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Über neue Todeszonen in Europa

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José Antonio Zamora Zaragoza

Grenze und Gewalt

Über neue Todeszonen in Europa

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist.

Walter Benjamin

I

Die Gründe für die Verschärfung der Einwanderungskontrollen und für die Verwandlung Europas in eine »Festung« liegen, so hat es den Anschein, in der ökonomischen Krise mit ihren sozialen Folgen; in der zunehmen- den Prekarisierung breiter Schichten und den damit verbundenen Exis- tenzängsten und rücksichtslosen Kämpfen um Überlebenschancen. Die- ser Anschein rührt zum Teil daher, dass die Regierungen ‒ oft mit gezielter Inkompetenz ‒ eine Art Politik der allseitigen Überforderung mit dem Ziel betreiben, einen Handlungszwang zu produzieren. Die nicht allzu unterschwellige Botschaft lautet: »Die Lage ist ernst. Damit es euch nicht schlechter geht, müssen wir Grenzen setzen und sichern. Wir wür- den Barmherzigkeit walten lassen, können aber nicht.« Diese Botschaft darf mit breiter Zustimmung rechnen, denn »erst kommt das Fressen, dann die Moral«. Und das weiß jeder, auch die mustergültig vergesell- schafteten, mit guten moralischen und demokratischen Einstellungen ausgestatteten Staatsbürger, die das Kapital als Luxusmodell in einigen Weltregionen hervorgebracht hat.

Die systematische Ablehnung von Asylgesuchen und die Absperrung der europäischen Staaten gegen »illegale« Einwanderer, meist als »Wirt- schaftsflüchtlinge« bezeichnet  – als wäre deren Motiv kein ausreichen- des –, ist aber keine Reaktion auf eine erst durch die Krise entstandene Notsituation oder gar auf einen Ausnahmezustand, sondern die andere Seite des Auf baus eines Binnenmarktes in der offenen Konkurrenz des kapitalistischen Weltmarktes. Es geht um die Kontrolle des Zugangs zum europäischen Arbeitsmarkt unter den Bedingungen der neoliberalen

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Umwandlung kapitalistischer Gesellschaften. Nicht erst heute, wenn die Zentren der kapitalistischen Wirtschaft in einer tiefen Krise stecken, wird der Zugang streng kontrolliert. Die Einwanderungspolitik  – auch die scheinbar großzügigere  – war schon immer ein Moment der Arbeits- marktpolitik und lässt sich seit den 1970er Jahren nicht mehr von den Strategien der Prekarisierung und der Rücknahme fordistischer Schutz- garantien trennen. Die Formierung Europas spiegelt sich in der Einwan- derungspolitik der Nationalstaaten. Nirgendwo wird die Unterordnung politischer Rechte unter die ökonomische Logik so deutlich wie gegen- über Migranten.

In den letzten Jahren mussten wir Zeugen einer Vermehrung von Inter- nierungslagern und Haftanstalten für Ausländer in ganz Europa werden, die das sichtbarste Zeichen eines Wandels in der Einwanderungspolitik geworden ist. Die Kriminalisierung der Migranten und massive Auswei- sungen beherrschen die Migrationspolitik Europas, was man beispiels- weise an der Richtlinie 2008/115/EG zur »Rückführung« illegal aufhälti- ger Angehöriger von Nicht-EU-Staaten sehen kann, die als »Richtlinie der Schande« bekannt geworden ist. Es ist nur ein Beispiel unter vielen. Im Nachhinein lassen die verschiedenen Entscheidungen und Maßnahmen der meisten europäischen Regierungen eine deutliche Tendenz erkennen, die darin besteht, sogenannte Not-Richtlinien, die durch angebliche Aus- nahmesituationen legitimiert wurden, gesetzlich zu normalisieren. Da - durch ist in ganz Europa ein militarisiertes Dispositiv von Lagern, lände- rübergreifenden Koordinierungsstrukturen der Repressionsorgane und juristischen Verfahren zur Beherrschung, Kontrolle und Verhinderung der Bewegungsfreiheit von Migranten entstanden, wie es in keinem ande- ren Bereich der Zusammenarbeit der europäischen Staaten existiert.

Die Diskrepanz zwischen den politischen Diskursen über den Um - gang mit der Migration und der konkreten Gestaltung der Rechtsgrund- lage sowie der politischen Umsetzung wird immer größer. Die angeb- lich umfassende Perspektive solle nicht nur Grenzkontrollmechanismen gegen »illegale« Einwanderung und die Rückführung der papierlosen Migranten, sondern auch die Bewahrung einer Menschenrechtspolitik, die Integration der legalisierten Einwanderer und die Zusammenarbeits-, Friedens- und Entwicklungspolitik mit den Herkunftsländern einschlie- ßen – so weit die offiziellen Reden. Der Europäische Pakt zu Einwanderung und Asyl (2008) ist ein Paradebeispiel dieses Missverhältnisses: Nur bei der Kontrolle wird man konkret und effektiv, in allen anderen Bereichen bleibt man diffus und bei bloßen Willensbekundungen.

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II

Vor diesem Hintergrund muss der politische Kampf gegen die Politik der Illegalisierung, der Entrechtung, der Entmenschlichung von Migranten stets mit Widersprüchen und Inkonsistenzen rechnen. Die politischen Gruppen, die sich für die Migranten einsetzen, nehmen gewisse Ideali- sierungen in Anspruch, die aus der Perspektive kritischer Theorie höchst problematisch sind. Sie müssen sich der Menschenrechts- und Bürger- rechtsdiskurse bedienen, um Verbesserungen der Lage von Migranten zu erkämpfen, wissend, dass diese Diskurse kaum emanzipatorische Durch- schlagskraft besitzen oder eben bloße Idealisierungen darstellen. Repres- sionsorgane, Verwaltungsfunktionäre und politische Verantwortliche wissen um deren reale Aushöhlung, sie wissen um die stete Verschiebung der Toleranzgrenzen bei der Bevölkerung gegenüber Verstößen gegen die Menschenrechte, wenn sie bestimmte stigmatisierte und geschwächte Gruppen betreffen. Die Orte, an denen diese Aushöhlung real wird, sind die Polizeireviere, Grenzeinrichtungen, Ausländerbehörden und Inter- nierungslager für Migranten. Die Linderung von Leid im Rahmen der bestehenden Verhältnisse aber darf weder bagatellisiert noch verdammt werden nur um der abstrakten Opposition gegen das Ganze willen.

Wahre Praxis entzündet sich am Leiden und hat deshalb ihr telos in dessen Negation. Praktische Aufhebung des Leidens duldet keine Vertagung.

Politische Praxis muss versuchen, diesen Impuls zu wahren, ohne auf das Wegräumen der letzten Ursache dieses Leids zu verzichten.

Dieser Widerspruch gehört zur täglichen Erfahrung der politischen Gruppen, die mit den Migranten gegen Entrechtung und Entmenschli- chung kämpfen. Man bekämpft die Einwanderungsgesetze und man benutzt sie, um bestimmte Verstöße anzuklagen. Politische Protestmär- sche, Volksbegehren gegen bestehende Gesetze, Öffentlichkeitsarbeit, Denunziationskampagnen gegen Internierungslager für Migranten; alle diese Formen von Praxis werden von einer Arbeit der Begleitung, der Beratung, der Hilfeleistung in alltäglichen Dingen ergänzt. Viele der Solidaritätsbündnisse, die in Südspanien »illegal« Eingewanderte in Schutzräumen unterbringen, um sie vor einer »Express-Abschiebung« zu schützen, wissen, dass diese papierlosen Migranten in der Schattenwirt- schaft ausgebeutet und misshandelt werden. Die politischen Gruppen, die Kompromisse eingehen müssen, um als Organisationen Zugang zu den Internierungslagern zu bekommen, wollen nicht, dass diese Lager

»effektiv« funktionieren, sondern dass sie abgeschafft werden. Ihr Zugang

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legitimiert aber zugleich das Funktionieren der Lager. Alle diese Wider- sprüche politischer Praxis lassen sich nicht einfach wegschaffen. Um den Ohnmächtigen aber zumindest ansatzweise das zukommen zu lassen, was in den offiziellen Reden nur diffus versprochen wird, gerät politi- sche Praxis in einen zerreißenden Widerspruch mit jener staatlichen Politik, die machtvoll durchgesetzt wird. Der politische Kampf mit und für Migranten ist kein Kampf um Inklusion in eine Gesellschaft, deren Strukturen durch Ungerechtigkeit und Diskriminierung bestimmt sind.

Die praktische Erfahrung im politischen Kampf braucht eine unnachgie- bige Kritik der Wirklichkeit. Sie kann nicht auf die Ref lexion ihrer Schwierigkeiten verzichten: des Grundes, warum sich am ungerechten Zustand so wenig ändert.

III

Die Einwanderungspolitik in Europa wird unter einem dreifachen Motto geführt: Sie sollen ihre Länder nicht verlassen. Sie dürfen in unsere Länder nicht einreisen. Sie müssen ausgewiesen werden. Die EU- Staaten haben große Summen investiert, um dieses dreifache Motto zu verwirklichen, ohne verhindern zu können, dass eine andauernde Mig- rationsbewegung fortbesteht. Egal wie die Situation in den Herkunfts- ländern aussieht und welche Verantwortung die reichen Staaten dafür tragen, es wird mit allen Mitteln versucht, die Menschen zum Verbleib in ihren eigenen Ländern zu bewegen. Wir haben schnell gelernt weg- zuschauen, wenn Regierungen Drittstaaten die schmutzige Arbeit für uns machen lassen und dabei nicht gerade zimperlich vorgehen. Als

»gescheiterte« oder als »undemokratische« Staaten sind sie uns gerade recht als Gendarme vor unserer Haustür. So wie in der Wirtschaft der Standortfaktor eine Kosten-Nutzen-Frage ist, was zur Auslagerung von Teilen der Produktion geführt hat, so wurden auch die Grenzkontrollen durch Auslagerung neu formiert, auch um die durch internationale Abkommen geschützte Einhaltung von Menschenrechten (Nicht-Zu- rückweisung, Informationsrecht, kostenloser Rechtsbeistand, Rechtsbe- helf, Recht auf Dolmetscher usw.) zu umgehen. Die Auslagerung der Kontrollen und der Abschreckungsdispositive hat an den Grenzen Euro- pas einen Raum der Unfreiheit, der äußersten Unsicherheit, der Unge- rechtigkeit und des un menschlichen Leidens entstehen lassen, für den die europäische Einwanderungspolitik eine doppelte Verantwortung

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trägt. Die der Mittäterschaft und der Kollusion, aber auch die der Dis- tanzierung und Unsichtbarmachung zahlloser Leiden. Migranten wer- den behandelt wie ein Angreifer im Rugby: Erst soll eine Einsatzgruppe ihn mit aller Härte blockieren und ihn dann möglichst neutralisieren.

Dass dabei beispielsweise Menschen aus dem subsaharischen Afrika von der marokkanischen oder algerischen Polizei in Busse gesteckt und mit- ten in der Wüste dem sicheren Tod überlassen werden, tut nichts zur Sache: Sie sollen ihre Länder nicht verlassen! Die manifeste Drohung mit Leiden und Tod gehört als Abschreckung seit je zu den Mitteln der Machtausübung.

Wenn es nicht gelingt, sie durch Drittstaaten aufhalten zu lassen, dann muss man alles daran setzen, dass die Migranten nicht einreisen oder dass sie schnellstmöglich wieder ausgewiesen werden. In den letzten Jahren hat Europa keine Kosten gescheut, um die Außengrenzen so dicht wie möglich zu machen. Neue Mauern und Stacheldrahtzäune werden auf- gebaut und alte ausgebessert und »modernisiert«, um ein in der Rezession befindliches und von einer Abschaffung der sozialstaatlichen Politik gekennzeichnetes Europa vor der »Invasion« jener Menschen zu vertei- digen, die schon immer vom europäischen Wohlstand ausgeschlossen waren und nun die Folgen von bewaffneten Konflikten, ungehemmter Gewalt und durch die kapitalistische Neoliberalisierung durchgesetzter Ausplünderung zu ertragen haben. Die physischen (Mauer, Zäune, Sta- cheldrähte, Graben), elektronischen (Erkennungssysteme, Radare) und administrativen (Antragsverfahren, Datenerfassung, genetische Identifi- kation, polizeiliche Registrierung) Hindernisse reichen aber nicht aus, um diese verzweifelten Menschen zu entmutigen. Sie versuchen der Hölle zu entfliehen und werden von der Illusion getrieben, die kapitalis- tisch entwickelten Länder seien das Paradies. Dieser Kombination aus Verzweiflung und Illusion ist kein Hindernis zu groß. Das Ergebnis ist eine Vervielfachung der Leiden und der Opfer.

Unter dem Schirm der europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat sich ein dichtes Netz von Überwachungs- und Kontrolldispositiven an der Südgrenze Europas gebildet, um Einwanderung zu verhindern. Spa- nien spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn man sich die Kräfte und Mittel anschaut, die eingesetzt werden  – das integrierte Überwa- chungssystem, die halbmilitärische Guardia Civil, die internationalen Seeoperationen, der Seenotrettungsdienst und die spanische Marine –, ist man versucht zu denken, dass man sich im Kriegszustand befinde. Tat- sächlich erleben es die Migranten und die Asylsuchenden an der Süd-

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grenze Europas so. Es wird ein weitgehend unbeachteter Krieg gegen Einwanderer geführt.

Die europäische Einwanderungspolitik hat das Mittelmeer in ein rie- siges Massengrab verwandelt. 2014 wurden etwa 283.000 »illegale« Ein- wanderer an der EU-Grenze verhaftet. Weit mehr als die Hälfte von ihnen sind über das Mittelmeer nach Europa gelangt. Man schätzt, dass im gleichen Jahr 3.072 Migranten im Mittelmeer ums Leben kamen. Die International Organization for Migration beziffert die Zahl der im Prozess der Migration zu Tode gekommenen Menschen weltweit auf 4.077 im selben Jahr und auf 40.000 seit 2000. United for Intercultural Action spricht von 30.000 Toten im Mittelmeer zwischen 1993 und 2014. Angemerkt sei,

dass es sich dabei ausschließlich um die registrierten Toten handelt. Der Einsatz von Mitteln zur Abdichtung der Südgrenze Europas und das Aus- maß von Leiden und Tod an dieser Grenze stehen in einem verhängnis- vollen Zusammenhang.

Die Grenze zwischen Reichtum und Armut ist zu einer Zone des Todes geworden; eine Zone, in der das Leben derjenigen wertlos ist, die es wagen, diese Linie zu überschreiten. Viele der klandestinen Einwan- derer, der Wetbacks, die durch eine lebensgefährliche Wüste in die USA einzudringen versuchen; viele der Afrikaner, die in kleinen Booten die Straße von Gibraltar oder den Kanal von Sizilien zu passieren wagen;

viele der Menschen aus Subsahara-Afrika, die ein Meer aus Sand durch- queren müssen, um an die Grenze zu Europa zu gelangen; viele von denen erreichen ihr Ziel nie. Sie bezahlen das Wagnis mit ihrem Leben.

Die Friedhöfe, welche die Grenze zwischen Reichtum und Armut mar- kieren, haben inzwischen eine bedeutende Anzahl namenloser Gräber.

Die dort liegen, wurden vom Meer an die Küste eines Territoriums gespült, von dem sie als einem Land voller Reichtümer und Zukunftsver- sprechen geträumt hatten. Nun sind sie leblose Körper ohne Identität, die von niemandem zurückgefordert und von niemandem betrauert werden.

Diese Namenlosen stellen den äußersten Fall eines schauerlichen Schick- sals dar, das die opulenten Gesellschaften Europas denjenigen bereiten, die keinen nationalen Stempel haben, die den zufälligen und schützen- den Geleitbrief der Nationalität nicht besitzen. In ihrer Grabesstille zeu- gen sie von der dünnen Linie zwischen der Reduktion auf »nacktes Leben« und seiner Zerstörung.

Kaum weniger dramatisch stellt sich das Schicksal derjenigen dar, die beim Versuch, die Grenze ohne Erlaubnis zu passieren, von den Repres- sionsorganen verhaftet werden. Sie haben alles daran gesetzt, nach Europa

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zu gelangen. Ein mehrere Jahre dauerndes Wandern. Sie haben alle mög- lichen Schikanen ertragen müssen bis hin zu Vergewaltigungen, Zwangs- prostitution oder Versklavung. Und sie werden ohne Ansehen der Person innerhalb kürzester Zeit aus dem Land ausgewiesen. Im polizeilichen Jar- gon heißt das: Express-Abschiebung. Hunderttausende werden jedes Jahr von der Europäischen Union abgewiesen. Die Regierungen haben in den letzten Jahren mit allen angrenzenden Drittstaaten Abkommen zur Rück- nahme unterzeichnet, sodass die Vertreibung bloß noch eine Kostenfrage ist; – und auch eine Möglichkeit zum Geschäft für die Privatunternehmen, die die Abschiebungen im staatlichen Auftrag durchführen.

Diejenigen aber, die nicht sterben und nicht erwischt und sofort abge- wiesen werden, fristen das geisterhafte Leben »unsichtbarer Menschen«, papierloser und auszubeutender Körper. Sie werden gleichzeitig geduldet und mit Vertreibung bedroht. Für papierlose Migranten gibt es eine unpassierbare Gesetzesmauer, sodass Tausende von Menschen zu einer illegalen Existenz verdammt sind. Die Aufenthaltserlaubnis rückt für viele von ihnen in unerreichbare Ferne. Schutzlos und rechtlos bleiben sie unter uns mit der permanenten Angst, auf der Straße ertappt und abge- schoben zu werden, was sie zum »Kanonenfutter« der Schattenwirtschaft verurteilt. Die Gesetzgebung in Europa ist von einer beispiellosen Eska- lation gekennzeichnet, die nicht nur zur Kriminalisierung der Papierlo- sen, sondern auch all jener geführt hat, die ihnen aus Solidarität oder Humanität Hilfe leisten.

Die Internierungszentren für Ausländer stellen in einzigartiger Weise den Ausnahmezustand dar, in dem papierlose Migranten unter uns leben.

Diese Zentren sind überall in Europa errichtet worden. In den 28 Län- dern der EU existieren etwa 235 Lager mit geschlossenem Vollzug. Sie sind keine Gefängnisse. Die Internierten haben keine Delikte begangen, die zur Freiheitsberaubung führen sollten. Darin werden Ausländer in Gewahrsam gehalten, die eine Ausweisungsverfügung bekommen haben und auf ihre Abschiebung warten. Es sind undurchsichtige Anstalten und Räume der Willkür der Verwaltungsmacht, einer gerichtlichen Aufsicht faktisch entzogen. Nach der Richtlinie 2008/115/EG dürfen diese Aus- länder bis zu 18 Monate lang in Gewahrsam gehalten werden. Dieses Verfahren der Internierung ist zur Routine geworden. Alle Berichte über das Funktionieren dieser Anstalten stellen enorme Unzulänglichkeiten fest: Mängel der internen Abläufe und der Räumlichkeiten, die Abwe- senheit eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die Anwendung von unmenschlichen Sanktionen und häufig Misshandlungen. Die

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Internierungszentren für Ausländer sind Dispositive der Verletzbarkeit und Schutzlosigkeit, die durch Undurchsichtigkeit, Desinformation und Beliebigkeit gekennzeichnet sind. Den Internierten wird es faktisch un - möglich gemacht, die ihnen zustehenden Justiz- und Rechtsmittel ein- zufordern. Diese Zentren produzieren ein Rechtsvakuum, denn viele Ausländer, die nicht abgewiesen werden können, werden irgendwann entlassen und in eine Art juristischer Nicht-Existenz gedrängt. Sie dür- fen nicht auf dem Hoheitsgebiet des jeweiligen Staates bleiben. Für die- sen handelt es sich um Menschen, die juristisch nicht existieren: weder abschiebbar noch regierbar.

IV

Die restriktive Migrationspolitik, die sich grundsätzlich nach den Krite- rien polizeilicher Kontrolle und der Bekämpfung der »illegalen« Einwan- derung richtet, wird, wie erwähnt, durch eine angebliche Notlage in Europa legitimiert. Wenn wir den Erklärungen der Regierungen und den Schlagzeilen der Presse Glauben schenken wollen, steht Europa unter einem so massiven Einwanderungsdruck, dass jede humane Integration der Migranten zum Scheitern verurteilt sei. In Zeiten globaler Standort- konkurrenz fällt diese Argumentation auf fruchtbaren Boden. Mit Zustimmung der Bevölkerung soll die kleine Insel des Wohlstandes mit bruchloser Entschiedenheit verteidigt werden. Aus der Beschreibung von Naturkatastrophen entstammende Begriffe wie »Lawine«, »Flut« und

»Welle« werden durch die Medien und die politischen Diskurse verbreitet, um eine bestimmte Interpretation von Einwanderung zu bestärken. Die Darstellung von Migranten als diffuse Gefahr spielt eine wichtige Rolle in Gesellschaften, deren Mitglieder den ökonomischen Umwälzungen so begriffslos wie ohnmächtig gegenüberstehen. Der Kampf gegen die »ille- gale« Einwanderung und die Rhetorik des Notstandes geben die Recht- fertigung für eine Anzahl von Ausnahmevorkehrungen ab, die den angeblichen Notstand überdauern. Die wirklichen Faktoren aber, die auf die Veränderung der Migrationsströme Einfluss haben könnten ‒ die Per- spektivlosigkeit von großen Bevölkerungsteilen in den verarmten Län- dern, die prekarisierende, auf die Ausbeutung von Einwanderern ausge- richtete Umwandlung der Arbeitsmärkte in den reichen Ländern, die Destabilisierung von ganzen Regionen durch Krieg und bewaffnete Kon- flikte, die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlage in vielen Teilen

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der Erde ‒, verschwinden aus den politischen Diskursen und der politi- schen Verantwortung. Die Beziehung zwischen der ungleichen Vertei- lung von Reichtum und den Migrationsströmen sollte auf andere Prob- leme aufmerksam machen als diejenigen, die in der Öffentlichkeit mit Migration assoziiert werden: Terrorismus, Drogenhandel, Zwangsprosti- tution und alle Arten von mafiösen und kriminellen Organisationen. Das zwingt dazu, die Gewalt der Grenzen gegen Migranten im Zusammen- hang zu sehen mit der intensivierten Transnationalisierung von Produk- tion, Kommerzialisierung und Finanzialisierung im globalen Kapitalis- mus. Die Grenzen der Staaten sind umfunktionalisiert worden, um eine globale Umgestaltung von Inklusion und Exklusion der Bevölkerungs- gruppen durchzusetzen, die als kompatibel bzw. inkompatibel mit der Kapitalisierung des Planeten deklariert werden. Die Systeme der Grenz- kontrollen und die von ihnen hervorgebrachte Gewalt dienen der Repro- duktion der globalen Arbeitsteilung und der ungleichen Verteilung des Reichtums, der Lebenschancen und des Friedens wie des Krieges.

Die Rückkehr der »Lager« ist ein Symptom der Härte des Konfliktes zwischen den verarmten Migranten und einem Europa, das in der Angst, seine Wohlstandsposition zu verlieren, und dem Wunsch, sie um jeden Preis zu behalten, gefangen bleibt. Die Härte der Einwanderungspolitik markiert und definiert die sozialen Fronten der kapitalistischen Globali- sierung. In diesem Sinne könnte man von den Internierungszentren als einem Kriegsinstrument gegen die Verarmten aus Afrika, Lateinamerika und Asien sprechen, die der Misere und dem Tod zu entfliehen suchen, zu denen die Prozesse der politischen Dekomposition, der militärischen Invasion und der ökonomischen Subordination sie verdammen. Diese Prozesse werden von denselben Ländern angetrieben, die in der Einwan- derungspolitik besonders restriktiv sind. Es kann daher auch nicht ver- wundern, dass die Dispositive der Kontrolle und Überwachung, der Freiheitsberaubung und Abschiebung zunehmend privatisiert und kapi- talistisch verwertet werden. Der Kreis schließt sich. Die Internierungs- zentren für papierlose Einwanderer sind Ausdruck dieser Form der Len- kung von Migrationsbewegungen, die Verwundbarkeit und Arbeitsfüg- samkeit produziert. Die in den Limbus einer juristischen und politischen Nicht-Existenz verstoßenen Papierlosen stellen gerade in ihrer Über- f lüssigkeit den Prototyp des Arbeiters und der Arbeiterin für den neoli- beralen Kapitalismus dar: f lexibel, ohne soziale Absicherung, grenzenlos den Anforderung der Wirtschaft unterworfen und ohne die Fähigkeit, ihre Rechte politisch einzufordern.

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V

Die europäische Einwanderungspolitik und die Todeszonen, die sie geschaffen hat, zeigen in aller Deutlichkeit, dass die großen Leitideen der politischen Moderne wie Bürgerschaft, Menschenrechte, Demokratie und Humanität keine Universalität in einer kapitalistischen Gesellschaft erreichen können, denn die kapitalistische Vergesellschaftung produziert den Umschlag von Zweck und Mittel, indem die Reproduktion des Lebens von der Kapitalverwertung abhängig gemacht wird. Das ist, was in der Tradition von Marx und der Kritischen Theorie »Gesellschaft als Verkehrung« heißt. Zwecke und Mittel tauschen den Rang. Und das hat Folgen für die Bewahrung des obersten Prinzips der Moderne: Kants Behauptung, der Mensch sei ein Selbstzweck. So lange die Gesellschaften reich genug sind, um die sozialen Folgen der systemischen Ungerechtig- keiten zu mildern, bleibt die zerstörerische Kraft des instrumentellen Umschlages begrenzt  – in jenen reichen Gesellschaften. In einer Zeit aber, in der der Kapitalismus weltweit an die Grenzen seines nur schein- bar unendlichen Verwertungsprozesses stößt, wird es ernst mit den

»Selbstzwecken«. Die Erhaltung des Lebens tritt in offenen Widerspruch mit den Gesetzen der Akkumulation und der Raum für Solidarität und Menschenrechte wird enger. Der Schein eines politischen Sonderwegs Europas, der der Welt zeigen sollte, dass ein Kapitalismus mit einem nach innen wie nach außen menschlichen Antlitz möglich sei, löst sich nach Jahrzehnten neoliberaler Politik und mit den Folgen der aktuellen Krise auf. Die schwächsten unter den europäischen Staatsbürgern bekommen es immer härter zu spüren. Aber dieser Widerspruch erreicht eine un - glaubliche Härte gegenüber den Migranten, die ihr Leben aufs Spiel set- zen, um es noch irgendwie zu retten. Wenn das Leben auf den Kampf um Selbsterhaltung reduziert wird, weil Selbsterhaltung zum Mittel der Wertvermehrung gemacht wurde, hört das Selbst auf, Selbstzweck zu sein. Die andere Seite einer Selbsterhaltung ohne Selbst ist die Wertlosig- keit all derjenigen, deren Leben zur ausschließlichen Selbsterhaltung ver- dammt wurde.

Arne Kellermann

Sie nennen es Arbeit

Arbeiten ist …

1994 fand in Ruanda der größte sich ethnisch rationalisierende Massen- mord seit Auschwitz statt. Milo Rau nennt die massenhaften Ermordun- gen, Vergewaltigungen und Verstümmelungen in jenem Sommer einen

»Genozid der Nähe und der Nachbarschaft, nicht der Ferne und Depor- tation.« Ein solcher war er aber nicht nur deshalb, weil er weniger indus- triell durchgeführt wurde, sondern auch weil die »Weltöffentlichkeit«

von Anfang an dabei war: vermittels jener modernen Kommunikations- mittel, die auch zur Organisation des landesweit durchgeführten Mas- senmordes dienten. Über die Ätherwellen des ersten kommerziellen Radiosenders Ruandas wurde die mörderische Propaganda ausgeschüttet.

Sprach Ernst Krenek 1936 in seinen Bemerkungen zur Rundfunkmusik von dem »wandernden Mikrofon«, das mit Authentizität heischenden Origi- naltönen den Hörern die persönliche Relevanz des Radios näherbringen sollte, so kommt dieses in Ruanda zu seiner negativen Konsequenz, wenn es benutzt wird, um die marodierenden Schlächter- und Vergewalti- gungsbanden darauf hinzuweisen, wo noch »Arbeit« mit der Machete zu verrichten sei; und »Arbeit« wurde im Radio das genannt, wovon der Rest der Welt sich nicht allzu sehr irritieren lassen wollte.

Am 24. Oktober 2012 flog eine amerikanische Drohne einen Angriff auf ein pakistanisches Dorf. Ein überlebender Junge, der bei dem Angriff seine Großmutter verlor, sagte später vor dem US-Kongress aus, dass er seitdem Angst vor dem blauen Himmel habe: bei Wolken fliegen die Drohnen nicht. Der Moderator einer amerikanischen Fernsehsendung hielt dazu skandalisierend Unerhörtes fest: »We managed to make one of the last remaining universal symbols of pleasantness – blue sky – comple- tely fucking terrifying«. Die Person, die den Angriff gesteuert hat, ver- lässt vermutlich nach getaner Arbeit die sichere Basis und verabschiedet sich in den Feierabend.

Das Management von Nokia ließ 2008 das Werk in Bochum schließen und die Produktion zwecks Rationalisierung nach Rumänien verlagern.

2011 wurde auch dieses Werk geschlossen, um die Produktion nach Asien zu verlegen. Den Arbeitern der osteuropäischen Werkbank wurde dabei

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