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„Mama, was muss mir noch passieren, dass du mich beachtest?“ Selbstschädigendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen aus bindungstheoretischer Perspektive und Möglichkeiten der Intervention

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Academic year: 2021

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„Mama, was muss mir noch passieren,

dass du mich beachtest?“

Selbstschädigendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen aus

bindungstheoretischer Perspektive und Möglichkeiten der Intervention

Bachelor-Thesis

vorgelegt von

Britta Stöckel

Studiengang: Soziale Arbeit im Sommersemester 2017 urn:nbn:de:gbv:519-thesis 2017-0113.3

Erstprüfer: Professor Freigang Zweitprüfer: Professor Burmeister

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 1

1. Bindung als Grundbedürfnis des Menschen... 3

2. Bindungstheorie in Anlehnung an John Bowlby ... 4

2.1. Das Bindungssystem ... 5

2.2. Feinfühligkeit und Bindungsqualität ... 6

2.3. Bindungssystem und Explorationsverhalten ... 6

2.4. Das Explorationssystem ... 7

2.5. Innere Arbeitsmodelle ... 8

2.6. Weitergabe von Bindungsmustern zwischen den Generationen ... 8

2.7. Vier Phasen der Entstehung von Bindung (Entwicklung) ... 9

2.8. Das Konzept kindlicher Bindungsqualitäten ... 10

3. Ursachen devianter Bindungsentwicklung ... 12

3.1. Schutz- und Risikofaktoren aus soziologischer Perspektive... 12

3.2. Traumatische Bindungserfahrungen ... 13

4. Formen von Bindungsstörungen ... 14

4.1. Klassifikation nach ICD 10 ... 15

4.2. Typologie von Bindungsstörungen nach Karl Heinz Brisch ... 16

5. Selbstschädigendes Verhalten ... 20

5.1. Terminologie und Definitionen ... 21

5.1.1. Selbstschädigung ... 21

5.1.2. Selbstverletzung ... 22

5.1.3. Risiko -Verhalten ... 22

5.2. Sieben Funktionen selbstverletzenden Verhaltens nach Klonsky ... 24

5.3. Selbstschädigendes Verhalten aus der Gender-Perspektive ... 26

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6. Beispiele für selbstgefährdendes Verhalten aus bindungstheoretischer Perspektive ... 28

6.1. Exkurs - Eigenes Beispiel ... 28

6.2. Unfall-Risiko-Verhalten (Kohärenz Mutter-Gesicht-Bild) ... 29

6.3. Komorbidität ... 30

6.3.1. Suchtsymptomatik... 30

6.3.2. Borderline-Störung ... 31

6. Umgang mit bindungsgestörten Kindern und Jugendlichen in der Sozialen Arbeit .... 35

6.1. Beratung der Eltern ... 36

6.2. Umgang in Settings der Sozialen Arbeit... 37

8. Zusammenfassung ... 38

9. Quellenangabe ... 40

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Einleitung

In der Sozialen Arbeit, in Schulen, Kindertageseinrichtungen und psychiatrischen Praxen begegnet man zunehmend Kindern und Jugendlichen, die eine bestimmte psychische Symptomatik von Verweigerung, Aggression, Selbstschädigung und Risikoverhalten auf-weisen. Die Krankheitsbilder, mit denen Kinder im Alter von 0 bis 18 Jahren in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt werden, reichen von Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten. Die Frage, die sich alle Helfer im Umgang mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen stellen, lautet: Wie kann die Entwicklung dieser psychischen Symptomatik zu verstehen sein? Welche Faktoren begünstigen die Entwicklung und welche Schutzfaktoren lassen sich im Umfeld der Kinder und Jugendlichen ausmachen?

Kinder und Jugendliche sind heute zunehmend gesellschaftlichen Entwicklungen ausge-setzt, die zu erhöhten Problembelastungen führen können. Die Familie als sicherer und haltgebender Ort bricht zunehmend weg, immer mehr Elternteile sind alleinerziehend und die Idealfamilie ist längst kein Regelfall mehr. Zusätzlich zu dieser wegfallenden Sicher-heit und Orientierungsmöglichkeit stehen Kinder und Jugendliche einer bisher noch nie dagewesenen Freiheit und Auswahlmöglichkeit gegenüber. Die Möglichkeiten überfordern gerade die Jugendlichen, die sich in der Pubertät befinden und Selbstfindungs- und Ent-scheidungsprozesse ohne erwachsene Bezugspersonen treffen sollen. Doch warum ge-lingt es vielen Kindern und Jugendlichen trotz dieser gesellschaftlichen Tendenzen, ein glückliches gesundes Leben mit guten sozialen Kontakten zu führen und anderen nicht? Unbestritten wird von allen psychotherapeutischen Schulen der Frühen Kindheit eine ent-scheidende Rolle für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen zugewiesen. Der Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby hat als einen wesentlichen Faktor die sichere emotionale Bindungsbeziehung beim Kind herauskristallisiert für emoti-onale Stabilität und psychische Gesundheit im Laufe des Lebens. Lassen sich die von Bowlby postulierten Bindungsmuster als Ursache für die Entwicklung von Verhaltensstö-rungen heranziehen? Oder liefert die Bindungsforschung mit den pathologischen Störun-gen von Bindungsmustern zwischen Müttern und ihren Kindern eine Antwort? Kann die Bindungstheorie und Forschung auch Erklärungen für selbstverletzendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen liefern? Diese Bachelor-Arbeit wird sich mit folgender For-schungsfrage auseinandersetzen:

Unter welchen Bedingungen können frühe negative Bindungserfahrungen bei Kindern und Jugendlichen zu psychischen Erkrankungen mit selbstschädigendem Verhalten führen?

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Der Fokus in dieser Arbeit wird auf Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren gerichtet. Die Bindungsforschung verweist ebenfalls auf Bindungsstörungen, die auch bei Erwachsenen zur Entstehung von psychischen Erkrankungen (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung) führen können. Dieser Themenkomplex kann vom Umfang her hier nicht bearbeitet wer-den. In Bezug auf das Thema Gender sind in dieser Arbeit grundsätzlich beide Ge-schlechter gemeint, auch wenn nur die männliche Form gewählt wird, z.B. Erziehern/ Er-zieherinnen, Therapeuten/Therapeutinnen und Lehrer/Lehrerinnen.

Im ersten Kapitel der Arbeit wird auf den Begriff Bindung zwischen Kindern und ihren Be-zugspersonen eingegangen. Hier wird erst einmal eine Hinführung zum Thema im Allge-meinen gegeben. Dann erfolgen im zweiten Kapitel die Darstellung der Entstehung der Bindungstheorie aus den 50er Jahren und die Weiterführung der Forschung bis zum heu-tigen Stand. Hier wird vor allem auf die Bindungsmuster bzw. Bindungsqualitäten einge-gangen, die einen Hinweis geben können auf Entwicklungstendenzen von Verhaltensstö-rungen bei Kindern und Jugendlichen. Nachdem im zweiten Kapitel Merkmale sicherer und unsicherer Bindungen erläutert werden, stehen im dritten Kapitel mögliche Ursachen für nicht gelingende Bindungen zwischen Mutter und Kind im Fokus. Hierzu werden so-wohl soziologische als auch psychologische Ansätze aufgeführt. Welche Schutz- und Ri-sikofaktoren für sichere Bindungen können ausgemacht werden? Im vierten Kapitel wer-den im Rahmen der Theorie der Bindungsstörungen die Reaktive Bindungsstörung und die Bindungsstörung mit Enthemmung, die beide nach dem ICD 10 klassifiziert sind, her-ausgearbeitet. Ergänzend dazu wird die Typologie von Karl Heinz Brisch dargestellt, um hier eine größere Bandbreite von Bindungsstörungen abbilden zu können. Definitionen und Funktionen von selbstschädigendem Verhalten von Kindern und Jugendlichen wer-den im fünften Kapitel beschrieben. Da unter selbstschädigendem Verhalten verschiede-ne Formen von Selbstverletzung bis hin zu Hochrisikoverhalten verstanden wird, erfolgt eine ausführliche Begriffsbestimmung. Im Anschluss werden mögliche Zusammenhänge zwischen selbstschädigendem Verhalten und negativen Bindungserfahrungen, als auch traumatischen Kindheitserlebnissen betrachtet. In einem sechsten Kapitel werden auf Grundlage der theoretischen Darstellungen der Zusammenhänge zwischen Bindungsstö-rungen und selbstverletzendem Verhalten Beispiele für selbstgefährdendes Verhalten als auch Beispiele für psychische Erkrankungen mit selbstschädigendem Verhalten bei Kin-dern und Jugendlichen beschrieben. Abschließend werden im siebten Kapitel konkrete Möglichkeiten des Umgangs mit bindungsgestörten Kindern und Jugendlichen in Einrich-tungen der Sozialen Arbeit gegeben. Hier steht die Beratung der Eltern im Fokus.

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1. Bindung als Grundbedürfnis des Menschen

Ein wesentliches Merkmal der Beziehung zwischen Eltern und Kind ist die Bindung. Nach Roland Schleiffer wird Bindung als besondere, anhaltende und emotional begründete Be-ziehung des Kindes zu seinen Eltern oder beständigen Bezugspersonen bezeichnet. Im Kindesalter ist das biologisch begründete Bedürfnis nach Nähe zu der Mutter, die bei Angst, Kummer und Stress des Kindes als sichere Basis zur Verfügung steht, am deut-lichsten zu beobachten. Doch auch im Erwachsenenalter bis zum Lebensende bleiben diese Bindungen bestehen. Je älter der Mensch wird, umso weniger reale Bindungen be-sitzt er. Dafür tritt, mit zunehmendem Alter, an diese Stelle diejenige Funktion des Bin-dungssystems, welche Schutz und Sicherheit vermittelt. Diese Funktion gründet auf der Überzeugung, dass eine Bindungsperson grundsätzlich zur Verfügung steht (vgl. Schleif-fer 2009, S. 40).

Eva Hedervari-Heller betont, dass die psychische Entwicklung von jungen Kindern in ho-hem Maße davon abhängt, ob sie sich auf die Unterstützung ihrer Mutter verlassen kön-nen. Vor allem in den ersten Lebensjahren ist die emotionale Verfügbarkeit der Mutter in psychisch belastenden Situationen für die Kinder lebenswichtig. Sie fühlen sich sicher, wenn ihre Bedürfnisse, Signale und Wünsche ernst genommen, beantwortet und befrie-digt werden. Um die Nähe und den Kontakt zu Personen seiner sozialen Umgebung zu suchen und aufrecht erhalten zu können, ist der menschliche Säugling mit einem biolo-gisch verankerten Bindungsverhaltenssystem ausgestattet. Diesem Bindungsverhaltens-system des Kindes steht das Pflegeverhalten der Eltern ergänzend gegenüber. Die stän-dige Wechselbeziehung dieser beiden Systeme sichert letztendlich das Überleben des Säuglings. Die ständige Interaktion und Affektregulierung zwischen dem Säugling und seiner Mutter ermöglicht den Aufbau von Bindungsbeziehungen im Laufe der ersten 12 Lebensmonate (vgl. Hedervari-Heller 2014, S. 58).

Das Bindungsverhalten des Säuglings oder dann auch des Kleinkindes zeigt sich laut Thomas Köhler-Saretzki darin, dass es seiner Muttern nachkrabbelt oder nachläuft und sich festklammert, wenn es nach körperlicher Nähe, Schutz und Geborgenheit sucht. So-bald es die körperliche Nähe spürt und die vertraute Stimme hört, beruhigt sich der Säug-ling/das Kleinkind schnell wieder. Die Mutter wird zu einem Ort, auf den sich das Kind verlassen kann und hier neue Kraft generieren kann, bzw. Sicherheit erfährt. Die Haupt-bezugsperson ist in den meisten Fällen die Mutter. Aber auch die Väter werden durch ihre Präsenz und ihre Verfügbarkeit in der frühen Pflege der Kinder zu wichtigen Hauptbe-zugspersonen des Kindes. Aber auch andere Personen, außer Mutter und Vater, können für einen Säugling zu einer Bindungsperson werden. Thomas Köhler-Saretzki spricht von einer sogenannten „inneren Hierarchie“ der verschiedenen Bezugspersonen, die sich schon ein Kind im ersten Lebensjahr anlegt. Kinder können enge Beziehungen zu

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ren Bindungspersonen gleichzeitig bilden, stufen diese aber in der Wichtigkeit nach einer inneren Rangfolge ein. Die Zeit, die regelmäßig und verlässlich mit dem Kind verbracht wird, und die Qualität des Kontaktes sind die entscheidenden Faktoren für die Auswahl der Hauptbezugsperson. Die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson wird umso sicherer und stabiler, je mehr es der Bezugsperson gelingt, dem Kind emotional offen gegenüberzutreten und mit ihm in einer feinfühligen Art und Weise umzugehen. Dazu gehört eine dialogische Sprache zwischen Bezugsperson und Kind, die auch emotionale Zustände verbalisiert, das Aufnehmen des Blickkontaktes und ein angemessener Körper-kontakt mit dem Kind. Geschieht dieses feinfühlige Verhalten der Bezugsperson über ei-nen längeren Zeitraum, wird sie vom Kind als vorhersehbar und verfügbar erlebt (vgl. Köhler-Saretzki 2014, S. 12f.).

Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Bindungstheorie, die weltweit zu einer der bedeu-tendsten Theorien der modernen Entwicklungspsychologie zählt, mit der Organisation, der Entstehung und Entwicklung von emotionalen Bindungen im Säuglingsalter bis hin zum Erwachsenenalter (vgl. Hedervari-Heller 2014, S. 58).

Daher erfolgt jetzt die Darlegung der Bindungstheorie nach John Bowlby, ihre Entstehung, Konzepte und reflektierende Inhalte aus der heutigen Bindungsforschung.

2. Bindungstheorie in Anlehnung an John Bowlby

Karl-Heinz Brisch führt auf, dass John Bowlby (1907-1990), ein englischer Psychiater und Psychoanalytiker, die Bindungstheorie Anfang der 1950er Jahre entwickelte. Das theore-tische Konzept leitete er aus der Psychoanalyse, der Systemtheorie und vor allem aus der Ethologie ab. Die Werke „Bindung“ (1969), „Trennung“ (1973) und „Verlust, Trauer und Depression“ (1980) fassen die ethologische Bindungstheorie zusammen.

„Schon damals war Bowlby überzeugt, daß reale frühkindliche Erlebnisse in der Bezie-hung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen können und daß nicht nur der Ödipuskomplex und seine Lösung oder das Monopol der Sexualität für die emotionale Entwicklung eines Kindes verantwortlich seien.“ (Brisch 2010, S. 31) Mit dieser Überzeugung beschritt Bowlby ganz neue Wege in der Kindheitsforschung der 50er und 60er Jahre. Seine Theorien wurden von der Britischen Psychoanalytischen Ge-sellschaft stark kritisiert, da sie sich nicht an der vorherrschenden psychoanalytischen Metatheorie, die auch Triebtheorie genannt wird, orientierten. Die traditionelle Triebtheorie besagt, dass in erster Linie die orale Befriedigung durch das Stillen an der Mutterbrust für die Entwicklung der Bindung zwischen Mutter und Kind verantwortlich ist. Es war zu da-maliger Zeit vollkommen undenkbar, dass es eine biologisch verankerte eigenständige

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Grundlage für die Entstehung der Mutter-Kind-Bindung geben soll, die nicht aus der Se-xualität oder einem Konflikt entstanden ist. Bowlby nutzte u.a. Aspekte aus der ethologi-schen Forschung von Konrad Lorenz, der das Verhalten junger Gänseküken erforschte (vgl. Brisch 2010, S. 32).

John Bowlby ergänzt hierzu, dass Konrad Lorenz die starke Bindung von Gänse- und Entenküken an ihre Mutter herausstellte. Obwohl sie von Ihrer Mutter kein Futter erhalten, sondern ihre Nahrung sich selber suchen müssen, laufen sie der Mutter hinterher, und erkennen die Mutter ihr Leben lang wieder. Diese und weitere Studien an Tieren, die sich mit der frühen Entstehung von dauerhaften Bindungen zwischen Mutter und Tierkind be-schäftigen, flossen in Bowlbys Theorien über die menschliche Entwicklung von Bindungen ein (vgl. Bowlby 2014, S. 20).

Nach Karl-Heinz Brisch waren die gemeinsamen wissenschaftlichen Aktivitäten von Bow-lby mit Mary Ainsworth (1913-1999), einer US-amerikanisch-kanadischen Entwicklungs-psychologin, für die Entwicklung der Bindungstheorie von grundlegender Bedeutung. Ainsworth führte Feldforschungen durch, in denen Sie das Verhalten von Kleinkindern mit ihren Müttern beobachtete und protokollierte. Hier untersuchte sie das Pflegeverhalten der Mütter sowie das Bindungs- und Trennungsverhalten der Kinder in den täglichen Abläu-fen. Sie entwickelte eine standardisierte testähnliche Untersuchungssituation, die soge-nannte „Fremde Situation“, um in einem Beobachtungslabor das Bindungs- und Tren-nungsverhalten von Kindern besser studieren zu können. Durch die Ergebnisse ihrer For-schungstätigkeit in der Entwicklungspsychologie konnte die Bindungstheorie Bowlbys empirisch fundiert werden. In Deutschland wurde durch das Ehepaar Klaus und Karin Grossmann die Bindungstheorie bekannt und verbreitet. Der Stand der empirischen Bin-dungsforschung ist inzwischen kaum mehr zu überblicken. Sie gehört zu den durch empi-rische, insbesondere prospektiven Längsschnittstudien am besten fundierte Theorie über die psychische Entwicklung des Menschen (vgl. Brisch 2010, S. 34).

2.1. Das Bindungssystem

Karl-Heinz Brisch führt auf, dass das Bindungssystem für den Säugling eine überlebens-sichernde Funktion hat. Es ist ein primäres, genetisch verankertes motivationales System, welches zwischen der primären Bezugsperson und dem Säugling nach der Geburt akti-viert wird. Das Hormon Oxytocin spielt für dieses System eine große Rolle. Es wird schon vor der Geburt, während der Schwangerschaft gebildet, und fördert die Bindungsentwick-lung der Mutter zum Fetus = „bonding“ (Brisch 2010, S. 36) und dann zum Säugling, so-wie die Bindung des Säuglings an seine Mutter = „attachement“ (Brisch 2010,S. 36). Oxy-tocin fördert das Gefühl, einander nahe sein zu wollen, Vertrautheit und Entspanntheit zu erfahren. Besonders in Situationen, die dem Säugling Angst machen, z.B. in unbekannten Situationen, bei der Begegnung mit fremden Menschen, bei körperlichen Schmerzen oder

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Alpträumen sucht der Säugling die Nähe seiner Mutter. Dieses Nähe-Suchen erfolgt dann durch Blickkontakt zur Mutter, Nachfolgen oder Herstellen von körperlichem Kontakt mit der Mutter (vgl. Brisch 2010, S. 35f).

2.2. Feinfühligkeit und Bindungsqualität

Unter „Feinfühligem Verhalten“ versteht Bowlby die Fähigkeit der Mutter, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und sie angemessen und prompt zu befriedigen. In den vielfältigen alltäglichen Interaktionen geschieht dies unzählige Male. Wenn die Bedürfnisse des Säuglings in den Interaktionen mit der Mutter nicht, nur unzu-reichend oder inkonsistent beantwortet werden, entwickelt sich häufiger eine unsichere Bindung (vgl. Brisch 2010, S. 36f). Die Feinfühligkeit drückt sich auch in der Sprache der Mutter aus. Mütter, die mit ihrem Säugling in Ammensprache interagieren, kommentieren das mit ihrer Empathie wahrgenommene Fühlen und Handeln des Säuglings. Sie geben auf diese Weise dem Handeln, Denken und Fühlen ihres Kindes eine Begrifflichkeit. Dadurch wird es dem Kind ermöglicht, seine Affekte und inneren Bilder zu benennen. Die Interaktionen zwischen Mutter und Kind spielen sich sowohl auf der Sprachebene als auch auf der Handlungsebene ab. Mutter und Kind beziehen sich somit wechselseitig auf-einander, können kleine Missverständnisse korrigieren, lassen aber den Dialog nicht ab-reißen noch durch zeitsynchrones Sprechen oder Handeln verwirrend und irritierend wer-den (vgl. Brisch 2009, S. 105).

2.3. Bindungssystem und Explorationsverhalten

Werden die Bindungsbedürfnisse des Kindes befriedigt, beruhigt sich das Bindungssys-tem des Kindes und es erlebt emotionale Sicherheit. Aus diesem Zustand kann es seiner angeborenen Neugier nachgehen und wird dieses in einem explorativen Verhalten zeigen. Erst jetzt kann es sich von der Mutter mehr oder weniger weit entfernen, ohne in emotio-nalen Stress zu geraten. Distanz und Nähe zur Mutter steuert der Säugling allein. Wenn die feinfühlig reagierende Mutter diese Exploration duldet und Vertrauen entwickelt, dass der Säugling beim Erfahren von Stress ihre Nähe sucht, wird ein Gleichgewicht zwischen Bindungssystem und Explorationsverhalten erreicht (vgl. Brisch 2010, S. 39).

Eva Hedervari-Heller spricht hier von einem Balanceakt ähnlich einer Wippe. Es kommt zu einem ständigen Ausbalancieren zwischen den zwei Verhaltenssystemen der Bindung und Erkundung. Wenn das Kind emotional ausgeglichen ist, erkundet es seine Umwelt, das Explorationsverhalten ist aktiv. Bei dauerhafter emotionaler Belastung und in einer Stresssituation verliert das Kind sein inneres Gleichgewicht, es hört auf zu spielen und zu explorieren. Dann sucht es Nähe und Kontakt zur Mutter. Das Bindungsverhaltenssystem bleibt solange beim Kind aktiv, bis sein inneres Gleichgewicht durch Unterstützung der Bindungsperson widerhergestellt ist (vgl. Hedervari-Heller 2014, S. 59).

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Mary Ainsworth führt auf, dass die Theorie Bowlbys den Begriff Bindung vom Bindungs-verhalten unterscheidet. Die Bindung wird als eine stabile Neigung zu einer ganz be-stimmten Person, in den meisten Fällen zur Mutter, definiert, die tendenziell unvermindert fortbesteht. Sie ist für die unverwechselbare Qualität der Organisation von Verhaltenswei-sen verantwortlich, durch die der Säugling die Nähe zu seiner Bindungsperson sucht. Die Bindung aktiviert, beendet und dirigiert das Bindungsverhalten in jeder spezifischen Situa-tion. Dagegen zeigt sich das Bindungsverhalten situationsabhängig, intermittierend und variabel in Bezug auf die Aktivierung als auch auf die Intensität. Das Bindungsverhalten interagiert immer mit anderen Verhaltenssystemen, die in einer bestimmten Situation ebenfalls aktiviert sein können. Es kann sich kompatibel oder nicht kompatibel mit dem Bindungsverhaltensweisen darstellen. Zu diesen anderen Verhaltensweisen zählt gerade das Explorationsverhalten des Kindes in der Bindungstheorie besondere Bedeutung (vgl. Ainsworth/ Bell/ Stayton 2003, S. 243).

2.4. Das Explorationssystem

Karl-Heinz Brisch teilt Bowlbys Betrachtungsweise, nach der das Explorationsbedürfnis des Säuglings als weiteres starkes motivationales System fungiert. Dem Bindungsbedürf-nis des Säuglings steht das ExplorationsbedürfBindungsbedürf-nis gegenüber. Obwohl beide Systeme entgegengesetzten Motiven entspringen, sind sie doch wechselseitig voneinander abhän-gig. Wenn die Mutter als sichere Basis zur Verfügung steht, kann der Säugling seine Um-welt erkunden und auch Angst aushalten während seiner Entfernung von der Mutter. Da-mit der Säugling sich selbsteffektiv und handelnd erfahren kann, bedarf es einer sicheren Bindung. Mit zunehmender motorischer Entwicklung des Kindes, z.B. im Krabbelalter, wird es notwendig, dass die Mutter dem Explorationsbedürfnis des Säuglings Raum gibt, andererseits auch Grenzen setzt. In gleichem Maße muss sie aber auch als sichere Basis für die visuelle Rückversicherung des Säuglings während der Exploration zur Verfügung stehen. Dieser wichtige Blickkontakt zur Mutter durch den Säugling wird als „social refe-rencing“ (Emde und Source, zit. nach Brisch 2010, S. 39) beschrieben. Dieser Blickkon-takt wird in dieser Arbeit an einem späteren Punkt noch genauer beschrieben. Wenn der Säugling von seinen Erkundungen zurück kommt zur Mutter, muss er sich emotional an-genommen fühlen (vgl. Brisch 2010, S. 39).

John Bowlby stellt klar heraus, dass nicht nur das Erziehen und Fördern der Kinder durch ihre Eltern wichtig ist. Gleichzeitig ist es fundamental wichtig, dass die Eltern als verlässli-che Basis dienen, d.h. wenn sie das Bindungsverhalten ihrer Kinder intuitiv erfassen, res-pektieren und als angeborenes Merkmal akzeptieren. Schulkinder, Jugendliche und jun-gen Erwachsene erlanjun-gen nur dann psychische Stabilität und Selbstsicherheit, wenn die Eltern ihr Autonomiestreben fördern, im Ernstfall aber auch zur Stelle sind und ihrer Ver-antwortung nachkommen (vgl. Bowlby 2014, S. 10).

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2.5. Innere Arbeitsmodelle

Nach Karl-Heinz Brisch bildet der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres innere Mo-delle des Verhaltens und der damit verbundenen Affekte von seiner Mutter und sich selbst aus. Diese werden von Bowlby „Innere Arbeitsmodelle“ (Bowlby, zit. nach Brisch 2010, S. 39) genannt. Diese Modelle bildet der Säugling aus den Erfahrungen, die er aus den vie-len Interaktionserlebnissen sammelt, in denen sich Mutter und Säugling voneinander trennten und auch wieder Nähe zueinander herstellten. Dadurch wird das Verhalten der Mutter in Bindungssituationen vorhersagbar. Für jede einzelne Bezugsperson, etwa für Mutter und Vater werden vom Säugling eigenständige, getrennt voneinander bestehende Arbeitsmodelle gebildet (vgl. Brisch 2010, S. 39). Die Arbeitsmodelle sind zu Beginn noch flexibel, im Laufe der Entwicklung wird das Arbeitsmodell stabiler und entwickelt sich zu einer psychischen „Bindungsrepräsentation“ (Brisch 2010, S. 38). Sichere und stabile Bindungsrepräsentationen werden ein Teil der psychischen Struktur des Kindes und tra-gen auch maßgeblich zu einer psychischen Stabilität des Kindes bei. Durch entsprechend bedeutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen Bezugspersonen oder durch ein-schneidende Erlebnisse im Leben, wie Verluste und traumatische Erfahrungen, kann sich die Bindungsrepräsentation noch in eine unsichere oder auch sichere Richtung der Bin-dung verfestigen (vgl. Brisch 2010, S. 38).

Hedervari-Heller definiert den Begriff Innere Arbeitsmodelle als „individuelle und unbe-wusste mentale Repräsentationen des Selbst, der anderen und der Welt“ (2014, S. 59). Individuen werden durch diese Modelle befähigt, aktuelle Ereignisse zu erfassen und ein-zuordnen, Ereignisse der Zukunft vorherzusehen und eigene Pläne zu konstruieren. Sie ermöglichen dem Kind, Jugendlichen und später auch dem Erwachsenen eine Orientie-rung in der Welt. Die Flexibilität der Arbeitsmodelle ermöglicht dem Individuum, Informati-onen sinnvoll zu deuten, sich an neue SituatiInformati-onen anzupassen und die Welt realitätsge-recht wahrzunehmen. Ab dem sechsten Lebensmonat können beim Säugling innere Ar-beitsmodelle nachgewiesen werden. Dies geht mit der kognitiven Fähigkeit des Säuglings einher, zu wissen, dass Personen auch dann weiterhin existieren, wenn sie sich außer-halb des Wahrnehmungsfeldes befinden. Diese Fähigkeit wurde mit dem Begriff Objekt-permanenz von dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget beschrieben. Schon ab Ende des ersten Lebensjahres ist das Kind in der Lage, die Arbeitsmodelle mental aufzurufen. Er kann gedanklich das zu erwartende Verhalten der Mutter vorwegnehmen (vgl. Heder-vari-Heller 2014, S. 59).

2.6. Weitergabe von Bindungsmustern zwischen den Generationen

Die Qualität der Bindung des Säuglings hängt nach Karl-Heinz Brisch mit der Bindungsre-präsentation der Mutter zusammen, die mit ihm spielt und ihn versorgt. Die Qualität der

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Bindungsrepräsentation der Elterngeneration steht in engem Zusammenhang mit der Bin-dungsqualität, die sich in ihrem eigenen Säuglingsalter entwickelt hat (vgl. Brisch 2010, S. 40). Durch verschiedene Längsschnittstudien konnte sowohl in Deutschland, England und in den USA nachgewiesen werden, dass sicher gebundene Mütter mit etwa 70% Überein-stimmung auch sicher gebundene Kinder haben, beziehungsweise Mütter mit unsicheren Bindungshaltungen auch häufiger Kinder haben, die mit einem Jahr unsicher gebunden sind. Ähnliche Zusammenhänge konnten auch für die Bindungshaltung von Vätern und der Bindungsqualität zu ihren Kindern nachgewiesen werden. Daraus lässt sich schließen, dass Bindungsstile und -muster zwischen den Generationen weitergegeben werden. Die Bindungshaltung der Mutter beeinflusst ihr Verhalten gegenüber dem Säugling, z.B. agie-ren sicher gebundene Mütter wesentlich feinfühliger mit ihrem Säugling als unsicher ge-bundene Mütter (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

2.7. Vier Phasen der Entstehung von Bindung (Entwicklung)

Eva Hedervari-Heller ergänzt den in vier Phasen postulierten Aufbau der frühkindlichen Bindungsbeziehung von Bowlby. Bindung ist nicht von Geburt an vorhanden, sondern entsteht während des ersten Lebensjahres in der Kommunikation und Interaktion mit der Mutter und im emotionalen Austausch.

Erste Phase:

Die erste Phase der Bindungsentwicklung, von der Geburt bis zum 2./3. Lebensmonat, wird von Hedervari-Heller in Anlehnung an Bowlby als Phase der „Orientierung und Signa-le ohne Unterscheidung der Figur“ (2014, S.60) bezeichnet. Zuerst zeigt der Säugling einfache Verhaltenssysteme, wie das Weinen. Ab dem zweiten Lebensmonat lächelt der Säugling die Bezugsperson an, wenn er auf den Arm genommen wird und beruhigt wird. Er unterscheidet nicht zwischen vertrauten und weniger vertrauten Personen.

Zweite Phase:

In der zweiten Phase beginnt der Säugling, sein Verhalten auf bestimmte Personen, meist auf die Mutter als primäre Bezugsperson zu richten. Dies geschieht zwischen dem 3.und 6. Lebensmonat. Eindeutige Differenzierung ist hier aber nur selten beobachtbar. Daher ist der Säugling noch leicht von fremden Personen auf den Arm zu nehmen und zu trös-ten. Unterschiede zwischen bekannten und unbekannten Personen erkennt der Säugling, doch sein Signalverhalten, wie Weinen und Lächeln, tritt bei vertrauten als auch unver-trauten Personen auf.

3.Phase:

Zwischen dem 6. Lebensmonat und dem 3. Lebensjahr tritt die dritte Phase der Bin-dungsentwicklung ein. Das Kleinkind verfügt über ein erweitertes Verhaltensrepertoire. Es folgt seiner Bezugsperson aktiv, begrüßt sie und zeigt damit aktives Bindungsverhalten. Das Kind kann von sich aus Nähe und Distanz regulieren, eigenständig Körperkontakt

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herstellen. Dabei bevorzugt es ganz deutlich einige primäre Bezugspersonen. Nicht nur die Fortbewegung, sondern auch die sich entwickelnde Sprache und Gestik des Kindes intensiviert die Bindung zu seiner Bezugsperson.

4.Phase:

Die vierte Phase wird von Bowlby als „zielkorrigierende Partnerschaft“ (Bowlby, zit. nach Hedervari-Heller 2014, S. 60) beschrieben. Ab dem 4. Lebensjahr befindet sich das Kind in dieser Phase. Das Kind kann aufgrund wachsender kognitiver Erfahrungen und Fähig-keiten seine Bindungsperson besser einschätzen. Er kann Motive und Gefühle der Mutter oder anderer Bezugspersonen deuten. Dadurch konstituiert sich eine komplexere Bezie-hung, eine „zielkorrigierende Partnerschaft“, in der das Kind sein Verhalten auch an den Zielen und Plänen der Bezugsperson ausrichtet (vgl. Hedervari-Heller 2014, S. 60).

2.8. Das Konzept kindlicher Bindungsqualitäten

Roland Schleiffer beschreibt die von der Bindungsforschung unterschiedenen vier Bin-dungsqualitäten. Diese lassen sich als Ergebnis der Erfahrungen des Kindes mit seiner Versorgung durch seine frühen Bezugspersonen rekonstruieren.

Zu den „organisierten“ Bindungsqualitäten werden Kinder mit den Bindungsmustern „si-cher gebunden“, „unsi„si-cher-vermeidend“ und „unsi„si-cher-ambivalent“ gerechnet. Neben die-sen drei „organisierten“ Bindungsqualitäten wird noch eine vierte Bindungsqualität unter-schieden. Hierzu zählen Kinder, die eine „desorganisiert- unsichere“ bzw. „desorientiert-unsichere“ Bindung aufweisen.

1. Sichere Bindung

Wenn Kinder die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich auf ihre Bezugsperson grund-sätzlich verlassen können, ihre Bindungs- wie auch Erkundungsbedürfnisse von diesen aufmerksam und feinfühlig beantwortet und wahrgenommen wurde, entwickeln sie ein „sicher gebundenes“ Bindungsmuster. Da die Eltern oder andere Bezugspersonen eine sichere Basis bilden, können diese Kinder neugierig ihre Umwelt explorieren. Den Kindern wird es ermöglicht, ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse frei zu äußern und sich auf die Hilfe von Seiten der Bindungsperson verlassen zu können.

2. Unsicher-vermeidende Bindung

Das „unsicher vermeidend“ gebundene Kind hat die Erfahrung gemacht, dass seine frühe Bezugsperson sich eher bedrängt gefühlt hat, wenn das Kind Bindungsbedürfnisse geäu-ßert hat. Die Bezugsperson schätzte am Kind die Selbstständigkeit, und das Kind musste erleben, dass die Bezugsperson nicht immer selbstverständlich zur Verfügung steht. Da das Kind weitere Enttäuschungen in Bezug auf ihre Bindungswünsche befürchten muss, meidet es folglich, diese gegenüber ihrer Bezugsperson zu äußern. Auch wenn das Kind

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seine Bindungsbedürfnisse nicht zeigt, ist das Bindungssystem ständig aktiv. Dies konnte an biologischen Parametern, etwa an der erhöhten Ausschüttung des Stresshormons Cor-tisol nachgewiesen werden. Das Kind hat gelernt, gerade negative Affekte gegenüber seiner Bezugsperson nicht zu äußern.

3. Unsicher-ambivalente Bindung

Das dritte Bindungsmuster der „organisierten Bindungsqualitäten“ ist die „unsicher-ambivalente“ Bindung definiert. Hierzu zählen Kinder, die ihre Bezugspersonen und des-sen Antwortbereitschaft nicht hinreichend sicher einschätzen können. Dem betreffenden Kind gelingt eine Einschätzung des Verhaltens der Mutter oder anderer Bindungsperson unzureichend, weil die Mutter sich nach ihrer eigenen Befindlichkeit unterschiedlich und wenig vorhersehbar verhält. Gerade bei psychischen Belastungen der Mutter wird ihr das Wahrnehmen der Bindungsbedürfnisse des Kindes schwerfallen. Sie ist dann nicht im-stande, feinfühlig auf das Kind einzugehen. Das unsicher- ambivalent gebundene Kind hat dann die Aufgabe, mit großer Anstrengung die Aufmerksamkeit der Mutter zu erreichen. Dies geschieht durch ununterbrochenes Weinen oder Anklammern, um sich die mütterli-che Unterstützung zu versimütterli-chern. Da das Bindungssystem ständig aktiv sein muss, kommt es zu einem stark eingeschränkten Explorationsverhalten. Neugier können sich die Kinder kaum leisten, da sie ständig damit beschäftigt sind, sich die Verfügbarkeit der Bezugsper-son zu sichern. Die Kinder schwanken ambivalent zwischen passiver Nähe zur Mutter oder einer teilweisen ärgerlichen Abwendung von ihr, wenn die Mutter zu trösten versucht.

4. Desorientierte/desorganisierte unsichere Bindung

Kinder, die diesem Bindungstyp zugeordnet werden können, haben keine eindeutig orga-nisierte Verhaltensstrategie entwickelt, um ihres aktiviertes Bindungssystems regulieren zu können, wenn sie von der Mutter oder anderer Bezugsperson getrennt werden. In einer Trennungs-/ Verlustsituation reagieren sie mit einem sehr widersprüchlichen, bisweilen gar bizarr und insofern desorientiert anmutenden Verhalten. Ob sie sich ihrer Mutter an-nähern wollen oder doch eher auf Distanz gehen wollen, scheint den Kindern unklar zu sein. Laut einer Studie von Ijzendoorn/ Schuengel aus dem Jahr 1999 zeigen Kinder aus Hochrisikogruppen, d.h. Kinder, die mit multiplen Risikofaktoren konfrontiert sind, in etwa 80% der Fälle dieses desorganisierte Bindungsmuster. Gerade bei den Kindern, die miss-handelt und/oder vernachlässigt wurden, zeigt sich dieses Bindungsmuster, welches durch große Angst vor der Mutter geprägt ist. Sie befinden sich in einem kaum lösbaren Dilemma. Einerseits wird das Bindungssystem des Kindes gerade von der Bezugsperson über die Maße aktiviert, von der es eine Regulierung am ehesten erwartet. Da es aber andererseits die paradoxe Erfahrung gemacht hat, schlecht von der Mutter oder Bin-dungsperson behandelt zu werden, ist es für das Kind zu widersprüchlich, eine

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de Erwartungsstruktur bezüglich künftiger Interaktionen mit der Mutter zu entwickeln. Auch Kinder, deren Mütter psychopathologisch erkrankt sind, z.B. an Depressionen oder selbst erlebten und nicht verarbeiteten Bindungstrauma leiden, zeigen ein solchermaßen desorganisiertes Bindungsmuster. Es ist hier davon auszugehen, dass die Kinder durch ihre Bedürfnisse nach Nähe und Fürsorge bei ihren Müttern kein Pflegeverhalten hervor-rufen. Stattdessen wecken sie bei der Mutter eigene leidvolle Erinnerungen an ihre Kind-heit. Das Bindungssystem der Mutter wird dadurch aktiviert, sodass sie selber als Bin-dungsperson dann ausfällt. Nun erlebt das Kind, dass seine eigenen Ängste und Verunsi-cherungen die eigene Mutter ängstigt. Da die Mutter aber nach wie vor für das Kind die Bindungsperson darstellt, kommt es durch die Reaktion seitens der Mutter zu einer noch größeren Beängstigung beim Kind. Es wird zu einem unheilvollen Kreis der Angst. Kogni-tiv und affekKogni-tiv kann das betroffene Kind diese Situation schwer verarbeiten. Die Bezugs-person selber wird für das Kind zur Quelle emotionaler Belastung (vgl. Schleiffer 2009, S. 41ff.).

Die soeben dargestellten sicheren und unsicheren Bindungsqualitäten nach John Bowlby sind verschiedensten Faktoren unterworfen, die zu gelingenden oder auch nicht gelingen-den Bindungen führen können. Diese Faktoren, als auch traumatische Ereignisse, die dann zu Bindungsstörungen führen, werden jetzt erläutert.

3. Ursachen devianter Bindungsentwicklung

3.1. Schutz- und Risikofaktoren aus soziologischer Perspektive

Die Entwicklung von sicheren oder auch unsicheren Bindungen zwischen Mutter und Kind hängt laut Karl-Heinz Brisch von vielfältigen Faktoren ab. Schutzfaktoren für die Entwick-lung von sicheren Bindungen sind die psychische Gesundheit der Eltern und eine unter-stützende familiäre Atmosphäre. Hierzu zählt ebenfalls ein erweiterter Freundeskreis der Familie, der sehr hilfreich sein kann. Soziale Unterstützung, Begleitung, Entlastung, Hilfe bei der Lösung von Problemen und der Versorgung des Kindes tragen zur Entspannung der Eltern- Kind-Beziehung bei. Eine stabile sozioökonomische Grundlage mit wenigen sozialen Konflikten und finanziellen Engpässen trägt zu guten Bindungsentwicklungen bei. Dazu zählt ebenfalls die körperlich gesunde Entwicklung des Kindes. Die körperliche Ge-sundheit ist keine Selbstverständlichkeit. Der Körper des Säuglings muss sich mit vielen Keimen und Viren auseinandersetzen und eine Immunität aufbauen. Ebenfalls muss er sich an vielfältige Alltagsbedingungen anpassen, z.B. Krippenerzieherinnen und Kinder-gruppen (vgl. Brisch 2014, S. 40). Wirtschaftliche, soziale und emotionale Armut gehören zu den Risikofaktoren für den Aufbau von sicheren Bindungsbeziehungen. Gerade Allein-erziehende Frauen sind von der wirtschaftlichen Armut besonders bedroht, z.B. wenn sie von den Vätern der Kinder keinen Unterhalt erhalten oder wenn sie sozial kaum durch den

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getrennt lebendenden Vater des Kindes, der Familie oder Freunden unterstützt wird. Die alleinerziehenden Mütter sind mit vielfältigen anderen Problemen konfrontiert, z.B. wie sie mit Kind die Wohnung halten können, wie sie den täglichen Lebensunterhalt sichern. Die-se enormen Belastungen erschweren den Aufbau von emotional sicheren Beziehungen zum Kind, die in einem möglichst entspannten Kontext leichter gelingen würden (ebd. S.41). Zu den Risikofaktoren eines sicheren Bindungsaufbaus gehört ebenfalls psychi-sche Belastungen oder psychipsychi-sche bzw. psychiatripsychi-sche Erkrankungen eines Elternteils. Sie stellt eine hohe Belastung für die Eltern-Kind-Beziehung als auch für die Partnerschaft dar. Auch das Wesen des Kindes kann ein Risiko- als auch ein Schutzfaktor darstellen. Begünstigend für eine gelingende Bindung ist ein Kind mit meistens fröhlichem Tempera-ment, welches sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt. Bei Kindern, die schnell reizbar und erregbar sind, auf kleinste Reize hin weinen und sich schlecht beruhigen las-sen, ist der sichere Bindungsaufbau gefährdet. Die emotionalen Ressourcen der Eltern werden durch diese Kinder besonders gefordert. Sie müssen ihr aufgeregtes Kind ständig beruhigen. Dadurch kann sich der Effekt entwickeln, dass die Eltern immer dünnhäutiger werden, weniger Kraft haben, und ihre emotionale Energie aufgeraucht wird. Da das Baby die Anspannung der Eltern spürt, wird es irritiert und weint umso heftiger. Dies wird von Karl-Heinz Brisch als „Stressspirale“ bezeichnet. Diese führt einerseits zu einem äußerst aufgeregten Baby und andererseits zu ebenso gestressten Eltern. Diese gefährliche Konstellation kann im schlimmsten Fall zum Anschreien oder Schütteln des Babys führen (vgl. Brisch 2010, S. 42).

3.2. Traumatische Bindungserfahrungen

Der Zusammenhang zwischen traumatisierenden Erfahrungen des Kindes mit seiner Be-zugsperson und der Entstehung einer Bindungsstörung wird von Karl-Heinz Brisch wie folgt beschrieben. Die Bindungsstörung des Kindes kann sich in sehr unterschiedlichen Symptomen auswirken und nach außen zeigen. Es liegt bei jeder Bindungsstörung eine schwerwiegende Fragmentierung bis Zerstörung des inneren Arbeitsmodells von Bindung zugrunde. Die von dem Kind daraufhin entwickelten Verhaltens- und Überlebensstrate-gien lassen den Bindungskontext nicht mehr erkennen. In der Regel werden diese schwerwiegenden Traumatisierungen durch die bedeutungsvollen Bindungspersonen selbst erzeugt. Jede Form von schwerer emotionaler und körperlicher Verwahrlosung und Deprivation führt zu einer Form von Bindungsstörung, die beim Kind in ihrer Folge keine Bevorzugung von Bindungspersonen und -verhalten erkennen lassen. Durch die emotio-nale Isolation und Nicht – Verfügbarkeit einer Bezugsperson, die auf das Kind feinfühlig eingehen kann, kommt es zu einer sequentiellen permanenten Traumatisierung. Wieder-holte Verluste von Bindungspersonen in den ersten Lebensjahren, etwa durch natürlichen Tod, Unfälle, Suizid, Naturkatastrophen oder das Überleben von katastrophalen Unfällen,

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bei dem die Eltern verloren gehen und das Kind als Überlebendes zurückbleibt, sind schwere traumatisierende Ereignisse, die zu Bindungsstörungen beim Kind führen. Diese Trennungserfahrungen wirken sich schädlich auf die psychische Entwicklung des Kindes aus. Hier ist auch der Aspekt der unverarbeiteten Trauer beim Kind zu beachten, bei dem der traumatische Affekt eingefroren bleibt und bei unbedeutenden anderweitigen alltägli-chen Trennungsereignissen ausgelöst werden kann. Das Erleben von sexueller Gewalt durch eine Bindungsperson oder eine Person, die für das Kind die Aufsicht hatte (Lehrer, Erzieher, Trainer), stellt eine der traumatisierendsten Erfahrungen für das Kind dar. Gera-de bei sexualisierter Gewalt durch Gera-den Vater oGera-der einem nahestehenGera-den Verwandten in den ersten Lebensjahren des Kindes kommt es zu erheblichen psychopathologischen Auswirkungen, die mit der Entwicklung einer Bindungsstörung einhergeht. Durch den un-lösbaren Bindungskonflikt des Kindes, einerseits den Vater außerhalb der Misshand-lungssituation als sichere Basis anzusehen und andererseits Angst, Panik, Schmerzen und Ausgeliefertsein während der Misshandlungssituation zu erleben, ist für das Kind nicht aushaltbar und hinterlässt einen unlösbaren Bindungskonflikt. Zu Bindungsstörun-gen können weiterhin besondere Risikokonstellationen führen, wie z.B. Risikoschwanger-schaften mit großen Ängsten der Mutter um das ungeborene Kind; Kinder, die bei Verge-waltigungen gezeugt wurden oder Kinder, die zu früh geboren werden und durch die Ne-onatologie von der Mutter lange Zeit getrennt werden (vgl. Brisch 2009, S. 108ff.).

Nachdem jetzt die Konzepte der Bindungstheorie, Methoden und Befunde der Bindungs-forschung als auch die Risikofaktoren bzw. traumatischen Erlebnisse als Auslöser für un-sichere desorganisierte Bindungen dargestellt wurden, werden im nächsten Kapitel unter-schiedliche Formen der sogenannten Bindungsstörungen aufgeführt.

4. Formen von Bindungsstörungen

Die Bindungsstörung gilt als pathologische Form der Bindungsorganisation. Eva Hederva-ri-Heller führt auf, dass die Bindungsmuster, die durch Bowlby und Ainsworth in unsicher- ambivalent, unsicher- vermeidend und desorganisiert klassifiziert wurden, sind deutlich zu unterschieden von den Bindungsstörungen.

„Eine Bindungsstörung liegt vor, wenn ein Kind aufgrund schwerer Traumatisie-rung oder häufigem Wechsel der Betreuungssituation im Laufe der ersten Lebens-jahre keine tragende Bindungsbeziehung aufbauen konnte“ (Hedervari-Heller 2014, S. 62).

Bindungsstörungen entstehen in den ersten fünf Lebensjahren und können frühestens ab dem achten Lebensmonat diagnostiziert werden, nachdem die Fremdenangst, die als

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entwicklungsbedingte Durchgangsphase beim Säugling gilt, abgeschlossen ist (vgl. Hede-rvari-Heller 2014, S. 62).

Ergänzend zu Hedervari-Heller definiert Ute Ziegenhain die frühkindliche Bindungsstörung als eine voll ausgebildete psychische Störung des Kindesalters mit kindlichen Verhal-tensweisen, die in hohem Maße von den Bindungsverhaltensweisen (wie durch die Bin-dungstheorie beschrieben) abweichen. Bei Verunsicherung oder Belastung suchen die betroffenen Kinder keine Nähe und Kontakt zur Bindungsperson, bzw. reagieren nicht mit einer zwar unsicheren, aber dennoch organisierten Strategie, mit der sie ihre inneren Be-lastungen einigermaßen regulieren können. Sie sind bei Belastung deutlich gestresst, können keinen Trost bei der Bindungsperson suchen, oder sie zeigen sich unbeteiligt und bevorzugen fremde Personen, statt die eigenen Bezugspersonen (vgl. Ziegenhain/von Kries 2009, S. 147).

Eine erste klinische Beschreibung von Bindungsstörungen erfolgte bereits in den 1940er Jahren im Zusammenhang mit mütterlicher Deprivation und Heimbetreuung von Säuglin-gen und Kleinkindern. Die Klassifizierung der unterschiedlichen Typen von Bindungsstö-rungen wurde 1980 in das DMS-III ( Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disor-ders) aufgenommen und 2006 ebenfalls im deutschen ICD-10 aufgeführt (vgl. Hedervari-Heller 2014, S. 62).

4.1. Klassifikation nach ICD 10

Ute Ziegenhain formuliert, dass sich laut ICD 10 zwei Typen von Bindungsstörungen klas-sifizieren lassen. Die „reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (F 94.1)“ und die „Bin-dungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F 94.2)“. Diese Störungen müssen laut ICD 10 noch vor dem 5. Lebensjahr begonnen haben. Die empirische Datenlage zu den Bindungsstörungen ist heute noch mangelhaft. Es existieren Schätzungen, nach denen nur 1% der Kinder, die bei der leiblichen Mutter aufwachsen, an Bindungsstörung leidet. Bei Kindern die in Pflegefamilien aufwachsen, sind dagegen 25% aller Kinder betroffen, bei Heimkindern sind 10% von Bindungsstörungen betroffen.

Reaktive Bindungsstörung F 94.1

Diese Störung zeigt sich durch ein übermäßig ängstliches und wachsames Verhalten, sowie widersprüchliche oder ambivalente Reaktionen in unterschiedlichen sozialen Situa-tionen. Es treten ebenfalls emotionale Auffälligkeiten auf, die sich durch Furchtsamkeit, Rückzugsverhalten sowie aggressivem Verhalten gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen als Reaktion auf das eigene Unglücklichsein beobachten lassen. Die Interaktio-nen mit Gleichaltrigen, wie z.B. Soziales Spielen sind eingeschränkt. In der klinischen Praxis sind dies in den meisten Fällen Kinder mit ausgeprägter Vernachlässigung, oder psychischer und körperlicher Misshandlung.

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16 Bindungsstörung mit Enthemmung F 94.2

Ein Kriterium dieser Bindungsstörung ist das Eingehen von diffusen, also wenig emotional bezogenen bzw. mangelnden persönliche Bindungen. Die zeigen sich darin, dass die be-troffenen Kinder ihre Bindungsbedürfnisse unterschiedslos gegenüber Bezugspersonen und unvertrauten Personen zeigen. Des Weiteren treten situationsübergreifend wenig modulierte und distanzlose Interaktionen mit unvertrauten Personen auf sowie anklam-merndes Verhalten oder eine extreme Suche nach Aufmerksamkeit. Auch hier ist wieder aggressives Verhalten gegen sich selbst als auch gegen andere beobachtbar. Dazu kommen eingeschränkte Interaktionen mit Gleichaltrigen und eingeschränktes soziales Spiel ( vgl. Ziegenhain/von Kries 2009, S. 148).

4.2. Typologie von Bindungsstörungen nach Karl Heinz Brisch

Die Möglichkeit der Diagnostik von Bindungsstörungen in nur 2 Kategorien schränkt eine diagnostische Differenzierung sehr ein und spiegelt nicht das Spektrum von Bindungsstö-rungen bei Kindern und Jugendlichen wider. Das Konzept der BindungsstöBindungsstö-rungen wurde daher von Karl-Heinz Brisch erweitert und um zusätzliche Möglichkeiten der Diagnostik ergänzt. Die Klassifikation integriert sowohl interaktionelle als auch bindungsrelevante Kriterien. Sie kann sowohl im Kindes- und Kleinkindalter, als auch im Kinder- und Ju-gendalter angewendet werden (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Typ 1: Ohne Zeichen von Bindungsverhalten

Diese Kinder zeigen überhaupt kein Bindungsverhalten. Sie wenden sich auch in Bedro-hungssituationen an keine Bezugsperson, und in Trennungssituationen zeigen sie keinen Trennungsprotest. In Deutschland leben inzwischen größere Gruppen von Kindern vaga-bundierend auf der Straße. Einige haben sich soweit von diesen Gruppen entfernt, dass sie wie „einsame Wölfe“ leben. Sie verhalten sich so, als wenn sie keinen Menschen und auch keine Bindungsbeziehung brauchen. Bei Verletzungen oder Krankheiten, wo man spätestens dann erwarten kann, dass sie sich hilfesuchend an eine Bezugsperson wen-den, sterben oder verbluten die Kinder eher, als dass sie sich jemanden anvertrauen. Hier ist das Bindungssystem des Kindes soweit deaktiviert und abgewehrt, so dass es nicht mehr zu einer hilfesuchenden Verhaltensweise fähig ist. In der Regel haben die Kinder vielfältige Trennungen, Traumatisierungen durch Gewalt, verschiedene Heimaufenthalte und Beziehungsabbrüche schon in früher Kindheit erlebt, sodass sie vielleicht nur überle-ben konnten, indem der Wunsch nach Bindung, Schutz und emotionaler Geborgenheit und Sicherheit von ihnen extrem abgewehrt wurde. Nur so konnten sie die vielen Verlet-zungen an Körper und Seele bewältigen. Diagnostisch muss diese Störung von einer Er-krankung aus dem autistischem Formenkreis abgegrenzt werden. Beim Autismus

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men zusätzlich Sprachentwicklungsverzögerungen, Vermeidung von Körper- und Blick-kontakt und zwanghafte Verhaltensweisen dazu (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Typ II: Undifferenziertes Bindungsverhalten Subtyp II A: Soziale Promiskuität

Diese Bindungsstörung ist gekennzeichnet durch ein undifferenziertes Bindungsverhalten. Die betroffenen Kinder zeigen allen Personen gegenüber eine undifferenzierte Freund-lichkeit. Sie suchen in Stresssituationen zwar Trost, aber ohne eine Bevorzugung einer bestimmten Bindungsperson. Jeder der sich in ihrer Nähe befindet, kann sie auf den Arm nehmen und trösten. Sie konnten keine stabile spezifische Bindung zu einer Pflegeperson entwickeln. Dieser Subtyp wird, wie schon oben beschrieben, im ICD 10 unter dem Be-griff: „Bindungsstörung mit Enthemmung F 94.2“ geführt. Die betroffenen Kinder haben häufig schon früh vielfältige Wechsel zwischen Heimen und Pflegestellen erlebt. Ihnen ist es doch gelungen, eine basale Strategie aus den Bindungsverhaltensweisen zu entwi-ckeln, indem sie sich zumindest in Bedrohungssituationen an Menschen wenden. Sie konnten aber nie eine stabile Bindungsbeziehung über einen längeren Zeitraum erfahren. Daher sind ihre geäußerten Bedürfnisse nach Bindung austauschbar, wenig spezifisch, sozial promiskuitiv. Es kommt aber nicht zu einem totalen sozialen Rückzug, wie im ers-ten Störungsbild beschrieben (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Subtyp II B: Unfallrisikotyp

Die Kinder, die unter dieser Bindungsstörung leiden, neigen zu einem deutlichen Risiko-verhalten. In Gefahrensituationen suchen sie nicht eine sichernde Bindungsperson auf, sondern begeben sich vielmehr durch zusätzliches Risikoverhalten in unfallträchtige Si-tuationen. Durch die schmerzhaften Unfallerfahrungen, die diese Kinder machen, erfolgt kein Lerneffekt. Sie merken auch in Zukunft nicht, wie erwartbar dieses Gefahren sind, sondern suchen trotz normaler Intelligenz diese gefährlichen Situationen immer wieder auf. Sie führen immer wieder aktiv durch ihr Verhalten Unfälle und Verletzungen, oft mit schlimmen Folgen für die Kinder selbst, herbei. Damit sich die Bindungspersonen emotio-nal wirklich intensiv auf das Bindungsverhalten ihrer Kinder einlassen und etwa mit Schutz und Fürsorge reagieren, reicht nicht ein fieberhafter Infekt oder ein aufgeschlagenes Knie. Das Bedürfnis nach Bindung wird erst wahrgenommen, wenn lebensbedrohliche Unfälle passieren. Erst dann reagieren diese Eltern oder auch Passanten und begleiten die Kin-der in die Klinik. Die KinKin-der genießen die Versorgung währen des Aufenthaltes im Kran-kenhaus und nehmen auch alle anderen Umstände, wie Operationen in Kauf. Nach Ent-lassung aus dem Krankenhaus nimmt die elterliche Fürsorge sofort ab und den Kindern

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bleibt nichts weiter übrig, als erneut einen Unfall zu provozieren. Die Kinder werden zu Drehtür-Patienten in der Notaufnahme mit bleibenden körperlichen Unfallfolgen.

Hier ist in Studien herausgestellt worden, dass bei Kindern mit einer hyperkinetischen Störung ebenfalls gehäuft Unfälle festgestellt werden. In zukünftigen Forschungsreihen müsste untersucht werden, inwieweit hyperkinetische Kinder auch in ihrem Bindungsver-halten gestört sind. (vgl. Brisch 2002, Internetquelle)

Typ III: Gesteigertes Bindungsverhalten

Kinder, die von diesem Störungsbild betroffen sind, zeigen übermäßige Ängstlichkeit in Trennungssituationen und extremes Klammern an die Bindungsperson. Die Kinder haben eine Bindungsperson, bei der sie aber nur in absoluter Nähe einigermaßen ruhig und zu-frieden sind. Räumliche Nähe zur Bindungsperson reicht oft nicht aus, um sie zu beruhi-gen. Dadurch sind die Kinder in ihrem freien Spiel, ihr altersgemäßes erkunden der Um-gebung oder in der Möglichkeit des Schulbesuches eingeschränkt. Aber auch in der Nähe ihrer Bezugsperson wirken sie ängstlich und schüchtern und können sich kaum trennen. Bei unvermeidlichen Trennungen setzen sie massiven Widerstand und lauten Protest ein und reagieren mit größtem Stress. Babysitter oder Erzieherinnen in Krippen und Kinder-gärten werden von den Kindern nicht angenommen. Die Trennungspanik ist mit somati-schen Schmerzen verbunden, wie Kopf- und Bauchschmerzen. Der lautstarke Protest bei der Trennung von der Bezugsperson wird bis ins Schulalter fortgesetzt, sodass dann spä-testens die Eltern eine psychiatrische Praxis aufsuchen. Oft ist die Bindungsperson selbst sehr ängstlich und hat mit Trennungen größere Probleme. In Trennungssituationen sen-det sie dem Kind widersprüchliche Signale, wie: “Nun geh endlich, aber verlass mich bitte nicht“ (Brisch 2002, Internetquelle). Dadurch kann das Kind kein sichereres Bindungsmus-ter entwickeln (vgl. Brisch 2002, InBindungsmus-ternetquelle) Diese Störung lässt sich bei Kindern be-obachten, deren Mütter unter einer Angststörung mit extremen Verlustängsten leiden. Ihre Kinder müssen für sie eine sichere emotionale Basis darstellen, damit sich die Mutter auf diese Weise selbst psychisch stabilisieren kann. Wenn sich das Kind emotional selbst-ständig verhält, und sich von der Mutter vorübergehend trennt, gerät die Mutter in pani-sche Angst. Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern kann man auch das exzessive Klammern beobachten, doch bei dem Typ III- Störungsbild liegt es in einer extrem über-steigerten Form vor (vgl. Brisch 2010, S. 105f.)

Typ IV: Gehemmtes Bindungsverhalten

Bei Trennungen von ihren Bezugspersonen setzen diese Kinder nur geringen oder gar keinen Widerstand entgegen. Das Bindungsverhalten gegenüber der Bezugsperson wirkt

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gehemmt, vergleichbar mit der vorab beschriebenen ICD-10 Diagnose „Reaktive Bin-dungsstörung“. Sie fallen durch eine übermäßige Anpassung auf. Befehle und Aufforde-rungen der Bezugsperson werden von den Kindern ohne Protest und meistens umgehend erfüllt. Der positive emotionale Austausch mit der Bezugsperson wirkt eher eingeschränkt. In Abwesenheit der Bezugsperson können die Kinder ihre Gefühle freier und offener re-genüber fremden Personen zum Ausdruck bringen. Die Kinder kommen häufig aus Fami-lien, deren Erziehungsstil durch die Ausübung von körperlicher Gewalt oder Gewaltandro-hungen geprägt ist. Sie haben sich darauf eingestellt, ihre Bindungswünsche vorsichtig und zurückhaltend zu äußern, da sie einerseits bei den Bezugspersonen Schutz und Ge-borgenheit erwarten, andererseits aber Angst vor der Gewalt haben (vgl. Brisch 2010, S. 106). Die Eltern dieser Kinder sind in der Regel sehr stolz, dass sich ihre Kinder auch in Bedrohungssituationen so angepasst brav verhalten. Sie empfinden das Verhalten ihres Kindes als nicht auffällig und sind in der Regel auch nicht bereit, sich auf eine Therapie einzulassen. Erst wenn diese Kinder vom Jugendamt in Obhut genommen werden, da sie von Deprivation, körperlicher Misshandlung und Gewalt bedroht sind, kommen sie durch ihre Pflegefamilien in Therapie (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Typ V: Aggressives Verhalten

Diese Kinder gestalten ihre Bindungsbeziehungen vorzugsweise durch körperliche und/oder verbale Aggressionen. Das aggressive Beziehungs- und Kontaktverhalten steht ganz im Vordergrund der Symptomatik., so dass diese Kinder sehr früh zur Diagnostik vorgestellt werden. Das Familienklima ist durch auffallend aggressive Verhaltensweisen unter den Familienmitgliedern geprägt. Die Aggressionen sind nicht nur physischer Ge-walt, sondern zeigen sich durch verbale und nonverbale Formen der Aggression. Von der Familie werden diese aggressiven Spannungen geleugnet und nicht wahrgenommen (vgl. Brisch 2010, S. 107). Die Kinder haben zwar ein oder mehrere bevorzugte Bezugsperso-nen, aber sowohl mit denen als auch mit fremden Personen nehmen sie über aggressive Interaktionsformen sowohl körperlicher als auch verbaler Art Kontakt auf. Da Außenste-hende diese aggressive Form der Kontaktaufnahme nicht verstehen, erlebt das Kind per-manente Zurückweisung. Die ursprünglichen Bindungswünsche des Kindes werden durch die aggressiven Verhaltensweisen nicht mehr erkennbar (vgl. Brisch 2002, Internetquelle). Typ VI: Bindungsstörung mit Rollenumkehr

Bei dieser Bindungsstörung kommt es zu einer Rollenumkehr. Diese Kinder müssen für ihre Eltern als sichere emotionale Basis dienen, da diese entweder körperlich erkrankt sind oder an Depressionen mit Suizidabsichten und Ängsten leiden. Diese Kinder können ihre Eltern nicht als Sicherheits- und Schutzhafen nutzen. Dabei kommt es zur gehemm-ten und verzögergehemm-ten Ablösungsentwicklung und der Entwicklung einer Angstbindung an

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die Eltern. Die Kinder überwachen in ängstlicher Spannung das Wohlergehen ihrer Eltern, da sie große Sorgen haben, dass den Eltern was zustößt. In der Regel bewegen sie sich ungern von ihren Bezugspersonen weg, wirken durch ihre feinfühlige besorgte Art sehr vernünftig und erwachsen. Sie haben ihre eigenen Wünsche nach Schutz und Geborgen-heit aufgegeben. Die alltägliche Beziehungsarbeit mit ihren Eltern überfordert sie oft emo-tional, erschöpft sie und hinterlasst Schuldgefühle. Vor allem wenn trotz aller Bemühun-gen des Kindes es doch nicht gelingt, die Mutter z.B. vom Trinken abzuhalten (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Typ VII: Bindungsstörung mit psychosomatischer Symptomatik

Zu psychosomatischen Symptomen kann es ebenfalls aufgrund von Störungen in der Bindung kommen.

Subtyp A: Psychogene Wachstumsretardierung

Bei emotionaler und körperlicher Verwahrlosung und Deprivation kommt es zu einer psy-chogenen, nicht durch organische Ursachen bedingte Gedeihstörungen und Wachstums-retardierung. Bei emotional vermeidender bis distanzierter Haltung der Bezugspersonen kann es trotz körperlicher Versorgung zum Stillstand im Wachstum kommen. Ein klassi-sches Beispiel der frühkindlichen Deprivation und Hospitalismus wird durch Rene‘ Spitz beschrieben. Das Phänomen der emotionalen Deprivation ist keine auf die Unterschichts-klientel beschränkte Diagnose, sondern ist in allen sozialen Schichten zu beobachten (vgl. Brisch 2002, Internetquelle).

Subtyp B: psychosomatische Symptomatik

Dieser Typ tritt häufig bei Kindern auf, deren Eltern an psychischen Störungen, wie Post-partale Depressionen oder Psychosen leiden. Da die Eltern ein unvorhersehbares Verhal-ten gegenüber dem Kind zeigen, und nicht emotional zur Verfügung stehen, entwickelt das Kind psychosomatische Störungen wie Schrei- Schlaf- und Essstörungen im Säug-lingsalter, später auch Kopf- und Bauchschmerzen (vgl. Brisch 2002, Internetquelle). Da diese Arbeit Zusammenhänge zwischen Bindungsstörungen und selbstschädigendem Verhalten von Kindern und Jugendlichen darstellen möchte, wird jetzt eine Einführung in die Terminologie der Selbstschädigungen erfolgen.

5. Selbstschädigendes Verhalten

Nach Michael Kaess lässt die große Bandbreite selbstschädigender Verhaltensweisen, die im Gesamtspektrum menschlichen Verhaltens vorkommen kann, deutlich werden,

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dass diese in den verschiedensten Kontexten auftreten und eine Vielzahl an Ursachen haben. Selbstschädigendes Verhalten kann grundsätzlich alles beinhalten, was dem Kör-per einer Person Schaden zufügt. Typische selbstverletzende Verhaltensweisen, wie dem Selbstzufügen von Schnitt-, Brand- oder Bisswunden werden ergänzt durch Handlungen wie das Fingernägelkauen, Hautschädigungen im Rahmen eines Waschzwanges, Tat-tooing und Piercing. Der Begriff Selbstschädigung umfasst zusätzlich Promiskuität (vor allem ungeschützt), Drogenmissbrauch, Rauchen und pathologisches Essverhalten eben-so wie Hochrisikoverhalten, bei dem der körperliche Schaden, um ein gewisses Ziel zu erreichen, in Kauf genommen wird. Letztendlich gehört auch der Suizid oder der Suizid-versuch zu den selbstschädigenden Verhaltensweisen (vgl. Kaess 2012, S. 21).

In den letzten Jahren hat die Selbstschädigung als häufig auftretendes Verhalten von Ju-gendlichen deutlich zugenommen (vgl. Kaess 2012, S. 19).

Um den Bezug zwischen bindungsgestörten Kindern und Jugendlichen und den gerade in dieser Gruppe gehäuft auftretenden Selbstgefährdungen und - verletzungen besser dar-stellen zu können, wird an dieser Stelle auch auf den Begriff Risikoverhalten als erweiter-tes selbstschädigendes Verhalten eingegangen.

5.1. Terminologie und Definitionen

5.1.1. Selbstschädigung

Der Begriff des selbstschädigenden Verhaltens ist bis heute nicht eindeutig definiert und kein fester Ausdruck. Es besteht momentan eine relativ uneinheitliche und komplizierte Nomenklatur, die in dieser Arbeit nur in Ausschnitten dargestellt werden kann. 1938 wur-de durch Menninger wur-der erste Versuch unternommen, selbstverletzenwur-des Verhalten zu definieren. Er bezeichnete jenes selbstverletzende Verhalten, welches heute vor allem von Jugendlichen gezeigt wird, wie Schneiden, Ritzen und Verbrennen der Haut als „Neu-rotische Selbstverstümmelung“. Er sah dieses Verhalten ähnlich wie auch die Suizidalität als Ausdruck eines Todestriebes, der sich auf vielseitige Art und Weise, meistens in Form von selbstschädigenden Handlungen, manifestiert. Im Jahre 1983 wurde erstmalig das selbstschädigende Verhalten als eigenständiges Syndrom beschrieben. Und bis heute wird die Frage diskutiert, ob Selbstverletzung ausschließlich ein Symptom verschiedener Erkrankungen darstellt oder auch eine eigene Krankheitsentität, also ein eigenes psycho-pathologisches Syndrom darstellt (vgl. Kaess 2012, S. 19).

Der Begriff „absichtliche Selbstschädigung“ kommt aus dem englischen Sprachraum, und beschreibt das selbstschädigende Verhalten als eine freiwillige Handlung, die mit der Ab-sicht, sich selbst zu schädigen, unternommen wird und nicht tödlich endet. Zu dieses „ab-sichtlichen Selbstschädigung gehören neben der Selbstverletzung der Haut auch die Ein-nahme einer Überdosis oder der Konsum illegaler Subtanzen, das Schlucken von

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ten, um sich selbst zu schaden. Demzufolge umfasst diese Definition auch die indirekte körperliche Schädigung, und es wird keine klare Abgrenzung zu suizidalem Verhalten vorgenommen (vgl. ebd. S. 20)

5.1.2. Selbstverletzung

Betrachtet man die deutschsprachige Literatur, wird hier hauptsächlich der Begriff „selbst-verletzendes Verhalten“ benutzt. Es stellt einen weit gefassten Begriff ohne nähere Defini-tionen und klare Abgrenzungen dar, und grenzt auch nicht die Suizidalität ab. 2009 griffen Nitkowski und Petermann das Konzept der nicht-suizidalen Selbstverletzung auf und defi-nierten selbstverletzendes Verhalten wie folgt:

„Selbstverletzendes Verhalten ist eine funktionell motivierte, direkte und offene Verletzung des eigenen Körpers, die nicht sozial akzeptiert ist und ohne Suizidabsichten vorgenom-men wird.“ (Nitkowski/ Petermann, zit. nach Kaess 2012, S. 21)

Dies ist die zurzeit gebräuchlichste Definition von selbstverletzendem Verhalten (vgl. Ka-ess 2012, S. 21).

Harry Friebel ergänzt diese Definition des selbstverletzenden Verhaltens darin, dass die-ses Verhalten keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom für vielfältige biogra-fische Krisen- Grenz- und Leidenserfahrungen ist. Diese Erfahrungen sind verbunden mit einem Komplex rigider sozialer und gesellschaftlicher Normen von der Pubertät bis zur Adoleszenz. Das selbstverletzendes Verhalten wird von Friebel als spannungsreicher Bogen vom Hilferuf (Aufmerksamkeit durch die Eltern oder Peers) über den Versuch einer Emotionsregelung bis hin zur Selbsthilfe (die selbstverletzende Handlung an sich) be-schrieben. Als bekannteste Form des Selbstverletzenden Verhaltens gilt das Ritzen mit scharfen Gegenständen in die Haut. Weitere Selbstverletzungen sind Aufkratzen der Haut, sich beißen, absichtliche Verbrennung von Körperteilen oder das Schlagen des Kopfes gegen die Wand. Konventionell wird das Selbstverletzende Verhalten definiert als funktionell motivierte, direkte und offene Verletzung des eigenen Körpers, das nicht sozial akzeptiert wird und ohne Suizidabsicht vorgenommen wird (vgl. Friebel 2015, S. 428).

5.1.3. Risiko -Verhalten

Jürgen Raithel sieht den Faktor Risikoverhalten als jugendspezifische Altersnorm. Das Ausprobieren von Möglichkeiten und Verbotenem spielt eine wichtige Rolle im Entwick-lungsprozess zum Erwachsenwerden und ist mehrfach entwicklungsfunktional. Dadurch wird Exklusion versus Inklusion sowie symbolische Selbstinitiationen, Selbstbestätigung und Bewältigungserfahrungen auf emotionaler sozialer und kognitiver Ebene ermöglicht. Ein Teil der Jugendkultur sind Risikoverhaltensweisen. Sie bieten dem Einzelnen zentrale Stilisierungselemente zur Geschlechterrolleninszenierung und somit zur Identitätsbildung.

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„Es geht eine Gefahr bzw. Unsicherheit einher. In erster Linie wird die Wahrscheinlichkeit eines Schadens bzw. die Möglichkeit einer unerwünschten Konsequenz assoziiert. Das Risikoverhalten gilt als ein unsicherheitsbestimmtes Handeln, dessen unerwünschte Fol-gen mit einer Schadenswahrscheinlichkeit einhergeht“ (Raithel 2016, S. 242).

Je nach Schädigungsdimension lassen sich Risikoverhaltensweisen einer gesundheitli-chen, delinquenten und finanziellen Dimension zuordnen (vgl. Raithel 2016, S. 243).

Tabelle 1: Dimensionen der Risikoverhaltensweisen

Risikodimension Unsicherheit bzw. Schä-digung Verhaltensbereiche/ Handlungsfelder Gesundheitliches Risikoverhalten Lebensbedrohung, Unfall, Verletzung, Krankheit, Tod

Ernährung, Straßenverkehr, Lärm, Sexualität, Gewalt, Sport, Hygiene, Alkohol, Tabak, illegale Drogen, Sui-zidalität, Mutproben

Delinquentes/kriminelles Risikoverhalten

Sanktion, Strafmaßnahme Straßenverkehr, illegale Drogen, Gewalt, Sachbe-schädigung, Diebstahl, Ein-bruch, „Hacken“, Betrug, Mutproben

Finanzielles Risikoverhalten Finanzielle Verpflichtung, Verschuldung, Pfändung

Illegale Drogen, Konsum, Straßenverkehr, Glücks-spiel, Sachbeschädigung, Diebstahl, „Hacken“, Betrug Quelle: Raithel 2016, S. 243

Die Spezifik des gesundheitlichen Risikoverhaltens liegt in der physischen und psychi-schen Schädigung und Lebensbedrohung, die sich dann in Verletzungen, Krankheiten oder dem Tod ausdrücken kann. Bei dem delinquenten rechtsnormbezogenen Risikover-halten geht es in aller Linie um das „Erwischt werden“ und der im Anschluss folgenden Sanktionierung des Rechtsverstoßes. Und beim finanziellen Risikoverhalten liegt das Un-sicherheitspotenzial in einer monetären Schädigung, was sich in einer Verschuldung aus-drücken kann (vgl. Raithel, S. 243).

Die Risikobereitschaft im Kindes- und Jugendalter lässt sich nach Maria Limbourg und Karl Reiter geschlechtsspezifisch unterscheiden. Tödliche Verkehrsunfälle von 9- bis 17 jährigen Kindern und Jugendlichen sind nicht selten Folge von Mutproben. Forschungser-gebnisse haben gezeigt, dass Jungen häufiger als Mädchen Mutproben durchführen. Und

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diese Mutproben unterscheiden sich in ihrem Verletzungspotenzial. Jungen bevorzugen lebensgefährliche Mutproben wie S-Bahn-Surfen, Sprünge von Brücken und Gelände, Klettern auf Strommasten. Mädchen führen Mutproben in Form von sozialen Mutproben (Klauen, Streiche) und Schmerzmutproben durch (mit Nadeln stechen). Bei der experi-mentalen Arbeit mit Jungen im Alter von 5-6 Jahren lassen sich zwei Persönlichkeitstypen unterscheiden. Den Typ „risk taker“ und den „risk avoider“. Hier wurden Kinder im Stra-ßenverkehr beim Überqueren der Straße beobachtet. Die „risk taker“ Persönlichkeitstypen wählen viel zu kleine Lücken zwischen den Fahrzeugen, um die Straße zu überqueren. Die Jungen vom Typ „risk avoider“ warten länger am Straßenrand, um dann bei größeren Lücken zwischen den Fahrzeugen die Straße zu überqueren. In einer Studie mit 4720 Kindern aus Österreich wurde gezeigt, dass die quirligen Draufgänger besonders unfall-gefährdet sind (vgl. Limbourg/Reiter, S. 209).

5.2. Sieben Funktionen selbstverletzenden Verhaltens nach Klonsky

E.D.Klonsky beschreibt im Jahr 2007 insgesamt 7 Funktionen selbstverletzenden Verhal-tens.

1. Affektregulation

Dies ist die häufigste und am besten untersuchte Funktion des selbstverletzenden Verhal-tens. Die Selbstverletzung dient der Erleichterung von einer akut intensiven negativen Stimmungslage oder der Spannungsreduktion. Die Kinder und Jugendliche, die die Selbstverletzung zu diesem Zwecke einsetzen, leiden häufig unter intensive und für sie schwer kontrollierbare Stimmungseinbrüche. Diese stark negativen Affekte können ent-weder im Rahmen von akuten Lebensereignissen, als auch durch psychische Depressio-nen und insbesondere der Borderline-Störung entstehen. Diese Kinder und Jugendlichen weisen meist deutliche Defizite in der Emotionsregulation auf (vgl. Klonsky, zit. nach Ka-ess 2012, S. 73).

2. Selbstbestrafung

Oftmals dient die Selbstverletzung auch als eigene Bestrafung. Hier stehen Gefühle von Schuld und Wut auf sich selbst im Vordergrund. In Studien wurde herausgestellt, dass Charaktermerkmale von sich selbstverletzenden Kinder und Jugendlichen eine gegen sich selbst gerichtete Wut, Selbstabwertung und ein niedriges Selbstwertgefühl darstellen. Bei Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Missbrauchserfahrungen oder extremer Entwer-tung ihres Erlebens und Verhaltens durch die Bindungspersonen geworden sind, zeigt

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