• Keine Ergebnisse gefunden

2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: ISBN E-Book:

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: ISBN E-Book:"

Copied!
30
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)
(2)
(3)
(4)

Veronika Lipphardt

Biologie der Juden

Jüdische Wissenschaftler über »Rasse« und Vererbung

1900–1935

Vandenhoeck & Ruprecht

(5)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-36100-9

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein,

der Fazit-Stiftung, Frankfurt am Main sowie des Frauenförderfonds der Philosophischen Fakultät I der

Humboldt-Universität zu Berlin.

Umschlagabbildung: © Kurt Hoffman Lektorat: autorInnenberatung, Berlin

© 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch

seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zu- gänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden

Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.

Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

(6)

Inhalt

Vorbemerkungen und Dankesworte . . . 9

Einleitung . . . 11

1. Ziele . . . 13

2. Begriffsklärungen . . . 15

3. Theoretisch-methodischer Ansatz . . . 22

4. Forschungsstand . . . 31

5. Biohistorische Narrative . . . 35

I. Kontextualisierungen . . . 39

1. Die Biologisierung der jüdischen Geschichte . . . 39

2. Biologische Streitfragen . . . 40

3. Das disziplinäre Feld der Biowissenschaften nach 1900 . . . 45

4. Juden und Antisemitismus im akademischen Milieu . . . 48

II. Die wissenschaftliche Debatte über die »Biologie der Juden« . . . . 53

1. Die naturwissenschaftliche Disziplinierung der »Judenfrage« vor 1900 . . . 53

1.1 Erzählungen von Konstanz, Reinheit und Isolation . . . 56

1.2 Erzählungen von Vielfalt und Mischung . . . 60

2. Die Debatte im Überblick . . . 62

3. Die erste Phase der Debatte (1900–1915) . . . 72

3.1 Von der »reinen Rasse« zum »Rassengemisch« . . . 72

3.1.1 Eine Kontroverse zur »jüdischen Rassenfrage« . . . 72

3.1.2 Sind die Juden eine Rasse? Eine unwissenschaftliche Frage . . . 74

3.1.3 »Ein reines Rassengemisch« . . . 77

3.1.4 Anthropometrische Annäherungen an die »jüdischen Merkmale« . . . 85

3.2 Vererbung und Evolution der »jüdischen Rasse« . . . 88

3.2.1 »Erblichkeit« zur Zeit des ersten Debattenhöhepunktes . . . 89

3.2.2 Der Gesichtsausdruck als mendelndes Erbmerkmal . . 92

3.2.3 Neolamarckismus und Neodarwinismus . . . 96

(7)

6 Inhalt

3.3 Fremde und Verwandte: Fortpflanzung, Rassenmischung

Inzucht . . . 102

3.3.1 Bastarde und Inzucht in der Biologie . . . 104

3.3.2 »Inzucht« und »Züchtung« bei den Juden . . . 108

3.4 Mechanismen des Wandels: Selektion, Umwelt, Anpassung . . . 113

3.5 Krankhaftes und Normales . . . 121

3.5.1 Immunitäten und Anfälligkeiten . . . 123

3.5.2 Psyche, Geist, Nerven, Seele, Charakter . . . 125

3.5.3 Die Geschichte der Juden im Labor . . . 129

3.6 Der erste Debattenhöhepunkt um 1911 . . . 131

4. Die zweite Debattenphase (1916–1933) . . . 131

4.1 Inhaltliche Fortsetzungen . . . 135

4.1.1 Das »Rassengemisch« . . . 135

4.1.2 Anthropometrie . . . 136

4.1.3 Vererbung – nach der Diskreditierung des Neolamarckismus . . . 137

4.1.4 Umwelt und Lebensbedingungen . . . 143

4.1.5 Krankheiten und Immunitäten . . . 146

4.1.6 Der »jüdische Geist« . . . 148

4.1.7 Im Labor . . . 150

4.1.8 Fremde und Verwandte: »Rassenmischung« und Mischehe . . . 152

4.1.9 Pubertät, Sexualität, Fruchtbarkeit:

Jüdische Frauen und Kinder . . . 160

4.1.10»Normale« Ehen . . . 162

4.2 Wissenschaftlichkeit in der Debatte . . . 163

4.2.1 Reflexionen über die Debatte . . . 164

4.2.2 Juden und Nichtjuden als Erforscher der »jüdischen Rasse« . . . 168

4.2.3 Unwissenschaftliche und wissenschaftliche Positionen . . . 170

4.2.4 Positive und negative Eigenschaften der Juden als Objektivitätskennzeichen . . . 174

4.2.5 Disziplinen – Methoden – Praktiken . . . 175

4.3 Eugenik in der Debatte . . . 177

4.4 Finale . . . 180

5. Rückblick . . . 185

(8)

Inhalt 7 III. Spuren der Identitätssuche: Die Heraus for de rung

der Biologie . . . 187

1. Das Konstrukt der biologischen Identität . . . 189

2. Artikulationen jüdischer Identität bei Biowissenschaftlern . . . . 194

2.1 Religion und Biologie . . . 195

2.2 Kultur und Biologie . . . 199

2.3 Soziale Praktiken und biologische Trennlinien . . . 199

2.4 Jüdische Identität biologisch verstanden . . . 201

2.5 Das biologische Selbst . . . 204

2.6 Selbstreflexive Wissenschaftspraktiken . . . 207

2.7 Rückblicke nach dem Krieg . . . 211

3. Biografische Annäherungen . . . 212

3.1 Elias Auerbach (1882–1971) . . . 213

3.2 Julius Tandler (1869–1936) . . . 223

3.3 Otto Lubarsch (1860–1933) . . . 231

4. Zusammenfassung . . . 238

IV. Wissenschaftliche Institutionen für die »Bi o logie der Juden« . . . 243

1. Wissenschaftler und ihre Zukunftspläne . . . 243

2. Institutionalisierungen biologi scher The men in jüdischen Institutionen . . . 246

3. Institutsgründungsversuche zur »Biologie der Juden« . . . 250

3.1 Ignaz Zollschan: Institut für soziologische und anthropologische Forschung . . . 252

3.1.1 Erste Institutionalisierungsversuche . . . 253

3.1.2 Ein Institut an der Universität Jerusalem . . . 254

3.1.3 Ein internationales Zentralinstitut mit nationalen Filialen . . . 257

3.2 Franz Weidenreich: Wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Biologie der Juden . . . 259

3.2.1 Ansichten zu Vererbung, Evolution und Menschenrassen . . . 265

3.2.2 »Transfer my work abroad«: Emigration und Institutionalisierungspläne . . . 268

3.2.3 Exposé für ein Institut zur Erforschung der Biologie der Juden . . . 271

3.3 Wilhelm Nußbaum: Arbeitsgemeinschaft für Jüdische Erbforschung und Erbpflege . . . 278

3.3.1 Die Gründungsphase der AGJEE . . . 282

3.3.2 Untersuchungen und Auswertungen . . . 284

(9)

8 Inhalt

3.3.3 Die Ausweitung der Aktivitäten . . . 290

3.3.4 Die »Gesellschaft für jüdische Erbpflege« . . . 293

3.3.5 Versuch einer Einordnung . . . 296

4. Vergleich und Ausblick . . . 299

Schluss . . . 305

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . 319

Abkürzungen . . . 349

Register . . . 350

Namensregister . . . 350

Sach-, Orts- und Institutionenregister . . . 352

(10)

Vorbemerkungen und Dankesworte

Dieses Buch widmet sich einer Debatte und einer Gruppe deutscher Anthro- pologen, die bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Wer den Spuren dieser Wissenschaftler nachgeht, stößt auf Quellen, die zunächst Ratlosigkeit hervorrufen: Ihre Sprache erscheint aus heutiger Sicht oft völlig inakzeptabel.

Erst wenn man sich die Kontextgebundenheit dieser Sprache vor Augen führt und nach ihren Dif fe ren zie rungs mög lich kei ten fragt, zeigt sich, dass sie grund ver schiedene und sogar ge gen sätz li che Inhalte zu vermitteln hatte. Mit Rassenbiologie gegen Rassismus kämp fen – diese Formel umschreibt, zu- gespitzt und verkürzt, was sich Wis sen schaft ler mit jüdischem Hintergrund von dem Ideal ethisch und methodisch kor rekter Wis senschaft erhofften. So paradox diese Hoffnung aus heutiger Sicht anmutet, so bizarr er schei nen heute auch ihre Tex te. In dieser Studie möchte ich versuchen, sie aus ihrem historischen Kon text heraus verständlich zu machen.

Gerne würde ich selbst alle gut gemeinten und begründeten Empfehlun- gen zu einer korrekten, distanzierten Sprache befolgen, die man mir im Lauf der Jahre gemacht hat. Wo es mir irgend möglich war, habe ich das, mit An- führungszeichen und komplizierten Umschreibungen, auch getan. Dennoch habe ich auf ganz eiserne Sprachdisziplin verzichten müssen, nicht nur, weil ich meinem wenig zur Disziplin neigenden Naturell diese Kraft anstrengung nicht abfordern konnte, sondern auch, weil das daraus resul tierende Sprach- labyrinth die Lesbarkeit des Textes deutlich eingeschränkt hätte. Ich würde mich freuen, wenn die Leserin, der Leser sich nicht mit dem Aufstöbern in- korrekter Textstellen, die allen Korrekturaugen ent gangen sind, aufhalten würde, sondern eines meiner Hauptanliegen als Lek türegrundlage akzep- tierte: Nämlich die Distanzierung von allen Inhalten, die hier historisch be- handelt werden, sowie von jeder rassistischen, diskri minierenden oder belei- digenden Absicht, Deutung und Verwendung.

Schließlich sei noch bemerkt, daß dieses Buch weder für noch gegen je- manden geschrieben wurde. Vielmehr stellt es eine Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften dar.

*

Ich möchte mich herzlich bei allen bedanken, die die Entstehung dieses Buchs gefördert und unterstützt haben, sei es durch die Beratung, Diskussi- on, Anregung, Widerspruch, Ermutigung, Wohlwollen, Mitgefühl, durch die

(11)

10 Vorbemerkungen und Dankesworte

Bereitstellung von Informationen, Genussmitteln, existentiellen Lebens grund- lagen oder Zeit. Das ergibt viel mehr Personen, als im Folgenden nament lich genannt werden können – die nicht Genannten bitte ich um Verzeihung.

Herzlicher Dank sei zuerst meinem Promotionsbetreuer Rüdiger vom Bruch für die jahrelange Unterstützung ausgesprochen sowie für das Ver- trauen, das er stets in meine Arbeit gesetzt hat. Ebenso danke ich Kiran Klaus Patel und Paul J. Weindling für wertvolle Anregungen und die Be treu ung meiner Arbeit.

Für besonders intensive Anteilnahme, lange und spannende Diskussio- nen, wichtige Hinweise sowie die Bereitstellung von Quellen und/oder Litera- tur danke ich Anne Lipphardt, Myriam Spörri, Eva Kudraß, Andrea Adams, Eric Engstrom, Hansjakob Ziemer, Etan Bloom, Eliza Slavet, Levke Harders, Ilse Jahn, Michael Simonson und Robert Cox.

Ein wichtiges Anliegen ist es mir, Michael Nussbaum, Martha Friedenthal- Haase und Heinz-Jürgen Blanck-Lubarsch zu danken, die mir offen und ver- trauensvoll von ihren (Groß-)Vätern berichteten und damit nicht nur meine Arbeit, sondern auch meine zwischenmenschliche »Bildung« voran gebracht haben.

Ich danke ganz besonders den drei Familien, denen ich zugehöre.

Außerdem danke ich von Herzen Elke-Vera Kotowski, Clemens Al brecht, Martin Eybl, Richard Burkhard, Sander Gilman, Mitchell Ash, Jakob Tanner, Regina Wecker, Nicolas Berg, Norbert Schappacher, Klaus Hödl, Martin Wald, Gerald Kreft, Gerhard Baader, Daphna Hirsch, Matthias Okroi, Colin Harris, Rochelle Waskins, Philip E. McMahon, Dirk Rupnow, Helga Satzin- ger, Hans-Christoph Liess, Johanna Bartels, Gre gor Ohlerich, Judith Grosse, Helmut Zander, Ruth Lipp hardt, Fabian Krämer, Irene Hummel, Jacob Krumrey, Kurt Hoffman, Ilsetraud und Wolfgang Lipphardt.

Den Archivmitarbeitern der Archive, in denen ich recherchieren durfte, bin ich ebenfalls dankbar.

Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Martin Rethmeier und Daniel Sander, sei für die gute Zusammenarbeit gedankt.

Das Cusanuswerk und die American Philosophical Society haben die Ar- beit durch finanzielle Unterstützung ermöglicht, weshalb ich beiden Institu- tionen dankbar verbunden bin.

Für Druckkostenzuschüsse danke ich der FAZIT-Stiftung, der Frauenbe- auftragten der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Ber- lin und der Geschwister-Boehringer-Ingelsheim-Stiftung.

Veronika Lipphardt, im Juni 2008

(12)

Einleitung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete sich in Deutschland die Auffas- sung, Juden seien im Gegensatz zu Ariern fremdartig, minderwertig und un- verbesserlich. Sofern dies mit dem Schlagwort der Rasse in Verbindung stand, waren damit meist biologische Zusammenhänge gemeint: biologische Ver- wandtschaft, biologische Qualität und biologischer Wandel. Fragen der Diver- sität und der Reproduktion, der Vererbung und der Evolution gehörten gera- de zu dieser Zeit zu den Kernproblemen der Biowissenschaften. Der Begriff der Rasse hatte im antisemitischen Diskurs ebenso wie in den biowissen- schaftlichen Theoriegebäuden einen wichtigen Platz. Wissenschaftler publi- zierten Bücher, Studien und Essays über die sogenannte »jüdische Rasse«

und die biologische Beschaffenheit der Juden – und das hieß zumeist: über ihre angebliche biologische Inferiorität, Fremdartigkeit und Persistenz. Zwi- schen 1900 und 1933 entspann sich im deutschsprachigen Raum zu diesem Thema eine regelrechte wissenschaftliche Debatte, an der jüdische und nicht- jüdische Wissenschaftler teilnahmen.

Diese Studie zeigt, wie sich Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund Konzepte von Rasse und Vererbung kritisch aneigneten, sie modifizierten oder ablehnten, ohne dabei auf biologische Konzepte von Diversität zu ver- zichten. Die Auseinandersetzung, in der soziale Grenzziehungen ebenso zur Sprache kamen wie Fragen der Wissenschaftlichkeit, schlug sich in ihren wis- senschaftlichen Publikationen und persönlichen Überlegungen zu jüdi scher Identität sowie in ihren Institutsgründungsplänen nieder.

*

Am 23. Juli 1929 schrieb Franz Weidenreich, außerordentlicher Professor und Leiter des Instituts für physische Anthropologie an der Universität Frankfurt, seinem berühmten Kollegen Franz Boas in New York über seine Forschungspläne:

Nun beabsichtige ich im Rahmen der geplanten anthropologischen Aufnahme der deutschen Bevölkerung die Juden – ich bin selbst Jude – anthropologisch aufzuneh- men und damit hier in Frankfurt a.M., das 29000 Juden zählt, zu beginnen. Da hier und in der Umgebung ein alteingesessener Stamm Juden sitzt, aber in den letzten Jahren eine große Anzahl ›Ostjuden‹ eingewandert sind, lassen sich vielleicht wert- volle Vergleiche anstellen. Ich möchte ferner das hiesige Institut zu einer Zentralstelle für anthropologische Untersuchungen der Juden im Reich ausbauen. Universität und

(13)

12 Einleitung

Behörden unterstützen mich mit [Befürwortung]. Die hiesigen jüdischen Organisa- tionen haben sich bereit erklärt, mir jede Förderung zukommen zu lassen.1

Das wissenschaftliche Interesse an der »Anthropologie der Juden« war nicht Weidenreichs einzige Motivation für sein Vorhaben:

Abgesehen vom rein anthropologischen Interesse wäre es auch politisch – wie die Verhältnisse hier liegen – in hohem Maße zu begrüßen, wenn eine wissenschaftliche Stelle geschaffen würde, die mit einwandfreiem wissenschaftlichen Material dem sich immer mehr breit machenden Rassenunfug zu Leibe rücken könnte. Ich habe schon mit großem Erfolg zahlreiche Vorträge über dieses Thema gehalten.

Obwohl sich Universität, Behörden und jüdische Institutionen interessiert zeigten, gelang es Weidenreich nicht, eine solche Zentralstelle zu gründen.

Als er 1934 nach Amerika emigrierte, hoffte er, seine Pläne in England, Ame- rika oder Palästina durch die Gründung eines »Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung der Biologie der Juden« realisieren zu können. Das Institut sollte international vernetzt sein und sechs Bereiche abdecken: Physische Anthropologie, Geschichte der Typen und Rassen, Psychologie, Pathologie und Physiologie, Genetik, Soziologie. In seinem Exposé für das Institut schrieb Weidenreich einleitend:

Die Juden stellen für eine Reihe allgemeiner und grundlegender biologischer Fragen ein außerordentlich günstiges Untersuchungsobjekt dar. Vor allem kommt hier das Kernproblem nach der Konstanz oder der Veränderlichkeit des Typus unter der spe- zifischen Einwirkung bestimmter geographisch-klimatischer und soziologischer Mi- lieuverhältnisse in Frage. Denn der jüdische Typus lässt sich durch die historischen plastischen Belege weiter zurückverfolgen und gestattet zugleich eine bessere Identi- fizierung, als das für eine biologische Gemeinschaft sonst möglich ist.2

Sein wissenschaftlicher Ansatz, der im Institutsnamen mit der Formulierung

»Biologie der Juden« Ausdruck fand, musste zwei schwer vereinbare Prämis- sen miteinander verbinden: Zum einen ging Weidenreich davon aus, dass die Juden eine »biologische Gemeinschaft« darstellten, deren biologisch verstan- dene Geschichte historisch hervorragend dokumentiert sei. Zum anderen ging es ihm darum, die Bedeutung der »Rasse« als wirkungsmächtigen Fak- tor in der menschlichen Entwicklung zu marginalisieren und die Bedeutung sozialer und historischer Faktoren herauszustreichen.3 Durch klassisch an- thropologische Forschungen im Rahmen einer wissenschaftlichen Instituti- on wollte er gegen den Rassenantisemitismus, der nicht nur in der Öffent-

1 Weidenreich an Boas, 23. Juli 1929, FBP, PP B:B61, APS.

2 Weidenreich, »Exposé. Wissenschaftliches Institut zur Erforschung der Biologie der Ju-

(14)

Einleitung 13 lichkeit, sondern auch in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft immer stärker spürbar wurde, vorgehen.

Wie andere deutsche Anthropologen und Mediziner mit jüdischem Hin- tergrund4 wollte Weidenreich mit seinen Forschungen einen essentiellen Bei- trag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die »jüdische Rasse«

leisten.5 Dass er sich in seinem Brief selbst als Jude bezeichnete, zeigt, dass auf diese Unterscheidung bei den beteiligten Wissenschaftlern geachtet wur- de. Für Forscher, die aus jüdischen Familien kamen, ergab sich zwischen dem Gegenstand der Debatte, der biologischen Bestimmung einer kollektiven jü- dischen Identität, und der Frage nach der eigenen Identität ein spannungsrei- ches Verhältnis. Und schließlich stand Weidenreich unter den jüdischen Wissenschaftlern nicht alleine mit dem Wunsch, die zahlreichen Aspekte dieser umstrittenen Frage nach der »Biologie der Juden« in die Form einer Institution zu bringen, die kraft wissenschaftlicher Autorität seinem Ansatz allgemeine Anerkennung und Objektivität garantieren sollte.

1. Ziele

Meine Studie zeichnet die Bemühungen von Biowissenschaftlern mit jüdi- schem Hintergrund nach, erstens Beiträge zur wissenschaftlichen Debatte über die »jüdische Rasse« zu liefern, zweitens ihre eigenen Vorstellungen von jüdischer Identität zu formulieren, und drittens Institutionen zu gründen, die die Frage nach der »biologischen Gemeinschaft« im Sinne einer ethisch verantwortungsbewussten Naturwissenschaft klären würden. Die Debatte bil- dete dabei den inhaltlichen Bezugsrahmen sowohl für Identitätskonstruktio- nen als auch für Institutionsgründungspläne.

Darüber hinaus zeige ich, dass ein Großteil ihrer Bemühungen dem Zweck diente, dem antisemitischen Diskurs einen zentralen Gegenstand, die

»physische Beschaffenheit der Juden«, zu entziehen und ihn dort anzusie- deln, wo ihrer Ansicht nach sein legitimer Ort sein musste: in der Wissen- schaft.6 Außerhalb des imaginierten Diskursraums der Wissenschaft, im

»wilden Außen«7 der Gesellschaft, fand die Vorstellung von den Juden als ei- ner unabänderlichen, fremdartigen und minderwertigen Rasse zunehmend Anklang. Vor allem die Debattenteilnehmer mit jüdischem Hintergrund fas-

4 An der Debatte beteiligte sich nur eine Frau – Stefanie Martin-Oppenheim – mit nur ei- nem Beitrag. Deshalb verwende ich im Folgenden die männliche Form.

5 Vgl. dazu Kiefer, Problem einer »jüdischen Rasse«, S. 125. Kiefer sieht im Jahr 1913 eine Zäsur: Danach seien nur noch vereinzelte Studien erschienen.

6 Vgl. Efron, Defenders, S. 29: »The intellectual agenda of Jewish race scientists was to wrest control of the anthropological discourse on Jews from gentiles […].«

7 Sarasin, Subjekte, S. 143.

(15)

14 Einleitung

sten daher die wissenschaftliche Debatte als Gegenbewegung zu diesen pejo- rativen Redeweisen über die »jüdische Rasse« auf. Und in der Tat offerierten die Biowissenschaften Konzepte des biologischen Wandels, der biologischen Verwandtschaft und der biologischen Qualität, die es erlaubten, pejorative Rassenkonzepte zu kritisieren, zu modifizieren oder abzulehnen, ohne auf biologische Begründungen ganz verzichten zu müssen.

Allerdings stellten auch die Biowissenschaften selbst Narrative von Persi- stenz, Fremdartigkeit und Inferiorität bereit, die es dem Großteil der nichtjü- dischen Debattenteilnehmer erlaubten, in der wissenschaftlichen Debatte in Bezug auf die Juden ein pejoratives Rassenkonzept zu vertreten. Das musste zu Konflikten führen. Die Grenze zwischen »wissenschaftlich legitimierten Aussagen« einerseits und »ungerechtfertigten Behauptungen« über Juden andererseits wurde also nicht nur zwischen Wissenschaftlern und Laien, zwi- schen Wissenschaft und Rassentheorie bzw. Antisemitismus, gezogen, son- dern auch innerhalb der wissenschaftlichen Debatte und zwischen den betei- ligten Wissenschaftlern.8

Aus heutiger Perspektive ist die damalige Debatte als eine gesellschaftspo- litische zu betrachten, in der um Fragen der sozialen Zugehörigkeit gerungen wurde. Für die Debattenteilnehmer durfte sie aber genau das nicht sein: Sie sollte dem Ideal eines objektiv-neutralen Diskussionsraums entsprechen, der sich durch die ausdrückliche Distanzierung von »parteipolitischen« Ausein- andersetzungen, die »außerhalb« der Wissenschaft geführt wurden, erst kon- stituierte. Als sich nach 1918 abzuzeichnen begann, wie illusorisch ein sol- cher neutraler Diskussionsraum sei, bemühten sich Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund um eine weitere Verschiebung des Diskussionsge- genstandes: Unfreiwillig ausgegrenzt aus der bisherigen Debatte, und nun- mehr selbst im »wilden Außen«, sollten die von ihnen geplanten Institutio- nen den wissenschaftlichen Schutzraum für eine objektive Debatte über die

»Biologie der Juden« bereitstellen.

Durch die Analyse der Debatte und durch kollektivbiografische Fallstudi- en sollen die Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichen Inhalten, Insti- tutionalisierungsvorstellungen und dem individuellen Selbstverständnis von Wissenschaftlern aufgezeigt werden. Die übergreifende Frage lautet: Welche narrativen Aussagen, welche Konzepte von Wissenschaftlichkeit und welche sozialen Grenzziehungen finden sich in der Debatte, in den Identitätskon- struktionen und in den Institutionsplänen?

Den Abgrenzungsbemühungen gegen Unwissenschaftlichkeit folgend, ver nachlässige ich andere, nahe gelegene Diskussionen über die »jüdi- sche Rasse«, etwa im deutsch-jüdischen Bürgertum, in rassentheoretischen

(16)

Einleitung 15 Werken,9 in völkischen Kreisen, in den Geistes- und Sozialwissenschaf ten und in der allgemeinen Öffentlichkeit. Ich gehe nicht davon aus, dass die De- batte um die »jüdische Rasse« für die Biowissenschaften zentrale Bedeutung hatte oder dass jeder Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund sich da- mit auseinandersetzte. Mein Ziel ist keine Kollektivbiografie sämtlicher jüdi- scher Biowissenschaftler (oder auch nur der berühmtesten); auch leiste ich keinen Vergleich zwischen dem rassenbiologischen Selbstverständnis von nichtjüdischen und jüdischen Wissenschaftlern.

Zudem werde ich die genannten drei Bereiche weder vorrangig aus dem Blickwinkel des allgemeinen Rassendiskurses10 noch überwiegend im Kon- text der deutsch-jüdischen Geschichte betrachten,11 denn die Positionierun- gen dieser Wissenschaftler sind in diesen Zusammenhängen Ausnahmeer- scheinungen. Vielmehr soll ihre wissenschaftshistorische Relevanz aufgezeigt werden, da die Autoren ihren Bezugsrahmen im akademischen Milieu und im biowissenschaftlichen Denkstil fanden; sie sprachen als Naturwissen- schaftler. Die wissenschaftliche Debatte um die »jüdische Rasse« wie auch die geplanten Institutionen sollen also dort lokalisiert werden, wo sie für ihre Autoren am meisten Sinn ergaben – in den Biowissenschaften.

2. Begriffsklärungen

Jüdische Wissenschaftler

Wer kann als ein jüdischer Wissenschaftler betrachtet werden? Weder die im Synagogenregister überprüfbare Religionszugehörigkeit noch der Eintrag in ein biografisches Lexikon zur deutsch-jüdischen Geschichte oder gar die Verfolgungskriterien des nationalsozialistischen Staates können darüber Aus- kunft geben. Deshalb wurde als Kriterium für die Auswahl der in dieser Ar- beit vorgestellten jüdischen Wissenschaftler deren Selbstverständnis gewählt;

das heißt, ein Wissenschaftler wird dann als jüdisch angesehen, wenn er sich selbst in einer Publikation oder in einem unpublizierten Dokument als Jude bezeichnete, unabhängig davon, ob es sich um eine religiöse, sozio-kulturelle, historische, ethnische oder biologische Auffassung von jüdischer Identität handelt.12

9 Die Rassentheoretiker Chamberlain und Gobineau sahen sich selbst nicht als Wissen- schaftler und wurden auch im biowissenschaftlichen Denkkollektiv eher als inspirierende Schriftsteller denn als Wissenschaftler angesehen.

10 Vgl. Geulen, Wahlverwandte; Kiefer, Problem einer »jüdischen Rasse«.

11 Vgl. dazu Efron, Defenders; Doron, Rassenbewusstsein.

12 Dies trifft für einen Großteil der Debattenteilnehmer zu. Ein solches Selbstverständnis kommt auch durch Mitgliedschaften zum Ausdruck: Beispielsweise durch zionistisches oder ehrenamtlich soziales Engagement, die Herausgabe einer deutsch-jüdischen Zeit-

(17)

16 Einleitung

Allerdings hat die Frage, wer jüdisch, wer nichtjüdisch sei, im Zusam- menhang der untersuchten Debatte eine mehrfache Bedeutung, die ein wei- teres Differenzieren notwendig macht. Erstens mussten die Forscher, die sich ihren »Objekten« mit wissenschaftlichen Methoden näherten, auf dieser for- schungspraktischen Ebene definieren, wer Jude sei und wer nicht. Zweitens musste diese Grenzziehung eine Aussage über ihre eigene Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen ermöglichen. Und drittens war diese Selbst- zuschreibung nicht einfach eine individuelle, subjektive Möglichkeit; man musste sich auch mit der – eventuell auch wissenschaftlich formulierten – Fremdzuschreibung durch Kollegen auseinandersetzen.

Daher beschäftigt sich diese Arbeit nicht nur mit Biowissenschaftlern, die sich als Juden bezeichneten und dies zum Teil biologisch begründeten, son- dern auch mit denjenigen, die ihre Zugehörigkeit zum Judentum weniger stark betonten, sie zu einem privaten Bereich erklärten, sie ganz ablehnten oder konvertierten. Es wäre problematisch, diese Personen ebenfalls als »jü- dische Wissenschaftler« zu bezeichnen, und dennoch unterscheiden sich ihre Sprecherpositionen und ihr Selbstverständnis im Rahmen der Debatte von denen der Kollegen, die nicht aus jüdischen Familien kamen. Mehr noch, gerade die hier untersuchte wissenschaftliche Debatte stellt ein stark fluktuie- rendes Feld der Identitätsauseinandersetzungen, ein Feld der Aushandlung von Fremd- und Eigenzuschreibungen, dar, dessen Dynamik sich in den oft problematisierenden Selbstbeschreibungen dieser Personengruppe wider- spiegelt. Die Biologie sollte nach damaligem Verständnis eine eindeutige Identifizierung ermöglichen, was freilich nicht gelang. Daher lassen sich Zu- ordnungen aus heutiger Sicht kaum treffen, will man nicht die komplex ver- wobenen Fäden der damaligen Suche nach Eindeutigkeit und der damit ver- bundenen Ambivalenzen von vornherein zerschneiden.

Der begrifflichen Klarheit wegen wird möglichst durchgängig die große Gruppe derer, über deren jüdischen Familienhintergrund sich die Zeitgenos- sen (einschließlich sie selbst) einig waren, als »Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund« bezeichnet. Die »jüdischen Wissenschaftler« stellen dazu eine Untergruppe dar, unterschieden von der größeren Gruppe durch ihr öffent- lich vertretenes, positives Verständnis der eigenen jüdischen Identität.13 Die meisten Debattenteilnehmer gehörten zu beiden Gruppen.14

Für die Bezeichnung als Wissenschaftler gelten folgende vier Kriterien:

Die wissenschaftliche Ausbildung, Publikationen in wissenschaftlichen Or-

schrift oder die Gründung jüdischer Unterverbände gesamtgesellschaftlicher Institutio- nen (etwa der Reichswehr).

13 Dies schließt ein problematisierendes Selbstverständnis nicht aus.

(18)

Einleitung 17 ganen, die versuchte und eventuell gelungene Anbindung an wissenschaftli- che Institutionen und das Selbstverständnis als Wissenschaftler.

Biologie, Biowissenschaften

Die Sammelbegriffe »Biowissenschaften« und »Biowissenschaftler« sind kei- ne zeitgenössischen, sondern heutige Bezeichnungen.15 In dieser Arbeit be- ziehen sie sich auf Wissenschaftler, Institutionen und Forschungsinhalte aus den Bereichen Anthropologie, Medizin und Biologie im weiteren Sinne, denn an der Debatte nahmen Vertreter verschiedenster Disziplinen mit unter- schiedlichen Ansätzen, aber mit naturwissenschaftlicher oder medizinischer Ausbildung teil. Die damalige inhaltliche und personelle Verschränkung tra- ditionsreicher und neuer Disziplinen wird durch diesen Begriff am besten charakterisiert.16 Biologie gab es um 1900 noch nicht als Universitätsfach, sondern als einen Begriff, der sich auf einen theoretischen und welt- anschaulichen Komplex von natürlichen Zusammenhängen bezog, deren universelle Wirkung man überall in der Welt der Lebewesen beobachten zu können glaubte.17 Der Begriff »Biologie« bezeichnet in dieser Studie also den theoretischen Bezugskern der Biowissenschaften.18 Als biologische Kern- probleme galten Fragen der Vererbung und der Evolution, an deren empiri- scher Erforschung alle Disziplinen beteiligt sein konnten.

Rasse, Rassismus und Rassenbiologie

Der Begriff »Rasse« in Anwendung auf den Menschen besitzt heute nur noch in wenigen wissenschaftlichen Kollektiven Legitimität.19 Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben seine Geschichte als die einer sozialen Konstruk- tion nachgezeichnet; Populationsgenetiker und Humanbiologen sprechen ihm jede naturwissenschaftliche Daseinsberechtigung ab.20 Diesem Konsens schließe ich mich uneingeschränkt an. Außerdem distanziere ich mich von

15 Siehe hierzu ausführlich Sucker, Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, S. 51ff.

16 Ebd., S. 9ff., S. 20ff., S. 54f.; Jahn, Geschichte der Biologie, S. 274ff. Hierzu zählen: klassi- sche Disziplinen (Subdisziplinen der Medizin, Anthropologie, Botanik, Zoologie, Agrar- wissenschaft) sowie jüngere: u.a. Immunologie, Serologie, Eugenik, Vererbungslehre, Bak- teriologie. Ebd, S. 310ff.; Sucker, Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, S. 51ff.

17 Zum Begriff der Biologie siehe auch Jahn, Entstehung des Begriffs »Biologie«; Penzlin, Si- tuation in der Biologie; Sucker, Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie, S. 51f.; Rheinberger, Zur Historizität wissenschaftlichen Wissens, S. 26.

18 Nach Weindling, Darwinism, S. 30, meinte der Begriff »Biologie« damals die Einheit aller Lebewesen, also eher eine philosophische Perspektive sowie ein »mode of Analysis« als eine institutionalisierte Disziplin.

19 Vgl. dazu Potthast, »Rassenkreise«, S. 304–308.

20 Vgl. Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung; Schüller/von der Let, Rasse Mensch;

Kattmann, Warum klassifizieren Wissenschaftler.

(19)

18 Einleitung

all jenen Wissensbeständen, die Gegenstand meiner Analyse sind.21 Dem Einwand, es sei heutzutage wissenschaftlich erwiesen, dass etwa die (aschke- nasischen, der Familie Cohn angehörigen etc.) Juden zu dieser oder jener erblichen Krankheit neigten, begegne ich mit einer grundskeptischen Hal- tung gegenüber Nachweisen solcher Art, die stets auf sozialen Ordnungsvor- stellungen beruhen.22

Die Begriffsgeschichten der Begriffe »Rasse« und »Rassismus« sowie die Zusammenhänge zwischen Rassendiskurs und Nationalismus hat Christian Geulen in einer detaillierten und aufschlussreichen Studie erschöpfend dar- gestellt.23 Mir geht es um den Platz des Rassenbegriffs in den Biowissenschaf- ten, wenngleich seine gesellschaftliche Dimension stets mitberücksichtigt werden muß. Bei Historikern löst der Rassenbegriff unwillkürlich den Reflex aus, ihn im Bedeutungszusammenhang des NS-Rassismus zu lesen. Begriffe wie »Rassenaufwertung«, »Rassenmerkmal« und »Rassenkreuzung« werden mit der rassistischen Sprache des Nationalsozialismus in Verbindung ge- bracht – zu Recht, denn in dieser politischen Situation entfalteten sie verhee- rende Wirkungen. Aber ihr Gebrauch in diesem Kontext war nicht der einzi- ge: Im wissenschaftlichen Diskurs hatten sie schon vor 1933 ihren festen Platz in einer Ordnung biologischer Kategorien, hier waren sie – in ihrer definito- rischen Ungenauigkeit – Ausgangspunkt neuer Forschungsansätze und zahl- reicher Kontroversen um Wissenschaftlichkeit. Außerdem waren sie ständig Redefinitionsbemühungen unterworfen, die eine ihnen vermeintlich inne- wohnende Objektivität »wiederherstellen« sollten.

Ihr wissenschaftlicher Verwendungsbereich verlieh diesen Begriffen ne- ben Kohärenz und Autorität auch einen Resonanzboden für Bedeutungen jenseits rassenantisemitischer Behauptungen. Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund knüpften an die wissenschaftliche Anwendung jener Begriffe Assoziationen, Erkenntnisinteressen und Hoffnungen, die mit denen ihrer nichtjüdischen Kollegen nur wenig übereinstimmten. Das Kollektiv derjenigen Wissenschaftler, die über die »jüdische Rasse« debattierten, war von sozialen und identitätspolitischen Spannungen durchzogen, die in den publizierten Überresten der Debatte verhältnismäßig offen zum Vorschein kommen. So- mit bietet die Debatte um die »jüdische Rasse« Gelegenheit, Identitätspolitik, kollegialen Umgang und soziale Trennlinien in einem Wissenschaftskollektiv zu beleuchten.

Im historischen Rückblick wird deutlich, dass der Begriff Rasse in seiner wissenschaftlichen Anwendung auf den Menschen trotz aller Bemühungen nie klar definierbar war – was einige Wissenschaftler schon damals zugaben

21 Ich untersuche nicht, ob die Juden »tatsächlich« zu bestimmten Krankheiten, Immunität oder erblichen Eigenschaften neigten; vgl. Tschoetschel, Diskussion.

(20)

Einleitung 19 –, sondern ganz verschiedene Formen und Stufen biologisch-deterministi- scher Zuschreibungen bezeichnete. Diese Zuschreibungen hatten die Funkti- on, Menschengruppen zu biologischen Einheiten zusammenzufassen, wobei die jeweils umrissene Gruppe kleiner als die gesamte Menschheit, aber größer als ein Familienverband angesetzt wurde. Der biologische Zusammenhang einer solchen Menschengruppe wurde als historisch, im Sinne einer Abstam- mungsgemeinschaft, und als gegenwärtig, im Sinne einer Merkmalsgemein- schaft, begriffen. Dass beide Aspekte nur bedingt deckungsgleich sind, dass, um es schlicht auszudrücken, nicht alle ähnlichen Menschen auch miteinan- der verwandt sind, wurde kaum reflektiert.

In den humanbiologischen Wissenschaftszweigen fanden der Rassenbe- griff und seine Derivate alltägliche Verwendung. Dennoch kann die damali- ge Fachsprache nicht als harmlos, naiv oder neutral angesehen werden. Ihre biologistischen Tendenzen, offen oder latent, erscheinen heute skandalös, aber auch damals hielten viele sie für äußerst bedenklich. Den Wissenschaft- lern waren die moralische Brisanz jener Begriffe, die Fragwürdigkeit ihrer wissenschaftlichen Legitimation und ihre gesellschaftspolitischen Impli- kationen schon vor 1933 bewusst – allerdings in weit geringerem Maße als heute. Wenn die modernen biowissenschaftlichen Texte über die »Spezies Mensch« weniger anstößig erscheinen, so liegt das an der großen Vorsicht, die den Biologen vor dem historischen Hintergrund abverlangt wird. Die heutige Sensibilität für die Folgen biologistischer Denk- bzw. Sprechweisen sollte daher nicht unhinterfragt in die Zeit vor 1933 zurückprojiziert werden.

Die völlig legitime und notwendige Suche nach moralischer Verantwortlich- keit darf nicht durch eine Art »Ethik-TÜV« relativiert werden, bei dem ein- zelne Zitate herangezogen werden, um eine ethische Bewertung einer Person im Vergleich zu »wirklichen Rassisten« oder »überzeugten Nazis« vorzuneh- men.24 Solche »Sonden« halte ich nicht prinzipiell für verzichtbar, aber sie bringen die Gefahr des Eklektizismus mit sich.

Der Rassenbegriff hatte schon vor 1933 nicht nur drittmittelwirksame Überzeugungskraft, sondern auch inhaltliche Bedeutung als »forschungslei- tende Kategorie«.25 Die damalige Rassenforschung ist zudem weder institu- tionell noch inhaltlich von ihren Nachbardisziplinen eindeutig abgrenzbar, sondern eher als ein »interdisziplinäres«, um inhaltliche Kernfragen zentrier- tes Forschungsgebiet zu verstehen.26 Die Hartnäckigkeit, mit der die biowis-

24 Vgl. beispielsweise Niels Lösch über Eugen Fischer und dessen angeblich nicht antisemiti- schen Äußerungen über die »jüdische Rasse«; Lösch, Rasse als Konstrukt.

25 Schmuhl, Rasse, S. 26–27. Schmuhl hebt, wie Lutz Raphael, die geringe politische Ein- schränkung der Diskussionen über Rassenforschung und die Selbstmobilisierung der Wissenschaftler im Sinne der NS-Ideologie hervor. Raphael, Radikales Ordnungsdenken.

26 Vgl. dazu Schmuhl, Rasse, S. 26; Massin, From Virchow to Fischer. Rassenuntersuchungen zielten oft darauf ab, weiter gefasste Beiträge zu (human-) biologischen und medizinischen Fragen zu liefern.

(21)

20 Einleitung

senschaftliche Community trotz früh aufkommender Zweifel an »wissen- schaftlichen« Rassenkonzepten festhielt, lässt sich heute schwer nachvollzie- hen. Selbst diejenigen Forscher, die dem Faktor »Rasse« damals keine große Bedeutung zuschreiben wollten, standen offenbar vor dem für sie unum- gänglichen Faktum rassischer Unterschiede; wenn schon nicht innerhalb der sogenannten »weißen«, »kaukasischen« oder »europäischen Rasse«, dann zumindest zwischen dieser und allen anderen »Rassen«. Welche Realität war es, an der sie sich abarbeiteten, die sie umdeuten mussten, aber deren Exi- stenz sie offenbar nicht bestreiten konnten? Dieses »Widerstandsaviso«, wie Ludwik Fleck es nennt, sehe ich in der lebensweltlichen Wahrnehmung von Phänomenen der Humandiversität, auf deren epistemischen Status diese Stu- die nicht näher eingehen wird.

Im Anschluss an diese Überlegungen möchte ich für eine Herangehens- weise plädieren, die den Rassenbegriff in den Kontext des biowissenschaftli- chen Theoriewandels stellt. Evolution ließ sich nicht ohne Varietäten – ein Synonym für Rassen – denken. Jede Interpretation des Rassenbegriffs musste sich aus der Sicht der Biowissenschaftler in das Geflecht biologischer Theo- rien, welches sich erst zu formieren begann, einordnen lassen.

Zudem war der Rassenbegriff zentral für viele Debattenbeiträge, aber an- dere biologische Konzepte wurden nicht nur ergänzend, sondern sogar als theoretische Alternative präsentiert.27 So diente die Redewendung »Biologie der Juden«, von Debattenteilnehmern mit jüdischem Hintergrund geprägt, dem Zweck, den Rassenbegriff im Rahmen der biologischen Erklärungen für die vermeintliche Andersartigkeit der Juden als zu eng gefasst zurückzuwei- sen und stattdessen andere biologische Faktoren hervorzuheben: Man akzep- tierte die Annahme, dass die Juden eine biologische Gruppe seien, lehnte aber die Bezeichnung »Rasse« ab. Soziale bzw. Umwelteinflüsse wurden ebenfalls biologisch gedacht und dienten nicht prinzipiell der Kritik an den Deutungsmöglichkeiten der Biowissenschaften oder dem Lob der Sozial- und Geisteswissenschaften. Bei den nichtjüdischen Debattenteilnehmern war dieser kritische Umgang mit dem Rassenbegriff weniger üblich; sie brachten meist die Überzeugung zum Ausdruck, dass am Status der Juden als Rasse kein Zweifel bestehen könne.

Da der Begriff »jüdische Rasse« in der Debatte dennoch einen großen Raum einnimmt, bezeichne ich die Debatte als eine über die »jüdische Rasse«

und über die »Biologie der Juden«. Im jeweiligen Kontext wird herauszustrei- chen sein, welche der beiden Bezeichnungen – oder gar welche dritte – dem Anliegen der einzelnen Wissenschaftler näher stand.

(22)

Einleitung 21 Antisemitismus

Antisemitismus wird im Rahmen dieser Arbeit prinzipiell nicht als politisch- extreme Bewegung, sondern in Anlehnung an Shulamit Volkov als gesell- schaftlich-alltäglich weit verbreiteter kultureller Code verstanden, der nach 1900 in großen Teilen der deutschen und österreichischen Gesellschaft ak- zeptiert war.28 Ideengeschichtliche Ansätze haben rassistischen Denkweisen im Antisemitismus seit den 1870er Jahren großen Einfluss zugebilligt. Ob- wohl die Charakterisierung des »Modernen Antisemitismus« neben ökono- mischen auch gerade rassenbiologischen Argumentationsweisen Bedeutung beimisst, blieben bisher biologisch-naturwissenschaftliche Begründungen, explizite Bezugnahmen auf die Biologie sowie das soziale Denkkollektiv der Naturwissenschaften meines Erachtens unterbeleuchtet.29

Peter Pulzer bringt, eine weit verbreitete Formel wiederholend, den rassi- stischen Antisemitismus folgendermaßen mit den Biowissenschaften in Ver- bindung: »Schließlich gab es den rassistischen Antisemitismus, abgeleitet aus dilettantischen Verdrehungen der Anthropologie und Biologie, der predigte, dass nur die strikteste Trennung der miteinander unverträglichen Volksgrup- pen den eigenen Stamm vor Entartung und Vernichtung bewahren könne.«30 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutierten Biologen aber tatsächlich über

»Fortpflanzungsgemeinschaften« sowie »Inzucht« und »Rassenkreuzung«

bei Tieren, Pflanzen und innerhalb der Menschheit zwischen verschiedenen

»Menschenrassen«. Pulzers unkritischer Seitenblick auf biowissenschaftliche Wissenschaftskulturen entspricht kaum dem aktuellen Stand der Wissen- schaftsgeschichte, die zeigt, dass in deren Forschungen und Theoriebildun- gen schon vor 1933 rassistische und rassenhygienische Ansichten zum Aus- druck kamen; und zwar auch dann, wenn diese Forschungen den internatio- nalen Wissenschaftsstandards entsprachen.31

Neolamarckismus und Neodarwinismus

Generell wird in der Literatur angenommen, Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund seien Neolamarckisten gewesen. Neolamarckismus ließ sich, so etwa Mitchell Hart, mit dem Bildungsideal der deutschen Juden in Verbin- dung bringen: Das Ideal der Anpassung an die Umgebung durch Lernen und

28 Volkov, Antisemitismus; Bergmann, Geschichte des Antisemitismus; Greive, Moderner Antisemitismus; Berding, Moderner Antisemitismus; Rürup, Emanzipation und Antisemi- tismus; Nipperdey/Rürup, Antisemitismus; zu Österreich: Wassermann, Antisemitismus in Österreich; Katz, Vom Vorurteil zur Vernichtung; Gräfe, Antisemitismus in Deutsch- land.

29 Volkov relativiert deren Bedeutung für den antisemitischen Diskurs und weist auf die ab- lehnende Haltung führender Antisemiten gegenüber rassenkundlichen Untersuchungen hin. Volkov, Das geschriebene Wort, S. 61.

30 Pulzer, Wiederkehr des alten Hasses, S. 217.

31 Ausführliche Literaturangaben bei Schmuhl, Rasse.

(23)

22 Einleitung

Weitergabe des Erlernten an die Kinder schien hier einfach in biologische Begriffe übertragen worden zu sein.32 Diese Behauptung eines Zusammen- hangs zwischen neolamarckistischen Ansichten und unbiologistischen, nichtdeterministischen Einstellungen sehe ich als problematisch an. Ohne Zweifel dominierten neolamarckistische Ansätze im Zusammenklang mit dem Bildungsideal bei deutsch-jüdischen Forschern vor 1933; und ebenso unzweifelhaft ist, dass die Debattenautoren zwei Lager bildeten, die in der Debatte selbst als »Gegner« und »Fürsprecher« der Juden benannt werden.

Aber diese Lager entsprachen nicht der Polarisierung von »nature versus nurture«.33 Zwischen neodarwinistisch verstandener »Rassenkonstanz« und völliger Ablehnung jedes biologischen Rassenkonzepts lag ein breites Spek- trum an Positionierungsmöglichkeiten.34 Eine generelle Ablehnung neodar- winistischer Vererbungskonzepte hätte zunehmend dem wissenschaftlichen Konsens widersprochen und zur Ausgrenzung aus dem wissenschaftlichen Kollektiv geführt. Dementsprechend möchte ich versuchen, ein breites Spek- trum zwischen radikal-deterministischen Biologismen einerseits sowie mo- deraten und skeptisch-vorsichtigen Biologismen andererseits zu erkunden.

Dazu muss die spannungsreiche Multifunktionalität der biologischen Begrif- fe stets im Bewusstsein behalten werden.

3. Theoretisch-methodischer Ansatz

Wissenschaftsgeschichte sollte, so Michael Hagner, »sich einem zu einer ge- gebenen Zeit vorherrschenden Pluralismus von wissenschaftlichen Zugän- gen bewußt« sein und fragen, »warum bestimmte Zugänge sich durchsetzen und andere verschwinden.«35 Daran anschließend ließe sich fordern, die Ent- wicklung der Rassenforschung nicht ausgehend bzw. rückdeutend von den Folgen der NS-Rassenpolitik her zu beschreiben, sondern ihre Pluralität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in den Blick zu nehmen. Dann erst lässt sich erklären, unter welchen Umständen diese Pluralität einer ver- hängnisvollen Einseitigkeit wich. Eine solche selbst auferlegte Teilamnesie sollte jedoch nicht dazu führen, die Frage der ethischen Bewertung, die zur Arbeit des Historikers, der Historikerin gehört, ganz auszublenden, sondern sie nur zunächst zurückzustellen.

Mit Michael A. Bernsteins Konzept des »sideshadowing« kann der Forde- rung nach Berücksichtigung der Pluralität begegnet werden.36 Bernstein

32 Hart, Racial Science, S. 272; vgl. Richarz, Bürger auf Widerruf, S. 30.

33 Efron, Defenders, S. 29.

34 Vgl. hierzu auch Hart, Racial Science, S. 272; Falk, Zionism.

(24)

Einleitung 23 wendet sich gegen fatalistische und teleologische Geschichtsbilder und damit explizit gegen eine Geschichtsschreibung, die ein bestimmtes Ereignis im Rückblick als »inevitable« oder »preordained« ansieht und dessen Vorge- schichte entsprechend aus diesem Blickwinkel bestimmt: »Backshadowing is a kind of retroactive foreshadowing in which the shared knowledge of the outcome of a series of events by narrator and listener is used to judge the participants in those events as though they too should have known what was to come.«37 Da Historikerinnen und Historiker aber nicht Geschichte schreiben können, als seien sie »blind für die damalige Zukunft«38, schlägt Bernstein vor, die einer historischen Situation innewohnende Vielzahl an möglichen Zukunftsentwicklungen zu berücksichtigen, ohne dabei die tatsächlich statt- gefundene in ihrer Singularität zu relativieren: »Such a strategy can be defi- ned as a kind of sideshadowing: a gesturing to the side, to a present dense with multiple, and mutually exclusive, possibilities for what is to come.«39 Wird die Aufmerksamkeit derart auf die unrealisierten Möglichkeiten der Vergangenheit gerichtet, dann ist dies »a way of disrupting the affirmations of a triumphalistic, unidirectional view of history in which whatever has per- ished is condemned because it has been found wanting by some irresistible historico-logical dynamic. Against foreshadowing [and backshadowing], sideshadowing champions the incommensurability of the concrete moment […].«40

»Sideshadowing« erfasst also auch die verschiedenen Zukunftsoptionen, die den Akteuren der untersuchten Epoche als wahrscheinlich, erstrebens- wert oder realisierbar, als vermeidbar, gestaltbar oder abwendbar erschienen, die aber angesichts der tatsächlich stattgefundenen Entwicklung jegliche Realisierungsoption einbüßten.41

Als Untersuchungszeitraum wurde die Zeitspanne zwischen 1900 und den frühen dreißiger Jahren gewählt. Mehrere Faktoren sprechen für das Jahr 1900 als Zäsur: Die Jahrhundertwende gilt als Wendepunkt der deutsch-jüdi- schen Geschichte; ab 1900 erfuhren die rassentheoretischen Werke Gobi- neaus und Chamberlains in Deutschland eine enorme Rezeption.42 Die 1900

37 Ebd., S. 16 (Hervorhebung im Original).

38 Ebd.

39 Ebd., S. 1.

40 Ebd., S. 3f.

41 Als Beispiel für »sideshadowing« (nicht aber als Beweis für »Unbedenklichkeit« oder »Ob- jektivität«) mag der Hinweis auf Rassenforschung in anderen Ländern dienen, wo z.T. mit rassistischen und politischen Zielsetzungen geforscht wurde und Wissenschaftler Kontro- versen über Vererbung, Umwelteinfluss und Rassenkonstanz führten. Zum Genozid kam es in jenen Ländern nicht. Vgl. dazu u.a. Barkan, Scientific Racism; Kaufmann, »Rasse und Kultur«.

42 Kiefer, Problem einer »jüdischen Rasse«, Kap. II; Efron, Defenders, Kap. 1; Mosse, Ge- schichte des Rassismus, S. 76–88.

(25)

24 Einleitung

wiederentdeckten Mendelschen Forschungsresultate bewirkten einen grund- legenden Wandel im biowissenschaftlichen Denkstil, der sich allgemein in der Humanbiologie, aber auch in den Publikationen über die »jüdische Ras- se« beobachten lässt.43 1933 verstummte die Debatte; erst 1935, in dem Jahr, als zwei der wichtigsten Vertreter der »Biologie der Juden« emigrierten, fand diese Forschungsrichtung in Deutschland ein Ende.44 Die Möglichkeit einer Diskussionsbeteiligung für Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund in Deutschland war zu diesem Zeitpunkt gar nicht, in Österreich kaum mehr gegeben. Vor allem wegen der besonderen gesellschaftlichen Situation der Juden, die sich von derjenigen in anderen Ländern mit vergleichbaren Wis- senschaftskulturen45 grundlegend unterscheidet, beschränkt sich die Unter- suchung auf den deutschsprachigen Wissenschaftsraum. Innerhalb dieses Sprachraums hatte die Debatte institutionell und personell vier lokale Zen- tren: Wien, München, Frankfurt, Berlin.

Der methodische Ansatz dieser Studie ist aus der Ratlosigkeit angesichts wissenschaftshistorischer Herangehensweisen erwachsen.46 Weder Kollektiv- oder Einzelbiografie, weder Ideengeschichte noch Laborforschung, Diskurs- analyse oder Institutionengeschichte werden der Komplexität des Gegenstan- des gerecht. Mit einer Diskursanalyse ließen sich zwar Redeweisen über die

»jüdische Rasse« und damit verbundene »Sprecherpositionen« darstellen.

Vernachlässigt würden dabei die Persönlichkeiten, die an der wissenschaftli- chen Debatte sowie am gesamtgesellschaftlichen Diskurs beteiligt waren, die sich selbst und ihr soziales Umfeld in den Kategorien dieser Debatte zu be- schreiben versuchten, die intentionale Selbstzeugnisse hinterließen und mit der Gründung von Institutionen befasst waren.47

Daher erfolgt der methodische Zugang von mehreren Seiten: Die für die Erschließung der Debatte gewählte Vorgehensweise lässt sich als methodi- sche Mischstrategie zwischen Ideengeschichte, Rezeptionsanalyse, Diskurs- geschichte und Wissenssoziologie bezeichnen. Die darauf folgenden Kapitel werden mit kollektivbiografischen Methoden erarbeitet, wobei jeweils stark auf bestimmte Einzelaspekte des Wissenschaftlerlebens fokussiert wird:48

43 Vgl. Jahn, Geschichte der Biologie; dies., Grundzüge; Massin, From Virchow to Fischer;

Harrington, Reenchanted science; Harwood, Mandarins and Outsiders.

44 Im nationalsozialistischen Staat wurde nur noch punktuell zu diesem Thema geforscht, aber kaum mehr publiziert. Rupnow, Rasse und Geist; Steinweis, Studying the Jew.

45 Vor allem USA, England, Frankreich, Russland. In der Debatte wurden gelegentlich auch Texte aus den USA rezipiert. Siehe Hart, Racial Science.

46 Hagner, Wissenschaftsgeschichte, S. 7–39; Bruch, Neuere Universitätsgeschichtsforschung;

Schlich, Wissenschaft; Hess, Wissenschaftsgeschichte.

47 Sarasin spricht hier von der »Eigenlogik« des Subjektes: »Das Symbolische, die Sprache, die Diskurse sind dem Individuum zwar vorgängig; in sie ›schreibt es sich ein‹, in ihren Strukturen organisiert sich erst seine Wahrnehmung und seine Erfahrung. Aber das Sub-

(26)

Einleitung 25 zum einen auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität im Rahmen wissenschaftlicher Erklärungsmuster, zum anderen auf die wissenschaftli- chen Institutionalisierungsversuche.49

Die Debatte: Warum nicht »Diskurs«?

Die von Wissenschaftlern geführte Debatte über die »jüdische Rasse« fand nicht ausschließlich in Fachzeitschriften, sondern auch in populärwissen- schaftlichen, allgemeinen sowie jüdischen Zeitschriften statt. Wäre es nicht sinnvoller, die Publikationen von Wissenschaftlern als Teil des allgemeinen Diskurses über »jüdische Rasse«, Rasse im allgemeinen50 oder Antisemitis- mus darzustellen? Dies träfe zu, wenn die Verwobenheit nichtwissenschaftli- cher (im Sinne von laienhafter) bzw. öffentlicher und wissenschaftlicher Re- deweisen im Mittelpunkt stehen sollte. Hier geht es aber um die Konstruktion der Grenzen zwischen dem Innen und dem nicht-wissenschaftlichen Außen der Wissenschaft.

Einer der Foucaultschen Mechanismen zur Kontrolle des Diskurses ist die

»Verknappung der sprechenden Subjekte«, die den »sprechenden Individuen gewisse Regeln auferlegt« und verhindert, »dass jedermann Zugang zu den Diskursen hat«.51 »Nicht alle Regionen des Diskurses«, so Foucault, »sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und ab- schirmend), während andere fast allen Winden offen stehen und ohne Ein- schränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar scheinen.«52 Während der rassenantisemitische Diskurs leicht zugänglich war, bemühten sich Autoren mit biowissenschaftlicher Ausbildung, den wissenschaftlichen Bereich des Diskurses scharf gegen diese offenen Bereiche abzugrenzen, und nur dem, der die Regeln der Wissenschaft einhielt, zu öffnen. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit sollte zum eigentlich legitimen Ort des Sprechens über die

»physische Beschaffenheit der Juden« werden. Auch die Rezipienten der De- batte ordneten die einzelnen Beiträge nach dem Kriterium der wissenschaft- lichen Autorität, Kompetenz und Glaubwürdigkeit – aber auch nach dem Kriterium, welcher Autor jüdisch sei und welcher nicht. Das Interesse dieser Studie richtet sich deshalb gerade auf die Praktiken, mit denen zwischen Lai- en und wissenschaftlichen Experten, zwischen berechtigten und unberech- tigten Sprechern, unterschieden wurde.53

49 Es handelt sich nicht etwa um eine abschließende, repräsentative Auswahl, die sämtliche

»Typen« biologisch formulierter jüdischer Identitätsbildung zu erfassen beansprucht. Sie zeigt vielmehr Individualität und Komplexität ihrer Vorstellungen zur »jüdischen Rasse«

einerseits und zu ihrer eigenen Identität andererseits.

50 Wie zum Beispiel bei Essner, Nürnberger Gesetze.

51 Foucault, Ordnung des Diskurses, S. 25f.

52 Ebd., S. 26.

53 Manche populärwissenschaftlichen Artikel erscheinen heute unwissenschaftlich; Autor und Herausgeber begriffen sie aber als wissenschaftlich. Zwar mochten nicht alle Leser

(27)

26 Einleitung

Welches sind die Regeln der Wissenschaftlichkeit, die den Zugang zu diesem Bereich begrenzten? Alle Beiträge, die Anspruch auf Wissenschaft- lichkeit erheben, verweisen auf einen gemeinsamen Textkorpus, einen als wissenschaftlich anerkannten Kanon zur Frage der »jüdischen Rasse«. Die Bewertung der Wissenschaftlichkeit orientierte sich außerdem weniger am Publikationsort – die Grenzen zwischen wissenschaftlichen und populärwis- senschaftlichen Zeitschriften waren um 1900 noch fließend – als vielmehr an der beruflichen Position des Autors sowie seiner Methodik. Die Diskurssub- jekte legten großen Wert auf Namensnennungen sowie auf die Erkennbarkeit ihrer Positionen und Leistungen.

Darum erscheint es gerechtfertigt, die von Wissenschaftlern geführte De- batte als gesonderten Bereich des allgemeinen Diskurses zu betrachten. Stets fand die wissenschaftliche Debatte in Abgrenzung von diesem Diskurs, aber dennoch vor dessen Hintergrundkulisse statt, speiste sich aus dessen Reser- voir an biohistorischen Narrativen und führte dem Diskurs neue, wissen- schaftlich sanktionierte Redeweisen zu. Daher wird in dieser Studie der Dis- kurs-Begriff in Bezug auf in der Öffentlichkeit zirkulierende Redeweisen über die »Biologie der Juden« benutzt, während für die Diskussionen im wis- senschaftlichen Bereich der Begriff der Debatte steht. Da die Wissenschaftler auch andere Rezipienten ansprachen, wird die Debatte nicht als hermetisch abgeriegelt, sondern an den Rändern zur allgemeinen Öffentlichkeit hin als

»ausgefranst« betrachtet.

Die wissenschaftliche Publikation als historische Quelle vermittelt nicht nur ihr inhaltliches Anliegen: Sie gibt durch den Publikationsort, das Text- genre, die einleitenden Lektüreanweisungen54 – und ihre dem Ideal der Ob- jektivität geschuldeten Auslassungen – Auskunft über die Bemühungen des Autors, neben dem wissenschaftlichen Inhalt weitere »Sinneffekte« zu erzeu- gen oder zu vermeiden.55 Zusätzlich vermittelt sie Konstruktionen von Wis- senschaftlichkeit und Objektivität, von wissenschaftlicher Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Der »sozial und kulturell bestimmte Ausgangspunkt« des Autors kann die Rezeption seiner Texte bestimmen.56 Lehrbücher, Festan- sprachen und Forschungsanträge vermitteln ein offizielles, homogenes Bild eines wissenschaftlichen Kollektivs, welches soziale Spannungen verdeckt.

Um sie zum Vorschein zu bringen, dürfen wissenschaftshistorische Quellen nicht nur zu ihrem Inhalt befragt werden.

dieser Einschätzung folgen; aber das Urteil über die Wissenschaftlichkeit lag beim wissen- schaftlichen Kollektiv und nicht beim Laien.

54 Zum »Paratext« nach Roger Chartier siehe Sarasin, Subjekte, S. 145; ders., Geschichtswis- senschaft, S. 38f.

(28)

Einleitung 27 Die Erfassung und Darstellung der wissenschaftlichen Debatte beruht auf einer Kombination des diskurshistorischen Ansatzes von Philipp Sarasin und des Denkstil-/Denkkollektiv-Konzepts von Ludwik Fleck.57 In Anlehnung an Sarasins »diskursives Archiv« umfasst das »Debatten-Archiv« alle auffindba- ren Publikationen und erlaubt, die »diskursiven Regeln der Gesetzmäßigkei- ten von Wiederholungen bestimmter Aussagen« ebenso nachzuvollziehen wie die »Grenzen des Sagbaren« und den »legitimen Ort des Sprechens«.58 Flecks wissenschaftssoziologischer Ansatz ermöglicht es, die sozialen Grenz- ziehungen innerhalb eines Denkkollektivs – hier: des debattierenden Kollek- tivs – sichtbar zu machen.

Durch diese Herangehensweise vernachlässige ich neben dem Laiendis- kurs noch andere »Probleme«, wie beispielsweise die von Sarasin angeführ- ten »interdiskursiven Kollektivsymbole«,59 obwohl viele biologische Begriffe (etwa die vieldeutigen Wörter »Abstammung«, »Vererbung« oder »Entwick- lung«) eine solche Funktion erfüllen. Nur oberflächlich kann ich auf die Dis- kurse zu Degeneration, Fortpflanzung, Erziehung etc. eingehen, mit denen die Debatte durch solche Kollektivsymbole verknüpft war. »Halbverschwie- gene Diskurse«, die in der Debatte unausgesprochen mitschwingen, bleiben unaufgedeckt. So deutlich die Orientierung der Wissenschaftler auf einen ge- wissen »wissenschaftlichen Kern« der Debatte ist: Die Grenze zwischen Wis- senschaftlern und Laien bleibt unscharf.

Zudem ist es möglich, dass weitere Messungen und Laborexperimente zum Problem der »jüdischen Rasse« durchgeführt wurden, wegen uner- wünschter oder insignifikanten Ergebnisse aber nie zum Druck gelangten.

Nicht jeder Beitrag zur »jüdischen Rasse« wurde gedruckt; nicht jede Mei- nung, die im mündlichen Gespräch ausgetauscht wurde, fand schriftlichen Niederschlag. Über die »jüdische Rasse« wurde diskutiert, gesprochen und gestritten; sie mag Gegenstand unsachlicher und erbitterter Kontroversen so- wie einvernehmlicher Gespräche unter vier Augen, aber auch Anlass ver- schwiegener Animositäten gewesen sein. Die erfassten »Überreste« der De- batte stellen also nur die Spitze eines nicht rekonstruierbaren Eisberges dar, bestehend aus Gesprächen, Vorträgen und Konferenzdiskussionen; aus Auf- klärungsarbeit, Flugblättern, Eingaben, Briefen, Anweisungen, Krankenak- ten, fehlgeschlagenen Untersuchungen und sozialen Praktiken der Abgren- zung. Mein Anspruch beschränkt sich darauf, diejenigen Texte zu berück- sichtigen, die den Wissenschaftlern, welche sich in das Thema eingearbeitet hatten, bekannt und zugänglich waren.

57 Ebd.; Fleck, Einführung, S. 52. Lipphardt, Denkstil, Denkkollektiv.

58 Sarasin, Subjekte, S. 143f.

59 Vgl. Flecks Beschreibung des »Wortes« als »interkollektives Verkehrsgut« zwischen den Denkstilen; etwa die Begriffe »Rasse« und »Vererbung«. Gewisse »Bedeutungsressourcen«

beziehen diese Begriffe auch aus ihrer Herkunftsform als »Präidee«; Fleck, Einführung, S. 35.

(29)

28 Einleitung

Um das »Debatten-Archiv« möglichst komplett zu erfassen, wurden sy- stematische Schlagwort- und Autorenrecherchen für die Jahre 1880–1935 durchgeführt.60 Dazu wurden ergänzende Quellen, wie beispielsweise An- thropologie- und Biologie-Lehrbücher, herangezogen, weiterhin Monogra- phien, wissenschaftliche Artikel in Zeitschriften und Sammelbänden sowie von Wissenschaftlern publizierte Artikel in nichtwissenschaftlichen Zeit- schriften. Anhand dieses Korpus’, welches etwa 330 Texte umfasst, habe ich den zeitlichen Verlauf der Debatte rekonstruiert und die Gesamtheit der wis- senschaftlichen Aussagen zur »jüdischen Rasse« gesammelt. Auf dieser Grundlage lässt sich die Beteiligungsintensität einzelner Autoren ermitteln, die am stärksten mit dem Thema befassten Publikationsorgane sowie die zeitliche Verteilung vorrangig bearbeiteter Themengebiete.

Identitätskonstruktionen

Der Blick wird anschließend auf einzelne Wissenschaftler gelenkt, die in der Debatte bestimmte »Sprecherpositionen« bezogen. Ich gehe davon aus, dass das biologische Selbst- und Gemeinschaftsverständnis eines Rassenforschers mit jüdischem Hintergrund sich von demjenigen eines Wissenschaftlers, der sich von Geburt her als »Arier« oder »Germane« in einer idealisierten Mehr- heit aufgehoben sah, grundlegend unterschied. Debattenautoren mit jüdi- schem Hintergrund verstanden sich, wenn auch auf unterschiedliche Art, als Fürsprecher des Judentums. Die Debatte bedeutete ihnen mehr als nur eine akademische Auseinandersetzung: Es ging um die eigene Identität und um das eigene soziale Umfeld. Als Wissenschaftler strebten sie nach Integration in das wissenschaftliche Denkkollektiv. Es galt, jüdische Identität im Rahmen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse neu zu formulieren, biologisches Wis- sen so zu interpretieren, dass es mit einer positiven Bestimmung der eigenen Identität vereinbar war. Zwar sprachen auch nichtjüdische Forscher, wenn sie von Rasse, Vererbung und Eugenik redeten, gleichzeitig über sich selbst, ihre eigenen biologischen Qualitäten und ihr soziales Umfeld.61 Thematisierten sie jedoch die »jüdische Rasse«, sprachen sie von anderen, die angeblich von fremder – und zwar nach allgemeiner Ansicht schlechterer – biologischer Beschaffenheit waren. Während sie sich aufgrund ihrer sozialen Distanz zur jüdischen Minderheit für die objektiveren Beobachter der »jüdischen Rasse«

60 Dazu wurden zeitgenössische Bibliographien zur »jüdischen Rasse«, die »Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur« und das »Deutschen Bücherverzeichnis« heran- gezogen. Ganz vollständig kann das Debatten-Archiv nicht sein: Einige Beiträge, die die

»Biologie der Juden« thematisieren, sind unauffindbar, weil ihr Titel nichts von dieser Thematisierung verrät, weil sie in anderen Beiträgen nicht zitiert oder weil sie an entlege- nen Orten publiziert wurden.

61 Dass wissenschaftliche Theorien nicht nur zur Erklärung einer anonymen, kollektiv sozi-

(30)

Einleitung 29 hielten, machten Forscher mit jüdischem Hintergrund eine andere For- schungslegitimation geltend: die Innenperspektive, die mehr und differen- ziertere Ergebnisse zu versprechen schien – womit sie zunehmend in die De- fensive gerieten.

Ziel des zweiten Teils ist die Analyse von Wechselwirkungen zwischen der persönlichen Identitätskonstruktion eines Wissenschaftlers und den von ihm rezipierten und verwendeten biohistorischen Narrativen. Da diese Identitäts- konstruktionen trotz der gemeinsamen Narrative in hohem Maße individuell waren, habe ich mich für ein kollektivbiografisches Vorgehen entschieden.62 Dabei werden, in Anlehnung an Jürgen Straub, die Situativität von Identi täts- konstruktionen, ihre Abhängigkeit von Krisenerfahrungen, Abgrenzungs- und Differenzierungsbedürfnissen, sowie ihre prinzipielle Unabschließbar- keit als theoretisches Postulat gelten.63 Es wurden wissenschaftliche Publi- kationen, Autobiografien, Tagebuchaufzeichnungen, Nachlässe und Brief- wechsel von Biowissenschaftlern untersucht, die sich zu ihrem jüdischen Hintergrund äußerten. Die Auswahl der Personen erfolgte zunächst anhand von biografischen Nachschlagewerken zur deutsch-jüdischen Geschichte;

ca. 450 Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund wurden ermittelt.

Anschließend wurden Wissenschaftler herausgesucht, deren Forschungs- schwer punkte – etwa Anthropologie oder Genetik – es unumgänglich mach- ten, sich mit der »Rassenfrage« auseinanderzusetzen.

Institutionen

Seit etwa 1927 bemühten sich Wissenschaftler mit jüdischem Hintergrund, Institutionen zu gründen, deren Programm die Erforschung der »Biologie der Juden« oder die Klärung der »jüdischen Rassenfrage« sein sollte. Diese Gründungspläne bezeichnen den Wunsch nach institutioneller Disziplinie- rung von Narrativen der biologischen Zusammengehörigkeit der Juden.

Gleichzeitig sind sie Spuren der Suche nach professioneller Identität.64 Die ge- planten Institutionen sollten inhaltlichen, überindividuellen Konsens und sozialen Zusammenhalt zwischen Wissenschaftlern herstellen, die eine ähn- liche Auffassung zur »Biologie der Juden« vertraten, und dieser gegenüber Fachkollegen und Öffentlichkeit autoritatives Gewicht verleihen. Eine gelin- gende Institutionsgründung versprach zudem existentielle Sicherheit in ei- nem Berufsfeld, welches sich gegenüber Anthropologen mit jüdischem Hin- tergrund zunehmend verschloss.

62 Harders/Lipphardt, Kollektivbiografie.

63 Straub, Identität, S. 73–104. Die Arbeiten von Charles Taylor und Nicolas Rose zur Ge- schichte des Selbst liefern weitere theoretische Ansatzpunkte.

64 Zur »professionellen Identität« vgl. Engstrom, Zeitgeschichte, S. 411ff. Vgl. auch Harring- ton, Reenchanted Science; Daston/Sibum, Scientific Personae; Harwood, Mandarins and Outsiders; Volkov, Wissenschaftliche ›Mandarine‹.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

– Vertikale Heterogenität: Das unterschiedliche Leistungsvermögen der Schü- lerinnen und Schüler zeigt sich in vielen Arbeitsbereichen des Unterrichts, sobald die Quantität

Nun finden wir in der Schule nicht nur evangelische und katholische Schülerinnen und Schüler, sondern zunehmend konfes- sionslose Kinder und Jugendliche sowie Kinder und

Franz Joseph last hunted in Mürzsteg in 1905, but the hunting grounds and lodge continued to be maintained and kept available for family members.. The future of imperial hunts

Die liberale Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse im Großherzogtum zeigte aber, dass Carl August auch jetzt nicht gewillt war, seinen politischen Kurs zu ändern. November

Dass alle, die nicht über Wissen verfügen, das wünschen werden, dafür verbürge ich mich euch, zuerst ich selbst, dann Kleinias hier, zusätzlich zu uns aber auch Ktesippos hier und

Es ist wichtig, Kinder im Hier und Jetzt zu stärken, wir können und müssen aber auch dazu beitragen, sie für die Zukunft stark zu machen. Dies gilt jedoch nicht nur für Bereiche

Diese Frage ergab sich sowohl aus der Tatsache, dass sich die Herr- schaftspraxis der Könige nur zu einem, wenn auch bedeutsamen Teil in der Geschichte

Wenn Schopenhauer die Möglichkeit einer vorsätzlichen Lüge in Betracht zieht, um Recht zu behalten, so findet sich Besagtes bei Elifas, welcher in seiner letzten Rede selbst