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Archiv "Subjektive Repräsentation von Leitlinienempfehlungen und Nebenwirkungsrisiken" (04.10.2013)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 40

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4. Oktober 2013 661

M E D I Z I N

EDITORIAL

Subjektive Repräsentation von Leitlinienempfehlungen

und Nebenwirkungsrisiken

Tilmann Betsch

Editorial zu den Beiträgen von:

Andreas Ziegler et al.: „Verständnis von Neben - wirkungsrisiken im

Beipackzettel“

und Andreas Nast et al.: „Wahrnehmung der Verbindlichkeit von Leitlinien - empfehlungen –

Eine Umfrage zu häufigen Formulierungen“

auf den folgenden Seiten

einer Norm. Formulierungen wie „muss erfolgen“,

„darf nicht angewendet werden“ sprechen Gebote und Verbote aus. Andere von den Autoren berichtete For- mulierungen können aber auch auf der Wertdimension interpretiert werden. „Kann empfohlen werden“ sug- geriert, dass der Kommunikator eine positive Bewer- tung des Medikamentes zugrunde legt.

In ihren Beiträgen liefern die Autoren überzeugen- de empirische Evidenz dafür, dass die subjektive Re- präsentation dieser Entscheidungskriterien bei Medi- zinern (und anderen Personengruppen) stark von der gegebenen Information abweicht.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizin- produkte (BfArM) definiert „häufig“ als einen Wahr- scheinlichkeitsbereich zwischen 1 und 10 %, mit der eine bestimmte Nebenwirkung nach Vergabe des Me- dikaments eintritt. Mediziner tendieren hingegen da- zu, „häufig“ als eine hohe Wahrscheinlichkeit (Medi- an = 75 %) zu interpretieren (4). Die Schilderung des Risikos einer Nebenwirkung im Kontext eines berufs- typischen Szenarios führt zwar zur Reduktion (Medi- an = 60 %), aber nicht zu einem Verschwinden dieser Überschätzung.

Müssen, sollen, können

Nast et al. (3) weisen nach, dass die Modalverben

„müssen“, „sollen“, „können“ (beziehungsweise de- ren Negationen) in ihrer Verbindlichkeit subjektiv sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Wäh- rend Aussagen wie „muss erfolgen“ und „darf nicht angewendet werden“ mit geringer Varianz als verbind- lich interpretiert werden, ist die Varianz in der wahr- genommen Verbindlichkeit bei beispielsweise „kann [nicht] empfohlen werden“ sehr hoch. Es lässt sich je- doch nicht eindeutig bestimmen, ob dieser Effekt auf die Unterschiede in den Modal- oder den Vollverben zurückgeht. „Muss“ und „darf nicht“ verweisen auf- grund der Verbindung mit dem Vollverb „anwenden“

semantisch auf die Handlung und deren Normstatuts.

„Kann“ in Verbindung mit „empfehlen“ verweist se- mantisch eher auf eine zugrundeliegende Bewertung.

Wichtig ist hierbei zu bemerken, dass die fehlerhaf- te Repräsentation von Entscheidungskriterien keines- wegs nur für das Feld der Medizin typisch ist. Die Er- gebnisse der Studien von Nast et al. (3) und Ziegler et

M

orgen wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % regnen. Was heißt das? Welche Kon- sequenzen ergeben sich daraus für Ihre Entscheidun- gen? Werden Sie morgen einen Schirm einpacken oder nicht?

Menschen interpretieren solche Aussagen sehr un- terschiedlich. Die einen glauben, dass es in 70 % der Zeit, andere glauben dass es in 70 % der Region reg- nen wird (1). Tatsächlich ist gemeint, dass es an 70 von 100 Tagen regnet, die meteorologisch so beschaf- fen sind wie der morgige.

Produkt des Vorwissens

Auch im klinischen Kontext werden Wahrscheinlich- keiten und andere entscheidungsrelevante Informatio- nen meist sprachlich vermittelt, sei es in Wort oder Schrift. Die psychologische Forschung zeigt, dass das Verstehen solcher Informationen ein konstruktiver Prozess ist. Die subjektive Repräsentation, das heißt, die Abbildung der gegebenen Information in der Vor- stellung des Rezipienten, ist nie ein ideales Abbild der Wirklichkeit sondern immer auch ein Produkt seines Vorwissen (2).

Die folgenden Originalbeiträge beschäftigen sich damit, wie Rezipienten Leitlinienempfehlungen (3) und Nebenwirkungsrisiken (4) von Medikamenten verstehen. Leitlinienempfehlungen und Nebenwir- kungsrisiken transportieren Informationen, die aus theoretischer Perspektive zentrale Kriterien von Ent- scheidungen darstellen. Nach der Theorie der rationa- len Wahl müssen Handlungsentscheidungen die Werte der Konsequenzen von Alternativen und deren Ge- wichtung reflektieren (5). Im Falle riskanter Entschei- dungen stellen Wahrscheinlichkeiten der Konsequen- zen diese Gewichte dar. Ferner postulieren Hand- lungstheorien, dass Normen die Entscheidungen mit- bestimmen (6).

Gebote und Verbote

Nebenwirkungsrisiken (4) beziehen sich auf die Wahr- scheinlichkeiten, mit der nach Vergabe eines Medika- mentes negative Konsequenzen eintreten. Formal soll- ten sie zur Gewichtung der Bewertung dieser Konse- quenz herangezogen werden. Bei Leitlinienempfeh- lungen (3) geht es offensichtlich um die Vermittlung

Abteilung für Psychologie, Universität Erfurt:

Prof. Dr. phil. Betsch

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al. (4) reihen sich ein in eine gut bestätigte Befundlage zu Fehlern, die den meisten Menschen immer wieder bei ihren Entscheidungen unterlaufen (5). Darüber hin aus konvergieren die Ergebnisse von Ziegler et al.

(4) mit Befunden aus der psychologischen Forschung zum Verständnis von Wahrscheinlichkeitsaussagen (7–9).

Sicherlich ist es zu früh, schon jetzt mit einem Maßnahmenkatalog aufwarten zu wollen. Einige Vor- schläge drängen sich aber auf.

Schärfung der sprachlichen Darstellung

Im Falle der Leitlinienformulierungen werden Krite- rien vermischt. Bei der Formulierung sollte darauf ge- achtet werden, dass nur die Norm und nicht die Be- wertungsdimension angesprochen wird (beispielswei- se durch stereotype Verwendung des handlungsbezo- genen Verbes „anwenden“).

Die psychologische Forschung zeigt, dass die sprachliche Darstellung mitbestimmt, wie Entschei- dungsträger vorgegebene Informationen interpretieren und repräsentieren (10). Was uns subjektiv als viel oder wenig, als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich erscheint, hängt auch davon ab, welchen Vergleichs- standard die Situation bereitstellt (11).

Im Falle der Nebenwirkungsrisiken ist das höchste kommunizierte Risiko ein Wert um die 10 %. In der Vorstellung des Rezipienten wird dieser Wert zum Endpunkt der Skala und damit zu einem subjektiv ho- hen Risiko. Die objektive Skala reicht aber bis zu ei- nem Wert von 100 %. Durch Einordnung der Neben- wirkungsrisiken in die Gesamtskala würde der subjek- tive Vergleichsstandard verändert. So könnte im Bei- packzettel erläutert werden, dass hohe Risiken im obe- ren Viertel (75–100 %) der Skala liegen, es sich aber bei Nebenwirkungen nur um vergleichsweise geringe Risiken im unteren Bereich der Skala handelt. Da- durch wird der obere Bereich der objektiven Skala als Vergleichsstandard in den Fokus gerückt, was beim Rezipienten die adäquatere Einordnung und Bewer- tung der Risikobereiche unter 10 % befördern würde.

Berücksichtigung des Vorwissens der Rezipienten

In jedem Sprachraum sind Wörter überindividuell mit bestimmten Bedeutungen und Assoziationen verbun- den (sogenannte Wortnormen). So referiert „häufig“

im Alltagssprachgebrauch auf eine hohe Auftretens- häufigkeit. Insofern sollte die empirische Evidenz über die subjektive Bedeutung von Entscheidungskri- terien, wie sie unter anderem folgende Beiträge ein- drücklich nachweisen, bei der sprachlichen Gestal- tung von Informationen und Empfehlungen stärker berücksichtigt werden. Konkret bedeutet dies, dass es nicht zielführend ist, geringe Risiken mit einem Be- griff zu kommunizieren, der im Alltagsgebrauch auf ein hohes Risiko verweist. Im Falle von normbezoge- nen Leitlinien sollten Formulierungen verwendet wer- den, die auch im Alltagsgebrauch auf eine Norm ver- weisen.

Entwicklung des Vorwissens

Das Vorwissen sollte aber nicht nur berücksichtigt, sondern systematisch weiterentwickelt werden. Wir verfügen über Ansätze, die beispielsweise das Denken in Wahrscheinlichkeiten befördern (1, 12). Sowohl in der akademischen Ausbildung von Medizinern als auch im Rahmen der beruflichen Weiterbildung bieten sich hier Möglichkeiten für den gezielten Einsatz von Entwicklungsmaßnahmen.

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

LITERATUR

1. Gigerenzer G: Risk savvy: How to make good decisions. New York:

Penguin. [Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft.

München: Bertelsmann 2013].

2. Bruner JS: Going beyond the information given. In: Gulber H, et al., (eds.): Contemporary approaches to cognition. Cambridge: Cam- bridge University Press 1957; 41–69.

3. Nast A, Sporbeck B, Jacobs A, Erdmann R, Roll S, Sauerland U, Rosumeck S: Study of perceptions of the extent to which guideline recommendations are binding—a survey of commonly used terminology. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(40): 663–8.

4. Ziegler A, Hadlak A, Mehlbeer S, König IR: Comprehension of the description of side effects in drug information leaflets—a survey of doctors, pharmacists and lawyers. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(40):

669–73.

5. Betsch T, Funke J, Plessner H: Denken: Urteilen, Entscheiden und Problemlösen. Heidelberg: Springer 2010.

6. Fishbein M, Ajzen I: Attitudes towards objects as predictors of single and multiple behavioral criteria. Psychological Review 1974; 81:

59–74.

7. Karelitz TM, Budescu DV: You say probable and I say likely:

Im proving inter-personal communication with verbal probability phrases. Journal of Experimental Psychology: Applied, 2004; 10:

25–41.

8. Teigen KH: The language of uncertainty. Acta Psychologica 1988;

68: 27–38.

9. Wallsten TS, Budescu DV: A review of human linguistic probability processing: General principles and empirical evidence. The Knowledge Engineering Review 1995; 10: 43–62.

10. Tversky A, Kahneman D: The framing of decisions and the psycho- logy of choice. Science, 1981; 211: 453–8.

11. Hsee CK, Zhang J: General evaluability theory. Perspectives on Psy- chological Science 2010; 5: 343–55.

12. Hogarth RM, Soyer E: Sequentially simulated outcomes: Kind expe- rience vs. non-transparent description. Journal of Experimental Psy- chology 2011; 140: 434–63.

Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. phil. Tilmann Betsch

Abteilung für Psychologie, Universität Erfurt Nordhäuserstraße 63, 99089 Erfurt tilmann.betsch@uni-erfurt.de

Englischer Titel: The Subjective Understanding of Guideline Recommendations and of the Risks of the Side Effects of Medication

Zitierweise

Betsch T: The subjective understanding of guideline recommendations and of the risks of the side effects of medication. Dtsch Arztebl Int 2013;

110(40): 661–2. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0661

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The English version of this article is available online:

www.aerzteblatt-international.de

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