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Piranesis "Carceri" und der Capriccio-Begriff im 18. Jahrhundert

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Piranesis »Carceri« und der Capriccio-Begriff im 18. Jahrhundert

von Werner Busch

Bei der folgenden Untersuchung handelt es sich um den Versuch, ein altes Thema der Kunstgeschichte von zwei Seiten her neu anzugehen. Piranesis Carceri haben seit ihrem Erscheinen im zweiten überar­

beiteten Zustand von 1761 in Biogra­

phien, in der allgemeinen Vitenliteratur, vor allem aber bekanntlich in literarischen Äußerungen eine bedeutsame Rolle ge­

spielt. Das dort entworfene Bild des ro­

mantischen Piranesi, der im Fieberwahn seine Carceri geschaffen habe, zeichnete sich durch ein erstaunliches Beharrungs­

vermögen aus; in der populären Literatur ist es bis zum heutigen Tag zu finden, aber auch die literarische Beschäftigung mit den Carceri ist bis zum heutigen Tag nicht abgerissen, allerdings hat sie sich in ei­

nem Bereich zwischen Dichtung und Wis­

senschaft angesiedelt, sie handelt zu­

meist vom utopischen Charakter der Car­

ceri. Neuere Arbeiten auf diesem Sektor sind der Essay von Lars Gustafsson in seinem 1969 erschienenen Band Utopien mit dem Titel: Über das Phantastische in der Literatur und Marianne Kestings Auf­

satz: Negation und Konstruktion. Aspekte der Phantasiearchitektur in der modernen Dichtung im 6. Band der Reihe Poetik und Hermeneutik 1975. Die eigentlich kunsthi­

storische Forschung zu Piranesi und den Carceri setzte 1910 ein; eine erste Phase bis 1922 umfaßt die immer noch grundle­

genden Arbeiten von Samuel, Hind, Gie- secke und vor allem Focillon,' einen zwei­

ten Anstoß bekam die Forschung 1938 durch Wittkowers Aufsatz zu Piranesis theoretischem Traktat Parere su l'archi- tettura,2 Arbeiten von Emil Kaufmann, Lorenza Cochetti, John Harris und zuletzt 1972 von Manfredo Tafuri schlössen sich an;3 sie beschäftigten sich mit dem Theo­

retiker Piranesi und seiner Einordnung in die europäische Geistesgeschichte des

18. Jahrhunderts. Dabei bediente man sich zur Deutung der Carceri insbesonde­

re Burkes Konzeption des Sublimen von 1756, was insofern nicht ganz unproble­

matisch ist, als Burkes Traktat zwischen der Herausgabe des ersten und der Her­

ausgabe des zweiten Zustandes von Pira­

nesis Carceri erschienen ist. Ferner be­

mühte man sich um die Bestimmung des Verhältnisses von Piranesis Position zu den »rigorosen« Theoretikern wie Lodoli, Algarotti, Milizia, Laugier und Blondel.

Folgt man Tafuri4, dann stellt sich Pirane­

sis Reaktion auf die Krise der Architektur­

sprache um 1750 als der Entwurf einer negativen Architekturutopie dar. Wie die genannten Theoretiker im Bewußtsein der Krise greift Piranesi nun nicht zur rigorosen Reduktion der Mittel, sondern propagiert im Gegenteil die totale Varia­

tion, was als negative Konsequenz die Sinnentleerung der Architektursprache beinhaltet, durch die neue expressiv-mo­

ralische Qualität jedoch einen Bedeu­

tungsbereich erobert, der auf nur schein­

bar paradoxe Weise mit den Zielen der Rigoristen zusammenfällt. Wie wir sehen werden, stützt diese These die unten vor­

geschlagene Deutung der Carceri und ist letztlich nichts anderes als eine Bestäti­

gung der These von der Dialektik der Auf­

klärung.

Eine dritte Phase der Piranesi- und nun speziell der Carcer/'-Forschung setzte mit Ulya Vogt-Göknils Arbeit über die Carceri von 19585ein. Vogt-Göknil nahm als erste Piranesis Carcen-Architektur wörtlich, d. h., sie untersuchte die Raumstruktur von Piranesis Kerkern und wies die imma­

nente Logik in Piranesis Chaos nach, zeigte, daß seine Räume bewußt konstru­

iert sind und konnte damit die These von den Phantasien eines Fieberkranken end­

gültig ad absurdum führen. In indirekter

Nachfolge von Vogt-Göknil nahm Mauri- zio Calvesi6 1967 nun die einzelnen Teile der Architektur mit ihren Anspielungen auf Antikes wörtlich, entdeckte so eine Reihe von Verweisen auf das römische Mamertino-Gefängnis und konnte u. a.

durch die Deutung und Herleitung der Texte auf den Inschriftentafeln der Carce­

ri des zweiten Zustandes nachweisen, daß Piranesi mit seinen Zitaten nicht nur die Größe römischer Architektur evozieren wollte, sondern aus dem Empfinden der Dekadenz der eigenen Zeit heraus auf das römische Recht, die republikanische Ord­

nung in Frieden und Gerechtigkeit, indi­

rekt verkörpert im Mamertino, als ein Heil­

mittel rekurrierte. Somit wird die morali­

sche Dimension der Carceri sichtbar.

Auch Piranesis sonstige häufige Bezug­

nahme auf ägyptische und etruskische Architekturformen sieht Calvesi als Zitat der archäologisch greifbaren Form des als vorbildhaft gesehenen archaischen Urzustandes der Gesellschaft.

Im folgenden soll zu einem der ältesten Probleme der Piranesi- bzw. der Carceri- Forschung Stellung genommen werden.

Es soll die Frage geklärt werden: Sind die Carceri abhängig und geprägt von Büh­

nenbildentwürfen, insbesondere der Büh- nenarchitekturfamilie Galli-Bibiena, und wenn dem so ist, kann eine solche Abhän­

gigkeit etwas zum Verständnis der Carceri beitragen? Seit 1910 schwankt die For­

schung, welche Bedeutung sie einem sol­

chen möglichen Einfluß beimessen soll.

Zuletzt hat Calvesi davor gewarnt, die Abhängigkeit zu überschätzen, da man sonst Gefahr laufe, den Realitätsbezug der Carceri zu unterschätzen und sie ins Reich der reinen Phantasie zu verweisen.7

Zum anderen sollen die Carceri im fol­

genden einer gattungstheoretischen Un­

tersuchung unterzogen werden. Bekannt-

1

Arthur S a m u e l , Piranesi, L o n d o n 1910; Arthur M.

Hind, G. B. Piranesi a n d his Carceri, The Burlington Magazine 19,1911,S. 8 1 - 9 1 ; Arthur M. Hind, Giovanni Battista Piranesi, L o n d o n 1922 ( n e w ed. L o n d o n 1967): Albert G i e s e k e , Giovanni Battista Piranesi, Leipzig 1912; Henri Focillon, Giovanni Battista Pira­

nesi, Paris 1918 (nouv. e d . Paris 1963).

2

Rudolf Wittkower, Piranesi s »Parere sul'architettura«, The Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 2, 1938-39, S 147-158.

3

Emil K a u f m a n n , Piranesi, Algarotti and Lodoli (A C o n t r o v e r s y in XVIII C e n t u r y V e n i c e ) , in: Essays in Honour of Hans Vietze, N e w Y o r k 1958, S. 309ff.;

L o r e n z a Cochetti, L'opera teorica di Piranesi, Com- mentari VI. 1955, S. 35 ff.; J o h n Harris, Le G e a y , Pira­

nesi and International N e o - c l a s s i c i s m in R o m e 1740-1750, in: Essays presented to Rudolf Wittkower, I, L o n d o n 1967, S. 189-196; M a n f r e d o Tafuri, G i o v a n Battista Piranesi: L'architettura c o m e »utopia negati­

va«, in: Bernardo Vittone e la disputa fra classicismo e barocco nel Settecento, Atti del convegno internazio- nale ... nelle ricorrenza del secondo centenario della morte di B. Vittone, 21-24 settembre 1970, 1, T o r i n o 1972, S. 265-305.

4

Tafuri, 1970, S. 274, 279, 290, 304/5.

5

U l y a V o g t - G ö k n i l , Giovanni Battista Piranesi, »Carce­

ri«, Zürich 1958.

6

Maurizio Calvesi, Einführung, in: Henri Focillon, Gio­

vanni Battista Piranesi, a cura di Maurizio Calvesi e A u g u s t a Bonferini, T r a d u z i o n e di G i u s e p p e G u g l i e l - mi, B o l o g n a 1967. S.V.-XLII.

7

Calvesi, 1967, S. XII, A n m . 25.

Originalveröffentlichung in: Wallraff-Richartz-Jahrbuch, 39 (1977), S. 209-224

(2)

lieh hießen die Carceri in ihrem ersten Z u s t a n d von um 1745 mit g e n a u e m Titel Invenzioni Capric di Carceri..., sind in d i e s e m Z u s t a n d a l s o der G a t t u n g C a p r i c­

c i o z u z u o r d n e n . Um die hier v o r g e t r a g e ­ n e n T h e s e n a b z u s i c h e r n , sollen T i e p o l o s Capricci in d i e U n t e r s u c h u n g mit e i n b e ­ z o g e n w e r d e n . Mit Hilfe der g a t t u n g s t h e o ­

retischen U n t e r s u c h u n g soll a u c h ver­

s u c h t werden, ein weiteres altes P r o b l e m der C a r c e n ' - F o r s c h u n g zu klären, nämlich die U m b e n e n n u n g der Serie im zweiten Z u s t a n d von 1761.

Z u m ersten Punkt, der Klärung d e s Verhältnisses v o n Piranesis Carceri zur B ü h n e n a r c h i t e k t u r d e s 18. J a h r h u n d e r t s ,

ist es nötig, v o n V o g t - G ö k n i l s sorgfältiger, detaillierter U n t e r s u c h u n g der R a u m ­ struktur der Carceri a u s z u g e h e n .8

An zwei Beispielen sollen Piranesis Prinzipien der R a u m v e r u n k l ä r u n g , bzw.

R a u m verschleif ung - wie sie im f o l g e n d e n g e n a n n t w e r d e n sollen - kurz dargestellt w e r d e n .

D a s Titelblatt (Abb. 1) mit der Schriftta­

fel zeigt, vor allem d u r c h d a s Fehlen der A n g a b e d e s F u ß b o d e n s , eine nicht nach zentralperspektivischen G e s e t z e n g e r e ­ gelte und d u r c h s c h a u b a r e R a u m a n o r d ­ n u n g . Es ist w e d e r exakt a u s z u m a c h e n , w a s sich a m weitesten vorne befindet, n o c h , w a s a m weitesten hinten. A r c h i t e k ­ turteile s c h e i n e n für sich richtig k o n s t r u ­ iert, ihr Verhältnis zu a n d e r e n Teilen ist j e d o c h e i n e m ständigen F u n k t i o n s w e c h ­ sel unterworfen. Der B o g e n rechts z u m Beispiel ist im unteren Teil, worauf die S t a n g e mit d e n Ringen verweist, v o n in­

nen g e s e h e n und sehr weit vorne im Bild, er befindet sich etwa in einer E b e n e mit d e m Schrifttafelaufbau; in s e i n e m Verlauf nach o b e n scheint er sich weit hinter die Schrifttafelkonsole zu drehen. Der e b e n ­ falls g e d r e h t e linke S t e i n b o g e n ist im unteren Teil mit d e m unteren Teil d e s rechten B o g e n s e b e n f a l l s etwa auf einer E b e n e zu d e n k e n , sein Verhältnis zu Schrifttafel und v o r r a g e n d e m Balken legt d a s nahe, im o b e r e n Teil j e d o c h ist ein sehr großer Z w i s c h e n r a u m z w i s c h e n ihn und d e n o b e r e n Teil d e s rechten B o g e n s getreten, verdeutlicht durch die frei­

s c h w e b e n d e Brücke. Nicht nur die R a u m ­ verhältnisse, s o n d e r n damit a u c h die G r ö ­ ßenverhältnisse sind u n b e s t i m m b a r , es gibt keinen Maßstab, an d e m sie a b z u l e ­ sen wären.

Blatt 14 (Abb. 2) scheint auf d e n ersten Blick wesentlich klarer und logischer k o n ­ struiert zu sein. D o c h g e r a d e an ihm zeigt sich j e n e s Prinzip der raffinierten räumli­

c h e n V e r s c h l e i f u n g , d a s sich in der g a n ­ z e n F o l g e wiederholt findet, am d e u t l i c h ­ sten. Man erkennt, a b g e s e h e n v o n d e n r a h m e n d e n S t e i n a u f b a u t e n , drei gewalti­

ge S t e i n s o c k e l , die, wie die unteren T r e p ­ p e n l ä u f e klarmachen, an ihrer B a s i s etwa in einer Flucht, von rechts n a c h links leicht n a c h hinten verlaufend, hinterein­

a n d e r gestaffelt sind. ,Sie müßten a l s o zwei von links vorne nach rechts hinten v e r l a u f e n d e R a u m f l u c h t e n u m s c h r e i b e n . D i e h ö c h s t e der T r e p p e n mit d e m von e i n e m G e l ä n d e r g e s c h ü t z t e n A b s a t z zwi­

s c h e n erstem und z w e i t e m S o c k e l und der S t e i n b o g e n mit d e n beiden s c h w a r z e n

8

V o g t - Gö k n i l , 1958, Kap. III, S. 2 6 - 3 6 .

9

H e r m a n n Bauer, in: Kunstchronik. J g . 12,1959, S. 196.

(3)

Gestalten darauf z w i s c h e n zweitem und drittem S o c k e l legen d a s a u c h nahe. Im o b e r e n Teil sind j e d o c h der erste und der zweite S o c k e l d u r c h einen mä c h t i g e n S p i t z b o g e n v e r b u n d e n , der nicht etwa an der S o c k e l / n n e n s e i t e ansetzt und die bei­

d e n S o c k e l in der b e s c h r i e b e n e n , beinah bildparallelen Flucht der S o c k e l b a s e n verbindet, s o n d e r n a n d e r H / n f e r s e i t e d e s ersten S o c k e l s ansetzt und auf die Vorder­

seite d e s zweiten S o c k e l s trifft; im oberen Teil a l s o a u s den zwei großen, von links v o r n e nach rechts hinten verlaufenden R a u m f l u c h t e n nur n o c h eine macht, die v o m ersten und dritten Sockel seitlich begrenzt ist. D a n a c h müßten die S o c k e l ­ b a s e n nicht mehr bildparallel, s o n d e r n in e i n e m Dreieck z u e i n a n d e r stehen. Man k ö n n t e d i e s e s Prinzip der Raumverschlei­

f u n g a u c h u m g e k e h r t als ein Prinzip d e s R a u m d a z w i s c h e n s c h a l t e n s - an Orten, wo es v o n der architektonischen Logik her u n m ö g l i c h ist - n e n n e n . Denn Piranesi erreicht diesen verwirrenden R a u m e i n ­ druck zumeist d u r c h sinnwidrig e i n g e ­ s c h o b e n e , aber in sich logisch konstru­

ierte T r e p p e n , B r ü c k e n oder B o g e n . Die Piranesi-Literaturhat immer wieder - zu R e c h t - darauf hingewiesen, daß Piranesis Requisiten, mit d e n e n er seine K e r k e r r ä u m e ausstattete, die Ketten, T a u e , Rollen, Ringe, aber auch die Brük- ken und T r e p p e n , Theaterrequisiten sind.

Ferner hat m a n auf die Verwandtschaft von Piranesis Kerkerausstattung mit der der B ü h n e n s z e n e n der B ü h n e n a r c h i t e k - tenfamilie G a l l i - B i b i e n a a u f m e r k s a m g e ­ macht. Man m u ß h i n z u f ü g e n , worauf Her­

m a n n B a u e r a n d e u t u n g s w e i s e gewiesen hat,9 d a ß die Zeichnungen der Bibiena, i n s b e s o n d e r e zu Kerkerbühnenbildern, Piranesis G r a p h i k e n v o m Stil her sehr n a h e k o m m e n . Andererseits hat man aber a u c h i m m e r w i e d e r die großen Unter­

s c h i e d e von Piranesis Carceri und Bibie- nas g e s t o c h e n e n Bühnenbildern hervor­

g e h o b e n . Focillon führt bei der Betrach­

tung der Raumstruktur der Carceri einen Brief Algarottis von 1760 an, in d e m es heißt: »Ich h a b e kürzlich mit d e m Stift ein G e f ä n g n i s von A n t o n i o Bibiena kopiert, d a s nicht mit Kleinigkeiten und N e b e n s a ­ c h e n angefüllt, nicht übermäßig d u r c h ­ b r o c h e n , s o n d e r n k o m p a k t nach einem g e n a u e n Plan mit s c h ö n e r L i c h t m a s s e n ­ verteilung erscheint ...«1 0 A u c h V o g t - Göknil betont die klare, logische K o n ­ struktion selbst der kompliziertesten R ä u ­ me bei den Bibiena, die nichts mit der p a r a d o x e n , u n l o g i s c h e n Raumstruktur

2 G. B. Piranesi, Carceri, Blatt 14, 1. Z u s t a n d

3 G i u s e p p e Galli-Bibiena, Architetture e Prospettive, Blatt 50

10

Henri Focillon. G i o v a n n i Battista Piranesi, nouv. ed.

Paris 1963, S. 177, A n m . 3 n a c h : G i o v a n n i Bottari,

Raccolta di Lettere sulla Pittura, Scultura ed Architet- tura, 7, Mailand 1822, S. 459 (bei Focillon mit falscher S e i t e n a n g a b e ) .

(4)

4 Ferdinande» G a l l i - B i b i e n a , Architettura Civile, R a m e 20

Piranesis zu tun habe u n d meint damit, die B e d e u t u n g der Bibiena für Piranesi sehr e i n s c h r ä n k e n z u k ö n n e n . " Daß d i e s e s Urteil zu revidieren ist, sollen die f o l g e n ­ d e n Vergleiche z e i g e n .

Der B ü h n e n e n t w u r f v o n G i u s e p p e G a l ­ li-Bibiena (Abb. 3) s t a m m t a u s d e s s e n Stichwerk »Architetture e Prospettive«1 2, wie d a s Titelblatt sagt, 1740 bei Pfeffel in A u g s b u r g e r s c h i e n e n . S c h o n relativ früh sind der Literatur j e d o c h Zweifel an der einheitlichen Datierung der Serie g e k o m ­ m e n , da einige Blätter auf Hochzeitsfeier­

lichkeiten anspielen, die sich erst 1744 ereigneten. Arthur S a x o n hat 1969 die E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e der g a n z e n Serie der 50 b z w . 51 Blatt w a h r s c h e i n l i c h g e ­ m a c h t . '3 D a n a c h dürfte d a s hier interes­

s i e r e n d e 50. Blatt n a c h J a n u a r 1744 und vor 1748 e n t s t a n d e n sein. Die Priorität d i e s e s Blattes oder der Carceri Piranesis ist a l s o nicht a u s z u m a c h e n , es sei d e n n , m a n stimmt der jüngst a u s stilistischen G r ü n d e n auf um 1750 a n g e s e t z t e n Datie­

rung der Carceri zu.14

Für B i b i e n a s B ü h n e n b i l d läßt sich keine V e r w e n d u n g in e i n e m b e s t i m m t e n Stück n a c h w e i s e n , es ist a l s o nicht klar, ob ein Kerker o d e r eine Festung - »fortezza«, ein w i e der Kerker häufiger B ü h n e n b i l d t y p u s - dargestellt ist. W i e die Bibiena-Literatur j e d o c h in a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g b e ­ merkt,15 o h n e allerdings die B e g r ü n d u n g dafür n a c h z u w e i s e n , sind Kerker und Fe­

s t u n g in Form e i n e s o f f e n e n o d e r g e ­ s c h l o s s e n e n H o f e s als B ü h n e n b i l d e r a u s ­ t a u s c h b a r . Die G r ü n d e dafür sind an späterer Stelle n a c h z u t r a g e n .

Um die B e s c h r e i b u n g zu erleichtern, sei gleich festgestellt: es findet sich auf Bibie­

n a s S z e n e n b i l d ebenfalls d a s Prinzip der R a u m v e r s c h l e i f u n g , raffiniert und k a u m sofort erkennbar, verwendet, und zwar wie bei Piranesi erreicht durch ein s i n n w i ­ driges D a z w i s c h e n s c h i e b e n einer T r e p ­ pe. Z u d e m n a h e z u bildparallelen G e b ä u ­ de im Hintergrund führt in m e h r e r e n A b ­ sätzen e i n e s c h m a l e T r e p p e , über diese T r e p p e w ö l b t sich ein breiter B o g e n . In diesen B o g e n greiftein zweiter B o g e n , die L a i b u n g e n treffen auf der gleichen E b e n e z u s a m m e n und v e r s c h m e l z e n m i t e i n a n ­ der. Die W a n d d e s zweiten B o g e n s ver­

läuft mit der W a n d d e s ersten B o g e n s an d i e s e m P u n k t e parallel auf der gleichen

11

V o g t - Gö k n i l , 1958, S . 2 4 . 12

N e u d r u c k d e s S t i c h w e r k e s als: Architectural and Perspective Designs by Giuseppe Galli-Bibiena, N e w Y o r k 1964, with an introduetion by A. Hyatt M a y o r .

13

Arthur H. S a x o n , G i u s e p p e G a l l i - B i b i e n a ' s »Architet­

ture e Prospettive«, Maske und Kothurn, 15, 2, 1969, S. 105 ff.; s. a u c h Hellmuth Vriesen, D i e H o c h z e i t s d e ­ korationen d e s G i u s e p p e G a l l i - B i b i e n a , Maske und Kothurn, 9 , 4 , 1 9 6 3 , S. 3 1 6 ff. und F r a n z R a p p , Rez. v o n Baroque and Romantic Stage Designs edited by Jä- nos Scholz, introduetion by A. Hyatt M a y o r , N e w Y o r k 1950 und A . Hyatt M a y o r , T h e B i b i e n a Family, N e w York 1945, The Art Bulletin 33, 1951, S. 280 ff.

Kat. Piranesi, H a m b u r g e r Kunsthalle 1970, S. 8, 67.

(5)

5 F e r d i n a n d o Galli-Bibiena, Architettura Civile, R a m e 24 Ebene. D o c h s c h a u t m a n auf d e n Fuß­

punkt der B ö g e n , so ist die Gleichheit der E b e n e n der W ä n d e a u f g e h o b e n : Der g r o ­ ße B o g e n steht g e n a u um die Breite der T r e p p e , die d a z w i s c h e n g e t r e t e n ist, vor d e m kleineren B o g e n . Nach o b e n hin sind a l s o d i e R ä u m e verschliffen, der Ü b e r ­ gang ist unmerklich. Hier wirkt d a s Motiv eigentlich n o c h verblüffender als bei Pira- nesi. D e n n e s scheint d o c h eine g e n a u e A r c h i t e k t u r z e i c h n u n g vorzuliegen. Die V e r s c h l e i f u n g m a g beim Betrachter eine o p t i s c h e V e r u n s i c h e r u n g a u s l ö s e n , deren G r ü n d e er - z u m i n d e s t ad h o c - nicht a n g e b e n kann und die ihm bei der szeni­

s c h e n V e r w e n d u n g e i n e s s o l c h e n Bildes a u c h k a u m a u f g e g a n g e n sein werden. Es w ü r d e zu weit g e h e n , hier die weiteren, g e r a d e z u subtilen architektonischen Sinnwidrigkeiten d e s Blattes zu verfolgen, d a s Hauptmotiv g e n ü g t . Es weist auf die raffinierten perspektivischen T r i c k s der B ü h n e n a r c h i t e k t e n , die gar nicht einmal so selten und oft einfach durch die örtli­

c h e n G e g e b e n h e i t e n einer B ü h n e gefor­

dert waren, etwa in Form einer überstar­

ken perspektivischen Verkürzung der S e i ­ tenkulissen o d e r durch leichtes, kaum m e r k l i c h e s A n h e b e n d e s B ü h n e n b o d e n s nach hinten hin, bei einer b e s o n d e r s s c h m a l e n B ü h n e .

Eines dieser Konstruktionsverfahren, d a s d u r c h a u s einen Z u s a m m e n h a n g mit d e m Prinzip der R a u m v e r s c h l e i f u n g hat, verdient E r w ä h n u n g . Es ist in d e m vor allem a u c h b ü h n e n t e c h n i s c h e n A r c h i t e k ­ turtraktat Architettura civile d e s Ferdinan­

d o G a l l i - B i b i e n a ausführlich beschrieben.

D a s Traktat s t a m m t a u s d e m J a h r 1711, erfuhr aber 1731/32 eine N e u a u f l a g e mit Erweiterungen g e r a d e z u m b ü h n e n t e c h ­ nischen Teil. Es war e i n e s der S t a n d a r d ­ werke i n s b e s o n d e r e der italienischen B ü h n e n a r c h i t e k t e n , vor allem, weil es ver­

s c h i e d e n e Möglichkeiten der B ü h n e n ­ bzw. B ü h n e n b i l d k o n s t r u k t i o n zeigte. A l s ein n e u e s , von ihm e r f u n d e n e s Verfahren führt Bibiena darin die perspektivische Konstruktion der e i n z e l n e n b ü h n e n p a r a l ­ lel aufgestellten Kulisse (Abb. 4, 5) an, w e n n er schließlich a u c h z u g e b e n muß, daß er es ähnlich a u c h s c h o n bei anderen B ü h n e n a r c h i t e k t e n g e s e h e n hat.16 Nach d i e s e m Verfahren wird der A u g e n p u n k t im Z u s c h a u e r r a u m a n g e n o m m e n , wie ü b ­ lich, u n d zwar dort, wo die v o r n e h m s t e n

P e r s o n e n in der L o g e sitzen, also in der Mitte g e n a u d e m Fluchtpunkt der Kulis­

sen g e g e n ü b e r . Nun läßt Bibiena nur die Linien o b e r h a l b d e s A u g e n p u n k t e s per­

spektivisch fluchten. » A u s der geringen H ö h e d e s H a u p t p u n k t e s zieht Bibiena die K o n s e q u e n z , daß m a n in der Praxis die Perspektive der Linien unterhalb d e s H o ­ rizonts vernachlässigen kann. Er läßt sie, e n t g e g e n der Theorie, nicht zurrt H a u p t ­ punkt fliehen, s o n d e r n m a c h t sie parallel mit der Horizontallinie. A l s wesentlichen Vorteil erzielt er damit, d a ß die unteren

Architekturteile der Dekoration besser mit der B ü h n e n f l ä c h e übereinstimmen.«'7

Dieser untere Teil, d e s s e n K o n s t r u k t i o n s ­ linien a l s o nicht mitfluchten, ist nach Bi­

biena zwei Ellen h o c h , also e t w a s weniger als einen Meter. W ü r d e n sie im S i n n e der Fluchtpunktperspektive konstruiert sein, müßte die ja bühnenparallel s t e h e n d e Kulisse unten s c h r ä g abgeschnitten w e r ­ den und k ö n n t e nicht mehr gerade aufste­

hen. Die einzelne Kulisse ist, o h n e daß es allerdings stark auffällt, perspektivisch in sich g e b r o c h e n o d e r u m g e b o g e n , e b e n s o

15

Disegni leatrali dei Bibiena, C a t a l o g o della Mostra a cura di Maria T e r e s a M u r a r o e Elena P o v o l e d o , V e n e­

dig 1970. S. 101 ff.

16

Parma 1711, S. 134; B o l o g n a 1731-32 unter d e m Titel:

Direzioni a Giovanni Studenti .... S. 117; weitere

A u s g a b e 1753; zu Fig. 2 auf A b b . 4 heißt es bei Bibie­

na: » . . . il che non pub essere senz' altro, essendo gli angoli equali; dunque ad ogni telaro. trasportandoli equali, non ponno tar di meno di non corrispondere fra di loro; che io possi esser tacciato per lare in linea tutti Ii bassamenti, che sono dall' altezza di due brac- cia sotlo l'orizzontale, prima I' ho reduta praticare da moltissimi Virtuosi, tra' quali anche dal Paradossi

nella Seena falla da lui nel Teatro grande del Serenis- simo di Parma, e a Bologna nel Teatro Casali, ed a moll' altri in allri Teatri.« Z u m Traktat s. a u c h cit. Kat.

V e n e d i g 1970, S. 3 ff.

17

G ü n t e r S c h ö n e , Die Entwicklung der Perspektivbüh­

ne von Serlio bis Galli-Bibiena nach den Perspektiv­

büchern, Leipzig 1933, S. 78 f.

(6)

18

Franz H a d a m o w s k y , Die Familie Galli-Bibiena in Wien, W i e n 1962, S. 23 ff. (1715-1717). Interessant ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g , d a ß F e r d i n a n d o G a l l i - B i­ b i e n a d e n Eindruck d e s Zerfallenen, ärmlich L ä n d l i ­ c h e n auf e i n e m » C a s c i n a l e rustico« b e z e i c h n e t e n und v o n C . A . Buffagnotti g e s t o c h e n e n B ü h n e n b i l d e n t ­ w u r f v o m A n f a n g d e s 18. J a h r h u n d e r t s e b e n f a l l s

durch b e w u ß t e p e r s p e k t i v i s c h e U n s t i m m i g k e i t e n er­

reicht, w e n n e s sich hier a u c h nicht u m k o m p l e x e K o n s t r u k t i o n e n handelt, s. A u s s t . K a t . Mantua, Bibie- na, Disegni e incisioni nelle collezioni del Museo Teatrale alla Scala, Mailand 1975, Kat.Nr. 65, A b b . 23.

wie Piranesis W a n d f lä c h e n o d e r Pfeiler unten Frontalansicht g e b e n k ö n n e n , w ä h ­ rend sie o b e n in S e i t e n a n s i c h t u m ­ s c h w e n k e n . Dabei ist der U m s c h w e n k ­ punkt bei Bibiena, da er mit der H ö h e d e s A u g e n p u n k t e s z u s a m m e n f ä l l t , optisch a u c h gleichzeitig vertuscht, bei Piranesis nicht an e i n e B ü h n e n f l ä c h e , d. h., eine G e s a m t p e r s p e k t i v e , g e b u n d e n e n K o n ­ struktionen ist er gar nicht greifbar. Die­

s e s also m ö g l i c h e r w e i s e a u s der K u l i s s e n ­ konstruktion entwickelte Prinzip der R a u m v e r s c h l e i f u n g ist auf d e m gezeigten Kerker- bzw. F e s t u n g s b ü h n e n b i l d d e s G i u s e p p e Bibiena o f f e n b a r g a n z bewußt für eine Kerkerszene verwandt w o r d e n , um den Charakter d e s »orrido« o d e r »os- curo«, w i e es in den B ü h n e n a n w e i s u n g e n der Bibiena zu Kerkern heißt, erstehen zu lassen.1 8 Den Beleg, d a ß d i e s e s t a t s ä c h ­ lich ein auf K e r k e r s z e n e n speziell b e z o g e ­ n e s Verfahren ist, kann ein weiterer ein­

deutig als K e r k e r s z e n e a u s g e w i e s e n e r Stich a u s der Bibiena-Familie g e b e n , der ä h n l i c h e , offenbar a b s i c h t l i c h e architek­

t o n i s c h - r ä u m l i c h e U n s t i m m i g k e i t e n a u f ­ weist.

D a s g e m e i n t e Blatt von C a r l o Bibiena ( A b b . 6), erst 1772 in Neapel für die C a n t a - te Cerere placata zur T a u f e der Infantin Maria T e r e s a , T o c h t e r d e s V i z e k ö n i g s Ferdinand IV., e n t s t a n d e n , ist b e s o n d e r s interessant, weil es mit d e n s e l b e n Mitteln u n d an e n t s p r e c h e n d e n Architekturteilen w i e Piranesi auf d e m b e s c h r i e b e n e n Blatt 14 der Carceri, die V e r s c h l e i f u n g einer g a n z e n R a u m f l u c h t erreicht.1 9 W i e ­ der s t e h e n die drei mittleren k o m p a k t e n Pfeiler an der Basis etwa in einer Fluchte­

bene. Hier ist es d a n n der mittlere Pfeiler, a n d e s s e n Rückseite der S p i t z b o g e n a n ­ setzt, zur Vorderseite d e s rechten Pfeilers führt und ihn damit z u m i n d e s t im o b e r e n Teil weit zurücksetzt. G e s c h i c k t verstellt Bibiena die Basen der Pfeiler d u r c h Figu­

rinen, d e n n o c h bleiben d e m n a c h m e s s e n ­ d e n A u g e die b e w u ß t e n Unklarheiten nicht verborgen.2 0

H e r m a n n Bauer hat, zweifellos zu Recht, auf die B e d e u t u n g d e s f r a n z ö s i ­ s c h e n R o k o k o - O r n a m e n t s t i c h e s für Pira­

nesis Carceri hingewiesen.2 1 Bei M e i s s o n - nier, ( A b b . 7), de la J o u e oder Cuvillies finden s i c h vergleichbare Spielereien a u c h mit a r c h i t e k t o n i s c h e n Elementen, d i e a u s häufig pflanzlichen R o c a i l l e o r n a -

19

Valerio Mariani, Storia della Scenogratia Italiana.

Florenz 1930, S . 6 1 und Taf. 45 a.

20

Patricia M a y Sekler, G i o v a n n i Battista Piranesi's C a r ­ ceri E t c h i n g s a n d related D r a w i n g s , The Art Ouarterly 25, 1962, S . 3 4 5 zeigt ü b e r z e u g e n d , d a ß die Z e i c h -

(7)

m e n t e n h e r v o r w a c h s e n und a u c h Innen und A u ß e n verkehren oder die Ü b e r g ä n g e von einer in die a n d e r e Materie verschlei- fen. S i e verbleiben j e d o c h relativ unver­

bindlich im o r n a m e n t a l e n Bereich. Ihr spielerischer Charakter ist evident. Man wü rde sie kaum an realer Architektur m e s ­ sen, sie bewirken d a h e r a u c h keinewirkli- c h e V e r u n s i c h e r u n g .

Im Z u s a m m e n h a n g gerade a u c h mit den Bibiena s c h e i n t es allerdings wichtig, nicht nur auf d e n f r a n z ö s i s c h e n O r n a ­ mentstich zu verweisen, der sicherlich die zeitliche Priorität besitzt, s o n d e r n vor al­

lem auf die P r o d u k t e d e s A u g s b u r g e r Kupferstichmarktes, auf d e m , wie er­

wähnt, ab 1740 G i u s e p p e G a l l i - B i b i e n a s Architetture e Prospettive erschien. Ein Hinweis etwa auf die raumverschleifende Rocaille-Architektur in J. W. B a u m g a r t ­ ners Frühlingsdarstellung (Abb. 8) m a c h t deutlich, daß die Rocaille in D e u t s c h l a n d im a r c h i t e k t o n i s c h e n Denken eine reali­

stischere Funktion ü b e r n e h m e n konnte als in Frankreich, wo sie d e m o r n a m e n t a ­ len Bereich verhaftet bleibt und in der B a u p r a x i s eher der Architektur affiziert ist. B a u m g a r t n e r s Entwurf ist ungefähr gleichzeitig mit Bibienas Stichwerk zu datieren; B a u m g a r t n e r ist 1751 gestor­

ben. D i e f r a n z ö s i s c h e n Beispiele sind b e ­ z e i c h n e n d e r w e i s e in der Regel winzig, sie leben g e r a d e a u s der Capriccio-artigen S p a n n u n g von Kleinformat und überdi­

m e n s i o n i e r t e m Architekturentwurf, der eine Vorstellung in der Realität nicht m ö g ­ lich m a c h t , auch d e n A n s p r u c h auf etwai­

ge Verwirklichung nicht erhebt. D a g e g e n hat B a u m g a r t n e r s Blatt immerhin d a s For­

mat v o n 47,5 x 66 c m , und der Architektur­

entwurf rechts scheint s c h o n durch den Z u s a m m e n h a n g mit der sonst d u r c h a u s realistisch g e g e b e n e n Gartenarchitektur z u m i n d e s t denkbar.

A u f eine weitere m ö g l i c h e Ableitung d e s b e s c h r i e b e n e n Konstruktionsprinzi- pes m u ß n o c h verwiesen werden. Carl Lintert hat in s e i n e m A u f s a t z über die G r u n d l a g e n der A r c h i t e k t u r z e i c h n u n g e n von 1931 die g r u n d s ä t z l i c h e n Unterschie­

d e z w i s c h e n bildmäßiger Z e i c h n u n g und A r c h i t e k t u r z e i c h n u n g aufgewiesen.2 2

Letztere kann d e n Regeln einer zentral­

perspektivischen Sicht völlig widerspre­

c h e n , aufgrund ihres spezifischen Z w e k - kes - V e r d e u t l i c h u n g architektonischer Prinzipien, g r ö ß e r e Übersichtlichkeit im

nung, L o n d o n , BM 1 9 0 8 - 6 - 1 6 - 8 (Hylton T h o m a s , The Drawings ol Giovanni Battista Piranesi, L o n d o n (1954), S. 38, Nr. 9, PI. 9) als V o r z e i c h n u n g zu d e n Carceri, Blatt 14 a n z u s e h e n ist. Bereits auf dieser V o r z e i c h n u n g sind, trotz der s p o n t a n e n Strichfüh­

rung, die räumlichen Unstimmigkeiten d e r a u s g e f ü h r - ten R a d i e r u n g v o r h a n d e n , nur scheint bei d e n beiden die B r ü c k e r a h m e n d e n Pfeilern die sie v e r b i n d e n d e

W a n d in sich g e b o g e n , w a s die V e r b i n d u n g zu G i u ­ s e p p e Galli-Bibienas Blatt 50 der Architetture e Pro- sperf/Ve-Serie n o c h einleuchtender macht.

21

Bauer, 1959, S. 195 ff.; zum f r a n z ö s i s c h e n O r n a m e n t - Stich: Fiske Kimball, The CreationoftheRococo, N e w York 1964, dort zu M e i s s o n n i e r s R o k o k o - O r n a m e n t ­

stichen S. 160-62, zu de la J o u e S. 170-72, zu Cuvillies S. 172-73.

22

Carl Lintert, Die G r u n d l a g e n der A r c h i t e k t u r z e i c h ­ nung, Kunstwissenschaftliche Forschungen, 1, Berlin 1931, S. 133 ff., bes. S. 135,144,151 f ., 157,183; zu d e n Bibiena S. 140 f., S. 193f.

(8)

A u f b a u einzelner E l e m e n t e - kann sie v o n A u f s i c h t in starke V e r kü r z u n g u m s c h w e n ­ ken, bzw. B r ü c h e a u f w e i s e n , p e r s p e k t i ­ visch entzerren, K o n s t r u k t i o n und freie Z e i c h n u n g a u f e i n a n d e r s t o ß e n lassen; sie ist einer W e r t u n g nach bildkünstlerisch- ästhetischen Kriterien nicht z u g ä n g l i c h . Es wäre a l s o d e n k b a r , d a ß Piranesi, der Architekt, die Prinzipien der Architektur­

z e i c h n u n g b e w u ß t in die mit b i l d m ä ß i g e m A n s p r u c h auftretenden Carceri einbringt, u m die b e s c h r i e b e n e o p t i s c h e V e r u n s i ­ c h e r u n g zu erzielen. W e n n diese Erklä­

rung a u c h v i e l l e i c h t e h e r z u m V e r s t ä n d n i s der t o p o g r a p h i s c h e n Serien Piranesis h e r a n g e z o g e n w e r d e n sollte,23 so ist die B e d e u t u n g d i e s e s m ö g l i c h e n V o r g e h e n s a u c h für die Carceri nicht a u s z u s c h l i e ß e n . Die Herkunft d e s s p e z i f i s c h e n M o t i v e s d e r V e r s c h l e i f u n g g a n z e r R a u m f l u c h t e n k a n n e s j e d o c h e b e n f a l l s nicht a u s r e i c h e n d er­

klären.

Es scheint, als wäre der Hinweis auf die K e r k e r - B ü h n e n b i l d e r der Bibiena u n d auf ihre K o n s t r u k t i o n s m e t h o d e n zur Erklä­

rung der Herkunft von Piranesis R a u m ­ struktur a m g e e i g n e t s t e n , z u m a l , d a d a s T h e m a Kerkerdarstellung nur auf B ü h ­ nenbildern vergleichbar vorgeprägt ist.24

Im f o l g e n d e n soll auf d e m U m w e g über T i e p o l o s Capricci und über eine Erörte­

rung der Gattungskriterien für Serien mit d e m Titel Capricci und d e s kunsttheoreti­

s c h e n T e r m i n u s C a p r i c c i o der B o d e n für e i n e A u s d e u t u n g der Carceri im zweiten Z u s t a n d bereitet w e r d e n .

Die Gattungscharakteristika der g r a ­ p h i s c h e n Serien mit d e m Titel Capricci2^ k ö n n t e m a n vorab, verfolgt m a n ihre G e s c h i c h t e , vielleicht a m kürzesten s o definieren: Capricci sind Variationen zu e i n e m o d e r a u c h mehreren T h e m e n , w o b e i es d e m Künstler häufig m e h r auf die Variation als auf d a s T h e m a a n k o m m t . S o k ö n n e n Capricci künstlerische B r a ­ v o u r s t ü c k e sein, wie etwa bei Callot, o d e r einfach a b w e c h s l u n g s r e i c h e G e n r e s t ü k -

ke etwa mit T i e r s z e n e n , sie k ö n n e n aber a u c h D e k o r a t i o n s v o r l a g e b l ä t t e r sein. A l s a l l g e m e i n e M e r k m a l e e r g e b e n s i c h : eine g e w i s s e t h e m a t i s c h e Beliebigkeit und a u c h A n s p r u c h s l o s i g k e i t , ein d e m W o r t ­ sinn d e s C a p r i c c i o e n t s p r e c h e n d e r s p i e ­ lerischer Charakter und viel m e h r nicht.

D o c h sollte m a n s i c h z u m i n d e s t im Falle v o n T i e p o l o damit nicht z u f r i e d e n g e b e n , i n s b e s o n d e r e d a s M e s s e n s e i n e r S e r i e a m k u n s t t h e o r e t i s c h e n T e r m i n u s »Capriccio«

und a m skizzierten traditionellen G a t ­ tungsbegriff verspricht m e h r über die B e d e u t u n g und historische Position der F o l g e a u s z u s a g e n .

Die Datierung v o n T i e p o l o s Capricci ist, wie d i e v o n Piranesis Carceri im ersten Z u s t a n d , nicht gesichert. Für T i e p o l o s Capricci hat sich die F o r s c h u n g , a u c h in e i n e m unlängst e r s c h i e n e n e n Aufsatz, w i e d e r auf »um 1743« geeinigt.2 6 Für Piranesis Carceri n i m m t m a n ü b e r w i e ­ g e n d »um 1745« an. D i e s e Unsicherheit in der Datierung hat, n e b e n stilistischen E i n o r d n u n g s s c h w i e r i g k e i t e n , vor allem d i e e i n e U r s a c h e : B e i d e Serien waren bei ihrem Erscheinen kein P u b l i k u m s e r f o l g . Piranesi, als n o c h relativ u n b e k a n n t e r professioneller S t e c h e r auf G r a p h i k v e r ­ kauf a n g e w i e s e n , k o n n t e derartig a u s g e ­ fallene P r o d u k t e o f f e n b a r w e d e r in R o m n o c h in V e n e d i g in größerer Zahl a b s e t ­ z e n , e s w u r d e n nur w e n i g e E x e m p l a r e d e s ersten Z u s t a n d e s a b g e z o g e n . A u c h w u r ­ de, so scheint es, der Verkauf nicht nach m a r k t g e r e c h t e n M e t h o d e n betrieben.2 7

T i e p o l o , als der w e s e n t l i c h ältere, a n e r ­ k a n n t e Fresko- und Altarbildmaler war auf d e n Verkauf s e i n e r G r a p h i k d a g e g e n nicht a n g e w i e s e n , w o h l a u c h nicht s o n ­ derlich daran interessiert, s e i n e R a d i e r u n ­ g e n b e w a h r e n m e h r privaten Charakter.

Die erste offizielle A u s g a b e der Capricci e r s c h i e n erst, am S c h l u ß b e i g e b u n d e n , in d e m 1749 datierten zweiten B a n d von A n t o n i o Maria Zanettis Raccolta, mit N a c h s t i c h e n n a c h Z e i c h n u n g e n italieni­

s c h e r Manieristen. A l s s e l b s t ä n d i g e Folge

w u r d e n sie erst 1783 nach d e m T o d e G i o v a n n i Battistas v o n s e i n e m S o h n D o m e n i c o h e r a u s g e g e b e n . T i e p o l o s Scherzi, die als t h e m a t i s c h und v o n der G a t t u n g her eng v e r w a n d t mit in die B e t r a c h t u n g e i n b e z o g e n w e r d e n k ö n n e n , w u r d e n z u seinen Lebzeiten s o g a r ü b e r ­ haupt nicht aufgelegt, D o m e n i c o v e r k a u f ­ te sie erst ab 1770 und zwar zuerst unter d e m Titel Capricci.

D a s erste Blatt ( A b b . 9) von T i e p o l o s Capricci, d i e kein e i g e n t l i c h e s Titelblatt besitzen, bringt bereits einige für die g a n z e Serie charakteristische E i g e n ­ s c h a f t e n ; sie seien kurz g e n a n n t , o h n e d a ß d a s Blatt im g a n z e n b e s c h r i e b e n w e r d e n soll. Die H a u p t g r u p p e in der Bildmitte bildet eine R e i h e versetzt hinter­

e i n a n d e r gestaffelter P e r s o n e n . Der g e ­ n a u e S t a n d o r t dieser Figuren ist mit A u s n a h m e d e s S t a n d o r t e s d e s vorderen S i t z e n d e n nicht g e n a u a u s z u m a c h e n , wie m a n a u c h nicht g e n a u weiß, w o die linke Figur der kleinen Z w e i e r g r u p p e vor der undeutlich a n g e g e b e n e n S t ü t z m a u e r links steht. Diese r ä u m l i c h e U n b e s t i m m t ­ heit, aber nicht U n m ö g l i c h k e i t , z e i c h n e t eigentlich alle Blätter aus, e b e n s o finden sich die K o p f r e i h e n ständig wieder. V o n der vorletzten Figur dieser R e i h e ist nur ein Teil d e s K o p f e s zu s e h e n , G e s i c h t und H a a r a n s a t z - oder ist es eine c a l l o t t a ? - s i n d seltsam gerade v o n e i n a n d e r g e ­ trennt; es bleibt hier, wie bei vielen anderen Figuren der Serie, offen, ob die Figur e i n e M a s k e trägt o d e r d a s e i g e n e G e s i c h t zeigt. Die A m b i v a l e n z von räumli­

cher Struktur und figürlicher B e s c h a f f e n ­ heit ist ein d u r c h g e h e n d e s Merkmal. Es ist nicht m ö g l i c h , festzustellen, worauf d a s Interesse der P e r s o n e n im Bilde gerichtet ist. Man wird konstatieren m ü s s e n , daß die Figuren untereinander, mit sehr w e n i ­ g e n A u s n a h m e n , keinerlei direkte B e z i e ­ h u n g z u e i n a n d e r h a b e n .

D a s Schlußblatt ( A b b . 10) der Capricci zeigt ein Motiv, d a s b e s o n d e r s a u c h für die Scherzi typisch ist. Es s c h e i n t von

2 3

Lintert, 1931, S. 139 zur V e d u t e als Mittelding z w i­

s c h e n A r c h i t e k t u r z e i c h n u n g und bildmäßiger Z e i c h ­ nung.

24

Es kann hier nicht versucht w e r d e n , eine G e s c h i c h t e b e w u ß t e r architektonischer V e r z e r r u n g e n o d e r opti­

s c h e r V o r t ä u s c h u n g e n zu umreißen. Es sollte j e d o c h bei d e r hier v e r s u c h t e n Interpretation immer im B e ­ w u ß t s e i n gehalten w e r d e n , d a ß derartige illusionisti­

s c h e Tricks z u m Repertoire der Barockarchitekten u n d i n s b e s o n d e r e der B ü h n e n a r c h i t e k t e n g e h ö r t e n . D e c i o Gioseffi verweist in s e i n e m Artikel »Prospettiva«

in derEnciclopedia Universale dell'Arte, XI, V e n e z i a - R o m a 1963, S. 126, 150 f. auf e i n e R e i h e klassischer Architekturbeispiele, die mit Hilfe i n s b e s o n d e r e der Reliefperspektive R a u m v o r t ä u s c h e n , w i e auf d e n

f a l s c h e n C h o r von S. Maria p r e s s o S. Spirito in Mai­

land v o n Bramante, S c a m o z z i s E r f i n d u n g e n für d a s T e a t r o O l i m p i c o in V i c e n z a , B o r r o m i n i s P e r s p e k t i v g a ­ lerie im P a l a z z o S p a d a in R o m o d e r Berninis S c a l a R e g i a im Vatikan, ferner auf die rational-mathemati­

s c h e G r u n d l e g u n g s o l c h e r P e r s p e k t i v p r o b l e m e e t w a bei A b r a h a m B o s s e in s e i n e m Traktat Maniere univer­

selle de M. Desargues pour pratiquer la perspective par petit-pied, come le geometral, Paris 1648. S. a u c h T i m o t h y K. Kitao, P r e j u d i c e in P e r s p e c t i v e : A. S t u d y of V i g n o l a ' s P e r s p e c t i v e Treatise, The Art Bulletin, XLIV, Sept. 1962, S. 173-194, bes. S. 188 f. und A n m . 5 1 zu b e w u ß t e n V e r z e i c h n u n g e n als Illusionsverstärkung, S. 190 f. zu Bibienas » S e e n a per a n g o l o « und B A R.

Carters Perspecf/Ve-Artikel im Oxford Companion to Art, ed. by Harold O s b o r n e , O x f o r d 1970, S. 840-861.

Der e n t s c h e i d e n d e U n t e r s c h i e d zu all d i e s e n Beispie­

len ist j e d o c h , daß bei Piranesi nicht d i e Logik d e s

R a u m e s v o r g e t ä u s c h t w e r d e n soll, s o n d e r n g e r a d e d e s s e n Unlogik Inhaltsträger wird.

25

Z u m C a p r i c c i o : R D K 3, Stuttgart 1954, S p . 3 2 9 - 3 3 5 , Stichwort » C a p r i c c i o « (Peter Halm); Enciclopedia Universale dellArte, 3, V e n e d i g - R o m 1958, S p . 103-110, S t i c h w o r t » C a p r i c c i o « ( E n r i c o C r i s p o l t i ) , in der e n g l i s c h e n A u s g a b e unter d e m S t i c h w o r t » F a n - tasy«; R e i n h o l d G r i m m , Die F o r m b e z e i c h n u n g » C a ­ priccio« in d e r d e u t s c h e n Literatur d e s 19. J a h r h u n ­ derts, in: Studien zur Trivialliteratur, hrsg. v o n H e i n z - O t t o Burger, Frankfurt 1968, S. 101-116; Lucretia Hartmann, Capriccio - Bild und Begriff, Diss. Zürich, N ü r n b e r g 1973; R D K 6, M ü n c h e n 1973, S p . 1451-1461, Stichwort »Fantasie« ( H a n s - E r n s t Mit­

tig); m u s i k g e s c h i c h t l i c h : Peter S c h l e u n i n g , Die Freie

(9)

T i e p o l o bewußt darauf angelegt zu sein, d a ß der Betrachter auf den ersten Blick d e n l a n g e n Stab etwa als eine Reitgerte der vorderen zu P f e r d e s t e i g e n d e n Person ansieht, ihre geballte Faust ist wesentlich stärker h e r v o r g e h o b e n als die g e s a m t e Figur hinter ihr, die den Stab j e d o c h in Wirklichkeit hält. A u f derartige A b l e s e a m ­ bivalenzen stößt m a n häufiger. Es finden sich j e d o c h a u c h direkte o p t i s c h e Unstim­

migkeiten; verwiesen sei etwa auf Blatt 9 ( A b b . 11) der Scherzi: Eine gefallene Kiefer, deren S t a m m h i n t e r e i n e m altarar­

tigen S o c k e l verläuft, scheint durch d i e s e n S o c k e l o p t i s c h g e b r o c h e n .

Alle d i e s e Details m a c h e n zweifellos den eigentlichen C a p r i c c i o - C h a r a k t e r der Serie a u s , j e d o c h gehen sie in der K o n s e q u e n z ihrer A n w e n d u n g über d a s sonst in der G a t t u n g Übliche hinaus. Das Spiel mit räumlichen und optischen Effekten ist bis zu einem Extrem getrie­

ben. In g e w i s s e m S i n n e handelt es sich um e i n e U m s e t z u n g der in der großen Malerei erkannten illusionistischen M ö g ­ lichkeiten: Das, w a s in d e r g r o ß e n Malerei Wirklichkeit v o r t ä u s c h e n soll, wird hier d a z u benutzt, Wirklichkeit zu verunsi­

c h e r n , oder, a n d e r s a u s g e d r ü c k t : Die illusionistischen Effekte werden über den P u n k t d e s optisch Einleuchtenden hin­

ausgetrieben, so d a ß sie an G l a u b w ü r d i g ­ keit e i n b ü ß e n . In ihrem V o r g e h e n und in der W i r k u n g sind T i e p o l o und Piranesi direkt vergleichbar. Beide lassen Illusion in V e r u n s i c h e r u n g u m s c h l a g e n . Piranesi erreicht dies mit architektonischen Mit­

teln, i n d e m in sich s t i m m i g e Architektur­

teile in Z u s a m m e n h a n g mit anderen in sich s t i m m i g e n Architekturteilen ihre sinnvolle Funktion verlieren, und damit Architektur in g r o ß e m Stil ad a b s u r d u m geführt wird; T i e p o l o , indem er auf o p t i s c h e A m b i v a l e n z zielt und damit die Stimmigkeit von L a n d s c h a f t s r a u m und ihn b e v ö l k e r n d e m Personal in Frage stellt.

W a s inhaltlich über T i e p o l o s Serie bisher zu s a g e n ist, hat Max Kozloff in

Fantasie, Ein Beitrag zur Erforschung der klassischen Klaviermusik, G ö p p i n g e r A k a d e m i s c h e B e i t r ä g e Nr. 76, G ö p p i n g e n 1973.

2 6

M a r i a S a n t i f a l l e r - S e l l s c h o p p , C a r l H e i n r i c h v o n H e i ­ n e c k e n e le A q u e f o r t i d i G i a m b a t t i s t a T i e p o l o a D r e s - d a , Arte Veneta 26, 1 9 7 2 , S. 1 4 5 - 5 3 , d o r t d i e n e u e r e L i t e r a t u r z u m T h e m a ; G e o r g e K n o x , B e s p r e c h u n g v o n T e r i s i o P i g n a t t i , T i e p o l o : d i s e g n i s c e l t i e a n n o t a t i , F i r e n z e o. J . , The Burlington Magazine 876, C X V I I I , M ä r z 1 9 7 6 , S. 1 6 6 f.

2 7

Z u d e n G r a p h i k m a r k t - M e t h o d e n z u l e t z t : J ü r g e n Z ä n ­ ker, D i e » N u o v a P i a n t a d i R o m a « v o n G i o v a n n i B a t t i s t a Nolli ( 1 7 4 8 ) , Wallraf-Richartz-Jahrb. 35, 1973, S. 3 3 4 f.

9 Giambattista T i e p o l o , Capricci, Blatt 1

10 Giambattista T i e p o l o , Capricci, Blatt 10

(10)

11 Giambattista T i e p o l o , Scherzi, Blatt 9

e i n e m A u f s a t z in Marsyas, 1961, unter d e m Titel The Caricatures of Giambattista Tiepolo z u s a m m e n g e t r a g e n .2 8 Daß dieser Beitrag s o viel Wertvolles a u c h z u m V e r s tä n d n i s der Folgen beizutragen hat, liegt an seiner T h e m e n s t e l l u n g . T a t s ä c h ­ lich nämlich scheint ein w e i t e r g e h e n d e s V e r s t ä n d n i s der Capricci u n d Scherzi nur

auf d e m W e g e einer A n n ä h e r u n g über die Karikaturen T i e p o l o s m ö g l i c h z u sein.

Etwa ab 1740 f i n d e n sich z e i c h n e r i s c h e m o t i v i s c h e V o r b e r e i t u n g e n z u d e n Serien.

D u r c h Algarotti lernte T i e p o l o die W e r k e C a s t i g l i o n e s mit a u c h stilistisch ähnli­

c h e n m y s t i s c h e n O p f e r - und B e s c h w ö ­ r u n g s s z e n e n k e n n e n , d u r c h ihn a u c h

Beispiele antiker I k o n o g r a p h i e . O f f e n b a r k a n n t e er a u c h M o n t f a u c o n s L'Antiquite Expliquee, Paris 1719, mit detaillierten S t u d i e n zu r ö m i s c h e n G e r ä t e n , wie sie sich in Form von V a s e n , Reliefs, S c h i l d e n usw. bei ihm wiederfinden. Im T h e a t e r und M a s k e n f e s t e liebenden V e n e d i g g a b e s b e s o n d e r s u m die Mitte d e s J a h r h u n ­ derts g e r a d e z u eine M y s t e r i e n m o d e , die erst a m E n d e d e s J a h r h u n d e r t s unter d e n Angriffen der Reformtheater v e r s c h w a n d . V o n Seiten einer aufgeklärten Intelligenz f i n d e n s i c h j e d o c h s c h o n w e s e n t l i c h früher s c h a r f e P o l e m i k e n g e g e n diesen m a g i s c h e n Zauber, als einer der b e s o n ­ d e r s t y p i s c h e n Spielarten v e n e z i a n i s c h e r M a s k e r a d e n l u s t . D i e s e Mysterienspiele h a b e n grundsätzlich d e n g l e i c h e n C a p r i c c i o - C h a r a k t e r wie T i e p o l o s Serien, b e z e i c h n e n d e r w e i s e heißt Carlo G o z z i s m a g i s c h e s Spiel Fiabe von 1761 im Untertitel capricci scenici. Die a r k a d i s c h e Fiktion w a r nur im Spiel oder in der als C a p r i c c i o g e k e n n z e i c h n e t e n und d a ­ d u r c h a b g e s i c h e r t e n Serie a u f r e c h t zu erhalten. Z u Recht betont Kozloff d a s A n t i u t o p i s c h e von T i e p o l o s Capricci und Scherzi. D i e elegische, in sich g e s c h l o s ­ s e n e T r a u m w e l t von A r k a d i e n o d e r einer v e r g a n g e n e n großartigen A n t i k e e r ö f f n e ­ te keine Perspektive. D a ß ihr n a c h g e h a n ­ g e n w u r d e , k e n n z e i c h n e t d e n Z u s t a n d V e n e d i g s u m die Mitte d e s J a h r h u n d e r t s treffend, der z w i s c h e n Lethargie und h e m m u n g s l o s e m G e n i e ß e n s c h w a n k t e u n d politisch durch g ä n z l i c h e H a n d l u n g s ­ unfähigkeit charakterisiert war. Kozloff verweist auf die Herkunft einzelner Motive T i e p o l o s wie Eule, V a s e n , Foliant, Schild u s w . a u s d e m m a g i s c h e n Bereich. W i c h t i ­ ger ist es, in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g auf d i e B e d e u t u n g P u l c i n e l l o s h i n z u w e i s e n . Blatt 9 ( A b b . 11) der Scherzi zeigt unter a n d e r e m die G e g e n ü b e r s t e l l u n g von klassisch s c h ö n e m J ü n g l i n g und häßli­

c h e m , b u c k l i g e m , maskiertem Pulcinello.

Algarotti s c h r i e b 1761 an Mariette: »Ich d e n k e , ich besitze die s c h ö n s t e n P u l c i n e l - li der Welt, von der H a n d u n s e r e s b e r ü h m ­ ten T i e p o l o . . . Einen d a v o n ü b e r s e n d e ich ihnen: Er ist von hinten g e s e h e n , und pinkelt g e g e n eine M a u e r . . . sein g a n z e r Körper drückt durch s e i n e V e r z e r r u n g e n e i n e Traurigkeit aus, die s o b e z e i c h n e n d ist, d a ß m a n ihn den L a o k o o n der P u l c i - nelli n e n n e n kann.«25 Algarotti k e n n z e i c h ­ net P u l c i n e l l o sehr g e n a u . Er ist die

28

M a x Kozloff, T h e C a r i c a t u r e s of Giambattista T i e p o l o , Marsyas 10. 1961, S. 1 3 « .

2 9

Kozloff, 1961, S 29; zu einer C h a r a k t e r i s i e r u n g v o n Piranesis s c h a u e r l i c h e n Figuren als n e u e n Apoll Bel- v e d e r e - o d e r L a o k o o n - F i g u r e n s . e b e n d a . 30

S. a u c h Ernst H. G o m b r i c h , Art and Illusion, L o n d o n - N e w Y o r k 1960, S. 3 4 5 - 3 5 5 .

31

Norbert Elias, Die höfische Gesellschalt, N e u w i e d und Berlin 1969, S. 132-143, 1 6 8 - 1 7 0 ; W e r n e r B u s c h , Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip, Ikono- graphische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfol­

ge, H i l d e s h e i m 1977, Kap. 4a.

(11)

V e r kö r p e r u n g d e s a b s o l u t Häßlichen, als G e g e n b i l d z u m a b s o l u t S c h ö n e n , ist der g ä n z l i c h Lasterhafte, verkörpert u n g e ­ h e m m t e sexuelle P o t e n z und ist gleichzei­

tig der w i s s e n d L e i d e n d e . Er ist maskiert, und d e n n o c h zeigt sich sein W e s e n , sein S e e l e n z u s t a n d deutlicher als bei anderen Figuren. D i e s e s G e g e n b i l d d e s absolut S c h ö n e n weist auf die Karikatur und T i e p o l o s b e s o n d e r e s Verhältnis zu ihr.

Es existieren H u n d e r t e von Karikaturen von T i e p o l o , die er, in K l e b e b ä n d e n z u s a m m e n g e f a ß t , seinen S ö h n e n vererbt hat. S i e waren rein privater Natur, nicht z u m Verkauf o d e r zur Veröffentlichung in S t i c h f o r m g e d a c h t , allenfalls als G e ­ s c h e n k für Freunde. Fast ausschließlich stellen sie Einzelfiguren dar, g e z e i c h n e t fast nur im Umriß und auf s c h ö n e Form keine R ü c k s i c h t n e h m e n d , häufig mit leichten Lavierungen. T i e p o l o s Karikatur­

figur agiert nicht, äußert sich nicht, versucht nicht, mit ihrer U m g e b u n g zu k o m m u n i z i e r e n , sie steht oder sitzt n u r d a und, w a s sehr ü b e r r a s c h e n d ist für eine Karikatur, sie ist z u m e i s t gänzlich o h n e direkte p h y s i o g n o m i s c h e Ä u ß e r u n g . Sehr häufig i s t s i e s o g a r n u r i n R ü c k e n s i l h o u e t ­ te g e g e b e n . Charakterisiert werden ihr Z u s t a n d , ihre Eigenart durch d e n spre­

c h e n d e n Kontur, d e n n auch d a s G e w a n d ist so s u m m a r i s c h g e g e b e n , daß es keine S c h l ü s s e auf d e n sozialen Status oder auf die p e r s ö n l i c h e n N e i g u n g e n seines T r ä ­ gers zuläßt. Die Erkenntnis, daß m a n mit einer b e s t i m m t e n übertriebenen, z e i c h e n ­ haften, d a s heißt über einen R e d u k t i o n s ­ v o r g a n g g e w o n n e n e n , nicht naturalisti­

s c h e n G e s a m t - o d e r G r u n d f o r m , sei sie nun e c k i g oder rund, spitz oder stumpf, eine P e r s o n m ö g l i c h e r w e i s e treffender charakterisieren kann als durch die g e ­ n a u e W i e d e r g a b e bestimmter H a n d l u n ­ g e n o d e r bestimmter individueller Leiden­

s c h a f t e n oder Z ü g e , ist für die Entwick­

lung der Karikatur von höchster B e d e u ­ tung g e w e s e n3 0 und indirekt a u c h für die E n t w i c k l u n g realistischer, bzw. soziale Verhältnisse schildernder Malerei. Diese Art der p s y c h o l o g i s i e r e n d e n Betrach­

t u n g s w e i s e unterscheidet sich g r u n d s ä t z ­ lich v o n einer B e t r a c h t u n g s w e i s e nach g e n o r m t e n L e i d e n s c h a f t s - und Verhal­

tenskategorien, wie sie die h o h e Malerei herausgebildet hat, der es nicht um d e n b e s t i m m t e n differenzierten S e e l e n z u ­ stand, s o n d e r n u m d a s Verhalten d e s

W29 i

SP**

12 G i a n d o m e n i c o T i e p o l o , P u t z m a c h e r l a d e n , Z e i c h n u n g , B o s t o n , M u s e u m of Fine Arts

T y p u s im R a n g o r d n u n g s s y s t e m zu tun ist.31

T i e p o l o selbst entzieht sich direkter sozialer S t e l l u n g n a h m e , seine Karikatu­

ren zielen nicht auf etwas, kritisieren und moralisieren nicht, e r m ö g l i c h e n kein L a c h e n a u s Freude oder S c h a d e n f r e u d e über eine Bloßstellung. A b e r sie z e i g e n eine u n g e m e i n scharfe B e o b a c h t u n g s g a ­ b e a m m e n s c h l i c h e n Erscheinungsbild, für d a s ein h ö c h s t differenziertes R e p e r ­ toire vereinfachender, s i n n g e b e n d e r Z e i ­ c h e n g e f u n d e n wird.

Der Hauptteil der Karikaturen und die Capricci und Scherzi s c h e i n e n s c h o n a u s stilistischen G r ü n d e n im gleichen Zeit­

raum entstanden zu sein. Der T r a u m , der in den Serien geträumt wird, ist elegisch, a u c h resignativ. Inhaltlich weisen die Serien keinen zukünftigen W e g , im G e ­ genteil; formal bieten sie der Zukunft, wie der Blick auf die Karikaturen zeigt, einiges an, d a s im G r u n d e g e n o m m e n nur darauf wartet, mit n e u e m Inhalt gefüllt zu w e r ­ d e n , bzw. auf die Darstellung sozialer Interaktion a n g e w e n d e t zu werden. T i e ­

p o l o s S o h n D o m e n i c o m a c h t sich d i e s e s A n g e b o t bereits zu e i n e m Teil nutzbar, i n d e m er die Erkenntnisse a u s den Serien und den Karikaturen in eine neuartige Genremalerei einfließen läßt, die mit Z ü g e n der Karikatur einen z u m i n d e s t für v e n e z i a n i s c h e Verhältnisse u n g e w ö h n l i ­ c h e n R e a l i s m u s zeigt ( A b b . 12). Es läßt sich die B e h a u p t u n g aufstellen, d a ß dieser n e u e - bürgerliche - R e a l i s m u s nur auf d e m W e g e über die Karikatur bzw. die Serien möglich war.32

Zur U n t e r m a u e r u n g dieser T h e s e ist ein kurzer Rückblick auf Vorstufen realisti­

s c h e r Genremalerei in Italien am E n d e d e s 17. J a h r h u n d e r t s u n d in der ersten Hälfte d e s 18. J a h r h u n d e r t s nötig.3 3 V o r 1693 kaufte G r o ß h e r z o g Ferdinand von Medici ein a u s g e s p r o c h e n realistisches Privat­

stück von Baldassare Franceschini. Ferdi­

n a n d hatte eine g a n z b e s o n d e r e , für die Zeit ziemlich allein d a s t e h e n d e Vorliebe für einen derartigen Realismus, die sich vor allem a u c h in seiner a u s g i e b i g e n B e s c h ä f t i g u n g v o n Crespi zeigt. B e z e i c h ­ nend ist j e d o c h , mit w e l c h e m Kriterium

32

Vgl. d a z u H e i n z Schlaffer, Der Bürger als Held, Frank­

furt 1973, S. 35: »Die bürgerliche Literatur hat ihre F o r m e n vielfach a u s der ernsten W e n d u n g k o m i s c h e r G a t t u n g e n « ; vgl. a u c h S. 92 mit d e m H i n w e i s auf die g a t t u n g s i m m a n e n t e Z u o r d n u n g von Komik und Ver­

nunft.

3 3

Die Beispiele folgen F r a n c e s Haskell, Patrons a n d Painters, L o n d o n 1963, S. 231 ff., Taf. 3 7 a - c . Eine ausführlichere R e i h e realistischer italienischer Maler

d e s 18. J a h r h u n d e r t s , freilich o h n e präzisere B e m e r ­ k u n g e n i n s b e s o n d e r e zu der sozialen Position einzel­

ner Künstler, bietet Michael L e v e y , Rococo to Revolu­

tion, L o n d o n 1966, S. 129-40, A b b . 8 1 - 8 7 .

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