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Zur Entstehung Einleitung

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Academic year: 2022

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https://doi.org/10.1515/9783110629378-001

Einleitung

Zur Entstehung

„Die leichte Form, die mir nun einmal eigen ist, täuscht oft darüber hinweg, daß ich es bitter ernst meine, in dem was ich sage und berichte“,1 schreibt Sammy Gronemann (1875–1952) in seinen Erinnerungen eines Optimisten.2 Immer wieder kommt er darin auf Anekdoten zu sprechen, die er „verwertet“ habe in seinem Roman Tohuwabohu, auf den sich diese Aussage bezieht und „in dem sich über- haupt kaum eine Episode befindet, die nicht auf tatsächliche Vorgänge“ zurück- gehe.3

Seinen Erinnerungen zufolge hatte Gronemann als deutscher Soldat in der Presseabteilung Ober-Ost in Kowno „eines Tages“ im Jahre 1916 jenen Anfangs- satz „hingeschrieben“, aus dem sich sein literarisches Erfolgsdebut Tohuwabohu chaotisch und in „labyrinthischen Irrgängen“ entwickelte:4 „Berl Weinstein hatte sich wieder einmal taufen lassen, und diesmal mit besonderem Erfolg.“ Wie jeder Witz verweist auch dieser auf einen ernsten Hintergrund. Hier ist es die Praxis des sogenannten „Shmaddgeld“5 – Geld, mit denen Juden zur Taufe gelockt wurden, und das sich hier ein osteuropäischer Jude auf findige Art und Weise zu Nutzen macht.

Tohuwabohu entstand somit spontan aus einem Witz und entwickelte sich intuitiv: „Mir scheint, ich schreibe gar nicht, sondern irgend etwas anderes oder ein anderer schreibt durch mich. Jedenfalls ein seltsames Gespenst, das gerade meine Handschrift bevorzugt“, berichtet Gronemann seiner Frau Sonja in einem

1 Sammy Gronemann: Erinnerungen an meine Jahre in Berlin. Hg. Joachim Schlör. Berlin 2004, Kap. XXXIV, 275.

2 Entstanden sind diese Erinnerungen in den 1940er Jahren in Tel Aviv, wo 1946 der erste Band in hebräischer Übersetzung unter dem Titel Erinnerungen eines Jeckes, also eines deutschspra- chigen Juden erschien. In dt. Originalsprache wurden sie erst 2002 und 2004, in zwei Bänden von Joachim Schlör herausgegeben. Idem.: Erinnerungen. Hg. Joachim Schlör. Berlin 2002. Vgl. Idem:

Erinnerungen eines Optimisten. Jedioth Chadashoth (23. 4. 1948 – 25. 3. 1949); Idem.: לש תונורכז הקי [Erinnerungen eines Jecken]. Übers. Dov Sadan. Tel Aviv 1946.

3 Idem., Erinnerungen, Kap. V, 58.

4 Idem., Erinnerungen an meine Jahre, Kap. XXXIV, 277.

5 Jidd. Kompositum aus dt. „Geld“ und hebr. „shamad“ (דמש), d.  h. „vernichten“. Im Jiddischen bezeichnet das Nomen „Schmad“ und das Verb „schmadden“ respektive Charakter und Akt des Übertritts zu nichtjüdischer Religionspraxis. Abraham Tendlau: Sprichwörter und Redensarten deutsch-jüdischer Vorzeit. Berlin 1934 (1860), 111. Vgl.: „Ein Meschummed!! […] ein Abtrünniger, der den Glauben seiner Väter, der sein Volk verraten und verlassen hatte.“ Unten, S. 253. Dank an Jakob Hessing für seinen Hinweis auf diese Praxis.

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VIII  Einleitung

Brief vom 16. Dezember 1916, und fährt fort: „Aber es ist so. Es geht rascher, als ich denke, und ich lese mit Staunen und wie etwas ganz Neues, was ich eben geschrieben habe …“.6 Ende Dezember dann, mitten im Ersten Weltkrieg, bekam Gronemann Urlaub nach Berlin. Dort las er in „intimen Kreise bei uns zu Hause die damals vollendeten ersten fünf Abschnitte“ vor und

war über die günstige Aufnahme, die sie fanden, sehr erfreut. Freilich muß ich gestehen, daß ich mir die Zuhörerschaft dadurch geneigt gemacht hatte, daß ich einen Karton Würst- chen  – damals eine unerhörte Delikatesse in Berlin  – mitgebracht hatte, deren Genuß während der Vorlesungspause sicher stimmungshebend war.7

Gronemann hatte ideale Bedingungen für das Verfassen seines Romans vorgefun- den, als er infolge des Separatfriedens von Brest-Litowsk (März 1918) von der Ost- an die Westfront versetzt wurde, wo er „in Brüssel, in dem netten Gartenhäuschen hinter der Pressestelle“ nun „alle Gelegenheit“ hatte, sich „in Muße der Arbeit an meinem ‚Tohuwabohu‘ zu widmen.“8 Seine amtliche Tätigkeit nahm nur wenig Zeit in Anspruch und so traf er sich auch regelmäßig mit Carl Sternheim, Grone- mann zufolge der „bedeutendste Satiriker und Komödienschreiber seiner Zeit.“9 Aus ihren gemeinsamen „täglichen Spaziergängen“ schöpfte Gronemann „viel Anregung“ und kehrte schließlich am Ende des Krieges, vom „Bazillus poeticus“

infiziert, heim – ein Heim, das sich damals noch in Berlin befand.10 Gronemanns literarische „Krankheit“, wie er seinen Roman bezeichnete, war „in ein ernsteres Stadium“ getreten:11 1920 wurde Tohuwabohu im Welt-Verlag veröffentlicht und sofort ein Bestseller, der kontroverse Reaktionen auslöste (s. Anhang).

Zwischen Gronemanns Tohuwabohu und seinen Erinnerungen eines Opti- misten liegen dreißig Jahre deutscher und jüdischer Geschichte. Diese sind vom Standpunkt heutiger Leser vor allem durch die Shoah geprägt. In der Tat wollte Gronemann seine Zeitgenossen humorvoll vor pogrom-ähnlichen Entwicklungen warnen — mit seinem Roman Tohuwabohu, der nur zum gespielten Erstaunen seines Verfassers „vielfach als ein humoristisches Werk angesehen“ wurde.12 Denn Gronemann sah den Juden als einen „unverbesserlichen Optimisten“:

6 Gronemann, Erinnerungen an meine Jahre, Kap. XXXIV, 277.

7 Ibid.

8 Ibid., Kap. XXXVII, 304.

9 Ibid., 308.

10 Zum Einfluss der Urbanität auf Gronemann, Joachim Schlör: Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938. Göttingen 2005, 110, 419  f.

11 Gronemann, Erinnerungen an meine Jahre, Kap. XXXIV, 275.

12 Ibid.

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Einleitung  IX

Auch im schlimmsten Fall – egal, was passiert – sagt er: „Auch dies ist zum Guten.“ Er ver- tritt jene Weltanschauung, die man im Deutschen mit „Wenn Schon“ bezeichnet. Um diese Weltanschauung zu verteidigen bedient er sich der Waffe des Witzes. Doch seinem Humor und Witz wird nie der tragische Hintergrund fehlen.13

Diese Ausgabe hat es sich daher zum Ziel gesetzt, Tohuwabohu als mehrschichti- ges, historisches Dokument lesbar zu machen. Sie will, nebst seinem Witz, auch dessen „tragischen Hintergrund“ erläutern, der in der zeitgenössischen Rezep- tion von der Würdigung des Romans als literarische, weil satirische Besonderheit des deutschen Zionismus überlagert wurde. „Von diesem klugen Buch kommt keiner los, der es nur aufblättert“, schrieb beispielsweise der Zionist Theodor Zlocisti 1920 in seiner Rezension von Tohuwabohu: „Ein Sprühfeuer von Witz, Spott und überlegenem Geist empfängt uns und jähe Lichter erhellen — schmerz- haft grell! — die dunkle Seele eines durcheinandergewirbelten Volkes, über das nur lächeln kann, wer es aufrichtig beweint.“14 Ein Lachen unter Tränen also,15 oder – so sah es Gronemann – ein sich unter Lachen verschleierndes Weinen und darüber hinweghelfendes Augenzwinkern.

Zum Inhalt

Die Handlung des satirischen Romans beginnt im Frühjahr 1903 im fiktiven, bei Wilna gelegenen Ort Borytschew mit einer Diskussion zwischen dem geset- zestreuen Jossel Schlenker und der scharfsinnigen Chane Weinstein über die religiösen Bestimmungen zum Schabbat. Dabei erweist sich Jossels halachisch begründete Argumentation Chanes Witz und Ironie gegenüber als unterlegen. In der Folge verlieben sich Jossel und Chane, heiraten und siedeln nach Berlin über, um mittels des Universitätsstudiums ihrem Freiheits- und Wissensdrang zu folgen sowie der beengenden Lebenswelt des östlichen Europa, nicht aber der jüdischen Tradition zu entfliehen. Anhand von Jossels und Chanes Erlebnissen zeichnet

13 Sammy Gronemann: „ידוהיה לש רומוההו החידבה [Jüdischer Witz und Humor]“. Bamah 45 (1945), 37.

14 Theodor Zlocisti: „Das juedische Chaos (Tohuwabohu)“. Ost und West 7–8 (Juli 1920), 199.

15 Ein Topos der Gronemann-Rezeption, das als Merkmal des jiddischen Autors Schalom Alei- chem gilt, und hier – im Jahre 1920 – schon vorwegnimmt, dass Gronemann später als „Schalom Aleichem der Jeckes“ in die Geschichtsschreibung eingehen wird. Angedeutet wird dabei auch eine Fortsetzung osteuropäisch-jüdischer literarischer Traditionen in der deutschen Literatur an- hand von Gronemanns Werken. Vgl. Theodor Weisselberger: „Sammy Gronemann zum Gruss“.

Ostjüdische Zeitung (31. 5. 1936), 1. Schalom Ben-Chorin: „Der Schalom Alejchem der Jeckes Zu Sammy Gronemanns 25. Todestag“. Mitteilungsblatt des „Irgun Olei Merkas Europa“ 9 (4. 3. 1977).

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X  Einleitung

Gronemann ein ebenso schillerndes wie humorvolles Porträt jüdischen Lebens in Berlin, ein Kaleidoskop grotesker Verzerrungen der jüdischen Tradition infolge der Emanzipation – ein striktes Festhalten an rigiden religiösen Vorschriften auf der einen und Abfall vom Judentum durch Assimilation und Konversion zum Christentum auf der anderen Seite. Das von Jossel verkörperte jüdische Leben im östlichen Europa wird dabei als natürliches Gleichmaß präsentiert, an dem die Lebensformen deutscher Juden satirisch kontrastiert werden.

In Berlin lernt Jossel seinen Großcousin Heinz Lehnsen kennen, der in dessen Familie die zweite Generation von Konvertiten vertritt. Er lädt Heinz nach Bory- tschew ein, wo dieser zum ersten Mal das Pessachfest erlebt. Als beim rituellen Sederabend die Haustür symbolisch für den Propheten Elija geöffnet wird, nähert sich der Lärm eines Pogroms. Heinz versteht, dass Selbstwehr und politisches Handeln nötig sind. Sein Selbst- und Weltbild werden nachhaltig erschüttert.

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland verdrängt er diese Erfahrung und wähnt sich in Sicherheit. Zur Zerstreuung reist er nach Baden-Baden. Im selben Zug befinden sich Jossel und Chane, die Heinz jedoch meidet. Während sich Heinz auf dem Weg zu einem Pferderennen mit trivialen Fragen beschäftigt, reisen Jossel und Chane zum sechsten Zionistenkongress nach Basel. Mit diesem indirekten Ausblick auf die Verwirklichung des modernen Judenstaats schließt der Roman.

Zur vorliegenden Ausgabe

„Kunstwerk?“ fragt Zlocisti in seiner Rezension von Gronemanns Tohuwabohu und gibt sich selbst Antwort:

Gronemanns Tohuwabohu ist ein Dokument; ein Querschnitt durch die neujüdische Kultur- geschichte, durch den die Schichtungsbedingungen und Lagerungsverhältnisse nach einer katastrophalen seelischen Revolution sichtbar werden. Spätere Historiker werden dieses scheinbar so heitere Buch würdigen. Ob sie alle Pointen, Anspielungen, Beziehungen auch verstehen werden?16

Die Frage ist auch an uns heutige Leser gerichtet. Zlocisti konnte nicht ahnen, durch welche weiteren Schichten der deutsch-jüdischen Geschichte und der sie beinahe vollständig zerstörenden Katastrophe spätere Leser und Historiker sich arbeiten müssen, um sich dem von Gronemann beschriebenen Tohuwabohu zu nähern. Dabei fällt es schwer, Gronemanns noch im Jahre 1945 ausdrücklich geäu- ßerten Optimismus zu teilen, dass auch der „schlimmste Fall – egal, was pas-

16 Zlocisti, Das juedische Chaos (Tohuwabohu), 199.

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Einleitung  XI

siert“ — „zum Guten“ sei.17 Das heutige Wissen um den im Zweiten Weltkrieg und in der Shoah erfolgten Zivilisationsbruch überlagert dabei auch unseren Blick auf die apokalyptische Bedeutung, die der Erste Weltkrieg für seine Generation hatte.

Es bedingt unser Wissen über die kulturellen Leistungen deutscher Juden vor 1933 und beeinflusst die Bewertung vereinzelter Ansätze zum deutsch-jüdischen Dialog. In dieser Ausgabe soll daher versucht werden, den Kontext dieses Romans und die Lebensgeschichte seines Autors aus ihrer Zeit heraus zu rekonstruieren.

Wer war Sammy Gronemann, und was bewog ihn dazu, als deutscher Soldat mitten im Ersten Weltkrieg einen satirischen Roman zu schreiben? Wovon genau handelt dieser, wer steht hinter den handelnden Personen, wo sind die Schau- plätze? Und was für eine Art von Buch haben wir da vor uns: einen modernen Zeitroman, einen historischen Roman, einen Entwicklungsroman, eine zionis- tische Propagandaschrift? Oder eine liebevolle Milieustudie und humoristische Darstellung jüdischen Lebens zwischen dem fiktiven Borytschew und dem realen Berlin? Wie haben zeitgenössische Leser und Rezensenten auf diese Darstellun- gen reagiert? Welchen Stellenwert hat es sowohl in Gronemanns persönlichem Werdegang wie in der deutschsprachig-jüdischen und vielleicht sogar in der Weltliteratur? Welche Übersetzungen und Bearbeitungen liegen vor? Wie wurde die erste Neuausgabe des Romans im Jahre 2000 rezipiert? In welchen Diskursen findet die akademische Rezeption statt? Und wie steht es um die Aktualität des Buches?

Zunächst ist Tohuwabohu, aufgrund seiner Sprache und der Lebensgeschichte seines Verfassers, ein deutsches Buch. Allerdings findet man die Originalausga- ben von 1920 und den Folgejahren — insgesamt wurden 16 Tausend Exemplare gedruckt — zumeist in Antiquariaten und Bibliotheken in Tel Aviv und Jerusa- lem, wohin Gronemann-Leser sie in ihre Emigration aus dem NS-Deutschland mitgenommen hatten.18 Die vorliegende Ausgabe berücksichtigt diese doppelte Rezeption und geht davon aus, dass Tohuwabohu einen ersten zentralen Bezugs- punkt in Sammy Gronemanns Schaffen repräsentiert: eine Schnittstelle, an der biographische wie historische Zeitläufe ineinandergreifen; an der Geschichte und der persönliche Zugriff des Autors einen Text erschaffen haben, der, über den Verfasser hinaus, jüdische Phantasien über Herkunft, Gegenwart und Zukunft in einem literarischen Prisma ironisch bricht. Zwar unter hebräischem Titel, aber auf deutsch. Genauer gesagt, in einer deutschen Sprache, die tatsächlich „schön zum Heulen“ ist, wie es in einer Rezension von Karl Heinz Kramberg heißt; „schön“,

17 Gronemann, Jüdischer Witz und Humor. Vgl. Fn. 13.

18 Caroline Jessen: „Das problematische Bild der geretteten Kultur Büchersammlungen deutsch- jüdischer Einwanderer in Israel“. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 41. 2013, 179–

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XII  Einleitung

weil elegant und kunstvoll konstruiert, und „zum Heulen“, weil dieses Deutsch heute kaum noch jemand sprechen oder schreiben kann.19 Leser der vorliegenden kritischen Ausgabe werden dies unter anderem an den sprachlichen Erklärungen merken, denen eine Vielzahl der Anmerkungen gewidmet sind. Neben der Dar- stellung historischer und biographischer Bezüge, sowie unter Berücksichtigung teils unbekanntem Archivmaterials, stellen diese Kommentare einen freilich nicht erschöpfenden Versuch dar, „alle Pointen, Anspielungen, Beziehungen auch [zu]

verstehen.“20

Biographisch-Historischer Kontext

Um Tohuwabohu als historisches Dokument zu lesen, bietet sich zunächst die Skizzierung biographischer Eckpunkte aus den Lebensläufen von Sammy Grone- mann (1875–1952) und seiner Frau Sonja (1877–1936) an. Ihr widmete er seinen, im Jahre 1903 spielenden Roman. Sonja Gottesmann und Sammy Gronemann hatten sich 1901 in Bad Harzburg verlobt, ein Jahr später fand die Heirat in Breslau statt.21 Das ist bemerkenswert, denn in Gronemanns Generation heirateten nur wenige deutsche Juden in das osteuropäische Judentum ein, orthodoxe Juden nicht aus- genommen. Verantwortlich hierfür sind weitverbreitete Ressentiments, die das europäische Judentum spalteten, sowie bürokratische Hürden zwischen dem Deutschen Reich und Russland, die auch in Tohuwabohu erwähnt werden.22 Wie kam daher diese außergewöhnliche Liaison zwischen Ost und West zustande?

Sonja Zippora wurde 1877 in Schitomir in die wohlhabende orthodoxe Familie von Chaim Jeshajahu und Taube Gottesmann geboren. Die Erziehung ihrer Tochter übertrugen sie Privatlehrern, die ihr eine umfassende europäische Ausbil- dung ermöglichten. So lernte Sonja acht Sprachen, darunter fließend Hebräisch.

Ihre kranke Mutter (geb. Pines) begleitete Sonja in verschiedene Kurbäder und erlangte eine gewisse Weltgewandtheit und Vertrautheit mit den verschiedenen Kulturen Europas. Von diesen Reisen berichtete sie ihrem Bruder Leo anschaulich in hebräischen Briefen. Ihre Darstellungen übten einen solchen Reiz aus, dass, als ihr Bruder Hannover besuchte, der dortige Rabbiner Selig Gronemann erpicht

19 Karl Heinz Kramberg: Ein Hellseher. Süddeutsche Zeitung, 3. 6. 2000.

20 Zlocisti, Das juedische Chaos (Tohuwabohu), 199.

21 „Familienanzeigen: Verlobung Sonia und Sammy Gronemann“. Israelitische Rundschau (23. 8. 1901),

22 Siehe das Kapitel Posaunentöne, VI. Zur Dialektik zwischen osteuropäischen und deutschen Juden, Steven E. Aschheim: Brothers and Strangers. The East European Jew in German Jewish Consciousness 1800–1923. Madison 1982.

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Einleitung  XIII

darauf war, dieses ‚Phänomen‘ kennenzulernen. Selig aber war Sammy Grone- manns Vater. Seinem Sohn war die Braut gefunden.23

Als einer der wenigen deutschen Rabbiner hatte sich Selig Gronemann im Jahre 1897 nicht auf die Seite der sogenannten „Protestrabbiner“ gestellt, die sich öffentlich gegen die jüdische Nationalbewegung positionierten.24 Seinem Sohn Sammy (eigentlich Samuel) hatte er eine Rabbinerlaufbahn zugedacht und so folgte dem Abitur ein Jahr an der Halberstädter Klaus – ein Zentrum der Neo- Orthodoxie –, welches er im Hause des Rabbiners Josef Nobel verbrachte. Ein Jahr später, 1895, setzte Sammy Gronemann seine Talmudstudien am Rabbinersemi- nar von Esriel Hildesheimer in Berlin fort, brach sie dort aber ab; später bezeich- net er diese Lebensphase scherzhaft als „vorübergehende geistliche Störung“.25 Nach kurzem Ausflug in die Philosophie entschied sich Gronemann für ein Jura- studium, dass er 1898 erfolgreich abschloss. Darauf folgten Referendariat und 1904 das Staatsexamen.

Als Rechtsanwalt sollte Sammy Gronemann, neben anderen illustren Per- sönlichkeiten seiner Zeit, unter anderen Theodor Herzl im Prozess gegen Davis Trietsch, Achad Haam bei den Berner Prozessen und Arthur Schnitzlers Reigen erfolgreich verteidigen.26 In einer gemeinsam mit Alfred Klee, Fritz Simon und Hermann Lelewer geführten Berliner Anwaltskanzlei spezialisierte er sich auf Ehe- und Familienangelegenheiten, internationales Recht und literarisches Urhe- berrecht. So wurde er 1910 Mitbegründer und bis 1933 Syndikus des Schutzver- bandes deutscher Schriftsteller (SDS).27 Hierdurch stand er mit den wichtigsten jüdischen Künstlern und Schriftstellern seiner Zeit in Kontakt.

Im Jahre 1900 hatte Gronemann erstmals an einer zionistischen Tagung teil- genommen und daraufhin die zionistische Ortsgruppe Hannover gegründet, die er ein Jahr später als Delegierter auf dem V. Kongress repräsentierte. Fortan nahm er bis zu seinem Lebensende an allen Kongressen teil: als Delegierter und als oberster Richter des zionistischen Kongressgerichts, in dessen Funktion er von 1921 — bis zur Verweigerung der Wiederwahl im Jahre 1946 — das „konstitu tio- nelle Gewissen der zionistischen Bewegung“ verkörperte.28 Gronemann hatte

23 Miriam Scheuer u. Wera Lewin: Portraits of Three Women. Tel Aviv 194?, 15  f.

24 Theodor Herzl: „Protestrabbiner“. Die Welt 7 (16. 7. 1897).

25 Gronemann, Erinnerungen, Kap. IX, 86.

26 César Augusto Merchán-Hamann: Life and Works of Sammy Gronemann. Ph.D.-Dissertation.

University College London 2002, 79, 83.

27 Ernst Fischer: „Der „Schutzverband deutscher Schriftsteller“ (1909–1933)“. Archiv für Ge- schichte des Buchwesens. Hg. Bertold Hack, Reinhard Wittmann u. Marietta Kleiss. Frankfurt a. M.

1980, 34, 39, 74, 89, 102, 144, 264, 457, 479, 483, 595, 616.

28 Moshe Gottesmann: „״והובו והות״ ךותב ונכירדמ ןמנורג ימס [Sammy Gronemann führt uns im

‚Tohuwabohu‘]“. Haboker (15. 4. 1938), 7.

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XIV  Einleitung

1911 auch die Institution des zionistischen Ehrengerichts initiiert,29 das er bis 1933 leitete;30 er gilt als Begründer einer „Tradition der zionistischen Justiz“.31

Diese Angaben deuten auf einen voll ausgelasteten, unermüdlich arbei- tenden Advokaten, Delegierten und Literaten, der in Folge seines literarischen Durchbruchs mit Tohuwabohu eine vielversprechende, dann vom Nazismus unterbrochene Laufbahn vor sich hatte; — sie wird in den Folgebänden von Gro- nemanns Gesamtausgabe noch ausführlicher dokumentiert. Als sich die Lage der Anwaltskanzlei in Folge der Wirtschaftskrise von 1929 verschlechterte, speku- lierte Gronemann mit dem Gedanken, der Erfolg von Tohuwabohu lasse sich mit einem neuen Roman wiederholen. Dieser sollte 1932 bei Kiepenheuer erscheinen und sein Profit das Überleben der Kanzlei sichern. Auf der Suche nach ähnlich kreativem Freiraum wie seinerzeit als deutscher Soldat — als er nurmehr mit der Redaktion eines kuriosen Sieben-Sprachen-Wörterbuches beauftragt war32 — ver- suchte Gronemann deshalb, die Kanzleiarbeit einzuschränken und im Alter von 55 Jahren eine neue Karriere als freier Schriftsteller zu beginnen.33

Doch dann kam der sogenannte Arierparagraph vom 7. 4. 1933 und Grone- mann musste seine Advokatentätigkeit in Deutschland einstellen. Er floh nach Paris, mit der Begründung: „Das Gefühl Bürger zweiten Ranges und in Deutsch- land unerwünscht zu sein, raubt mir jede Arbeitskraft.“34 In Paris engagierte er sich in der Flüchtlingsarbeit, sowie in der Neuorganisation zionistischer Ver- bände; er übernahm den Vorsitz für das Comité Allemand35 und gründete 1934 die Pariser zionistische Ortsgruppe Ost und West.36 Zwischen 1934 und 1937 war er

29 Sammy Gronemann u. Emil Margulies-Leitmeritz: „Statut des zionistischen Ehrengerichts“.

Die Welt 23 (7. 6. 1912).

30 Merchán-Hamann, Life and Works, 55  f.

31 Anonym: „Gronemann nimmt Abschied“. Jedioth Chadashoth 4 (24. 1. 1947).

32 Sammy Gronemann: Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916–1918. Kronberg im Taunus 1984, 111.

33 In einem Brief an Alfred Klee vom 7. 4. 1931 macht Gronemann Vorschläge, wie er sich von der Kanzlei eine Teilzeitbefreiung verschaffen wollte, auch mit Hinblick auf deren „katastrophale Lage“, die er hoffte, durch Einnahmen aus dem Verkauf seines Romans aufzubessern. Als „abso- lute Grundbedingung“ gibt Gronemann die Einwilligung der Sozietät, d.  h. der Kanzleimitglieder an: Er wolle ohne „geringstes materielles Risiko“ für das Büro vorgehen und die entzogene Ar- beitskraft mit dem Gewinn aus seinem Roman ausgleichen. Ein längerer Urlaub käme aber nicht in Frage, er könne nicht verreisen, auch weil sein längeres Fortbleiben nicht gut für das Büro wäre, „und schliesslich gibt es da noch psychologische Momente, die ich jetzt nicht auseinan- dersetzen mag.“ Central Zionist Archives (CZA), Sign. A142/59/3b.

34 Akte des Oberfinanzpräsidents der Devisenstelle: „Sammy Gronemann“ (Staatsarchiv Pots- dam, Rep. 36A, A1384, 1934). Vgl. GGA, Bd. 1, 77, Fn. 22.

35 Merchán-Hamann, Life and Works, 90.

36 Am 24. November. Zu den regelmäßigen Treffen, Pariser Tageblatt, 21., 23., 24. 11. 1934.

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Einleitung  XV

alljährlich mehrfach für den Jüdischen Nationalfond (KKL) und den Gründungs- fond (KH) in Europa unterwegs.37

Erst in Folge seiner Immigration nach Palästina im Jahre 1936 fand, diesmal gezwungenermaßen und ohne Aussicht auf finanziellen Erfolg, Gronemanns Ver- wandlung in einen freiberuflichen Schriftsteller statt. In Mandatspalästina hatte er im Alter von 61 Jahren keine Aussicht, noch auf das britische juridische System umzulernen. So fand er gezwungenermaßen Zeit und Muße nicht nur seine Erin- nerungen, sondern auch seine Dramen zu schreiben, darunter die bislang erfolg- reichste Komödie des israelischen Theaters (Der Weise und der Narr).38 Grone- manns Dramen und seinem einzigen Roman Tohuwabohu gemeinsam sind unter anderem die für jene Zeit unkonventionellen Frauencharaktere, die als gleichwer- tige Schlüsselfiguren teils Erlöserrollen übernehmen, die traditionell Männern vorbehalten waren.39 Der Einfluss jener außergewöhnlichen Frau, die Sonja Gro- nemann war, auf die Darstellungen ihres Mannes, liegt nahe.

Während sich Sammy für die nationale Gleichberechtigung der Juden in der Welt einsetzte, engagierte sich Sonja für die Emanzipation der Frau im Zionis- mus. Indes, Informationen über Sonjas Werdegang sind spärlich. Im Jahre 1907 gründete sie zusammen mit Betty Leszynsky den Kulturverband für Frauenarbeit in Palästina — die erste internationale, zionistische Frauenvereinigung mit Sitz in Berlin, der als Ehrenpräsidentin Anna Warburg (ihr Mann Otto Warburg war Präsident des Zionistischen Kongresses von 1911–20) vorstand. Ziel des Verbandes war die praktische und nicht nur statuarische Gleichberechtigung der jüdischen Frau. Im Jahre 1919 – ein Jahr vor Erscheinen Tohuwabohus – schlägt daher Sonja dem zionistischen Kongress ein Erziehungsprogramm vor, das Frauen nicht nur aktiv auf die Kolonialisierungsarbeit in Palästina vorbereiten, sondern auch als Träger der staatlichen Gemeinschaft ausbilden sollte. Die Rolle der Frau, die im Judentum doch als „das Haus“ schlechthin bezeichnet werde, so Sonjas Kritik, sei im Rahmen der Errichtung einer nationalen Heimstätte nicht hoch genug bewertet worden. Um diese Benachteiligung der Frau im Zionismus zu korrigieren, schlug sie daher eine Reihe von Förderungsprojekten vor: Kindergärten, Hygieneerzie- hung, Fortbildungs-, Gewerbe- und Haushaltsschulen, sowie landwirtschaftliche Frauenschulen, ähnlich der Kinnereth-Farm des Verbandes, die lange Zeit als ein- zigartig und vorbildhaft für den praktischen Zionismus galt. Ihre konstruktive,

37 Kap. 1.3.2. in Jan Kühne: Die zionistische Komödie im Drama Sammy Gronemanns. Über Ur- sprünge und Eigenarten einer latenten Gattung [i. Ersch.]. Berlin/Boston 2019.

38 Sammy Gronemann: Gesammelte Dramen. Gronemann Kritische Gesamtausgabe. Bd. 1. Hg.

Jan Kühne. Berlin/Boston 2018, 145–95.

39 Siehe die Besprechung von Gronemanns Drama Die Königin von Saba in Kap. 3.5.5., in Kühne, Die zionistische Komödie.

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XVI  Einleitung

in der Jüdischen Rundschau veröffentlichte Kritik fasst Sonja schließlich mit dem Argument zusammen:

Es gibt eben kein Gebiet, auf dem die Frauen ausgeschaltet werden können. Sie sind die Säulen des Hauses, die Erzieherinnen der Kinder. Sie halten Gegenwart und Zukunft zugleich in den Händen. Wer an diesen Problemen vorbeigeht, zeigt, daß er nicht reif ist für gesunde Volkspolitik. Ich kann unseren Männern den Vorwurf nicht ersparen, daß sie da vieles nicht mit dem nötigen Ernst erfaßt haben.40

Als überzeugte Zionistin sah Sonja eine gesicherte jüdische Zukunft ausschließ- lich in Palästina. Ähnlich wie Sammy nahm sie dabei das Haupthindernis — die inneren Spaltungen des Judentums — ironisch wahr: „Es scheint, als ob die Zer- störung zweiter Tempel nicht genug war. Beim dritten [d.  h. der Judenstaat] fängt das innere Zerwürfnis schon beim Aufbau an. Was sind wir doch für ein merkwür- diges Volk! … Es kann sogar passieren, dass wir zwar das Land kriegen, aber kein Volk mehr haben.“41 Sonjas satirische Ader tritt noch an anderer Stelle hervor, als sie, jenseits von zionistischem Pathos und lachrymoser Darstellung der jüdischen Geschichte über die Ereignisse von 1933 anmerkt: „Es ist schon seltsam, dass die Juden trotz der häufigen Unglücke, die ihnen widerfahren, auf solche Katastro- phen nie richtig vorbereitet scheinen … Warum nur? Und diese hat sich doch von Anfang an ganz unverhohlen angekündigt. Sind wir wirklich so ein cleveres Volk?

Auf jeden Fall sind wir überbewertet!“42

Ihre Beobachtung hatte Sonja bereits im Jahre 1905 machen können, als sie den Pogrom von Schitomir überlebte. Gemeinsam war sie mit Sammy in ihre Heimatstadt Schitomir in Wolhynien gereist, um dort das Pessach-Fest mit ihren Eltern zu verbringen. Die Familie lebte in ständiger Erwartung des Gewaltaus- bruchs und eine Selbstwehr hatte sich gebildet. Man verbrachte die Zeit der Erin- nerung an den Auszug aus Ägypten in großer Anspannung.43 Für einen Moment schien der Pogrom „abgeblasen“, schreibt Gronemann, für den klar war, „daß hinter der Pogrombewegung die Regierung steht“.44 Er fuhr also über die Halb-

40 Sonja Gronemann: „Frauenarbeit in Palästina Referentin Frau Dr. S. Gronemann“. Volk und Land: Jüdische Wochenschrift für Politik, Wirtschaft und Palästina-Arbeit 1.25/26 (1919), 789.

41 „It seems as if two destructions of the Temple have not been enough. With the third [d.  h.

der Judenstaat], the very process of building gives cause to internal strife. What an odd people we are! … It may even happen that we get the land — and may not have the people.“ Scheuer u.

Lewin, Portraits, 20. Alle Übersetzungen sind, falls nicht anders vermerkt, von Jan Kühne.

42 „It is strange that the Jews despite the frequent calamities which befall them, seem never properly prepared for these catastrophe … Why is that so? This one declared itself most openly beforehand. Are we really a clever people? We are certainly overrated!“ Ibid.

43 Kap. XXVIII in Gronemann, Erinnerungen.

44 S. 129, Fn. 13.

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Einleitung  XVII

feiertage zu seinen Eltern nach Hannover, Sonja aber blieb in Schitomir. Er nahm die Route über Berlin, sah noch Max Reinhardts Inszenierung des „Som- mernachtstraums“, um dann am anderen Morgen aus der Zeitung zu erfahren, dass die Gewalt doch in Form eines Pogroms ausgebrochen war. Drei Tage lang eskalierten die politisch orchestrierten Aggressionen gegen Juden und machten selbst vor Menschenleben nicht Halt. Endlich erhält Sammy ein Lebenszeichen von Sonja – ein Brief, der die Vorgänge „überaus lebendig“ schildert und daher im Hannoveraner Anzeiger sowie im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde.45 Knapp ein Jahrzehnt später inszeniert Gronemann den dramatischen Höhepunkt seines Tohuwabohu nach diesen Schilderungen in Sonjas Brief, der hier daher — zur Einführung des Romans — erstmals neu veröffentlicht wird.46

Die Exzesse in Schitomir (Brief von Sonja Gronemann)

Schitomir, 26. April (9. Mai) [1905].47 Mein l.[ieber] S.[ammy], heute Morgen habe ich in meiner Aufregung nicht viel schreiben können. Jetzt will ich Dir in etwas ruhigerer Verfassung — wenn man von Ruhe überhaupt sprechen kann — die Vorgänge schildern. Es begann am Sonnabend gegen 7 Uhr Abends. Schon den Tag vorher gingen Gerüchte um, am Freitag werde man die Juden schlagen. Es schien aber noch keine Veranlassung vorgelegen zu haben. Am Sonnabend war sie endlich gefunden. Es begann mit Steinewerfen nach einem Kahn, in dem jüdische Jungen saßen. Die Jungen feu- erten in ihrer Angst einen Schuß in die Luft ab und wollten flüchten. Die Bauern liefen hinterher, und auf dem Pawlikowkaberge entspann sich der Kampf. Das Gerücht vom Kampfe verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt und eine tausendköpfige Menge wogte durch die Stadt, und eine tausendköpfige Menge wogte durch die Straßen nach dem Schreckensorte hin. Aber das heranrückende Militär und die Polizei versperrten den Weg und ließen die Menge nicht vordrin- gen. Die Bauern warfen ungestört Steine, die ihnen ihre Frauen in Körben her- antrugen, nach den Häusern der Juden und verwundeten viele Leute. Die her- ansprengenden Kosaken zertraten einen armen Judenjungen mit ihren Pferden

45 Ibid., 285.

46 Zugrunde liegt die Veröffentlichung des Briefes im Hannoveraner Anzeiger, wie sie im Ber- liner Tageblatt erschien. Sonja Gronemann: „Die Exzesse in Schitomir“. Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung (17. 5. 1905), 2.

47 Der Brief ist nach dem russischen und dem deutschen Kalender datiert.

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XVIII  Einleitung

und verwundeten tödlich einen alten Juden, dann sahen sie zu, wie die Bauern Steine nach den Juden warfen und sorgten dafür, daß sie nicht gestört wurden.

Der Polizeikommissar Jarotzki rief laut und ungeniert: „Schlagt die Juden! Ihr werdet keine Verantwortung tragen!“ Die Juden wurden zurückgedrängt, und das Militär postierte sich zwischen den beiden Parteien, das Gesicht und die Flinten nach den Juden gerichtet. Der Polizeimeister kam und ließ 50 Bauern abführen, nachdem er ihnen versprochen hatte, sie den nächsten Tag gleich freizugeben.

Dies Versprechen hat er auch gut gehalten: den nächsten Tag konnten sie mit ihrer „Arbeit“ ungehindert fortfahren.

Am anderen Tage hatten sich wieder zwei Lager gebildet: Die Juden auf der einen, das Militär und die Bauern auf der anderen Seite. Plötzlich — es war gegen 7 Uhr Abends — hieß es, der Polizeikommissar Kujanow, der Hauptaufwiegler, sei erschossen. Sein eigener Schriftführer, ein Christ, hatte ihn in der Kiewstraße vor dem Hotel de Rome niedergeknallt. Der Mörder wurde durch einen Juden festge- nommen und sofort abgeführt. Die Nachricht gab den Anstoß. Auf dem Domplatz trat ein christlicher Student vor und bat das Volk, sich zu zerstreuen. Er appel- lierte an ihr menschliches Gefühl, sagte, Juden seien doch auch Menschen und hätten doch nichts Böses getan. Er wurde auf der Stelle niedergehauen. Dann riß man einen Juden von der Straßenbahn herunter und schlug ihn vor den Augen der Soldaten und der Polizei tot. Und nun begann das Morden. Auf dem Podol schlug man zwölf Leute tot, zwölf hoffnungsvolle, junge Leute, verwundete schwer an sechzig Leute und zerstörte alles, was man fand. Wer weiß, wie es jetzt um unsere Stadt gestanden hätte, wenn die Juden nichts selbst zu den Waffen gegriffen hätten, um ihr Gut und Blut zu verteidigen. An manchen Stellen leisteten sie ver- zweifelten Widerstand, und nur die teilweise unvollkommene Organisation und der Mangel an Munition ließ sie schließlich ihren an Zahl und Stärke weit über- legenen Feinden unterliegen. Und die Soldaten und die Polizei sahen zu — sie blieben sogar nicht untätig, sondern rissen Steine aus dem Pflaster und warfen sie nach den Juden. Und der Gouverneur hatte nur die eine Antwort: „Ich habe alles getan, was ich konnte.“ Am Morgen gab es keine Droschken, um die Toten und Verwundeten fortzubringen, und Studenten liehen sich Privatwagen und verkleideten sich als Kutscher, um den Gefallenen den letzten Dienst zu erwei- sen. Der Anblick der Getöteten und Verwundeten soll erschreckend sein, und wer sie einmal gesehen hat, vergißt sie im Leben nicht. Manche wurden mitten auf der Straße hinterrücks erstochen. Im Spital liegen viele im Sterben, mit entstell- ten, zerschmetterten Gesichtern und Gliedern. Manche haben mehrere Wunden davongetragen und waren gleich tot. Unter den Leichen befindet sich auch die eines 14jährigen Jungen. Den Kopf auf die Seite gebeugt, liegt er da – ein Bild der Unschuld. Das Spital ist überfüllt und kann die Ausgaben nicht bestreiten. Es mangelt an Wäsche und Betten.

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Einleitung  XIX

Die ungestümen Forderungen der beraubten und zu Tode gehetzten Juden haben schließlich Montag eine Kommission zusammentreten lassen, um Maßre- geln gegen die herrschenden Greueltaten zu ergreifen. Viele Christen, Stadtver- ordnete, Ärzte u.s.w., sprachen ihre Entrüstung aus, und die ganze Versammlung begab sich zum Gouverneur, um Rechenschaft von ihm zu verlangen. Auf den Straßen flüchteten sich die Bauern vor der anrückenden stattlichen Menge. Ein christlicher Stadtrat namens Sagurski rief dem Gouverneur entrüstet zu: „Bei einer politischen Demonstration hätten Sie genug Leute gefunden, um die Menge zu zerstreuen, und nun, wo Leute in den Straßen gemordet werden, finden Sie keine Mittel zu Rettung!“ Das Ergebnis dieses Ganges war, daß der Gouverneur eine Bekanntmachung erließ, wonach jeder Mensch arretiert werden sollte, der es versuchen würde, eine Menge um sich zu versammeln. Aber noch immer bekamen die Soldaten keinen Befehl, zu schießen. Es hieß, man warte auf einen Befehl aus Petersburg!

Inzwischen flüchteten Frauen und Kinder aus der Stadt und drückten sich auf dem Bahnhof beinahe tot. Mehrere Züge gingen vollgestopft täglich ab, und die Leute waren glücklich, wenn sie lebendig auf den Bahnhof und in die Wagen kamen. Verschiedene wurden auf dem Weg dahin durch Steine und Schüsse getötet. Man versteckt sich auch jetzt noch auf Böden und in Kellern und fährt beim leisesten Geräusch zusammen. Es herrscht beinahe Hungersnot. Die Geschäfte bleiben geschlossen, kein Mensch wagt, sie zu öffnen. Nur mit Mühe und Not kann man Brot auftreiben. Den ganzen Tag wird um Brot gebettelt, die Tür wird keinen Moment geschlossen. Abends sind die Straßen wie ausgestorben.

Überall nur Soldatenposten und herumziehende Patrouillen. Wozu die nur die ganze Zeit da waren! Sie haben tüchtig gesorgt, damit die Bauern nicht gestört wurden. Wo man nur hinsieht, erblickt man Flüchtlinge mit Kisten beladen: der ganze Reichtum, den sie zu retten haben. Man drängt sich scharenweise in ein Zimmer zusammen, bis es keine Luft mehr zum Atmen gibt und die Frauen in Ohnmacht fallen.

Du kennst die Lage und die Armut hier. Jetzt wird diese traurige Vergangen- heit ein heißersehnter Zustand im Vergleich mit der Gegenwart. Es sind 16 Tote und 80 Schwerverwundete da, von denen viele im Sterben liegen. Wie viele leich- ter Verwundete mögen in den Häusern liegen!

Eben, vor einer Stunde vielleicht, sind elf von den Erschlagenen in die Erde gebettet worden. Tausende von den Leuten standen am Krankenhaus, doch nur wenige gingen aufs Totenfeld hinaus. Man befürchtete neue Unruhen und verhielt sich vorsichtig. Aber Bäche von Tränen wurden vergossen und Männer wurden ohnmächtig mitten auf der Straße. Der Jammer nimmt kein Ende. Und wie lange wird man noch in dieser Angst leben?! Der Haß ist geschürt, die Leidenschaften geweckt.

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XX  Einleitung

Aus zuverlässiger Quelle wird mitgeteilt, daß der Staatsanwalt beim Ausbruch der Feindseligkeiten nach Petersburg depeschierte, die Unruhen seien ausgebro- chen, weil jüdische Jungen auf einem Kahn das Bild des Zaren zerschossen haben.

Ein Märchen, daß absolut erlogen ist.

So kämpft man gegen uns mit allen möglichen und unmöglichen Waffen! … PS. Aus Burdytschew48 eilten ungefähr 20 Juden in Wagen herbei und mehrere kamen mit der Eisenbahn, um den Brüdern hier zu helfen. Die in den Wagen wurden von vielleicht zweihundert Bauern unter Anführung eines Uriadnik (Dorf- polizisten) überfallen, und viele von ihnen wurden grausam verprügelt. Der eine, ein zufällig dabeisitzender Kaufmann, ist seinen Wunden erlegen.

— — — — — — —

Zwischen Witz und Zeugnis

Die Angaben in Sonja Gronemanns Brief stimmen im Wesentlichen mit Leo Motzkins, im Jahre 1909 veröffentlichten Bericht über dieses, nach Kischinew, berüchtigste Pogrom moderner jüdischer Geschichte überein.49 Nur die Rolle der jüdischen Selbstwehr wird von einer neueren Fallstudie problematisiert; nicht nur hinsichtlich der mißlungenen Verhinderung des Pogroms, sondern auch mit Hinblick auf eine mögliche aktive Verantwortung bei seiner Auslösung.50 Der Vergleich verdeutlicht auch, dass Sonja viele der in ihrem Brief beschriebenen Ereignisse nicht direkt erlebt, sondern aus zweiter Hand erfahren hatte. Das ist nicht weiter erstaunlich, trauten sich doch kaum noch Juden auf die Straßen von Schitomir.51

Sonjas Bericht liegt den Szenen im Kapitel „Pogrom“ zugrunde. Die eindrück- lichen Schilderungen seiner Frau suchten den Autor noch über ein Jahrzehnt später in Form jenes „seltsamen Gespenstes“ heim, das sich seiner bemächtigt

48 Das 44 Kilometer südlich von Schitomir gelegene Berdychiv (Ukrainisch: Бердичів; Jiddisch:

װעשטידר ַאב).

49 Leo Motzkin: Die Judenpogrome in Russland. Köln und Leipzig 1909, 44–58. Bei Sonja heißt der Pristaw Kujanow; bei Motzkin Kujarow.

50 Stefan Wiese: „Jewish Self-Defense and Black Hundreds in Zhitomir. A Case Study on the Pogroms of 1905 in Tsarist Russia“. Quest: Issues in Contemporary Jewish History. 1.3 (2012).

51 Sonjas Brief zeigt, dass sie mit den Zufluchtsorten vertraut war, in denen sich Flüchtlinge

„scharenweise in ein Zimmer zusammendrängten, bis es keine Luft mehr zum Atmen gibt und die Frauen in Ohnmacht fallen.“ Oben, XIX.

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Einleitung  XXI hatte  — „gerade [s]eine Handschrift bevorzugte“, als er zwischen 1916–18 an der deutschen Ostfront begann sein Tohuwabohu zu verfassen.52 Mit seiner Ent- scheidung, die Handlung des Romans auf 1903 zu datieren, weckt Gronemann Assoziationen mit dem berüchtigteren Pogrom von Kischinew. Zugleich fließen seine Erfahrungen als deutscher Soldat in Bialystok, Wilna und Kaunas in die Schilderungen der ostjüdischen Lebenswelten ein (die er in seinem Folgebuch Hawdoloh und Zapfenstreich autobiografisch und ausführlicher beschreibt). Von diesem, verschiedene Zeitebenen und Orte in- und durcheinander reflektierenden Ausgangspunkt — 1903, 1905, 1916–18 — schreibt Gronemann sein Tohuwabohu unter Vermischung biographischer und historischer Ebenen jenem jüdischen Milieu Berlins zu, in dem ihn Gronemann zwischen 1918–20 fertig stellte: vermit- tels des Talmudschülers Jossel Schlenker, der mit seiner jungen Frau Chane von Borytschew nach Berlin zieht, wo sie die Vielfalt des modernen jüdischen Lebens in humorvollen Tableaus kennenlernen, um es dann, gen Basel und zum VI. Zio- nistischen Kongress reisend, verlassen.53 Das deutsche Judentum wird dabei stets in Beziehung zum osteuropäischen Judentum gesetzt und an dessem Umgang mit der judenfeindlichen Umwelt gemessen.

Das traumatische Erlebnis von Schitomir hatte Sonja und Sammy Gronemann nachhaltig geprägt; es hatte ihre Zuversicht auf eine gesicherte jüdische Zukunft und Existenz grundlegend erschüttert, auch in Deutschland. Tohuwabohu war daher zunächst ein Mahnruf an die jüdischen Zeitgenossen, denn mit der Rück- kehr aus Schitomir hatte Gronemann eine doppelte Bedrohung wahrgenommen:

Auch in Deutschland seien ideologisch motivierte gewaltsame Verfolgungen von Juden zunehmend denkbar54 – im Roman wird dies anhand der Figur des Pastors Bode deutlich, der das Scheitern deutscher Aufklärung und Vernunftvision im Kampf gegen die dem christlichen Antisemitismus zugrundeliegenden Mythen verkörpert. Außerdem erlägen jene Juden, die, weil sie deutsch geworden waren sich nun in Sicherheit wähnten, nicht nur ihrer Selbsttäuschung, sondern liefen auch Gefahr, ihr Judentum zu verlieren. Wo somit anscheinend nur noch die Wahl blieb, entweder gewaltsamen Todes durch Feindeshand zu sterben, oder durch kulturelle Anpassung symbolischen Selbstmord zu begehen, hielt sich Gro-

52 Oben, S. VII.

53 1905 waren die Gronemanns, direkt nach der Rückkehr aus Schitomir, zu VII. zionistischen Kongress gereist und nahmen auch am VIII. von 1903 teil. Gronemann, Erinnerungen, 285.

54 Bereits im Januar 1905 hatte Gronemann eine, Antisemitismus und deutsche, nach „Juden- reinheit“ strebende Kräfte ignorierende jüdische Gemeinde in Berlin beschrieben, unter Aufruf:

„Gott bewahr‘ uns vor allem Bösen!!“. Idem.: „Aus dem jüdischen Vereinsleben 1“. Schlemiel 1 (1. 1. 1905).

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XXII  Einleitung

nemann an seine osteuropäischen Vorbilder und an ein zweifelhaft (jüdisches) Märtyrerideal55:

„Und als ich kam nach Deutschland zurück, / Da fand ich alles beim alten“, schrieb Gronemann in Versen im Jahre 1905, direkt nach seiner Rückkehr aus Schitomir. „Und jeder fragte: ‚Wie haben Sie’s / Da drüben nur ausgehalten?‘“

Seine Antwort an die deutsch-jüdischen Fragesteller ist eindeutig — er halte es

„lieber mit jenen dort“, den osteuropäischen Juden:

Eh’ soll man alle uns töten,

Als daß man uns zwingt, wie ihr es tut, Gar über uns selbst zu erröten!56

Von solchem Pathos distanziert sich Gronemann fünfzehn Jahre später in seinem Tohuwabohu, das den über sich „selbst errötenden“ deutschen Juden als zwang- haften Komödianten beschreibt, der „selbst nicht mehr weiß, was sein wahres Gesicht ist und was seine Maske.  —“57 Zwar beginnt der Roman mit der Ver- schriftlichung eines Witzes, um hernach seinen Humor an den mannigfaltigen Widersprüchen der deutschen Judenheit zu messen, nähert sich dann aber jenen Pogromschilderungen seiner Frau an, die ihm Schlimmeres verhießen. In dieser Spannung zwischen mahnender Zeugenaussage, humorvoller Milieustudie und aufmunterndem Witz wird erneut die Ambivalenz der Gattungsfrage seines euro- päischen Satireromans deutlich, die Gronemann mit Hinblick auf dessen „leichte Form“ und seinen „bitter ernsten“ Inhalt definierte — als ‚Tohuwabohu‘ komi- scher und tragischer Elemente, über das heute nicht mehr so gelacht werden kann wie seinerzeit.

Jan Kühne und Joachim Schlör

55 Israel Jacob Yuval: Zwei Völker in deinem Leib: Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007.

56 Sammy Gronemann: „Als ich kam nach Deutschland zurück“. Schlemiel 6 (1. 6. 1905).

57 Hier, S. 98. Ähnlich sah auch Sonja Gronemann die ‚Komödie‘ deutsch akkulturierter Juden als die eigentliche ‚Tragödie‘ an, wenn sie zynisch meint: „Wir sind also ein Volk von Schauspielern, die in den mannigfaltigen Rollen, die sie spielen mussten, den Identitätssinn verloren haben. Wie atemberaubend!“ Scheuer u. Lewin, Portraits, 20.

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