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Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit bei Epilepsien

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Dieser Beitrag gibt nach Erläuterung des Invaliditäts- begriffs der Invalidenversicherung (IV) Empfehlungen, welche Kriterien bei Epilepsien in der für die Fest - legung des Invaliditätsgrads durch die IV wich tigen ärztlichen Beurteilung der Arbeits- und Wiederein- gliederungsfähigkeit berücksichtigt werden sollen.

Neben den Anfällen selbst sind hierbei neurologische, neuropsychologische und auch psychiatrische Sym - ptome beziehungsweise Komorbiditäten sowie der Behandlungsstand relevant.

T H O M A S D O R N U N D K L AU S F E T S C H E R *

Einleitung

Seit einigen Jahren sind die sozialen Sicherungssysteme, ins- besondere unsere Invalidenversicherung (IV) wegen steigen- der Kosten in das öffentliche und politische Interesse gerückt.

Vonseiten der Politik beziehungsweise des Gesetzgebers wurde und wird versucht, durch entsprechende Gesetzesänderungen (z.B. Invalidenversicherungsgesetz-Revisionen) die Ausgaben zu senken (1). Der Ärzteschaft kam und kommt bei der ge- rechten Verteilung der knapper werdenden Ressourcen im Sozialversicherungsbereich unabhängig von gesetzlichen Ver- änderungen eine herausragende Bedeutung zu (2). Tritt eine Erkrankung neu auf, muss schon der erstbehandelnde Arzt**

meist auch entscheiden, ob und wie die Erkrankung die Ar- beitsfähigkeit eines Patienten** in seinem Beruf tangiert. Diese Beurteilung erfordert sowohl ein gewisses Wissen um die Natur, Prognose, Behandelbarkeit und auch die Komorbiditä- ten der betreffenden Krankheit als auch um die Anforderungen des konkreten Arbeitsplatzes.

Diese erste sozialmedizinische Bewertung kann erhebliche Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der sozialen Situa- tion des Patienten bis hin zu einer späteren Berentung haben, zumal die erstmalige Attestierung einer Arbeitsunfähigkeit schon zu einem längeren Fernbleiben vom Arbeitsplatz und dem Einspringen der Krankentaggeldversicherung bezie- hungs weise auch zum Verlust des Arbeitsplatzes führen und eine Berentung vorbahnen kann. Auch die Tatsache, dass Men- schen mit Epilepsien sogar bei ausgeglichenem Arbeitsmarkt häufiger arbeitslos sind als Menschen ohne Epilepsien (3) könnte zum Schluss führen, dass dann eine Berentung als Lösung des Problems Arbeitsplatzverlust angesehen werden kann. Eine Berentung kommt bei einer chronisch die Arbeits- fähigkeit tangierenden Erkrankung aber gemäss dem Prinzip

Merksätze

Wenn wegen einer Epilepsie ein Antrag auf Massnahmen der Inva - lidenversicherung (IV) gestellt wird, ist ärztlicherseits eine diffe- renzierte Beurteilung der Arbeitsfähigkeit im angestammten Beruf sowie allenfalls in anderen Berufsfeldern, das heisst der Wieder - eingleiderungsfähigkeit, erforderlich.

Dabei müssen nicht nur die Gefährdungen des Betreffenden und seiner Umgebung durch Anfälle beachtet werden, vielmehr müssen auch allfällig vorhandene andere neurologische, neuropsycholo - gische und psychiatrische Beschwerden, Symptome und Erkrankun- gen (Komorbiditäten) berücksichtigt werden, die in der heutigen Arbeitswelt einer Industrie- und Wissensgesellschaft oft eine grös- sere soziale Relevanz haben als die Anfälle selbst.

Schliesslich muss der Behandlungsstand im Hinblick auf die Anfälle aber auch auf die genannten Komorbiditäten kritisch gewürdigt werden.

Die sozialmedizinische Würdigung von Stigmata, die bei Epilepsie zum Verlust eines Arbeitsplatzes führen beziehungsweise die Wiedereingliederung erschweren können, ist im Kontext eines aus- schliesslich auf medizinischen Gegebenheiten gründenden Invali- ditätsbegriffs schwierig.

Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit bei Epilepsien

Ärztliche Beurteilung muss Komorbiditäten berücksichtigen

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* Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Zürich (Medizinischer Direktor: Dr. G. Krämer)

** Im Text wird generell die männliche Form verwendet; selbstverständlich gelten die Aussagen für beide Geschlechter.

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Wiedereingliederung vor Rente (4) erst dann in Betracht, wenn eine Wiedereingliederung in den angestammten Beruf bezie- hungsweise in eine der Behinderung angepassten Tätigkeit nicht möglich ist. Deshalb ist in der Phase eines drohenden oder gerade erfolgten Arbeitsplatzverlustes neben einer sorg- fältigen Analyse der medizinischen Fakten eine intensive so- ziale Beratung mit Ausloten aller Wiedereingliederungsoptio- nen erforderlich (6) bevor das Problem durch eine längere Krankschreibung und konsekutive Berentung vordergründig gelöst wird.

Im Kastenwird der Invaliditätsbegriff der Schweizerischen In- validenversicherung erläutert. Im Folgenden stellen wir unsere in den letzten Jahren in Anlehnung an entsprechende Arbeiten und Entwicklungen in Deutschland (7, 8) sich herausgebildete Praxis bei der Beurteilung der medizinischen Grundlagen der Invalidität, das heisst der Arbeits- und Wiedereingliederungs- fähigkeit bei Epilepsien, dar. Aufgrund der oben erwähnten grossen Relevanz einer ersten Krankschreibung für die weitere beruf liche und soziale Entwicklung eines Betroffenen sollten die dargestellten Empfehlungen nicht nur für die Beurteilung der Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit im Auftrag der IV, sondern auch bei der sozialmedizinischen Beratung eines Patienten nach ersten Anfällen hilfreich sein.

Ärztliche Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit

Bei der dem Arzt zukommenden Beurteilung der Arbeitsfähig- keit ist ein biopsychisches, nicht aber das biopsychosoziale Krankheitskonzept der WHO zugrunde zu legen (6). Dabei ist vom Arzt die Auswirkung der Erkrankung auf die Arbeits - fähigkeit im angestammten Beruf sowie auch auf jene in allen auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt infrage kommenden Tätigkeiten (Wiedereingliederungsfähigkeit) einzuschätzen.

Die im Kasten«Der Invaliditätsbegriff in der Schweizerischen Rentenversicherung (IV)» erwähnten Begriffe «bleibend» be- ziehungsweise «längere Zeit» bedeuten im Hinblick auf Ren- tenleistungen der IV einen Zeitraum von mindestens einem Jahr, in dem der Gesundheitsschaden zu einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit geführt haben muss. Im Hinblick auf die Gewährung von Wiedereingliederungsmassnahmen der IV kann hingegen dieser Zeitraum kürzer sein, was ja dann vor allem einen Sinn ergibt, wenn früh erkennbar wird, dass eine Erkrankung bis auf Weiteres die Ausübung eines bestimmten Berufs verunmöglicht, keinesfalls aber die Ausübung anderer Berufe beeinträchtigt. Als Beispiel möge ein Busfahrer nach einem ersten epileptischen Anfall dienen, der zwar mindestens für 5 Jahre nicht mehr Bus fahren kann (10), aber sehr rasch auf einen anderen Beruf umgeschult werden kann, bei dem all- fällige Anfälle keine Relevanz haben. Eine Rente kann also erst dann gewährt werden, wenn eine Arbeitsunfähigkeit, das heisst die durch den Gesundheitsschaden bedingte Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen mindestens ein Jahr (Wartejahr) anhält und die verbleibende Arbeitsfähigkeit nach Durchführung zumutbarer Eingliederungsmassnahmen auf dem gesamten infrage kommenden Arbeitsmarkt wirtschaft- lich nicht verwertet werden kann. Das sogenannte Wartejahr darf also nicht einfach ein Abwarten auf eine Besserung des Gesundheitszustands sein, sondern muss zu beruflich-rehabi- litativen Massnahmen genutzt werden, falls es der Gesund- heitszustand zulässt.

Mögliche Einschränkungen der Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit bei Epilepsie

Neben den epileptischen Anfällen selbst können bei Menschen mit Epilepsien andere neurologische oder auch von anderen Organsystemen herrührende Symptome einer Grunderkrankung Eine Invalidität (Erwerbsunfähigkeit) ist zu attestieren, wenn ein

Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit (medizinisches Element) vorliegt, der zu einer bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbsunfähigkeit (wirtschaftliches Ele- ment) führt, wobei klar gezeigt werden muss, dass der Gesund- heitsschaden Ursache der Erwerbsunfähigkeit ist (kausales Ele- ment).

Der Arzt hat dabei das medizinische Element, das heisst Art, Dauer, Prognose einer Erkrankung und deren Auswirkungen auf die Ar- beits- und Wiedereingliederungsfähigkeit, nicht aber den Invali- ditätsgrad (Erwerbsunfähigkeit) zu beurteilen (4). Der Invaliditäts- grad wird nämlich von der IV festgelegt und ergibt sich aus Ein- schätzungen und Berechnungen, die ökonomische Aspekte mit einbeziehen. Eines der Berechungsverfahren, der sogenannte Lohnvergleich, sei hier kurz dargestellt: Dabei wird zunächst das Einkommen, das ein Gesunder im bisherigen Beruf des Betreffen- den verdienen kann (Valideneinkommen), als Bezugsgrösse ermit- telt. Aus den Angaben des IV-Arztberichts, eines ärztlichen Gut- achtens oder auch den Ergebnissen einer Berufsabklärung wird dann ermittelt, was der Betreffende mit seinen Einschränkungen auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt verdienen kann (Invaliden - einkommen). Der Quotient aus Validen- und Invalideneinkommen ergibt multipliziert mit 100 den Invaliditätsgrad (9). Die Art von von der IV finanzierten Wiedereingliederungsmassnahmen be - ziehungsweise die Rentenhöhe richtet sich nach dem Invaliditäts- grad (10):

Invaliditätsgrad Rentenart

40% Viertelsrente

50% Halbe Rente

60% Dreiviertelrente

70% Ganze Rente

Die Ermittlung der Rentenhöhe folgt somit keiner linearen Umset- zung. So ist die Gewährung einer sogenannten Viertelsrente erst ab einem Invaliditätsgrad von 40 Prozent möglich, während eine volle Rente bereits ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zuge- sprochen wird.

Der Invaliditätsbegriff in der Schweizerischen

Rentenversicherung (IV)

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zur Arbeitsunfähigkeit führen. Bei einem Patienten mit einer symptomatischen Epilepsie infolge eines grossen zerebralen Territorialinfarkts dürfte eine schwere Hemisymptomatik die Arbeitsfähigkeit eher einschränken als die Anfälle. Bei vielen Epilepsien findet man aber weniger neurologische, sondern neuropsychologische Funktionsstörungen oder gar auch psy- chiatrische Symptome, die die Arbeits- beziehungsweise Wie- dereingliederungsfähigkeit beeinträchtigen können. Als ty pi - sches Beispiel für eine Epilepsie mit derartigen Komorbiditäten kann die posttraumatische Epilepsie angesehen werden (11).

Schliesslich ist für alle diese epileptologischen beziehungs- weise mit Komorbiditäten assoziierten Symptome auch der jeweilige Behandlungsstand zu berücksichtigen, der unserer eigenen Erfahrung nach oft nicht mit der Krankheitsdauer kor- reliert, insbesondere dann, wenn nicht bemerkte beziehungs- weise thematisierte Adhärenzmängel bestehen oder keine kon- tinuierliche fachärztliche neurologische Betreuung erfolgte (5). Denn nur wenn invalidisierende Symptome trotz eines fortgeschrittenen Behandlungstands persistieren, ist die medi- zinische Grundlage für eine Invalidität im Sinne der IV gegeben.

Anfälle

Epileptische Anfälle können die Arbeitsfähigkeit durch ihr Ver- letzungspotenzial einschränken. Das bedeutet, dass mit einer aktiven Epilepsie im Allgemeinen Tätigkeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr (z.B. durch drehende, ungeschützte Teile, gefährliche Spannungen, infektiöses Material), Berufskraftfah- ren, vorwiegende Reisetätigkeit, Tätigkeiten mit erhöhten An- forderungen an Konzentrationsvermögen, Reaktionsschnellig- keit sowie Flexibilität, Steuer- und Überwachungstätigkeiten, Tätigkeiten mit Aufsichtspflicht, Nachtschicht beziehungs- weise Schichtsysteme, die Schlafentzug oder eine wesentliche Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus bedingen (z.B. häufig wechselnde Arbeitszeiten, Bereitschaftsdienste), Tätigkeiten mit Atemschutzgeräten, Tätigkeiten in Kälte (z.B. in Kühlhaus, Gefrieranlage), Tätigkeiten auf dem Wasser sowie Schwimmen nicht möglich sind (7). Allerdings ist ohne sachkundige Be- sichtigung eines potenziell gefährlichen Arbeitsplatzes eine richtige Einschätzung oft nicht möglich. Auch eine differen- zierte Betrachtung der bei einem Patienten auftretenden Anfallsformen im Hinblick auf ihr Verletzungspotenzial ist vonnöten. Hier wurden Klassifikationssysteme und Beurtei- lungskriterien entwickelt, die bei der Einschätzung der Ein- setzbarkeit an vermeintlich gefährlichen Arbeitsplätzen sehr hilfreich sind wie beispielsweise die von Thorbecke und Specht veröffentlichten Tabellen (6, 8). Aufgrund von Anfalls- semiologie und -frequenz erfolgt dabei eine Zuordnung zu Ge- fährdungskategorien, die dann die Beurteilung einer Beschäf- tigung in bestimmten Berufsfeldern als uneingeschränkt, ein- geschränkt möglich beziehungsweise unmöglich erlauben.

Manchmal können gefährliche Arbeitsplätze auch durch Schutzmassnahmen für einen Patienten mit einer aktiven Epi- lepsie sicher gemacht werden.

Bezüglich Schichtarbeit kann kein generelles Verbot aus - gesprochen werden, da das anfallsauslösende Moment einer

solchen Tätigkeit vom jeweils vorliegenden Epilepsiesyndrom abhängt. So dürften besonders Patienten mit idiopathisch ge- neralisierten Epilepsien Gefahr laufen, unter wechselnden Wach- und Schlafzeiten wieder oder vermehrt Anfälle zu erlei- den (12).

So resultiert aus einer aktiven Epilepsie im Allgemeinen eine qualitative Einschränkung der Arbeitsfähigkeit für bestimmte Tätigkeiten, nicht aber eine Unfähigkeit zur Wiedereingliede- rung in andere Berufsfelder, in denen diese Einschränkungen keine Rolle spielen.

Eine sehr aktive Epilepsie mit häufigen grossen Anfällen hin- gegen kann auch zu generellen quantitativen Einschränkun- gen führen, indem eine vollzeitige und planbare Präsenz am Arbeitsplatz nicht möglich ist. Ein Patient, der in der Woche vier Anfälle erleidet, nach denen er jeweils zwei Stunden bis zur vollständigen Erholung benötigt, fällt so bei einer Wo- chenarbeitszeit von zirka 40 Stunden zu 20 Prozent aus. Den gleichen Arbeitsausfall am Arbeitsplatz hat auch ein Patient, der im Jahr 22 grosse Anfälle mit einer Erholungszeit von je- weils zwei Tagen erleidet. Hier darf aber trotz der Möglichkeit einer gut vom Arzt quantifizierbaren Arbeitsfähigkeit vonsei- ten der IV nicht linear auf den Invaliditätsgrad geschlossen werden. Der Unberechenbarkeit der Anfälle und der damit verbundenen Planungsunsicherheit für einen Arbeitgeber ist Rechnung zu tragen. Es wird an den obigen Zahlenbeispielen aber deutlich, dass eine Epilepsie schon sehr aktiv sein muss, damit sie sich für den Invaliditätsgrad relevant quantitativ auf die Arbeitsfähigkeit in allen möglichen Berufsfeldern, also die Wiedereingliederungsfähigkeit auswirkt.

Neuropsychologische Funktionsstörungen

Bei Epilepsien können die der Epilepsie zugrunde liegende Hirnpathologie (z.B. eine mesio-temporale Sklerose), die An- fälle inklusive ihrer postiktalen Phase selbst, möglicherweise auch interiktale Spikes im Sinne des sogenannten «transient cognitive impairment», die antiepileptische Medikation und schliesslich auch eine psychiatrische Komorbidität im Sinne einer Depression zu neuropsychologischen Funktionsstörun- gen führen beziehungsweise mit solchen assoziiert sein (13, 14, 15). Für die Erfassung solcher Funktionsstörungen und die Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit ist eine neuropsychologische Testuntersuchung erforderlich (16).

Wir erleben immer wieder Patienten mit Epilepsie, bei denen die Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit alleine auf- grund neuropsychologischer Funktionsstörungen nicht ge - geben ist. Als Beispiel möge hier eine Patientin mit einer Temporallappenepilepsie auf dem Boden einer beidseitigen mesiotemporalen Sklerose dienen, die deswegen einen ange- stammten erlernten Beruf aufgeben musste und auch nicht mehr in der Lage ist, in einem anderen Berufsfeld angelernt zu werden. Allerdings stellt sich besonders bei Teilleistungsstö- rungen wie etwa einer isolierten psychomotorischen Verlang- samung bei sonst gutem kognitivem Leistungsprofil die Frage, ob nicht an speziell hierauf angepassten Arbeitsplätzen bezie- hungsweise im Rahmen einer Teilinvalidität eine Verwertung F O R T B I L D U N G

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der verbleibendem Arbeitskraft auf dem freien Arbeitsmarkt möglich sein könnte (5).

Komorbide psychiatrische Erkrankungen

Epilepsien können mit diversen psychiatrischen Erkrankungen assoziiert sein, wobei die epidemiologisch grösste Bedeutung hierbei Depressionen und Angsterkrankungen zukommt.

Daneben gibt es verschiedene Formen von Psychosen, die – in Abhängigkeit ihrer (zeitlichen) Beziehung zu den Anfällen – als postiktale, interiktale, (peri-)iktale sowie alternative Psycho- sen bezeichnet werden. Ferner kommen organisch begründ- bare Persönlichkeitsstörungen sowie Störungen der Krankheits- verarbeitung mit negativen Auswirkungen auf die Adhärenz und so auch auf die Anfallssituation vor. Schliesslich können auch bei Epilepsien zusätzliche psychogene, nicht epileptische Anfälle auftreten (17, 18, 19). Neben der Beurteilung der Auswirkungen dieser Symptome auf die Arbeitsfähigkeit ist bei der sozialmedizinischen Würdigung psychiatrischer Symptome auch der diesbezügliche Behandlungsstand zu beachten.

Die Bedeutung des Behandlungsstands bei der Beurteilung der Invalidität

Die IV fragt in den Arztberichten und Gutachten immer wieder, ob die Arbeitsfähigkeit mit medizinischen Massnahmen ver- bessert werden kann. Diese Frage zielt auf den Behandlungs- stand. Bei einer Epilepsie darf keinesfalls von der Erkran- kungsdauer auf den Behandlungsstand geschlossen werden.

Immer wieder erleben wir Patienten, die trotz eines bereits langjährigen aktiven Verlaufs durch weitere Umstellungen der Therapie anfallsfrei werden, wobei hierfür grundsätzlich zwei Gründe angeführt werden können.

■ Unzureichende bisherige Therapie: Im Allgemeinen wird das jeder antiepileptischen Pharmakotherapie zunächst zugrunde liegende Therapieziel Anfallsfreiheit erst dann als unrealistisch angesehen, wenn mindestens 2 bis 3 (bis zur individuellen Toxizitätsgrenze) ausdosierte und zuver- lässig eingenommene Mono-, allenfalls auch Bitherapien nicht zur Anfallsfreiheit führten. Mit einer solchen syste- matischen Therapieführung werden rund 70 Prozent aller Epilepsiepatienten anfallsfrei. Bei einem Teil der pharma- kotherapieresistenten Patienten kann dann ein epilepsie- chirurgischer Eingriff zur Anfallsfreiheit führen (20). Anti - epileptische Pharmakotherapien scheitern aber nicht nur aus biologischen Gründen, sondern auch weil die Medika- mentenauswahl auf einer falschen Klassifikation einer Epilepsie beruht (21) oder ein potenziell sehr wirksames Medikament falsch angewendet wird, in dem zum Beispiel pharmakokinetische Interaktionen nicht berücksichtigt werden (22).

■ Mangelnde Adhärenz: Es ist aber auch noch zu berück- sichtigen, dass 30 bis 50 Prozent der Epilepsiepatienten be- züglich einer medikamentösen Therapie nicht adhärent sind (23). Wir ermitteln die Compliance zum einen durch eine sorgfältige anamnestische Erfassung der Einnahme- praxis, zum anderen aber auch durch den Vergleich von

Serumkonzentrationen der Antiepileptika unter gleicher Dosis, wobei hier vor allem postiktal gewonnene Serum- konzentrationen relevant sind.

Diese Sachverhalte und nicht alleine die Behandlungsdauer sind also bei der Beurteilung des Behandlungsstands einer Epilepsie zu berücksichtigen, wobei hier noch auf den von der IV verwendeten Begriff «zumutbare Behandlung» im Rahmen der «Mitwirkungspflicht» einzugehen ist: «Als zumutbar muss daher jede Massnahme gelten, die der Eingliederung der versi- cherten Person dient. Der gesundheitlichen Beeinträchtigung wird selbstverständlich weiterhin Rechnung getragen. Die Zumutbarkeit erstreckt sich dabei etwa auf die medizinische Behandlung, auf die Eingliederung und auf den Wechsel in einen anderen Beruf oder Aufgabenbereich. Damit das Ziel der Eingliederung realistisch wird, müssen die versicherten Personen selber aktiv an den Massnahmen der IV mitwirken und eine ihrer Restarbeitsfähigkeit entsprechende Stelle suchen» (24).

In der Epileptologie sollten diese Begriffe wie folgt angewendet werden: Während eine verträgliche antiepileptische Pharma- kotherapie zumutbar ist, und der Patient hierbei durch eine regelmässige Einnahme dieser Medikation mitzuwirken hat, ist die Ablehnung eines epilepsiechirurgischen Eingriffs durch einen Patienten keinesfalls als Verweigerung einer zumutbaren Behandlung zu betrachten, auch wenn davon eine drastische Verbesserung der Anfallssituation erwartet werden kann.

Bezüglich der Behandlung komorbider psychiatrischer Erkran- kungen ist der Behandlungsstand in entsprechender Weise durch den Psychiater zu analysieren, wobei auch hier eine psy- chopharmakologische Behandlung als zumutbar anzusehen und eine solide Beurteilung der Adhärenz – auch anhand ent- sprechender Serumkonzentrationsbestimmungen – wünschens - wert ist.

Ausblick

Mit den dargestellten Empfehlungen zur Bewertung von Arbeits- und Wiedereingliederungsfähigkeit bei Epilepsien ist ein für die betroffenen Patienten sicher relevanter Aspekt nicht berücksichtigt, nämlich der der Stigmatisierung. Diese wird neben den dargestellten medizinischen Gegebenheiten für die unter Epilepsiepatienten höhere Arbeitslosigkeit mitverant- wortlich gemacht (3). Die Stigmatisierung ist aber kein medi- zinischer, sondern ein sozialer Sachverhalt und somit für die IV bei der Festlegung der Invalidität nicht relevant. Ein Anfall eines Verkäufers bei der Kundenberatung kann wegen der Sorge des Vorgesetzten, durch diesen und allfällige weitere der- artige Vorfälle verschreckte Kunden zu verlieren, zum Verlust des Arbeitsplatzes und auch zu einer längeren frustrierenden Suche nach einer geeigneten neuen Arbeitsstelle führen. Der Betroffene wird seine Arbeitslosigkeit als Folge seiner Erkran- kung ansehen und sich allmählich als Invalider fühlen. Diese ungünstige Entwicklung sollte aber der begutachtende Arzt nicht durch die Festschreibung der Arbeitsunfähigkeit be zie - hungsweise Wiedereingliederungsunfähigkeit unterstützen, sondern ihr durch die Vermittlung einer kompetenten sozialen

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Beratung mit dem Ziel eines möglichst raschen beruflichen Wiedereinstiegs neben der Optimierung der medizinischen Be- handlung entgegenwirken (6). Sicher können hier auch die In- strumente, das heisst insbesondere die Früherfassung und Frühintervention (FEFI), der 5. IVG-Revision greifen (1). Der Stigmatisierung von Menschen mit Epilepsie sollte aber auch durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit entgegengewirkt werden, wobei auch die bisher dabei eher ausgeblendete neu- ropsychologische und psychiatrische Komorbidität in ange- messener Weise thematisiert werden muss.

Gemäss unserer Erfahrungen sollten bei Epilepsiepatienten mehrmonatige, maximal 1 bis 2 Jahre dauernde «Auszeiten»

aus dem Erwerbsleben möglich sein, um eine systematische Pharmakotherapieresistenzprüfung sowie eine allfällige opera- tive Epilepsietherapie zügig und ohne sozialen Nachteil des Patienten durchführen zu können, zumal diese Massnahmen die Situation des Patienten und damit seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft verbessern können. Vielen Betroffenen und auch Begutachtenden ist leider auch nicht bewusst, dass durch diese Massnahmen, vor allem durch die Epilepsiechi- rurgie, noch nach vielen Jahren Krankheitsdauer signi fikante Verbesserungen der medizinischen Situation möglich sind.

Korrespondenzadressen:

Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich E-Mail: thomas.dorn@swissepi.ch

Klaus Fetscher Leiter Sozialberatung, Fachstelle Arbeit Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich E-Mail: klaus.fetscher@swissepi.ch Interessenkonflikte: keine

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