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Archiv "Provinz Diyarbakir - Osttürkei: Medizin unter Kriegsbedingungen" (22.05.1998)

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iyarbakir gilt als „heimliche Hauptstadt“

Kurdistans. Die Stadt, gegründet von Assyrern und Hethi- tern, liegt auf fruchtba- ren Böden in der Tigris- ebene. Vor zehn Jahren hatte Diyarbakir noch etwa 350 000 Einwoh- ner, heute schwanken die Angaben zwischen einer und 1,5 Millionen.

Zahlreiche Flüchtlinge

haben hier nach der Zwangsvertrei- bung aus ihren Dörfern durch das Mi- litär eine Bleibe gefunden. Die Stadt macht einen bedrückenden Eindruck:

viele baufällige Häuser, kaputte Straßen auch in den sogenannten bes- seren Vierteln und ein breiter Gürtel von Gecekondus, Elendsunterkünf- ten, über Nacht gebaut, mit Straßen aus Matsch und Müll und Kindern, die in den Rinnsalen spielen.

Vor allem die gesundheitliche Versorgung stellt ein großes Problem dar, nicht nur in der Stadt selbst, son- dern in der ganzen Provinz. Der Vorsitzende der Ärztekammer Diyar- bakir, Dr. Necdet Ipekyüz, beschreibt die Situation so: „Zwischen 1950 und 1960 gab es in der Türkei große Kam- pagnen gegen die wichtigsten Infek- tionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, Trachom. Es gelang uns, die- se Krankheiten auszurotten. Heute sind wir wieder da, wo wir angefangen haben: 1991 registrierten wir in der Provinz Diyarbakir 1 879 Fälle von Malaria, 1994 waren es 32 074 und 1995 bereits 26 916 in den ersten drei Monaten des Jahres.“

Die Ursache dafür ist nach Ansicht von Ipekyüz der große Flüchtlingsstrom, den die Stadt in den vergan- genen 14 Jahren der mi- litärischen Auseinan- dersetzungen bewälti- gen mußte. Die Stadt sei so rasant gewach- sen, daß es in weiten Teilen weder eine funk- tionstüchtige Kanalisa- tion noch eine regel- mäßige Müllabfuhr ge- be. Die Elendsviertel

seien Nester für die Mücken. Dort herrschten im Sommer oft Tempera- turen zwischen 40 und 45 Grad. Hinzu kämen Armut, schlechte Ernährung, unsauberes Trinkwasser, fehlende Toiletten. Auch die Typhuserkran- kungen seien wieder angestiegen – von 3 367 Fällen 1991 auf 8 789 Fälle in den ersten fünf Monaten 1995. Wei- tere häufige Infektionskrankheiten seien Amöbenruhr, Brucellose und das Trachom, das am häufigsten in Sanliurfa auftrete. Allein 1994 wur- den dort 39 760 Fälle registriert.

Obwohl die Bevölkerung Diyar- bakirs enorm angewachsen ist, muß- ten viele staatliche Ambulanzen, die kostenlose medizinische Untersu- chungen für die ärmere Bevölkerung durchführen, aus Personalmangel schließen. Von ehemals 67 Ambulan- zen sind 13 übriggeblieben, die rund eine Million Menschen versorgen.

Grund für den Personalmangel sind häufig politisch motivierte Versetzun- gen: Meist müssen Ärzte oder Kran- kenpflegepersonal die Region verlas- sen, weil sie Verwundete behandelt

haben, die angeblich der PKK angehören.

Die Ärztekammer Diyarbakir hat Anfang 1998 gemeinsam mit der Türkischen Men- schenrechtsstiftung ein Symposium zum The- ma „Begutachtung von Opfern von Menschen- rechtsverletzungen“

veranstaltet. Dort wur- de die Notwendigkeit betont, nach Folterun- gen ein medizinisches Gutachten zu erstellen. Vor allem jun- ge Ärzte und Ärztinnen, Angestellte eines staatlichen Krankenhauses, be- richteten von ihrer Hilflosigkeit ge- genüber dem System: „In meinem letzten Dienst kam ein 14jähriger Jun- ge zu mir, begleitet von zwei Militär- polizisten. Ich sollte bescheinigen, daß nichts passiert war. Zuerst wollte der Junge sich nicht untersuchen las- sen. Nachdem ich sein Vertrauen ge- wonnen hatte und nach der Untersu- chung eine Hodenquetschung und Verletzungen an den Fußsohlen wie nach Bastonade bescheinigen wollte, stürmten die Polizisten zu mir und ris- sen mir das Attest aus der Hand. Was sollen wir Ärzte in einer solchen Si- tuation tun?“ Eine Ärztin erinnerte:

„Wie sollen wir gemäß unserem Eid arbeiten, wenn so mancher von uns drei Jahre dafür ins Gefängnis ging, daß einer seiner Patienten Mitglied ei- ner terroristischen Vereinigung ist?“

Trotz dieser Ängste und Nöte wird die Menschenrechtsstiftung ver- suchen, ein Behandlungszentrum für Folteropfer auch in Diyarbakir zu eröffnen. Die Behand- lungszentren in Istan- bul, Izmir, Ankara und Adana arbeiten trotz Einschüchterungsver- suchen von seiten des Staates weiter. Sowohl die relativ große Zahl ehrenamtlich tätiger Ärzte vor Ort als auch die internationale Un- terstützung haben den Zentren bisher zu Er- folg verholfen.

Angelika Claussen, Vorstandsmitglied der IPPNW

A-1301 Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 21, 22. Mai 1998 (37)

T H E M E N D E R Z E I T BLICK INS AUSLAND

Provinz Diyarbakir – Osttürkei

Medizin unter

Kriegsbedingungen

Der Konflikt zwischen staatlichen

Sicherheitskräften und der PKK hat sich verheerend auf die Gesundheitsversorgung ausgewirkt.

D

Eines der Elendsviertel der Flüchtlinge befindet sich am Fuße der Stadtmauer von Diyarbakir.

Foto: Angelika Claussen

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