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Archiv "Der Arzt im Nationalsozialismus: Der Weg zum Nürnberger Ärzteprozeß und die Folgerungen daraus" (25.10.1996)

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m 16. Oktober 1948 führte Fred Mielke in seinem Referat vor dem 51. Deutschen Ärzte- tag aus, „daß gegenüber etwa 90 000 in Deutschland tätigen Ärzten die Anzahl der an Medizinverbrechen unmittelbar Beteiligten verschwin- dend gering ist – etwa 300 bis 400 Ärz- te, wenn man hoch schätzt“. In der zweiten Publikation zum Nürnberger Ärzteprozeß korrigierte Mitscherlich diese Einschätzung: „Dreihundert- fünfzig waren unmittelbare Verbre- cher – aber es war ein Apparat da, der sie in die Lage oder Chance brachte, sich zu verwandeln.“

Bis heute stehen sich zwei Grup- pierungen bei der Beurteilung der Verstrickung von Ärzten in die Ver- brechen der Nazizeit gegenüber: die eine, welche der Ansicht ist, daß nur eine verschwindend kleine Zahl von Ärzten aktiv beteiligt gewesen sei und daß die meisten auch nichts gewußt hätten, demgegenüber die andere, welche mehr oder weniger der Be- jahung einer Kollektivschuld der deutschen Ärzteschaft zuneigt und die Ausrede des Nichtwissens nicht akzeptieren will. Die nachfolgenden Ausführungen sollen Ihnen helfen, sich ein eigenes Bild machen zu kön- nen.

Was war es, was so viele Ärztin- nen und Ärzte sich unmittelbar oder mittelbar in die Machenschaften des nationalsozialistischen Regimes ver- stricken ließ? Hatte sich denn wirk-

lich die Mehrzahl der Ärzte, die in den Jahren 1933 bis 1945 tätig waren, so weit von den ethischen Verpflich- tungen entfernt, welche der Arztbe- ruf ihnen auferlegte? Nun, dies war si- cherlich nicht der Fall. Doch das Wer- tebild der gesamten Bevölkerung, und damit auch der Ärzte, hatte sich unter dem Einfluß der nationalsozia- listischen Ideen verändert. Lassen Sie uns daher zunächst einen Blick auf die äußeren Umstände werfen, unter de- nen ein Arzt in der Zeit des national- sozialistischen Regimes seinen Beruf ausüben mußte.

Arbeitslosigkeit und sinkende Einkommen

Die wirtschaftlichen Rahmenbe- dingungen des Jahres 1933 waren schlecht. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Überwindung der Inflation Anfang der zwanziger Jahre hatte es eine ständige wirt- schaftliche Aufwärtsentwicklung bis 1929 gegeben, auch für die Einkom- men der Ärzte. Ein Arzt verdiente 1929 im Durchschnitt 13 471 RM, wo- bei diese Summe von etwa 60 Prozent der Ärzte erreicht wurde. Dann kam die Wirtschaftskrise; bis zum Jahre 1933 sank das ärztliche Einkommen auf durchschnittlich 9 280 RM. Dies war wahrscheinlich weniger einem Rückgang der Umsätze zuzuschrei- ben als dem Anstieg der Praxisunko-

sten von 30 auf 47 Prozent. 51 Prozent aller Ärzte jedoch hatten ein jährli- ches Einkommen von weniger als 8 000 RM, 31 Prozent sogar von unter 5 000 RM. Es herrschte Arbeitslosig- keit, besonders unter den Jungärzten;

unbezahlte Arbeit an den Kranken- häusern war an der Tagesordnung.

Eine Kassenarztstelle war nur schwer zu bekommen. Auf Betreiben der Sozialdemokraten und der Gewerk- schaften entstanden Polikliniken, welche von den Niedergelassenen als zusätzliche Bedrohung ihres Lebens- raumes empfunden wurden. – Kommt Ihnen all das nicht bekannt vor?

1932 gab es in Deutschland insge- samt 51 785 Ärztinnen und Ärzte. Da- von waren 32 152 (zirka 60 Prozent) Kassenärzte; von diesen waren 5 308 jüdischen Glaubens. Bei Kriegsende waren es zirka 90 000 Ärztinnen und Ärzte, darunter wohl kaum noch ei- ner jüdischen Glaubens.

Dennoch dürften die wirtschaftli- chen Umstände nur für die junge Ärz- tegeneration und die Medizinstuden- ten ein Grund gewesen sein, auf die Versprechungen der Nationalsoziali- sten zu hören. Für die Etablierten war es mehr die Aussicht auf Wiederge- winnung verloren geglaubter Positio- nen gegenüber den Patienten und ge- genüber der Staatsmacht, die zur To- lerierung der neuen Machthaber führ- te oder gar zur Kumpanei mit ihnen.

Folgt man der Aussage des ka- nadischen Historikers Michael Ka-

Der Arzt im Nationalsozialismus

Der Weg zum Nürnberger Ärzteprozeß und die Folgerungen daraus

Beim diesjährigen 99. Deutschen Ärztetag in Köln hat Dr. med. Alfred Möhrle über

die Verstrickung von Ärzten in die verbrecherischen Machenschaften des NS-Re-

gimes referiert. Dabei stellte er dar, unter welchen Umständen Ärzte während der

Zeit des Nationalsozialismus arbeiteten und welche Konsequenzen aus den Erfah-

rungen dieser Zeit zu ziehen sind. Der vorliegende Text ist eine Dokumentation

dieses Referats. Außerdem gibt es eine Langfassung von rund elf Seiten, die dem

Vortrag zugrunde lag. Sie kann beim Deutschen Ärzteblatt angefordert werden.

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ter, so waren 45 Prozent der deut- schen Ärzte Mitglied in der NSDAP.

26 Prozent waren Mitglied der SA, 7,3 Prozent der SS. Schon Anfang 1933 waren sechs Prozent aller Ärzte Mitglied in einer nationalsozialisti- schen Organisation. Damit war der Organisationsgrad der Ärzte in der staatstragenden Partei und ihren Un- tergliederungen deutlich höher als der anderer vergleichbarer Berufs- gruppen. Dies widerspricht der nach wie vor verbreiteten Meinung, nur eine Minderheit der deutschen Ärzte habe sich zum nationalsozialisti- schen System bekannt, während die

„schweigende Mehrheit“ versucht habe, unpolitisch das „Tausendjähri- ge Reich“ zu überstehen. Es unter- streicht vielmehr die eingangs zitier- ten Worte Mitscherlichs. Der Natio- nalsozialistische Deutsche Ärzte- bund, gegründet 1929, konnte im Ok- tober 1933 etwa 11 000 Ärzte als Mit- glieder vorweisen.

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik

Aus den „Vereinen für freie Arztwahl“ entstand Anfang dieses Jahrhunderts der Hartmannbund, der auf dem Boden des bestehenden Staatsgefüges die Rechte des Ärzte- standes zu vertreten suchte. Dann gab es den „Deutschen Ärztevereins- bund“, eine freiwillige Standesorgani- sation. Daneben gab es schon seit dem Jahre 1848 immer wieder eine linksliberale ärztliche „Opposition“, welche sich zum Beispiel in Berlin von 1893 bis 1919 in der Zeitschrift „Medi- cinische Reform“ artikulierte. Dieser politischen Richtung ist zuzuschrei- ben, daß bei der Einführung der ärzt- lichen Ehrengerichte in Preußen 1899 eindeutig festgelegt wurde, daß „poli- tische, religiöse und wissenschaftliche Ansichten und Handlungen als solche niemals zum Gegenstand ehrenge- richtlichen Verfahrens gemacht wer- den dürfen“.

Der Erste Weltkrieg brachte eine spürbare Veränderung im ärztlichen Denken mit sich: Die individuelle Verpflichtung des Arztes gegenüber dem Patienten wurde mehr und mehr durch eine Verpflichtung gegenüber dem „Volkskörper“ ersetzt. Die Er-

haltung und Mehrung der „Volks- kraft“ war oberstes Gebot. Zugleich wurde der Arzt gezwungen, bei der Funktionalisierung des Patienten für Kriegszwecke mitzuwirken. Die Ver- fügbarmachung des Bürgers für den Kriegseinsatz, die medizinische Mit- wirkung bei der Ernährungslenkung unter Hungerrationen mußten durch restriktive Handhabung von Krank- schreibungen und zweckdienliche Be- gutachtungen ermöglicht werden.

Diese neue Zielrichtung ärztlicher Tätigkeit ersetzte das Verständnis für die Nöte des Patienten und war der erste Schritt zur Kompromittierung des Arztberufes. Schon 1913 hatte das

„Leipziger Kartell“, ein Bündnis aus Schwerindustrie, Großbauerntum und Mittelstandsverbänden, die Sozi- alpolitik einschließlich der Kranken- versicherung als zu kostspielig abge- lehnt. Nach dem Weltkrieg stieß die ärztliche Kritik hinzu, die Sozialversi- cherung führe zur „Verweichlichung“

der Patienten und damit zum Nieder- gang des deutschen Volkes. Beson- ders der jüngeren Ärztegeneration war zudem ein Gefühl eingeimpft worden, über dem Patienten zu ste- hen, welcher sich ihm unterzuordnen habe.

Es gab innerärztliche Konflikte zwischen den Landärzten und ihren großstädtischen Kollegen, eine Ten- denz der niedergelassenen Praktiker, sich von der wissenschaftlichen Medi- zin der Universitäten ab- und alterna- tiven Heilmethoden zuzuwenden, und eine „Reichsnotgemeinschaft“

der nicht zu den Kassen zugelassenen jüngeren Ärzte. In politischem Ge- gensatz zur Standesführung stand der

„Verein sozialistischer Ärzte“. Im Zu- ge des aufkommenden Rechtsradika- lismus in der Weimarer Republik war auch ein Abdriften der ärztlichen Standesorganisationen nach rechts zu verzeichnen, zugleich eine der Partei- ensituation entsprechende, immer weiter gehende Aufsplitterung der Ärzteschaft in Vereine und Verbände.

Den meisten dieser Gruppierungen war gemeinsam die Kritik am herr- schenden Krankenkassensystem. Die vorgeschlagenen Lösungen waren un- terschiedlich, fast alle aber gipfelten in der Forderung nach einer nationa- len Gesundheitsbehörde mit einem Arzt an der Spitze.

Gleichschaltung

ärztlicher Organisationen

Die Nationalsozialisten hatten gleich zwei Lösungskonzepte anzu- bieten: zum einen eine Neuordnung des Gesundheitswesens auf der Grundlage des niedergelassenen Praktikers, unter weitgehender Aus- schaltung des Einflusses der Kran- kenkassen und Gesundheitsbehör- den, zum zweiten eine straffe staatli- che „Gesundheitsführung“.

Bereits 1932 waren örtliche Kas- senärztliche Vereinigungen entstan- den. Diese wurden 1933 zur „Kas- senärztlichen Vereinigung Deutsch- lands“ (KVD), einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zusammen- gefaßt, welche den Ärzten eine we- sentlich stärkere Position gegenüber den Krankenversicherungsträgern einräumte. Der Hartmannbund ging in der KVD auf; seine Geschäfts- führung übersiedelte als Stabsstelle der KVD von Leipzig nach Berlin.

Zugleich wurde die Selbstverwaltung der Kassen aufgehoben.

Am 13. Dezember 1935 wurde die „Reichsärzteordnung“ verab- schiedet. Sie schuf 1936 die lang ge- forderte Reichsärztekammer, damit die Zwangsmitgliedschaft, und nahm zugleich die Ärzte aus der Gewerbe- ordnung heraus. Hierdurch fiel die Konkurrenz durch nichtärztliche Heilkundige (sogenannte Kurpfu- scher) fort. Die Reichsärzteordnung war schon zwischen 1924 und 1926 in ihren Grundzügen entworfen und in ihren Grundsätzen vom Deutschen Ärztetag 1926 verabschiedet worden.

An der Spitze der Reichsärztekam- mer stand der „Reichsärzteführer“, als erster der Leiter des NS-Ärzte- bundes, Dr. Gerhard Wagner. Schon früher, am 24. März 1933, hatten sich die beiden wichtigsten Standesorgani- sationen, der Hartmannbund und der Deutsche Ärztevereinsbund, freiwil- lig unter die kommissarische Führung von Dr. Wagner gestellt. Zugleich wurden die Ärztefunktionäre jüdi- schen Glaubens aus ihren Ämtern ge- jagt.

In der Folgezeit richteten die Na- tionalsozialisten das Gesundheitswe- sen nach ihren Vorstellungen aus, zum Beispiel durch die Schaffung von Gesundheitsämtern oder des „Haupt- A-2768 (46) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 43, 25. Oktober 1996

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amtes für Volksgesundheit“. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.

April 1933 konnten jüdische, marxi- stische und auch sonstige mißliebige Ärzte aus den Krankenhäusern und der öffentlichen Verwaltung entfernt werden.

Am 1. Juni 1935 wurde in Alt- Rehse in Mecklenburg die „Führer- schule der Deutschen Ärzteschaft“

eröffnet. Dort wurden in zwei- bis vierwöchigen Kursen zunächst Ärzte- funktionäre, dann aber auch andere Ärztinnen und Ärzte parteipolitisch geschult, aber auch in Fragen der Ras- senhygiene und der „Erbgesundheits- pflege“, des Kriegssanitätsdienstes und der Kampfgaschemie. Sie wurden dort, aber auch schon während des Studiums, durch Fachzeitschriften und bei allen sich bietenden Gelegen- heiten auf ihre künftige Aufgabe vor- bereitet, nämlich auf „die Erhaltung, die Vermehrung und die Leistungs- steigerung des deutschen Menschen“.

Hand in Hand mit der „Gleich- schaltung“ der ärztlichen Organisa- tionen begannen rigorose Maßnah- men zur Vertreibung der jüdischen Kolleginnen und Kollegen aus ihren Praxen und Krankenhäusern, aus den Hörsälen und von den Lehrstühlen.

Über die „Verordnung über die Zu- lassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ vom 22. April 1933 konnten die Kassenarztsitze jü- discher und „kommunistischer“ Ärz- te für „deutsche“ Ärzte freigemacht werden.

Die Kampagne gegen die jüdi- schen Ärzte mündete am 25. Juli 1938 in die „Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“, mit der die Ap- probationen aller jüdischen Ärztin- nen und Ärzte als mit dem 30. Sep- tember 1938 erloschen erklärt wur- den. Zu dieser Zeit gab es im eigentli- chen Reichsgebiet Deutschlands noch 3 152 jüdische Ärztinnen und Ärzte.

Zwischen 1933 und 1945 wurden ins- gesamt mehr als 9 000 Ärztinnen und Ärzte aus ihrem Beruf gedrängt, in die Emigration oder den Selbstmord getrieben oder, wie Millionen andere, ganz einfach umgebracht. Auch auf dieses düstere Kapitel kann ich wegen der Kürze der Zeit nicht weiter einge- hen; es gibt hierzu jedoch eine ganze Reihe ausgezeichneter Arbeiten.

Wie wurde der Arzt im einzelnen für die Zwecke der Nationalsoziali- sten mißbraucht? Ein vordringliches Ziel der nationalsozialistischen Ge- sundheitsverwaltung war die Erfas- sung aller „Volksgenossen“ in einem Erb- und Gesundheitskataster. Dieser sollte der „Aufartung“ des deutschen Volkes, aber vor allem auch der Len- kung der Arbeitskräfte und der Aus- schöpfung der gesamten Arbeitskraft dienen. Rund die Hälfte aller Ärzte und zirka 70 bis 80 Prozent der nie- dergelassenen Ärzte waren als Gut- achter hierfür beim Hauptamt für Volksgesundheit zugelassen. Von ih- nen verlangte man, sie müßten „auch einmal gegen ihr medizinisches Ge- wissen einen untersuchten Arbeiter davon überzeugen, daß er stark genug für die Arbeit sei“.

Der Arzt als

Werkzeug des Staates

„Gesundheit ist Pflicht!“ Dies stand im Einklang mit dem von der Gesundheitsführung verlangten Lei- stungsfanatismus, war jedoch ein Ver- rat an dem ärztlichen Grundwert „sa- lus aegroti suprema lex“. Das System wurde während des Krieges mit Hilfe der Vertrauensärzte, der Betriebsärz- te und der Aufhebung der freien Arztwahl für Werktätige in rüstungs- wichtigen Betrieben perfektioniert.

Dem Arzt als „Gesundheitsführer“

oblag die Überprüfung der Leistungs- fähigkeit und der „biologischen Taug- lichkeit“, die Leistungssteigerung durch Gesundheitsaufklärung und Ansporn zur sportlichen Leibeserzie- hung, aber auch die Einsparung von Krankengeldern und Renten durch möglichst langen Einsatz von lei- stungseingeschränkten Kranken in entsprechenden Verwendungen.

Unter Hinweis auf die „große Leistung“ des deutschen Volkes in den vier Kriegsjahren 1914 bis 1918 wurde systematisch der militaristische Gedanke gefördert. Dies zeigte sich spätestens bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als fast jeder Deutsche in irgendeiner Art Uniform steckte.

Ärzte, die aufgrund ihres Alters oder aus anderen Gründen nicht mehr für den Wehrdienst in Frage kamen, wur- den in paramilitärischen Verwendun-

gen zusammengefaßt, zum Beispiel im „Reichsluftschutzbund“.

Aufgrund des „Gesetzes zur Ver- hütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)“, in Kraft getreten am 1. Ja- nuar 1934, mußten Ärzte ihre Patien- ten zur Sterilisation vorschlagen, wenn sie von als erblich angesehenen Krankheiten und damit von deren ge- netischer „Minderwertigkeit“ Kennt- nis hatten. Dies geschah in Form einer Anzeige beim staatlichen Gesund- heitsamt. Perfiderweise und zum Zwecke der Verschleierung waren zu allererst die Betroffenen selbst „an- tragsberechtigt“. Nach anfänglich re- ger Teilnahme hielten sich später die niedergelassenen Ärzte bei diesen Anzeigen zurück, da sie um den Ruf ihrer Praxen und den Verlust ih- rer Patienten fürchteten. Gleiches taten in zunehmendem Maße die Leiter psychiatrischer Anstalten; sie überließen die Antragstellung den Amtsärzten, zumal der größte Teil ih- rer Anstaltsinsassen zu diesem Zeit- punkt bereits der Sterilisation zuge- führt worden war.

Die eingehenden Anzeigen wur- den Gutachtern im Gesundheits- und Jugendamt vorgelegt und die Betrof- fenen dorthin vorgeladen, im Be- darfsfalle auch polizeilich vorgeführt.

Verbunden waren damit Befragungen im familiären und sozialen Umfeld dieser Menschen, welche bis dahin oft von dem gegen sie angestrengten Ste- rilisationsverfahren noch gar nichts wußten. Entschieden wurde über den Antrag in den 181 „Erbgesundheitsge- richten“ und „Erbgesundheitsoberge- richten“, angesiedelt bei den Amtsge- richten, in denen wiederum Ärzte als Gutachter und als Beisitzer beteiligt waren. Die Verfahren waren nicht öf- fentlich und dauerten aufgrund der bereits feststehenden Gutachterent- scheidung oft nur wenige Minuten.

War das Urteil gefällt, hatten die Betroffenen nur mehr die Wahl, sich freiwillig zur Vollziehung der Sterili- sation in eine Klinik zu begeben oder aber sich wie ein Verbrecher zur Fahndung ausschreiben und von der Polizei der Klinik zuführen zu lassen.

Auch Abbrüche bereits bestehender Schwangerschaften erfolgten auf die- ser Gesetzesgrundlage. Zu den Gei- steskrankheiten kamen mehr und mehr „soziale Auffälligkeiten“ als

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Grund für die Annahme einer Erb- krankheit. Bei alledem war es nicht nötig, eine Erblichkeit nachzuweisen;

es genügte, daß die Kriterien als erb- lich definiertwaren. Dörner hat es so zusammengefaßt: „Rasse und Erb- lichkeit wurden zur Leerformel ge- macht, unter die alles Beliebige in ge- rade erwünschtem Umfang subsu- miert und der Vernichtung zugeführt werden konnte.“ Rund 360 000 Men- schen wurden Opfer der Zwangssteri- lisationen, das war knapp ein Prozent der Bevölkerung im Alter zwischen 18 und 40 Jahren. Etwa 5 000, meist Frauen, starben infolge des Eingriffs.

War die Zwangssterilisation zwar ein schwerwiegender Eingriff in Phy- sis und Psyche der Betroffenen, ließ man sie jedoch wenigstens am Leben.

Doch schon früh begannen makabre Berechnungen in der Öffentlichkeit darüber, welche ungeheure Kosten- belastung der Unterhalt der Erbkran- ken und Minderwertigen für den Staat sei. Das Wort „Euthanasie“

wurde dabei lange Zeit vermieden.

Hatte Hitler in seinem Buch „Mein Kampf“ noch geschrieben „Men- schenrecht bricht Staatsrecht“, und hieß es noch 1935 offiziell, daß eine Freigabe der Vernichtung lebensun- werten Lebens nicht in Frage komme, war doch aufgrund von Äußerungen Hitlers bald klar, daß spätestens mit dem Ausbruch des zu erwartenden Krieges die Euthanasiefrage erneut aufgegriffen werden würde. Dies ge- schah im Oktober 1939 in Form eines auf den 1. September 1939 zurückda- tierten Befehls Hitlers. Dies war we- der ein Gesetz noch ein unumgehba- rer Befehl, reichte in der Folge jedoch als Grundlage für die Tötung Tausen- der von psychisch Kranken im Rah- men der Euthanasieaktion T4.

Schon im Frühjahr 1939 begann ein „Reichsausschuß zur wissen- schaftlichen Erfassung erb- und anla- gebedingter schwerer Leiden“ in Deutschland nach Kindern zu suchen, die an Idiotie, Hydrocephalus, Mon- golismus oder ähnlichen Mißbildun- gen litten. Diese Kinder wurden dann systematisch in klinische Einrichtun- gen verbracht, unter dem Vorwand, dort könne ihnen besser geholfen werden. In Wirklichkeit wurden sie durch eine Überdosis eines Schlafmit- tels getötet, oder man überließ sie ein-

fach dem Hungertod. Auf diese Weise wurden bis Kriegsende mindestens 5 000 Kinder, wahrscheinlich aber viel mehr, ermordet.

Weiterhin waren sämtliche Pati- enten mit Schizophrenie, Paralyse, Epilepsie, Schwachsinn, Encephalitis oder Huntingtonscher Chorea sowie kriminelle Geisteskranke oder über fünf Jahre dauernd in Anstaltsver- wahrung befindliche Personen zu melden.

In der Aktion T4 wurden etwa 50 Ärzte aktiv tätig. Bis zur Einstellung der Aktion am 24. August 1941 auf- grund des Protestes der Kirchen und sich erhebender Unruhe in der Bevöl- kerung wurden 70 273 Menschen er- mordet, meist durch Vergiftung mit Kohlenmonoxyd. Weitere 30 000 Ak- ten waren durch begutachtende Ärzte bereits bearbeitet und die Betroffe- nen zur Tötung vorgesehen. Dies war jedoch nicht das Ende der Tötungsak- tionen: 20 000 jüdische Kranke wur- den im Rahmen der Aktion 14f 13 er- mordet. Der Gipfel des Mordens wur- de durch die Massenvernichtung von fünf Millionen der in den Konzentra- tionslagern aus unterschiedlichsten Gründen zusammengetriebenen Men- schen erreicht. Diese Vorgänge sind bekannt und sollen daher hier nicht näher betrachtet werden.

Zwischen Berufsethos und Verstrickung

Wenn von der Medizin im Natio- nalsozialismus die Rede ist, wird da- bei jedoch vor allem auch an die Men- schenversuche in den Konzentrati- onslagern gedacht. Diese waren ja auch größtenteils Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses, wo sie allesamt als wissenschaftliche Experi- mente angesehen wurden. Unter den beteiligten Ärzten waren neben Sadi- sten und skrupellosen Karrieristen mit beschränkter Intelligenz auch namhafte Wissenschaftler. Gerade von diesen wurde häufig darauf hin- gewiesen, daß ihre Versuche ja letzt- lich der Erhaltung von Leben und der Heilung von Krankheiten gedient hätten. Das Bedrückende daran ist für mich, daß selbst die Anklagever- treter in Nürnberg einen gewissen Unterschied zwischen dem Arzt als

Behandler und dem Arzt als wissen- schaftlichem Experimentator mach- ten; für letzteren gelte das Gebot des

„Nil nocere“ nur in eingeschränkter Form. Daß diese Betrachtungsweise keineswegs der Vergangenheit an- gehört, zeigt eine Vielzahl durchaus zweifelhafter Experimente bis in die heutige Zeit, auch in sogenannten „zi- vilisierten“ und „freien“ Staaten wie zum Beispiel den USA. Wie viele Menschen zu diesen Versuchen mißbraucht wurden, oft vor ihrer anschließenden Tötung, ist nicht ge- nau bekannt.

Was aber war es nun, das Ärzte sich so weit von dem entfernen ließ, was wir heute als ihre ethische Ver- pflichtung ansehen und was nach un- serer Meinung bereits im Eid des Hip- pokrates zusammengefaßt ist? Hier- für gibt es viele Deutungsversuche:

R. J. Lifton prägte für das Verhal- ten der Ärzte im Dritten Reich den Begriff der „Dopplung“, eines psy- chologischen Prinzips, bei dem sich das Selbst in zwei voneinander unab- hängig funktionierende Teile spaltet, die jedoch beide als das ganze Selbst auftreten und entsprechend handeln können. Er überschrieb dieses Kapi- tel seines Buches mit dem Wort von Friedrich Dürrenmatt: „Jeder von uns könnte der Mann sein, der seinem Doppelgänger begegnet.“ Es handelt sich also um eine Spaltung der Per- sönlichkeit, die ein angepaßtes Ver- halten auch in zwei moralischen Di- mensionen zugleich ermöglicht, zum Beispiel als treusorgender Familien- vater und „netter Mensch“ einerseits, zugleich aber ohne zeitliche Distanz als zynischer und todbringender Er- füllungsgehilfe staatlicher Macht.

Dies beschreibt einen Mechanismus, nicht aber die Ursache eines solchen Verhaltens. Dennoch definiert Lifton zu Recht psychophysische Prädisposi- tionen für ein solches Verhalten, auch Einflüsse von Erziehung, Bildung und Tradition, welche zum Beispiel über- zeugte Nationalsozialisten glauben lassen konnten, sie seien als An- gehörige der Herrenrasse zur Rein- haltung dieser Rasse berufen und da- her zum Töten ermächtigt.

Die beschriebenen Grundlagen von Eugenik, Sterilisation, der Vor- stellungen über Erbkrankheiten, Ras- sendenken und Euthanasie gab es un- A-2772 (50) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 43, 25. Oktober 1996

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abhängig vom Nationalsozialismus und überall in Europa und in den USA. In intellektuellen Kreisen Deutschlands war zugleich ein tiefer Pessimismus hinsichtlich der Erhal- tung der völkischen Identität und die Suche nach einer durch Verschulden der Technik und der Naturwissen- schaften verloren geglaubten „Ganz- heit“ des Seins bestimmend für die überwertige Betonung der Natur und des Naturgewollten, was zum Beispiel den Darwinschen Hypothesen Tür und Tor öffnete.

Ein Zusammentreffen vieler Faktoren

Das Entscheidende ist und bleibt jedoch, wie die beschriebenen Ent- wicklungen der Naturwissenschaften, der Biologie, der Anthropologie und der Medizin gehandhabt wurden, nicht, wie sie waren. Besondere politi- sche und personelle Konstellationen erst haben ermöglicht, daß es in Deutschland zu den schrecklichen Auswirkungen dieser Ideologien kam. Es bedurfte dazu eines halbge- bildeten gesellschaftlichen Außensei- ters wie Adolf Hitler, versehen mit messianischem Bewußtsein und lei- der auch mit demagogischen Qualitä- ten, aber auch eines geltungsbedürfti- gen Kleinbürgertums, einer aus der Kaiserzeit überlieferten Obrigkeits- gläubigkeit und eines nie erloschenen Militarismus. Dies alles traf zusam- men mit einer Wirtschaftskrise und der Überdrüssigkeit an Selbstkritik und „underdog-Gefühl“ infolge des verlorenen Weltkriegs. Meines Er- achtens war es somit ein Zusammen- treffen vieler Faktoren, was das Men- schenbild des Arztes in der Zeit des Nationalsozialismus so einschneidend veränderte:

1 Es gab einen weitgehenden Konsens in der Öffentlichkeit hin- sichtlich des sozialdarwinistischen Verhaltens gegenüber Schwachen und Kranken, damit das fehlende Be- wußtsein der Rechtswidrigkeit ver- ordneter Maßnahmen.

1 Es gab breite Zustimmung auch zum Gedanken der Euthanasie, dem Recht auf den eigenen Tod, mit einer Ausdehnung dieses Rechtes auf die Gesellschaft.

1 Die Einbußen des Arztes an Einkommen, an gesellschaftlichem Prestige und an seiner dominierenden Stellung gegenüber dem Patienten.

1 Verblendung durch die von den Nationalsozialisten verbreitete Euphorie eines neuen, starken und wirtschaftlich gesunden Deutschland, verbunden mit der Ideologie der Höherwertigkeit der nordischen Ras- se. 1 Der Staatsgedanke, die Er-

haltung und Mehrung der „Volks- kraft“ als höherwertiges Rechtsgut.

1 Eine Aufwertung der Rolle des Arztes als für die Volksgesundheit verantwortlich. Arzt-Priestertum.

1 Durch die Erbgesundheitsge- setze wurde die Illusion vermittelt, nunmehr präventiv für die Gesun- dung der Gesellschaft tätig werden zu können.

1 Nach einer gewissen Zeit si- cher auch das Bewußtsein der Ver- strickung, als Folge das Bekennen zum System als Rechtfertigung.

1 Die Perfektion des Bespitze- lungssystems, die eine öffentliche Op- position nicht aufkommen ließ.

1 Der Konkurrenzneid auf dem Boden einer antisemitischen Grund- stimmung.

1 Blanker Opportunismus, Ob- rigkeitsgläubigkeit und vermeintli- cher Gehorsamszwang, militaristi- sches Denken, Kriechertum, Macht- streben, Vorteilsgier, Forschungsfa- natismus.

1 Aber auch Gleichgültigkeit und auch Angst.

Dies alles läßt es zu, das Verhal- ten vieler Ärzte – wohlgemerkt: nicht aller – in der Zeit des Nationalsozia- lismus zu verstehen, nicht aber, es zu entschuldigen. Es darf jedoch nicht darum gehen, eine Front zwischen Gut und Böse aufzubauen, Schuld von Unschuld abzugrenzen. Es muß vielmehr unser Anliegen sein, die Wirksamkeit der Zusammenhänge spürbar zu machen, in die der einzel- ne verstrickt war, wie es schon Mit- scherlichs Absicht war. Allerdings muß sich auch ein jeder fragen: Wie hätte ich zu dieser Zeit und unter die- sen Umständen gehandelt, ohne mein heutiges Wissen um die Fehler ande- rer? Hätte ich den Mut besessen, in ei- ner brutalen Diktatur sichtbaren und spürbaren Widerstand zu leisten, zu-

mal solches Verhalten in dieser Zeit kein Vorbild kannte?

Dies ist wohl auch ein Problem für jeden Historiker, der das Dritte Reich nicht mehr selbst erlebt hat und sich nur mehr auf Akten stützen kann.

Das unmittelbare Erleben der Zwangs- situationen in der Zeit des Nationalso- zialismus erscheint mir entscheidend wichtig; die psychologische Situation der Menschen in dieser Zeit läßt sich nur schwer nachempfinden.

Es gab durchaus auch organisier- ten Widerstand unter Ärzten gegen das Regime. Nach den mir zugängli- chen Quellen scheint hierbei jedoch nicht eine pazifistische oder besonde- re ethisch-moralische Grundhaltung der Motor gewesen zu sein, sondern zum einen der Kontakt mit antinatio- nalsozialistischen Parteien oder Grup- pen schon vor 1933, zum anderen die Konfrontation mit den praktischen Auswirkungen der nationalsozialisti- schen Herrschaft. Als Beispiel sei hier die „Weiße Rose“ angeführt, die Wi- derstandsgruppe um die Geschwister Scholl in München.

Es gab auch den medizinischen Alltag

Auch muß immer wieder betont werden, daß es neben all den verbre- cherischen Aktionen unter Beteili- gung von Ärzten auch einen „medizi- nischen Alltag“ in Deutschland gab, wie Kudlien es formuliert hat. Es gab nicht nur zahlreiche Ärzte, die ihre Pflicht taten, indem sie ihre Patienten in der Heimat oder auf dem Kriegs- schauplatz verantwortungsvoll und aufopfernd betreuten, in der Kriegs- gefangenschaft und auch in Gefäng- nissen und Konzentrationslagern. Es gab auch viele Ärzte, die mehr taten:

Oft unter Gefährdung der eigenen Person und der eigenen Familie hal- fen sie Verfolgten und Schwachen,

„Lebensunwerten“ und „Minderwer- tigen“. Gleiches gilt übrigens auch für andere Berufsgruppen, wie zum Bei- spiel Krankenschwestern und -pfle- ger. Und es gab auch Widerstand ge- gen das Regime in all seinen Formen durch einzelne Ärzte. Mit deren Zahl und deren Verdiensten muß man sich sicherlich noch etwas intensiver be-

schäftigen. !

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Daneben gab es sicher unzählige Ärztinnen und Ärzte, die ohne star- ken Widerstand, aber auch ohne Sym- pathie oder gar Bewunderung für das Naziregime versuchten, ganz einfach

„über die Runden“ zu kommen, die Endlichkeit dieses Herrschaftssy- stems spätestens seit 1939 vor Augen.

Sie wußten nichts von den verbreche- rischen Aktionen, weil sie nichts da- von hören wollten. Sie verhielten sich in ihrem Mikrokosmos korrekt und untadelig und gaben sich alle Mühe, sich aus allem sie Umgebenden her- auszuhalten. Sie zogen sozusagen die Decke über den Kopf. Aus unserer heutigen Sicht ist es leicht, diesen Kollegen das vorzuhalten. Aus dama- liger Sicht war es verständlich, weil nur allzu menschlich.

Von Albert Neisser, dem Ent- decker des Gonococcus, an Menschen ohne deren Wissen oder Einverständ- nis durchgeführte Infektionsversuche mit Syphilisserum lösten schon vor der Jahrhundertwende erstmals eine breite Diskussion über die Berechti- gung solcher Versuche aus, welche ei- ne Verfügung des preußischen Kul- tusministers vom 29. 12. 1900 zur Fol- ge hatte. Hierin wurden medizinische Versuche an minderjährigen oder ge- schäftsunfähigen Personen verboten und ansonsten die Zustimmung nach sachgemäßer Belehrung gefordert, al- so erstmals das formuliert, was man heute als „informed consent“ be- zeichnet. Neisser wurde übrigens in einem Disziplinarverfahren mit einer Geldstrafe belegt.

Menschenversuche

1931 wurden als Folge eines Zwi- schenfalls bei Impfversuchen an Men- schen die „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und die Vornahme wissenschaftlicher Versuche“ verab- schiedet. Sie begannen mit den glei- chen Feststellungen wie die spätere Erklärung des Weltärztebundes von 1964, daß nämlich die Medizin nicht darauf verzichten könne, auch noch nicht ausreichend erprobte Verfahren und Heilmittel einzusetzen, und daß wissenschaftliche Versuche am Men- schen nicht völlig zu ersetzen seien.

Vor allem wurde die Unzulässigkeit von Experimenten an Menschen un-

ter Ausnutzung einer Notsituation oder eines Abhängigkeitsverhältnis- ses klargestellt, aber auch, daß Versu- chen am Menschen stets Tierversuche vorauszugehen hätten und daß die Zustimmung der informierten Ver- suchsperson erforderlich sei. In die- sen Richtlinien wurden, umfassender und genauer als in allen späteren De- klarationen, die noch heute gültigen Anforderungen an Versuche am Men- schen und an die Anwendung neuarti- ger Heilmethoden definiert. Ihr Wirk- samwerden wurde durch den Natio- nalsozialismus verhindert.

Im Nürnberger Ärzteprozeß faß- te das Gericht bestimmte Maximen in zehn Punkten zusammen, welche als Diskussionsgrundlage für eine zukünftige internationale Vereinba- rung dienen sollten. Dieser „Nürn- berger Ärztekodex“ enthielt für me- dizinische Versuche am Menschen vor allem das Postulat einer unbeeinfluß- ten und freien Zustimmung der über das Vorhaben aufgeklärten Versuchs- person sowie ethische Kautelen als Voraussetzung und für die Durch- führung solcher Versuche. Allerdings wird bei genauerer Betrachtung klar, daß der Kodex vor allem der Begrün- dung der in Nürnberg gefällten Urtei- le dienen sollte, womit sich das Ge- richt aufgrund seiner Zusammenset- zung und seiner Kenntnisse der deut- schen Verhältnisse offenbar etwas schwer tat. Ein grundsätzlicher Man- gel war das Fehlen einer Unterschei- dung zwischen ärztlichen Heilversu- chen und wissenschaftlichen Experi- menten am Menschen. Auch enthielt er übertriebene Anforderungen, wie die volle Geschäftsfähigkeit der Ver- suchsperson, und groteske Bestand- teile, wie etwa das Zulassen einer höheren Gefährdung der Versuchs- personen, wenn auch der Versuchslei- ter selbst am Versuch teilnähme.

Nichtsdestoweniger gibt es einige grundsätzliche Forderungen, welche bis heute Bestand haben: den Grund- satz der Zustimmung nach Auf- klärung, das Erfordernis der wissen- schaftlichen Validität eines For- schungsvorhabens am Menschen, das Verbot der Gefahr des Todes oder ei- nes dauerhaften körperlichen Scha- dens für die Versuchsperson, die Frei- stellung des Widerrufs der Zustim- mung seitens der Versuchsperson.

Ethische Prinzipien gehen in die Berufsordnung ein

Am 14. 6. 1947 beschloß die Ge- meinschaft der Ärztekammern der drei Westzonen ein Gelöbnis auf der Basis des „Hippokratischen Eides“, auf das jeder Arzt nach seiner Appro- bation feierlich verpflichtet werden sollte und welches durch Beschluß des 52. Deutschen Ärztetages zum Be- standteil der Berufsordnung für die deutschen Ärzte wurde. Auch hierin wurde vor allem der Schutz der Rech- te des kranken wie des gesunden Menschen hervorgehoben.

Der am 18. September 1947 ge- gründete Weltärztebund (WÄB) for- derte noch im Jahre 1947 ein kollekti- ves Schuldbekenntnis der deutschen Ärzteschaft zu den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus. Der schon vor dieser Forderung erfolgte Beschluß der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern und ihre Mißbilligung der vorgekom- menen ärztlichen Verfehlungen war dem Weltärztebund offenbar nicht bekannt. Nach deren Bekanntwerden hielt der WÄB seine Forderung nicht mehr aufrecht; der geschäftsführende Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern unter seinem Vorsitzenden Dr. Hans Neuffer gab eine weitere Erklärung zu den Ereignissen ab. Aufgrund die- ser Erklärung, in der wiederum be- tont wurde, „daß die große Masse der deutschen Ärzte an den vorgenann- ten Verbrechen unbeteiligt war“, wur- de Deutschland 1951 in den Weltärz- tebund aufgenommen.

Im September 1948 verabschie- dete die 2. Generalversammlung des Weltärztebundes das „Genfer Gelöb- nis“, welches in späteren Jahren drei- mal revidiert wurde. Es betonte das Gebot der Menschlichkeit unter allen Bedingungen, war aber weit allgemei- ner gehalten als das deutsche „Gelöb- nis“. Dieses „Genfer Gelöbnis“ hat inzwischen in leicht umformulierter Fassung anstelle des Gelöbnisses von 1947 Eingang in die Berufsordnung für die deutschen Ärzte gefunden.

Die 3. Generalversammlung des WÄB in London im Oktober 1949 verabschiedete dann eine „Interna- tionale Ärztliche Standesordnung“, welche 1968 und 1983 revidiert wur- A-2774 (54) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 43, 25. Oktober 1996

(7)

de. Diese enthielt die Aufforderung zur Beachtung des „Genfer Gelöbnis- ses“ von 1948.

Im Juni 1964 befaßte sich die 18.

Generalversammlung erneut mit ethi- schen Fragen des Arztberufes, nun- mehr besonders im Zusammenhang mit der biomedizinischen Forschung.

Sie wurden in der „Deklaration von Helsinki“ zusammengefaßt. Die schon im „Genfer Gelöbnis“ festge- legten Grundsätze wurden hier in An- wendung auf Forschungsvorhaben am Menschen präzisiert. Damit war auch der „Kodex von Nürnberg“ ge- wissermaßen überholt.

Gerade der Nürnberger Ärzte- prozeß hatte das Spannungsfeld zwi- schen dem Arzt als Therapeuten, der nur dem Wohle des ihm anvertrauten Patienten verpflichtet ist, und dem Arzt als Forscher, dem man auch krea- tive Neugier und die Verpflichtung gegenüber dem Fortschritt der Wis- senschaft zubilligte, aufgezeigt. Daß diese widersprüchlichen ethischen Anforderungen weiterhin bestehen, ja heute sogar einen zunehmend höhe- ren Stellenwert erhalten, zeigen die Diskussionen um Organtransplantati- on, Sterbehilfe, Schwangerschaftsab- bruch, künstliche Befruchtung und Gentechnologie, um nur einige der Problemfelder zu nennen.

Für viele Themen:

Ethik-Kommissionen

Durch diese Problemstellung ausgelöst, entstanden erstmals 1978 in Westfalen-Lippe und seither in fast al- len Bundesländern bei den Ärzte- kammern unabhängige „Ethik-Kom- missionen“. Ähnliche Kommissionen gibt es auch bei Medizinischen Fakul- täten und, leider, auch vereinzelt als privatwirtschaftliche Unternehmen.

Schon früher, in den 60er Jahren, wa- ren ähnliche Kommissionen in den USA entstanden. Das Entstehen der Ethik-Kommissionen in Deutschland war unter anderem auch dem Um- stand zu verdanken, daß sich die Arz- neimittelindustrie für die Erprobung neuer Medikamente nicht mehr nur großer Kliniken bediente, wo eine entsprechende innerärztliche Kon- trolle zumindest möglich war, sondern mehr und mehr „Feldversuche“ in

den Praxen niedergelassener Ärzte einbezog.

1983 wurde ein „Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen“

gegründet, welcher der Koordination der einzelnen Kommissionen und der Verständigung über Aufgaben und Verfahrensweisen dient. Seit 1995 gibt es eine Zentrale Ethik-Kommis- sion bei der Bundesärztekammer zur Bearbeitung grundsätzlicher und übergeordneter Fragestellungen.

Die Ethik-Kommissionen hatten weder im Bundes- noch im Landes- recht eine gesetzliche Grundlage. Die Bundesärztekammer empfahl jedoch 1979 den Landesärztekammern die Einrichtung derartiger Kommissio- nen. Die Muster-Berufsordnung für die deutschen Ärzte enthält seit 1985 ebenso wie die Berufsordnungen der Landesärztekammern die Verpflich- tung für jeden Arzt, sich vor klini- schen Versuchen am Menschen, der Forschung mit vitalen Gameten oder lebendem embryonalem Gewebe so- wie vor epidemiologischer Forschung mit personenbezogenen Daten von einer Ethik-Kommission beraten zu lassen. Damit erhielten die schon be- stehenden Ethik-Kommissionen ihre Rechtsgrundlage. Das 1978 in Kraft getretene Arzneimittelgesetz regelt ebenfalls die erforderliche Einschal- tung einer Ethik-Kommission bei der klinischen Prüfung von Arzneimit- teln. Für die mit der In-vitro-Fertilisa- tion verbundenen Fragen gibt es spe- zielle Kommissionen.

Die Zusammensetzung der Ethik-Kommissionen ist unterschied- lich; in allen sind neben Ärzten Juri- sten vertreten, in einigen auch Theo- logen und Philosophen. Sie gehen von dem grundsätzlichen Konsens aus, daß Versuche am Menschen bei der Erprobung neuer Heilmethoden nicht grundsätzlich zu entbehren sind und daß es legitim ist, einzelne Ver- suchspersonen mit deren Einver- ständnis hierbei auch einem stets zu minimierenden Gefährdungspotenti- al auszusetzen. Ihre Aufgabe ist, da- bei im voraus die Einhaltung der ärzt- lichen, ethischen, rechtlichen und wis- senschaftlichen Bedingungen zu überwachen, welche in ärztlichen Standesregeln, den Standards wissen- schaftlicher Methoden und zahlrei- chen rechtlichen Bestimmungen fest-

gelegt sind. Die Ethik-Kommissionen haben eine rein beratende Aufgabe;

sie können dabei die Verantwortung und das ärztliche Gewissen des Ver- suchsleiters nicht ersetzen.

Die „Deklaration von Tokio“

des Weltärztebundes vom Oktober 1975 schließlich stellte Richtlinien für den Arzt bei Folterungen, Grausam- keiten und „andern unmenschlichen oder die Menschenwürde verletzen- den Handlungen oder Mißhandlun- gen in Verbindung mit Haft und Ge- fangenschaft“ auf.

„Wir sind Resultate früherer Geschlechter“

Den Selbstverwaltungskörper- schaften der deutschen Ärzteschaft wird immer wieder der Vorwurf ge- macht, sie hätten sich nicht oder nicht ausreichend mit den Ereignissen der Jahre 1933 bis 1945 auseinanderge- setzt. Ansätze dazu waren zweifellos immer wieder vorhanden, doch war es offensichtlich, auch angesichts perso- neller Kontinuitäten über das Jahr 1945 hinaus, schwer, die Geschehnisse mit der erforderlichen Distanz zu be- trachten. Die erneute Beschäftigung dieses 99. Deutschen Ärztetages mit dieser dunklen Periode der Geschich- te des deutschen Arzttums soll helfen, den Vorwurf mangelnder Beschäfti- gung mit der Thematik weiter zu ent- kräften.

Es wird häufig die Frage gestellt, ob man sich denn nach nunmehr 50 Jahren immer noch und immer wieder mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen müsse. Friedrich Nietzsche schrieb in seinem Traktat „Vom Nut- zen und Nachteil der Historie für das Leben“: „Denn da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Ver- irrungen, Leidenschaften und Irrtü- mer, ja Verbrechen; es ist nicht mög- lich, sich ganz von dieser Kette zu lö- sen. Wenn wir jene Verirrungen verur- teilen und uns ihrer für enthoben er- achten, so ist die Tatsache nicht besei- tigt, daß wir aus ihnen herstammen.“

Mein besonderer Dank gilt Dr. med. Siegmund Drexler, der mich mit Literatur und wertvollen Ratschlägen unterstützt hat, sowie, von der Bundesärztekammer, Dr. med. Otmar Kloiber und Thomas Gerst (siehe auch Deutsches Ärz- teblatt, Heft 22-23/1994).

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