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1: Kriminalität in ihren gesellschaftlichen Bezügen

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Academic year: 2022

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§ 1: Kriminalität in ihren gesellschaftlichen Bezügen

I. Einflussfaktoren auf Kriminalität – Kurzübersicht

Kriminalität ist kein feststehendes Phänomen, sondern unterliegt der Beeinflussung einer Vielzahl von unter- schiedlichen Faktoren, zwischen denen Abhängigkeit besteht. Einzelne diskutierte Faktoren sind bspw.:

1. Bevölkerungsstruktur

▪ Verteilung jüngerer und älterer Menschen, Vergreisung.

▪ Anteil sog. ethnischer Minderheiten an der Wohnbevölkerung.

▪ Verteilung Frauen und Männer.

▪ Verstädterung oder Abwanderung ins Umland.

2. Sozialisation

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3. Zuschreibungsprozesse (vgl. zum theoretischen Ansatz des labeling approach die KK zu § 6 der Kriminolo- gie I-Vorlesung)

▪ Verhalten wird durch Strafgesetzgebung kriminalisiert (z.B. sog. Stalkinggesetz, Eigendoping etc.).

o Strafrecht als Machtinstrument für Interessengruppen und Politik.

▪ Verhalten wird durch staatliche Behörden verfolgt (Abhängigkeit von Einstellungen, Ressourcen, schwerpunktmäßigen Vorgaben).

▪ Verhalten wird sanktioniert (Einstellung des Verfahrens, Geldstrafe, unbedingte Freiheitsstrafe, Tä- ter-Opfer-Ausgleich).

▪ Verhalten wird angezeigt (Abhängigkeit des Anzeigeverhaltens von sonstigen gesellschaftlichen Ge- gebenheiten).

4. soziale Veränderungen

▪ Z.B. wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Sozialausgaben des Staates.

5. Systemveränderungen

▪ Z.B. Zusammenbruch des Sozialismus, Neoliberalisierung.

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6. Wertewandel

▪ Z.B. geringerer Einfluss von Instanzen der informellen Sozialkontrolle (Familie) oder der Kirche.

7. Medien

▪ Berichte der Medien über Kriminalität und Sicherheitsgesetzgebung.

▪ Beeinflussung durch mediale Gewalt.

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II. Personengruppen und Kriminalität – Kurzübersicht

1. Kriminalität von Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungerwachsenen

▪ Gekennzeichnet durch Überrepräsentation im Hellfeld bei Jugendlichen und Heranwachsenden im Vergleich zum Bevölkerungsanteil (vgl. Schaubild).

▪ Registrierte Delikte sind zu einem großen Teil der leichteren Kriminalität zuzuordnen.

▪ Leichte Jugenddelinquenz ist ubiquitär.

▪ Bei Gewaltdelikten häufiges Auftreten von Gruppendelinquenz.

Tatverdächtige nach Alter Bevölkerungsstruktur nach Alter

Quellen: PKS 2018; Statistisches Bundesamt (Bevölkerungsstruktur zum 31.12.2017)

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2. Kriminalität älterer Personen

▪ Deutlich unterrepräsentiert im Vergleich zum Bevölkerungsanteil.

▪ Bezieht sich hauptsächlich auf leichte Eigentums- und Vermögensdelikte sowie Straßenverkehrsdelik- te.

3. Kriminalität ethnischer Minderheiten

▪ Statistisch deutliche Überrepräsentation im Vergleich zum Bevölkerungsanteil.

▪ Beruht jedoch zu einem Großteil auf statistischen Verzerrungen sowie weiteren gesellschaftsspezifi- schen Faktoren.

▪ Bezieht sich hauptsächlich auf ausländerspezifische Delikte, einfachen Diebstahl und Betrug.

4. Kriminalität und Geschlecht

▪ Männliche Tatverdächtige überwiegen weibliche ca. im Verhältnis 3:1 bei deliktspezifisch großen Un- terschieden.

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5. Viktimologie

▪ Große Relevanz der Täter-Opferbeziehung bei bestimmten Gewaltdelikten (Mord, Totschlag, Verge- waltigung, Kindesmissbrauch).

▪ Risiko der Opferwerdung bei Gewaltdelikten für junge Männer am höchsten.

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III. Erscheinungsformen von Kriminalität – Kurzübersicht

Kriminalität ist nicht homogen. Unterschiedlichste Verhaltensweisen werden kriminalisiert.

1. Gewaltkriminalität

▪ Definition von Gewalt ist sozial-kulturelle Konstruktion.

▪ Entwicklung in einzelnen Bereichen registrierter Kriminalität ist unterschiedlich (vgl. Beispiele in Schaubild).

▪ Dunkelfeld variiert stark bei unterschiedlichen Deliktsformen.

▪ Medien (gewaltverherrlichende Filme, sog. Killerspiele) wird Einfluss auf Gewalt zugeschrieben.

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Straftaten gegen das Leben – Tatverdachtsfälle Deutschland 2009–2018

Quelle: PKS 2018

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Entwicklung registrierter allgemeiner Gewaltdelinquenz

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2. Allgemeine Eigentums- und Vermögenskriminalität

▪ Diebstahl, Betrug und Sachbeschädigung machten 2018 60,1 % aller registrierten Delikte aus.

▪ Aufklärungsquote variiert stark: Diebstahl unter erschwerenden Umständen 2018 15,4 %; Ladendieb- stahl 2018 91,0 %.

▪ Einfluss von Abwehrmechanismen (z.B. Wegfahrsperre im Kraftfahrzeug) kann im Einzelfall hoch sein.

▪ Entkriminalisierungsdebatte für leichtere Begehungsformen (z.B. Beförderungserschleichung, Laden- diebstahl).

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3. Terrorismus

▪ Sehr verschiedene Erscheinungsformen

o z.B. Links-, Rechtsterrorismus, sog. religiös motivierter Terrorismus, Staatsführungsterrorismus.

▪ Organisationsstrukturen bei sog. religiös motiviertem Terrorismus weitgehend unerforscht.

4. Organisierte Kriminalität

▪ Definition bzw. Umschreibung von Verhaltensweisen schwierig und uneinheitlich.

o Der Begriff ist unscharf und kann die OK von der Nicht-OK (insbesondere Bandenkriminalität) nicht abgrenzen. Das hängt auch damit zusammen, dass einzelne Indikatoren der Definition auch Merkmale „normaler“ Kriminalität sind.

o Vielfalt der deliktischen und organisatorischen Erscheinungsformen.

o Dynamik und Mobilität der personalen Organisationsstrukturen.

o Geringe soziale Sichtbarkeit.

▪ Studien legen nahe, dass ausgeprägte Organisationsstrukturen, die als spezifisches Phänomen ver- standen werden können, in Deutschland nicht existieren.

▪ Herrschende Auffassung: Vermutung hoher auch immaterieller Schäden.

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▪ Insb. bis 2001 häufig Grundlage für Strafrechtsverschärfungen und Überwachungserweiterungen. Seit 2001 ist zumeist der Terrorismus die primäre Begründungsgrundlage bei neuen Gesetzen.

5. Wirtschaftskriminalität

▪ Abgrenzung zu anderen, allgemeinen Kriminalitätsformen schwierig.

▪ Große Deliktsvielfalt.

▪ Hohes Dunkelfeld wird wegen sozialer „Unsichtbarkeit“ vermutet.

▪ Hoher Schaden wird ohne hinreichende Datenbasis geschätzt (Schätzungen von 5 Mrd. bis 75 Mrd.

Euro).

▪ Täter müssen bestimmte gesellschaftliche Position haben, da Zugang zu wirtschaftlichen Mechanis- men für Tatbegehung erforderlich.

o Hinweis auf Täterprofil (männlich, integriert, Mittel- und Oberschicht) ist jedoch vereinfachend (vgl. Einwände gegen die Tätertypenlehre).

▪ Kennzeichen des Strafverfahrens: lange Verfahrensdauer, hohe Zahl geschädigter Personen pro Ver- fahren, hohe Einstellungsquoten, häufige Absprachen.

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IV. Reaktionen auf bzw. Maßnahmen zur Verhinderung von Kriminalität 1. Überwachung und Verfolgung

▪ Vielzahl von Gesetzesänderungen der letzten Jahre diente intensivierter Überwachung von Kriminali- tät.

o Bsp.: Regelung in der StPO zu den Überwachungsmaßnahmen Rasterfahndung, Kleiner und Großer Lauschangriff, DNA-Analyse, IMSI-Catcher, Online-Durchsuchung (§ 100b StPO, § 49 BKAG), Quel- len-TKÜ (§ 100a Abs. 1 S. 2, 3 StPO, §§ 5, 51 Abs. 2 BKAG), intelligente Videoüberwachung (§ 21 Abs. 3, 4 PolG-BW), Einsatz von Bodycams (§ 21 Abs. 5 PolG-BW).

o Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2015.

▪ Vorverlagerung der Überwachung

o Regelung in Polizeigesetzen (sog. „Strafverfolgungsvorsorge“).

o Stärkere Einbeziehung Unverdächtiger.

▪ Strukturelle Veränderung von Überwachung.

o Höheres Datenaufkommen, das nutzbar gemacht wird.

o Neue technische Überwachungsmittel.

▪ Großer Einfluss der Verfolgungs- und Erledigungsmechanismen der Polizei und Staatsanwaltschaft.

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2. Prävention

▪ Ausrichtung auf Verhinderung von Kriminalität durch dauerhafte, präventive Kontrolle.

▪ Kontrollmechanismen werden nicht immer direkt als solche empfunden (z.B. Erzeugung von Anpas- sungsdruck, sog. „chilling effect“).

▪ Nutzung technischer Mittel (z.B. [intelligente] Videoüberwachung im öffentlichen Raum).

3. Sanktionen

▪ Anstieg der Verurteilungen zu längerfristigen unbedingten Freiheitsstrafen, gleichzeitiger Anstieg der Einstellungsquoten.

▪ Relevanz der sozialen Stellung bei Sanktionswahl.

▪ Hohe sog. Rückfall-Quoten, besonders bei unbedingten Freiheitsstrafen (vgl. Schaubild).

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Rückfallstatistik (Rückfallrate in %) nach Sanktionsart

Quelle: Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal, Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bun- desweite Rückfalluntersuchung 2010 bis 2013 und 2004 bis 2013, 2016.

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4. Alternativen

▪ Befunde zeigen auf: Sanktionen sind austauschbar.

▪ Alternativen: Entkriminalisierung, Diversion, Täter-Opfer-Ausgleich.

▪ Erweiterung des Sanktionskatalogs: Im Jahr 2017 wurde das Fahrverbot als Nebenstrafe bei allen Straftaten eingeführt (nicht nur bei solchen, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehen, vgl. § 44 StGB). In Diskussion: atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperre im Auto, elektronische Fußfes- sel (nicht lediglich im Rahmen der Führungsaufsicht, wie seit 2011 in Deutschland möglich, vgl. § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB).

Literaturhinweis: Kunz/Singelnstein, Kriminologie, §§ 23, 24.

Referenzen

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