MATHEMATISCHE KONSTANTENLISTEN ALS ZEUGNISSE FÜR
ARBEITSNORMEN IN BABYLONIEN
von Wolfram von Soden, Münster
Die mathematischen Konstantenlisten aus alt- und mittelbabylonischer Zeit sind
bisher wohl nur von den Lexücographen des Akkadischen und denen, die sich mit
der babylonischen Mathematüc näher beschäftigen, beachtet worden. Konstanten, sum. i g i - g u b (- b a), akk. igigubbüm ,feste Reziproke', sind Zahlen, die Be¬
zeichnungen von mathematischen Figuren, Gegenständen, Metallen und Arbeits¬
leistungen zugeordnet werden, wenn mit diesen Größen Rechnungen durchgeführt
werden. Für den Asphaltüberzug von Mauern ist uns z.B. durch die Listen und Auf¬
gaben die Zahl 15 überliefert. Mit der Reziproke 15 multiplizieren entspricht sexa¬
gesimal der Division durch 4. Man mußte die Zahl der Quadratellen durch 4 dividie¬
ren, um die Zahl der qa des benötigten Asphalts zu erreichen, d.h. man brauchte
pro Quadratelle ^ qa, was nach den in den mathematischen Texten üblichen Ma߬
relationen i I entspricht. Die Dicke der Asphaltschicht wäre danach 1 mm gewesen, ein sehr geringer Wert, der wie auch in anderen Fällen kein statistischer Durch¬
schnittswert ist, sondern ein für die Rechnung bequemes Mindestmaß.
Die ganz oder teüweise erhaltenen Konstantenlisten wurden, soweit bis 1960
bekannt, von A. Draffkorn Kilmer in Or. NS 29, 173 ff. zusammengestellt und be¬
arbeitet. Seither wurde die Konstanterüiste aus Susa von E. M. Bmins undM. Rut¬
ten in MDP 34 (1961), 25 ff. voUständig herausgegeben und eine Tabelle mit 16
Eintragungen von D. 0. Edzard in ARDer als Nr. 236. Um die Interpretation der
Konstanten hat man sich bisher wenig bemüht; sie ist in vielen Fällen auch heute
noch nicht möglich. Wenn eine Interpretation möglich ist, verhüft sie uns aber
manchmal auch zu Erkeimtnissen im soziologischen Bereich, da wir aus einigen
Konstanten ablesen können, mit welcher Arbeitsleistung als Normalwert man
rechnete.
In ARDer 2363 und in jetzt zu berichtigender Lesung in MCT 135,45 wird für
tupiikkum, das sowohl einen Ziegel-Tragrahmen wie einen Tragkorb fiir Erde be¬
zeichnet (vgJ. AHw. sub voce), die zunächst unverständliche Sexagesünal-Zahl
2,13,20 gegeben. Dezünal entspricht diese der mnden Zahl 8000 (= 20 ) oder dem
Sechzigfachen bzw. 3600-, 216000fachen usw. davon und ebenso einem Sechzigstel
davon bzw. 1/3600, 1/216000 usw. Da die babylonische Schreibweise den SteUen-
wert einer Zahl im Sexagesmialsystem bekanntlich nicht erkennen läßt, weü man
kein math. Komma kannte, muß der jeweüige Stellenwert aus den Zahlen einer Auf¬
gabe oder aufgmnd anderer Überlegungen erschlossen werden. In unserem FaU kann
die Zahl nur als 0^2,13,20 = 8000:216000 = ^ interpretiert werden. Auch diese
Zahl kann nur dann richtig verstanden werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß
m Babylonien nur bei den kleineren Kubikmaßen wie der KubikeUe Länge, Breite
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 In Erlangen
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und Höhe gleich sind. Das dem Flächen-müSar (s. dazu AHw. 681 b) zu 144 Qua¬
dratellen entsprechende Rmm-müSar umfaßt aber nur 144 Kubikellen, weil als
Höhe nicht 12, sondern nur 1 Elle gerechnet wird. Teilen wir nun 144 Kubikellen durch 27, so erhalten wir ^ oder 5^. Nach meiner Überzeugung ist nun tupSikkum in unserem Fall ein Ziegel tragrahmen in Quaderform von der Art, wie wir ihn auf dem Kopf einer wdil spät-frühdynastischen Kupfer-Statuette des Metropolitan-
Museums in New York sehen, die im Guide to the Collections: Ancient Near
Eastem Art von 1966 als Nr. 12 abgebildet und nach meiner Überzeugung echt ist.
Der Rahmen wird von einem Mann in kultischer Nacktheit so getragen, wie Gudea
sich rühmt, für semen Tempelbau den Tragrahmen getragen zu haben; andere Köni¬
ge wie z.B. Sulgi tragen statt dessen einen Erdkorb auf dem Kopf. In dem Trag¬
rahmen lag, gewiß auf einem Kopfpolster, ein großer Ziegel. Die Konstantenliste
geht von der durchschnittlichen altbab. Ziegelgröße aus, nämhch Seitenlänge von
32-34 cm und einer Höhe von etwa 8 cm. Das entspricht ziemlich genau den für
Rechnungen bequemen Zahlen | Ellen für die Seitenlänge und^ Elle für die Höhe.
|x|x j Ellen sind ^Kubikellen. Da nun ^ = 0;2, 13,20 Raum-wüJar Kubikellen
entspricht, entfaUen auf dieses Volumen 72 Ziegel des erwähnten Formates. Unsere Konstante setzt also eine Tagesleistung von 72 großen Ziegeln für emen Träger vor¬
aus, wobei die Tagesstrecke als bekannt vorausgesetzt wird. Am nächsten liegt es, an 1 aSlum = 60 m zu denken. Da 72 durch 9 teUbar ist, ähnlich anderen vergleich¬
baren Konstanten, ging man wohl von einer Arbeitszeit von 4^ babylonischen Dop¬
pelstunden aus, also einem Dreivierteltag, der je nach der Jahreszeit verschieden
lang war. Selbstverständlich werden die wirklichen Tagesleistungen je nach der
Länge und Schwierigkeit der Wegstrecke davon nach oben oder unten abgewichen
sein.
Ich meine nun, daß Zahlen dieser Art für uns nicht nur mathematisch interessant sind. Die Kenntnis von Arbeitsnormen, und seien es nur rechnerisch bequeme Ideal¬
werte, kann auch für die bis vor kurzem stark vernachlässigte Stadtforschung fmcht- bar gemacht werden. Neben vielen anderen Fragen ist dieser auch die Frage gestellt, wieviel Einwohner etwa Städte im Alten Orient gehabt haben können. Als Basis für
die Beantwortung kannte man bisher fast nur die Besiedlungsfläche der Städte,
konnte angesichts der sehr verschiedenen Siedlungsdichte auf diesem Wege aber
keine überzeugenden Ergebnisse erzielen. Schätzungen neigten früher eher zu ho¬
hen, heute eher zu niedrigen Zahlen. In meinem demnächst erscheinenden Beitrag
zu einer Sammelvorlesung in Münster 1971/2 wies ich darauf hin, daß man bei
Städten auch die Frage stehen muß, welche Leistungen für Tempel und Hof, öffent¬
liche und private Bauten sowie für die Versorgung rni weitesten Sinne in ihnen er¬
bracht werden mußten. Gewisse Minimalzahlen, die etwa für das davidische Jemsa¬
lem oder Stralsund als Hauptstadt der Hanse ün Mittelalter genannt werden, erwei¬
sen sich bei der Einbeziehung solcher Überlegungen als viel zu niedrig. Im Bereich des alten Orients setzen z.B. die mit „arbeitsintensiven" TonstiftmosaUcen reich
geschmückten Großtempel im frühsumerischen Umk und viel später die gewaltigen
Bauten Nebukadnezars II. in Babylon oder in Ägypten die Erbauung der großen
Pyramiden in sehr kurzer Zeit große Menschenmengen voraus, ohne deren Einsatz
solche Bauleistungen nicht möglich gewesen wären. Vertreter verschiedener Arbeits¬
gebiete werden hier mit den Bauforschem zusammenarbeiten müssen, um Berech-
Mathematische KonstantenUsten als Zeugnisse für Arbeitsnormen 109
nungsgmndlagen ftir die Arbeitsleistungen an den Bauten zu finden. Das Umk der
Tonstiftmosaiktempel muß mindestens eine Mittelstadt gewesen sein, das Babylon
Nebukadnezars II. eine Großstadt von weit über 100 000 Einwohnern. Nicht alle
Arbeiter müssen dort wie in anderen Städten innerhalb des Mauerringes gewohnt
haben; die geforderten Arbeitsleistungen konnten aber nur bei kurzen Aiunarsch- wegen erbracht werden. Ein Erkenntnismittel unter anderen können für Babylonien
auch die Zahlenreihen der Konstantenlisten und die in den mathematischen Auf¬
gaben benutzten Konstanten sein, wenn es gelingt, diese angemessen zu interpre¬
tieren.
SEKTION III: ALTES TESTAMENT UND JUDAISTIK
SEKTIONSLEITER: E. KUTSCH
THEOLOGISCHE AUSSAGEN IM GRIECHISCHEN ALTEN TESTAMENT:
GOTTESNAMEN*
von Georg Bertram, Femwald
Die Wiedergabe der Gottesnamen und Gottesbezeichnungen mi griechischen AT
und ihre Prägung oder Umprägung in der griechischen Sprache ist ein gmndlegendes Problem der abendländischen Religionsgeschichte. Scliließlich stehen im griechi¬
schen AT zwei Gottesbezeichnungen nebeneinander: Theos und Kyrios. Philo be¬
nutzt den Doppelnamen zur Unterscheidung zweier göttlicher Wesenheiten, die in
begrifflicher und sachlicher Spannung zueinander stehen: Güte und Macht. Kommt
erstere Gott als dem Schöpfer und Wohltäter zu, der die Menschen mit seinen
Gaben und Gnaden beschenkt, so ist er als der Herr in seinem Wesen König, Lenker
und Richter. Diese Unterscheidung geht wohl auf jüdische Theologena zurück. Die
überkommene Spannung zwischen El und Jahwe, Theos und Kyrios hat PhUo in
eigener Art gedeutet. Auch die modeme Religionswissenschaft achtet darauf: Man
unterscheidet den milden El und den zornigen Jahwe. Anders stellten die Rabbinen den Jahwe als Vertreter der Güte dem Elohim als Vertreter der Gerechtigkeit gegen¬
über. Dualistische Auswertung dieses Nebeneinander fmdet sich in gnostisierender
Überliefemng. Jedenfalls bekommt durch die Gegenüberstellung mit Theos die
Bezeichnung Kyrios einen besonderen theologischen Gehalt. Es ergibt sich ein Ge¬
gengewicht gegen den kultisch4iturgischen Gebrauch des Titels als Akklamation.
Das whkt sich in der christlichen Gemeinde für die Prägung des Titels ,Christos
Kyrios' deutlich aus. Denn hinter dem Kyrios des NT steht der des AT. Einzelne
Aussagen, die dem atlichen Herrgott gelten, werden auf den ntlichen übertragen.
Sie tragen im besonderen dazu bei, daß beide als Einheit im Sinne des johannei¬
schen Wortes (14,9) ,,Wer mich siehet, der siehet den Vater", verstanden werden.- An einer Stelle, Ps 88,28, hat Aquüa für den Messias - König eingeführt. Aber erst dadurch, daß die Vorstellung von der Erhöhung sich mit der Geschichte Jesu Christi verbindet, bekommt die Aussage einen biblischen Gehalt.
Für die Gottesbezeichnung Pantokrator scheint zunächst die biblische Gmndlage zu fehlen. Pantokrator hat kein hebräisches Äquivalent. Es steht vielmehr anstelle zweier Gottesbenennungen der hebräischen Bibel, die nicht leicht wörtlich wieder-
* erscheint in ausführlicher Fassung in ZWW.
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