wäre, so daß die erhaltenen exegetischen Traditio¬
nen nur noch die vage Erinnerung reflektieren, der sabab at-tanzil sei
eine Beschimpfung oder Beleidigung des Propheten durch die Juden
gewesen (sofern sie diesen nicht ohnehin bloß aus Wortlaut und Kon¬
text der Stelle konjizierten). Eine derartige ätiologische Hypothese
würde in den Gesamtzusammenhang zwar gut hineinpassen — mehr als
eine solche, für die jeder Beweis ausständig bleibt, kann das Konstrukt
freilich nicht sein, weshalb wir dies hier auch nur mit großer Reserve
und Vorsicht äußern möchten.
Bisher wurde stillschweigend angenommen, daß die koranischen
Worte isma' gayra musma'in, wenn überhaupt von Isaias, dann von des¬
sen hebräischem Urtext deriviert sind. Dies ist jedoch keine zwingende
Annahme. Über die Sprachkenntnisse der medinensischen Juden zur
Taubheit und Verstocktheit als Reaktion auf die Prophetenpredigt sind
natürlich ein wohlbekanntes koranisches Thema, aber hier im Wortlaut des
Isaiasverses liegt ein zu verkündender gottgewollter Befehl dazu vor, was in das koranische Programm schwerlich hineinpaßt.
4,46(48): yuharrifüna l-kalima 'an mawäcjti'ihi.
22 Arne A. Ambros, „Höre, ohne zu hören", zu Koran 4, 46(48)
Zeit des Propheten sind wir leider nur sehr ungenügend unterrichtet'^;
im Gesamtkontext der Situation des Judentums der Zeit wäre es durch¬
aus gut denkbar, daß bestimmte AT-Schriften in Medina in einer ara¬
mäischen Version bekannt waren'^. Man könnte sich daher (wenn noch
eine weitere Konjektur erlaubt ist) fragen, ob sich hinter dem musma'
nicht etwa eine aramäische Infmitivform misma' (syr. mesma') verbirgt,
die zur Emphatisierung des Imperativs dem hebräischen Sämö"'
entspricht", in dem Sinne, daß der arabische Wortlaut seine Formulie¬
rung neben der Gesamtbedeutung der Isaias-Stelle auch einer irrtümli¬
chen Auffassung von mi/eSma' als musma' mitverdankt. Dies würde die
oben herausgestellten syntaktisch-lexikalischen Divergenzen einer
Erklärung zuführen, bleibt jedoch so ungewiß, daß darauf hier nicht wei¬
ter eingegangen werden soll.
Es liegt im Wesen einer Untersuchung wie der vorliegenden, daß sie
bei keinem Ergebnis mathematischer Sicherheit anlangen kann. Viel¬
leicht konnte aber plausibel gemacht werden, daß 1. schwerste Beden¬
ken (insb. sprachlicher Art) gegen die HmscHFELD-SpEYERsche Deu¬
tung des koranischen isma' gayra musma'in Yovliegen, 2. wenig gegen,
jedoch viel für eine Auffassung dieser Worte als Isaias-Zitat spricht.
'^ Hebräischen Urtext setzt z. B. die Erklärung von sami'nä wa-'a^aynä in
2,93(87) und 4,46(48) nach Hirschfeld: Beiträge, 63 und Speyer, a.a.O.,
301 f voraus; vgl. aber Rudolph, a.a.O., 18.
" Für ein aulklärendes Gespräch dazu geht herzhcher Dank an Prof Kurt Schubert.
" So z.B. in The Bible in Aramaic. Ed. A. Sperber. Leiden 1962, vol. III, 13.
Auch die syrische Pschitto bietet in Übersetzung von Is. 6,9 meima' (während an
den beiden NT-Stehen, wo diese Worte zitiert werden — Mt. 13,14 und Acta
28,26 —, vielmehr Sem'ä gebraucht wird.)
Alles über Qat
Ein Text im arabischen Dialekt von Jiblih (Nordjemen)
Von Otto Jastrow, Erlangen
Seit Carsten Niebuhr hat wohl kaum ein Reisender den Jemen
besucht, ohne daß die dort verbreitete Sitte des Qät-Kauens seine
besondere Aufmerksamkeit erregt hätte. Die sprunghaft angewachsene
Jemen-Literatur der letzten Jahre enthält auch eine Reihe von Arbeiten
zu diesem Gegenstand'. Ich möchte zum Thema „Qät" einen jemeniti¬
schen Dialekttext beisteuern, in dem Anbau und Vermarktung, Konsum
und Wirkungsweise des Qät aus der Sicht eines Einheimischen geschil¬
dert werden^.
Der Text stammt aus der nordjemenitischen Stadt Jiblih (har.
öiblah), die in der Nähe der Provinzhauptstadt Ibb, unweit der Durch¬
gangsstraße San'ä' — Ibb — Ta'izz liegt. Ich habe in dieser Stadt im Her¬
bst 1975 und im Frühjahr 1976 insgesamt etwa vier Monate gearbeitet
und eine Reihe von Dialekttexten aufgenommen'. Eine Monographie
über den arabischen Dialekt von Jiblih, durch eine Reihe anderer Vor-
' Als besonders informativ seien genannt: Maxime Rodinson: Esquisse
d'une monographie du qät. In: JA 265 (1977), S. 71-96 und Armin Schopen:
Das Qät. Oeschichte und Gebrauch des Genußmittels catha edulis Forsk. in der Ara¬
bischen Republik Jemen. Wiesbaden 1978. (Arbeiten aus dem Seminar für Völ¬
kerkunde der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 8.),
beide mit weiterführender Literatur. Vgl. ferner noch: Horst Kopp: Agrargeo¬
graphie der Arabischen Republik Jemen. Landnutzung und agrarsoziale Verhältnisse in einem orientalisch-islamischen Entwicklungsland mit alter bäuerlicher Kultur.
Erlangen 1981. (Erlanger Geographische Arbeiten. Sonderbd. IL), S. 236-239,
sowie Tomas Gerholm: Market, mosque and mafraj. Social Inequality in a
Yemeni Town. Stockholm 1977. (Stockholm Studies in Social Anthropology. 5.), S. 176-185.
^ Die Preise von 1976 gelten natürlich nicht mehr für die Gegenwart, doch dürften die Preisrelationen die gleiehen geblieben sein.
' Mein besonderer Dank gilt der Stiftung Volkswagenwerk, die meine Arbeit
im Jemen ermöglichte, sowie den Ärzten des American Baptist Hospital in
Jiblih, insbesondere dem Leiter, Herrn James Young, M.D., die mich als Gast in ihren compound aufnahmen.