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2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: ISBN E-Book:

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Alexandra Ganser / Annegret Pelz (Hg.)

Mobile Kulturen und Gesellschaften / Mobile Cultures and Societies

Mit 20 Abbildungen

V&R unipress

Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Rektorats der Universität Wien.

© 2021, Vandenhoeck&Ruprecht GmbH&Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Alexandra Exter (1882–1949): Stage Sets / Décors de théâtre, 1926–30, One from an album of 15 pochoirs (32.7 x 51.1 cm): The Merchant of Venice. 1927. Éditions des Quatre Chemins, Paris 1930. Museum of Modern Art, MoMA NY, Gift of Mr. and Mrs. Nikita Lobanov, Object number 205.1972.14.

Vandenhoeck&Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-8470-1208-5

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Inhalt

Einführung / Introduction Alexandra Ganser / Annegret Pelz

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren /

Conceptualizing Cultural and Social Mobility Studies . . . 9 Syntia Hasenöhrl / Barbara Maly-Bowie / Roman Kabelik

Why Mobilisation Matters: Critical Enquiries about Mobilities,

Communications and Power . . . 57 Ethnisierte und vergeschlechtlichte Mobilitäten /

Ethnicized and Gendered Mobilities Petra Dannecker / Birgit Sauer

Gender und Mobilität oder Mobilität und Gender? Programmatische

Überlegungen zu einem komplexen Zusammenhang . . . 87 Alev Çakır / Katharina Fritsch

Ethnicised Social Mobility as Self-Governing among Franco-Comorian

Politicians in Marseille andtürkiyeliEntrepreneurs in Vienna . . . 103 Birgit Englert

Moving beyond Hip-Hop: Tracing Mobilities in the Work of

Franco-Comorian Artists Soprano and Ahamada Smis . . . 127 Mobilität und Medialität / Mobility and Mediality

Alexandra Ganser

(Im)Mobilität und Medialität im Hollywood-Weltraumfilm:Interstellar undThe Martian . . . 147

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Annegret Pelz

Album und Picknickdecke: Stabilisierende Medien und ephemere Formen mobiler Kollektivbildung . . . 169 Marianne Windsperger

Preserving Lived Contexts:Yizker bikheras Portable Archives from a

Transgenerational Perspective . . . 189 Bildbewegungen / Moving Images

Franz M. Eybl

Traveling Images:Kategorien piktoraler Mobilität in Bildmedien der

Frühmoderne . . . 205 Christian Wimplinger

„Die Augenbewegungen sind spontan“ –Protestbewegungen sind es auch.

Zum ambulanten Gebrauch von Negt und KlugesGeschichte und

Eigensinn . . . 221 Viktoria Metschl

“Shhhhh, on existe…”:Haute Cuisine, Subversion Televised, and the

‘Denaturalization’against Dehumanization of the European Nation State in Sarah Maldoror’s TelefilmUn Dessert pour Constance(1980) . . . 243 Übersetzung und Transfer / Translation and Transfer

Philipp Wagner

Zur Mobilität von Arbeiterliteratur. Die Dortmunder Gruppe 61 auf

Lesereise im Schweden der 1970er Jahre . . . 269 Antje Wischmann

Übersetzung und literarischer Transfer als Figurationen transnationaler Mobilität . . . 287 Zukünfte von Mobilität / Futures of Mobility

Mimi Sheller

Zukünfte ungleicher Mobilität . . . 317 Beiträgerinnen und Beiträger . . . 339 Inhalt 6

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Einführung / Introduction

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Alexandra Ganser / Annegret Pelz

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren

Der vorliegende Band versammelt aktuelle Forschungen der Forschungsplatt- formMobile Kulturen und Gesellschaften. Interdisziplinäre Studien zu transna- tionalen Formationenan der Universität Wien. Als ein Instrument zur Förderung innovativer Forschung leistet die Plattform einen Beitrag zur Entwicklung des für gegenwärtige und vergangene soziokulturelle Entwicklungen hochrelevanten Forschungsfeldes der Mobility Studies. 2014 als Forschungskooperation zwi- schen der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Fakultät für Sozialwissenschaften gegründet und nach einem internationalen Evaluierungs- verfahren für weitere drei Jahre verlängert, beherbergt die Forschungsplattform seit 2019 außerdem das durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderte doc.funds-Programm Cultural Mobility Studies.Im Rahmen dieses Programms wurde das Kollegium um Wissenschaftler*innen der Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie und des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK Kunstuniversität Linz in Wien) erweitert. Externe institutionelle Kooperationspartner der Forschungsplattform sind außerdem dasCenter for Mobilities Research and Policy(Philadelphia) und dieÖsterreichische UNESCO-Kommission.1

In Zeiten intensivierter Globalisierung reagiert unsere Forschung auf die Tatsache, dass wissenschaftliche Antworten auf Fragen des Zusammenlebens in der mobilen Welt gesucht und Beiträge zum Verständnis der soziokulturellen Bedeutung von (Im)Mobilitäten geleistet werden müssen. Eine entscheidende Manifestation im entstehenden Feld der Mobility Studies war 2016 die Gründung der ZeitschriftMobilities.In der Einleitung zur ersten Ausgabe stellen die Her- ausgeber Kevin Hannam, Mimi Sheller und John Urry programmatisch fest, dass

„das Konzept von Mobilitäten die weltweiten Bewegungen von Menschen, Ob- jekten, Kapital und Information, wie auch lokalere Prozesse täglichen Verkehrs, der Bewegung im öffentlichen Raum ebenso wie die Reisen materieller Dinge im täglichen Leben umfasst“(2006, 1, Übers. Hg). Mit demnew mobilites paradigm 1 Siehe die Webseite der Forschungsplattform: https://mobilecultures.univie.ac.at.

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wird Mobilität als gelebte Realität und Ort der Wissensproduktion verstanden, die sowohl die Erforschung von Immobilität und Formen von Ausschlussme- chanismen als auch die Hypermobilität des digitalen Zeitalters einbegreift, und dabei kritisch zwischen territorialer Mobilität und Motilität als Bewegungspo- tenzial unterscheidet (Kaufmann 2002; Kaufmann, Bergman und Joye 2004;

Sager 2006). Während Mobility Studies generell und insbesondere das new mobilities paradigmin erster Linie in den Sozialwissenschaften angesiedelt wa- ren, haben Peter Merriman und Lynne Pearce (2017) jüngst unter Bezugnahme auf die vielfachen intellektuellen Strömungen in Kulturtheorie und Philosophie dazu aufgerufen, die Perspektiven der etablierten geisteswissenschaftlichen Denktraditionen in eine transdisziplinäre Mobilitätsforschung einzubeziehen.

Dem entspricht das disziplinenübergreifende Konzept unseres Bandes mit so- zial- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu den Mobility Studies. Entspre- chend wird Mobilität in diesem Band verstanden als kulturell, sozial und poli- tisch konstituiert, mit Subjekten, die in alltäglichen sozialen und symbolischen Prozessen (de Certeau 1984) Vorstellungen von Mobilität (re)produzieren und herausfordern. Mobilität wird im Plural als Mobilitäten re-konzeptualisiert (Urry 2000) und unterschiedliche Bewegungsformen analytisch als Funktionen in einem soziokulturellen Mobilitätsdispositiv (Manderscheid 2014) gefasst, das Zirkulationen von Menschen, Objekten und Ideen durch Praktiken, Diskurse und Institutionen reguliert.

Tim Cresswell (2006) und andere kritisieren die Art und Weise, wie die ge- genwärtige Forschung Mobilitäten oftmals mit positiv konnotierten Metaphern von Fluidität und Flexibilität und mit Lokalisierbarkeit und Sesshaftigkeit als dichotomem, negativen Pol aussoziiert. Auch Morley (2017) wendet sich gegen eine Idealisierung von Mobilität als progressiv, liberal, emanzipatorisch und gegen die Abwertung von Beständigkeit und Eingeschränktheit als konservativ und repressiv. Er fordert die Wissenschaft auf, das Binärpaar Sesshaftigkeit/

Nomadentum (2017, 62) zugunsten einer Erforschung der komplexen Bedin- gungen,„Disjunktionen und Intersektionen“(64) von Mobilitäten in ihren re- gulativen Funktionen zu unterlaufen. Mobilität hat sich demnach zu einer konzeptuellen Kategorie in kritischen Debatten zu Ungleichheit, Differenz und Gouvernementalität herausgebildet. Während Bewegungsfähigkeit im Zeitalter beschleunigter Globalisierung ein bestimmender Faktor soziokultureller Ver- änderung ist (Holert und Terkessidis 2006), gestalten sich Mobilitäten entlang intersektioneller Schnittlinien von Klasse, race, Geschlecht, Alter, Nationalität usw. ungleich, wie (post)koloniale und diasporische Migrationskontexte zeigen.

Cresswell trifft eine wesentliche analytische Unterscheidung zwischen gesell- schaftlich erzeugter Mobilität als einer erstens empirisch, technologisch kon- struierten Realität, zweitens einer durch Darstellungsstrategien geformten und (re)produzierten Idee und drittens einer körperlichen Erfahrung (2006, 3). Von Alexandra Ganser / Annegret Pelz 10

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besonderem Interesse für sozial- wie für kulturwissenschaftliche Auseinander- setzungen mit Fragen der Ideologie, Subjektivität und Handlungsmacht ist daher das Zusammenspiel zwischen mobilen Körpern und Darstellungen von Mobili- tät. So heben Murray und Upstone (2014) hervor, dass eine Beschäftigung mit Mobilitäten jene Repräsentationstheorien, die sich auf statische räumliche Re- ferenzen stützen, auf produktive Weise verkomplizieren. Die Verschiebung von einer räumlichen zu einer mobilen Wende (Sheller 2017) ist Resultat einer Be- tonung des Performativen in der soziokulturellen Konstruktion von Raum (Lefebvre 2004), welcher gleichzeitig durch soziale Akteure und durch textuelle Repräsentationen produziert wird. Doughty und Murray betonen zudem die Bedeutung von Diskursen, die„Mobilitätskulturen“(2016, 304) produzieren und determinieren. Vor dem Hintergrund dieser Grundannahmen muss auch die ForschungsplattformMobile Kulturen und Gesellschaftendie Grundlagen ihrer interdisziplinären kultur- und sozialwissenschaftlichen Mobility Studies laufend reflektieren. Projekte innerhalb dieses Feldes können nicht isoliert innerhalb etablierter akademischer Disziplinen entwickelt werden, sie erfordern Innova- tion, interdisziplinäre Debatten und Kooperationen.

1. Dieser Band

Dieser Band präsentiert Forschungsergebnisse der Wiener Forschungsplattform Mobile Kulturen und Gesellschaften. Nach dieser deutsch- und englischspra- chigen Einleitung zur Konzeptionalisierung von Mobility Studies und nach dem Eröffnungsbeitrag zur Frage„Why Mobilisation Matters“gliedern sich die Bei- träge (aus den Fächern Afrikawissenschaften, Amerikanistik, Internationale Entwicklung, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Skandinavistik und Politikwissenschaft) thematisch in die fünf Abschnitte: „Ethnisierte und vergeschlechtlichte Mobilität“ („Ethnicized and Gendered Mobilities“),„Mobilität und Medialität“(„Mobility and Media- lity“), „Bildbewegungen“ („Moving Images“), „Übersetzung und Transfer“

(„Translation and Transfer“) und in einen Ausblick auf die Zukünfte von Mo- bilität.

Alle Beiträge skizzieren unterschiedliche Auswirkungen und Verflechtungen von Mobilisierung und Stabilisierung.2Da wir Mobilitäten von Texten, Bildern, Ideen, Objekten und Menschen als strukturell geformt und als Resultat politi- 2 Vgl. die Nachwuchskonferenz „Move on! Mobility Meets (little) Resistances“ (2015), die Konferenz„American Im/Mobilities“(2018) und„Mobile Cultures? Perspektiven auf Diffe- renz, Mobilität und Immobilität“(2018); siehe https://mobilecultures.univie.ac.at/veranstal tungen/.

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 11

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scher, sozialer und kultureller Veränderungen ansehen, befasst sich der Band nicht ausschließlich mit zeitgenössischen Mobilitäten. Er bietet vielmehr litera- tur-, kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven von der frühen Neuzeit bis heute. Greenblatt (2009), Morley (2001, 2017), Merriman und Pearce (2017), Cresswell (2012) und andere fordern eine Historisierung der Mobilitätsfor- schung, um dem fälschlichen Eindruck entgegenzuwirken, es handele sich bei kultureller Mobilität um ein neues Phänomen. Unser Band setzt auf diachrone Tiefe, er reagiert auf die Anregung, den vorherrschenden Gegenwartsbezug in den Mobility Studies zu korrigieren, und er nimmt Greenblatts Vorschlag auf, dass„diemobility studiesversteckte wie sichtbare Bewegungen von Menschen, Objekten, Bildern, Texten und Ideen beleuchten sollten“(2009, 250, Übers. Hg.).

Im Rahmen der Forschungsplattform Mobile Kulturen und Gesellschaften untersuchen wir die Komplexitäten sozialer und kultureller (Im)Mobilitäten in verschiedenen historischen und geographischen Kontexten. Lag der Fokus an- fangs auf der Präzisierung von Kernbegriffen und -konzepten der einzelnen Fachsprachen (u.a. Mobilität/en, Immobilitäten, Raum, Ort, Dislokation, Migration, Medialität, Widerstände), zeigte das Zusammentreffen unterschied- licher methodischer Verfahren (diskursiv-repräsentativ-analytisch und empi- risch) Anschlussmöglichkeiten zwischen den sozial- und kulturwissenschaftli- chen Ansätzen auf. Die kritische Reflexion unserer Kernkonzepte und Schlüs- selbegriffe führte zu der Feststellung, dass Mobilität nicht auf Metaphern reduziert werden sollte (z.B. aufsteigende/absteigende soziale Mobilität), son- dern immer auch als sozial und kulturell bedeutsame materielle Bewegung ver- standen werden muss, die durch habituelle Praktiken, Menschen, Räume und Zeiten strukturiert ist (Cresswell und Merriman 2009). Kulturelle Mobilitäten betonen Austausch und Transfer (z.B. migrierende Konzepte, Übersetzungen), Transformationen und Hybridisierungen. Unsere Forschungen heben die Ver- schränkungen körperlicher und medialer Formen und von Synergien zwischen räumlichen, sozialen und kulturellen (Im)Mobilitäten hervor. Auf meta-analy- tischer Ebene diskutieren wir die Zirkulation von Ideen, analysieren (Im)Mo- bilitäten in unterschiedlichen Graden und konzeptualisieren Mobilisierung als eine theoretische Perspektive und Untersuchungsmethode im Hinblick auf Machtverhältnisse und Subjektbildung.

Alexandra Ganser / Annegret Pelz 12

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2. Interdisziplinäre Ansätze: Momente und Gegenmomente von Mobilität

Konzeptualisierungen von Mobilitäten sind in unterschiedlichen historischen Traditionen, variablen Epistemologien, Grundverständnissen und Bedeutungs- systemen verankert. Auf theoretischer Ebene will dieser Band aufzeigen, wie Mobilitätsforschung mit Kategorien wie Transnationalität, Translokalität, Dia- spora und Migration, Wissenstransfer und Übersetzung,travelling concepts, Exil, Kosmopolitismus, kulturelle Differenz und Anderssein korrespondiert. Inter- disziplinäre Zugänge erweisen sich insbesondere dann als ergiebig, wenn Fragen von Mobilitäten und Immobilitäten politisch begriffen werden, da die Inklu- sionen und Exklusionen in und von Mobilitätspraktiken immer schon verbal und audio/visuell im kulturellen Imaginären ko-konstruiert und auf vielfache Weise performiert sind. Aufgrund ihrer Performativität, die mediale Repräsentation wie soziale Praktiken umfasst (Simanowski 2016), kann soziale und kulturelle Mobilität von keiner einzelnen disziplinären Perspektive zufriedenstellend theoretisiert werden. Die Verflochtenheit von Formen und Formationen, Re- präsentationen und Akteuren von (Im)Mobilitäten verlangt methodische und theoretische Flexibilität. Das schließt Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verwendeten Begrifflichkeiten zur Erforschung soziokultureller (Im)Mobilitäten ein, die an den Verbindungsstellen zwischen den einzelnen Disziplinen ansetzen.

Als multi- und/oder interdisziplinäre Forschungsgruppe bauen wir auf eine Vielzahl von Methoden und Herangehensweisen, die in unsere gemeinsame Perspektive münden–die der soziokulturellen (Im)Mobilität.

Die Einzelstudien dieser Zusammenstellung haben das gemeinsame Ziel, transdisziplinäre Analysekategorien (z. B. Handlungsmacht, Dispositiv, He- gemonie) jenseits einzelner Disziplinen zu entwickeln und die Kulturalität und Sozialität von mobilen Praktiken herauszustellen. Als Reaktion auf die Kritik an dem inflationären Gebrauch von Mobilitäten und an der mehrheitlich po- sitiven Besetzung des Mobilitätsbegriffs hat sich in vielen unserer For- schungsprojekte, in Workshops und in der Lehre, die Erforschung von Mo- menten und Gegenmomenten von Mobilität –als zeitlich eng mit der Pro- duktion von Immobilitäten verschränkt–durchgesetzt. Das hat uns (als mobile Wissenschaftler*innen des globalen Nordens) zu gesteigerter Selbstreflexivität geführt und erfordert auf konzeptioneller Ebene, unterschiedliche Formen von Mobilität/Immobilisierung und Immobilität/Immobilisierung in Abhängigkeit voneinander zu betrachten. Nach unseren bisherigen Kooperationserfahrun- gen haben so beispielsweise die literaturwissenschaftlichen Studien von der soziokulturellen Präzisierung ihrer Forschungsgegenstände und ihrer ‚Hei- mat‘-Disziplin profitiert. Denn Literatur ist einerseits eine spezifische Form Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 13

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ästhetischer und epistemologischer Praxis, andererseits ist sie materiell an spezifische Lese- und Schreibpraktiken und an Medien- und Zirkulations- technologien gebunden. Die Betonung der Performativität von Handlungen in hegemonialen Formen und Strukturen sowie der Offenheit sozialwissen- schaftlicher Mobilitätsforschung gegenüber Symbolisierungsprozessen berei- chert sowohl die philologischen wie die sozialwissenschaftlichen Konzepte und Methoden. Die folgenden Abschnitte zur kultur- und sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung zeigen auf, in welcher Weise die verschiedenen an der Plattform beteiligten Forschungsprojekte die genannten Ziele in ihren For- schungen umsetzen.

3. Kulturwissenschaftliche Mobilitätsforschung

3

Ein wegweisender Moment in der Entwicklung literatur- und kulturwissen- schaftlicher Mobilitätsforschung war die Veröffentlichung von Mary-Louise Pratts Arbeit Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation (1992). In unterschiedlichen disziplinären Verortungen veranlasste diese eine Verschie- bung der Aufmerksamkeit auf„contact zones“und ihre Repräsentationen–auf hybride Räume des Kulturkontakts, in welchen sich die Routen der Reisenden, Migrant*innen, Seeleute und anderer mobiler Bevölkerungen überschneiden und mit Kolonialismen und vorherrschenden epistemologischen Regimen des Wissens und der Beschreibung des Anderen verschränken. In ähnlicher Weise bieten James Clifford (1992, 1997), Mieke Bal (2002), Stephen Greenblatt (2009), Ottmar Ette (2001–2017), Ramona Lenz (2010), Elisa Bertuzzo (2012), Kimmich und Schahadat (2012), Cancik-Kirschbaum und Traninger (2015) und kürzlich Merriman und Pearce (2017) einen Orientierungsrahmen für kritische Mobili- tätsforschung, der Mobilität in das Zentrum von Kultur und Kulturwissen- schaften rückt. Wesentlich für die Geisteswissenschaften ist es mit Clifford, so- zialeundtextuelle Inszenierungen dominanter und nicht-dominanter Formen von Mobilitäten zu untersuchen, um die allgegenwärtige Rhetorik einer zeitge- nössischen Mythologie der Hypermobilität zu hinterfragen. Erzählungen über Mobilität müssen Marginalität und Ausgrenzung berücksichtigen, so dass ein anderes Licht auf die großen Narrative der nationalen Einheit, des Fortschritts, der Demokratie und der Modernität fällt, so Tim Cresswell, einer der Gründer des Felds (vgl. 2001, 20). Mobilität muss somit in ihrer doppelten Funktion als Affirmation und Widerstand (Hilton und Van Minnen 2002) gedeutet werden– nicht als Gegensatz, sondern als durch kulturelle Texte und soziale Performanz 3 Dieser Teil wurde kollaborativ verfasst von Alexandra Ganser, Roman Kabelik, Barbara Maly-

Bowie, Viktoria Metschl und Annegret Pelz.

Alexandra Ganser / Annegret Pelz 14

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(re)produziertes Kontinuum (siehe Paul, Ganser und Gerund 2011, 12–13). In unserem Kontext sehen wir Repräsentation als eine körperlich zum Ausdruck gebrachte diskursive Praxis, die immer medial gerahmt ist. Unterschiedliche Beispiele medialer Repräsentation von Mobilität zwischen dem 17. Jahrhundert und heute–von historischem Wissen über Mobilität, das frühneuzeitliche Prosa prägt, und der Portabilität von Buch-Medien bis zu zeitgenössischen (post-) nationalen oder diasporischen Identitätskonstruktionen im Internet und zu mobilen Praktiken des Fernsehens–werden in Resonanz zu unseren theoreti- schen Bestrebungen erforscht.

Amerikanistik

In der Amerikanistik war Mobilität für US-amerikanische Gründungsmythen von zentraler Bedeutung: Erkundungs- und Entdeckungsreisen, der puritanische

‚errand into the wilderness‘(im Sinne eines religiös begründeten Botengangs) einer‚Neuen Welt,‘die West-Expansion, die als Aufstieg gedachte soziale Mo- bilität desAmerican Dreamoder die Weltraumerforschung als die Erschließung vonnew frontiers–diese Vorstellungen werden in zahlreichen Mobilitätsnarra- tiven vom 15. Jahrhundert bis heute artikuliert und mythisch überhöht. Im na- tionalen Archiv außerordentlicher Errungenschaften sind die Protagonisten heroische Figuren. Obwohl diese eurozentristische, weiße und durch Männer dominierte Historiographie schon lange angefochten wird, schwingt diese Vor- stellung bis heute in Diskursen über den amerikanischen Exzeptionalismus mit.

In der US-amerikanischen Kulturgeschichte waren die oft als voneinander ab- hängig wahrgenommene geographische und soziale Mobilität für Narrative der Nationenbildung und der amerikanischen Subjektbildung von grundlegender Bedeutung. Was durch die Klischee-Vorstellung– „Amerikaner_in sein bedeutet, unterwegs zu sein“(Urry 2007, 103, Übers. Hg.)–verwischt wird, sind jedoch amerikanischeImmobilitäten.Cresswell (2006) folgend gibt es ideologisch und kulturell legitime Formen von Mobilität, die jedoch in einem Abhängigkeits- verhältnis zu illegal(isiert)en, sozial verachteten und/oder nicht genehmigten Arten von Mobilität stehen. Amerikanistische Mobilitätsforschung versucht, eine Kritik der in kulturellen Formen artikulierten, vorherrschenden Skripte ameri- kanischer Mobilität aus sub- und transnationaler sowie ausgender-,race- und klassenkritischen Perspektiven zu formulieren (Paul, Ganser und Gerund 2011).

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 15

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Anglistik

In der britischen Tradition haben sich Theorien der Populärkultur stark an einer Neuzuordnung von kulturellen Verhältnissen infolge von Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen orientiert (Storey 2018). In dieser Perspektive kann die Entwicklung unterschiedlicher Klassen, ihrer jeweiligen kulturellen Räume und Praktiken im Vereinigten Königreich und ihre Auswirkungen auf globalisierte Ideen von Populärkultur nur innerhalb geographischer und sozialer Mobilitätsmuster und ihrer Technologien verstanden werden. Obwohl die in- dustrielle Revolution, welche laut Urry das soziale Leben mobilisierte (Urry 2007, 3), einen eurozentrischen, wenn nicht sogar einen England-zentrierten Eck- pfeiler in Bezug auf Mobilitäten darstellt, fungiert sie doch als wichtiges Zu- sammentreffen für die disziplinäre Formierung und Zielsetzung der britischen Kulturwissenschaften. Die Transformation der cultural studies von einem lo- kalen zu einem globalen Projekt ist durch einen markanten Wechsel der Ansätze zu sozialen und später zu geographischen Mobilitäten gekennzeichnet. Während

‚Mobilität‘in den frühen Studien dercultural studiesder 1960er Jahre bis zu ihrer Institutionalisierung in den 1970er Jahren kein prominentes Stichwort war, fand der Begriff in Verbindung mit den späteren Postcolonial Studies, der Diaspora- und Globalisierungsforschung Aufnahme in den Wortschatz dercultural studies.

Im Hinblick auf soziale Mobilität lag das Augenmerk früher Kulturkritiker wie Raymond Williams ([1958] 1983) auf ihrer Kritik von Klassenmobilität als Idealisierung und Auferlegung von bürgerlichen Ideen, dessen zugrundelie- gender Trennungsgedanke auf eine sich abzeichnende und durch mobile Dy- namiken der Zirkulation und des Austausches funktionierende kapitalistische Marktwirtschaft zurückgeführt wird. Diese kritische Sicht auf kapitalistische soziale Verhältnisse, die Ideen und Praktiken der sozialen Mobilität möglich machen, findet einerseits ihren Ausdruck in neueren Kritiken der globalen, neoliberalen, freien Marktwirtschaft (McGuigan 2016). Andererseits hat sich das Engagement dercultural studiesfür soziale Gerechtigkeit zu einem gemeinsamen Nenner entwickelt, der dazu einlädt, sich mit sozialer Mobilität als einem Sam- melbegriff für Veränderungsprozesse zu befassen, die der Exklusion und Un- terdrückung jenseits von Klasse entgegenwirken. Als Ort der kapitalistischen Globalisierung stellt die Populärkultur somit auch „eine Ressource für margi- nalisierte Gruppen [dar], um in nationale und internationale Narrative inklu- diert zu werden“(Miller 2017, Übers. Hg.). Diese Praktiken der Machterhaltung und -beanspruchung können in ihrer Beziehung zur versuchten Einflussnahme auf die materielle und symbolische Bewegung von Objekten, intellektuellen Strömungen, E-motionen und Erfahrungen verstanden werden. Zum Beispiel sind Sport, Musik, Tanz und Fernsehen–Bereiche der Populärkultur, die von multiskalaren Bewegungs- und Machtverstrickungen gekennzeichnet sind–als Alexandra Ganser / Annegret Pelz 16

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‚zivilisierende‘Projekte ebenso wie Selbstausdruck, kollektive Handlung und Ort der Identifikation und des Widerstands –sinnstiftend geworden. Die mobile Wende formuliert daher zentrale Debatten über‚structure‘und‚agency‘, Kom- modifizierung, Signifikation und Aneignung neu, indem sie symbolische und materielle Dimensionen von Stabilisierung und Mobilisierung aushandelt.

Neuere deutsche Literaturwissenschaft

Die These von Merriman und Pearce, dass die in den Geistes- und Kulturwis- senschaften vorhandenen Mobilitätsstudien innerhalb des neuen Mobilitätspa- radigmas nicht als solche kenntlich werden (2017, 495), trifft in besonderer Weise für die Forschungen im deutschsprachigen Raum zu. In den 1990er Jahren hat sich hier eine junge kultur- und medienwissenschaftliche Forschung etabliert, die prinzipiell dennew (im)mobility studieszuzurechnen wäre. Mit einschlägigen Studien zu Literaturen und Kulturen in Bewegung, zu Trans-Area Studies, zur Geschichte des literarischen Weltverkehrs und zur Weltliteratur-Debatte sowie zu Reisen, zur Macht transportabler Objekte und Medien und zu mobilen Formen von Konvivialität (Adloff und Heinz 2015; Barthes 2007; Döring und Thielmann 2009; Ette 2001–2017; Kimmich und Schahadat 2012; Latour 2006; Pomian 1988;

Stingelin und Thiele 2009; Stüssel und Neumann 2011; Werber 2007). Kulturelle und soziale Mobilitäten, die Veränderungen ihrer Formen (Deines, Feige und Seel 2012; Levine 2015) und insbesondere ihr Kleinwerden (Gamper und Mayer 2017) werden weitgehend historisch perspektiviert (Berbig und Göttsche 2013;

Pelz 1993). An der Forschungsplattform wird der Zusammenhang von kleinen, beweglichen Formen und portablen Medien–Sammelbüchern, Alben und No- tizbüchern (Erdle und Pelz 2019; Pelz und Kramer 2013) sowie ihre digitalen Adaptionen in derFacebook-Gesellschaft(Simanowski 2016)–im Rahmen der Geschichte deterritorialisierter Netzwerkorganisationen untersucht. Deutlich wird, dass der portable Besitz (Plotz 2008) diasporischer Medien (Mayer 2005) und die Fähigkeit, Dinge durch Inskriptionen zusammenzuziehen (Latour 1986, 2009), zunehmend Bedeutung in Fragen mobiler Zugehörigkeit (Pfaff-Czarnecka 2012) in europäischen und globalen Netzwerken (Moores 2012) gewinnt. Das ephemere Gemeinschaftsleben, in welches Einzelne gelegentlich eintauchen, nicht aber auf Dauer eingebunden sind (Rosa 2010), wird durch portable Medien und kleine literarische Formen reguliert, die nicht erst im Zeitalter post-tradi- tioneller und mobiler Sozialitäten entstanden sind, und deren gemeinsamer Ort, wie Barthes und Ette betonen, vor allem die Sprache ist.

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 17

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Filmwissenschaft

Kern der Filmwissenschaft sind Überlegungen zur Bewegung und Starrheit von Bildern und ihrer Verstrickung mit sozialen Realitäten und/oder sozialen Fik- tionen (siehe Büttner 2014, 301). Im ersten Bewilligungszeitraum der For- schungsplattform haben die filmwissenschaftlichen Projekte die politisch mo- tivierte Mobilität antikolonialer Filmproduktion und die ihr zugrundeliegenden Netzwerke, Techniken, Ideologien und Notwendigkeiten untersucht. Jackson folgend haben sie nach Verbindungen gesucht: Eine„materialistische Herange- hensweise“, die darin besteht,„Dinge in ihrer gesamten Sequenz zu untersuchen, im Prozess zu sehen; nicht bloß ihre Existenz in fest sequenzierten Bildern herzustellen, sondern den Zustand des Seins im Prozess, im Anfangsstadium, in der Reife, im Niedergang aufzunehmen […;] Dinge in Bewegung, verarbeitet in andere, ebenso bewegte Dinge“ (1990, 49, Übers. Hg.). Vom Kino bis zum Fernsehen bleibt die Dringlichkeit von Godards Forderung, die„Festung Kino“

zu stürmen und aus ihrer historischen und gegenwärtigen Allianz mit der

„Festung Europa“zu lösen, gültig. Ein Archiv der ästhetischen Rebellion und konkreter Guerillataktiken bringt in die Mobility Studies ein detailliertes Ver- ständnis materieller und materialistischer Bedingungen mediatisierter Bewe- gung am Schnittpunkt von Kultur- und Sozialwissenschaften ein.

4. Sozialwissenschaftliche Mobilitätsforschung

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Die erstaunliche Beliebtheit der Globalisierungsidee in den Sozialwissenschaften der 1990er-Jahre und die oft zelebrierten ‚flows‘von Menschen, Arbeitskraft, Gütern und Kapital haben zu einer zunehmenden Metaphorisierung und Kon- zeptualisierung von Mobilitäten in sozialwissenschaftlicher Forschung geführt (Lenz 2010, 1). Das bedeutet nicht, dass Mobilität für unsere Zeit einzigartig ist, sondern, dass Mobilitäten als„die kombinierten Bewegungen von Menschen, Objekten und Informationen in all ihren komplexen Beziehungsdynamiken“

(Sheller 2014, 789, Übers. Hg.) vor der Ausrufung des sogenanntennew mobility paradigm odernew mobilites turn(Sheller und Urry 2006; Cresswell 2006) als Begleiterscheinung von grundlegenderen materiellen, sozialen und kulturellen Formationen, besonders in den Sozialwissenschaften, beiseitegeschoben wurden (D’Andrea, Ciolfi und Gray 2011, 150). Die neue Betonung der Mobilität nimmt weder an, dass, wie Sheller (2011, 2) feststellt, die Welt jetzt mobiler ist, noch ignoriert sie erzwungene oder freiwillige Mobilitäten in präkolonialen, kolo- 4 Dieser Teil wurde kollaborativ mit Alev Çakir, Katharina Fritsch, Syntia Hasenöhrl, Petra

Dannecker, Birgit Englert, Kirsten Rüther und Birgit Sauer verfasst.

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nialen und postkolonialen Zeiten. Stattdessen fordert sie die sesshaften An- nahmen, welche die sozialwissenschaftliche Wissensproduktion seitdem geprägt haben, heraus. Territorialisierte Orte, Regionen und Nationen waren die Grundeinheit sozialwissenschaftlicher Forschung und der Entwicklung mensch- licher Identitäten und Erfahrungen –obwohl wir wissen, dass mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaften höchst mobil und nicht durch solche Con- tainerräume begrenzt waren. Mobilität wurde somit besonders in den Sozial- wissenschaften als Abweichung von der Regel oder als Bedrohung dieser be- grenzten Einheiten konstruiert. Sich in den Sozialwissenschaften auf Mobilität zu konzentrieren bedeutet jedoch nicht in erster Linie, Beweise für das soge- nannte Sesshaftigkeitsparadigma zu enthüllen, sondern Mobilität in den Mit- telpunkt zu stellen, ohne die Sesshaftigkeit aus den Augen zu verlieren. Sozial- wissenschaftliche Beiträge zur Mobilitätsforschung theoretisieren Mobilität als grundlegend für Gesellschaften, Gemeinschaften, Identitäten und Erfahrungen auf eine Weise, die weder Mobilität noch Stillstand normalisiert (vgl. Glick Schiller und Salazar 2013, 184), sie beteuern die lange Geschichte der Mobilität, führen Mobilität als mehr als Reise und Migration aus und analysieren (un- gleiche) Machtstrukturen, in denen Mobilitäten und Immobilitäten stattfinden.

Obwohl manche Fragen, Zugänge und Theorien in Bezug auf Mobilität in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen variieren können, wer- den sie auch durch Gemeinsamkeiten gekennzeichnet, beispielsweise durch Publikationen, die wir für die jeweiligen Forschungsbereiche als grundlegend einstufen. Die Auswirkung von Machtverhältnissen auf Mobilität, von Glick Schiller und Salazar (2013) im Konzept der Mobilitätsregime ausgedrückt, sowie konkrete Kontextualisierungen stellen ein gemeinsames Interesse der kritischen Sozialwissenschaften dar. Die Berücksichtigung von Machtverhältnissen und sozialen Ungleichheiten wird zunehmend in den Mobility Studies in den Vor- dergrund gerückt; allgemein stellt Warne Peters für die Sozialwissenschaften fest:

Obwohl eine Stärke der Mobility Studies in ihrer Betonung globaler Vernetzung liegt, sollten SozialwissenschaftlerInnen diese Vernetzung nicht als Gleichheit deuten, son- dern untersuchen, wie Muster transnationaler Mobilität globale Strukturen von Un- gleichheit produzieren und reproduzieren. (2013, 277, Übers. Hg.)

Kritiker*innen der Flow-Metapher (Appadurai 2013) haben für ein Bewusstsein von Ungleichheiten und Unterbrechungen plädiert, da Flüsse nie ohne Stillle- gungen (Nyamnjoh 2013, 654) oder Blockierungen (Akyeampong 2010, 6) exis- tieren; das Konzept der Globalisierung selbst, welches eher Verbindung als lose Enden und Fehlanpassungen bedeutet, mag irreführend sein (Cooper 2001). Es wurde gerechterweise darauf hingewiesen, dass Mobilität im Hinblick auf die Frage, wer mobil und flexibel sein kann, immer Machtverhältnissen ausgesetzt ist. Außerdem haben feministische und postkoloniale Forscher*innen aufge- Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 19

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zeigt, dass eine Zuwendung zu Faktoren wie Nationalität, Klasse, Geschlecht, Mutter-/Vaterschaft,race, Alter oder Sexualität als Strukturen der Ungleichheit in etablierter sozialwissenschaftlicher Forschung über Motilität notwendig ist.

Ein weiteres gemeinsames Merkmal sozialwissenschaftlich geprägter Mobi- litätsforschung ist das Infragestellen etablierter Methoden und Methodologien.

Die sozialwissenschaftliche Erforschung von Mobilität begrenzt sich nicht nur auf die thematische Untersuchung von Mobilität – oder auf eine analytische Perspektive mit Anwendung auf fast jedes Thema–sondern erzeugt auch neue methodologische Zugänge und Methoden, die über jene hinausgehen, die im Kontext von auf territorialisierten Einheiten basierten Disziplinen und Theorien entwickelt wurden. Beispielsweise müssen in historischen Untersuchungen Ar- chivquellen neu gelesen und der Materialkorpus von einer Reihe möglicher, neu konzeptualisierter ‚Archive‘ zusammengetragen werden. Somit bedeutet die Beteiligung an den Mobility Studies auch eine Hinwendung zur Frage, wie der Forschungsprozess konzeptualisiert werden kann, um die in der Forschung untersuchten Mobilitäten widerzuspiegeln. Mobilität und Methoden können auf unterschiedliche Weise zusammengebracht und -gedacht werden: die offen- sichtlichste Unterscheidung betrifft erstens die Frage, wie Mobilitäten zu un- tersuchen sind und zweitens, wie auf eine mobile Weise geforscht werden kann.

Obwohl eine Überschneidung dieser Fragen selbstverständlich gegeben ist, er- innert Merriman (2014) daran, dass diese nicht zusammengefasst werden sollten.

Tatsächlich ist bei vielen Forschungsfragen innerhalb sozialwissenschaftlicher Mobilitätsforschung eine Annäherung durch‚mobile methods‘nicht möglich, sondern benötigt etablierte Methoden, wie zum Beispiel Interviews, teilhabende Beobachtung oder Diskursanalyse sowie unterschiedliche Arten der Textanalyse.

Die Sinnhaftigkeit von‚mobilen Methoden‘im engeren Wortsinn, beispielsweise

‚shadowing‘oder GPS-Tracking, ist sicherlich von der individuellen Fragestel- lung abhängig. Ein Beispiel wäre, aufgrund der Bewegung des/der Forscher/in mit ‚dem Feld‘ und deren Auswirkung auf die Beziehung zwischen dem/der Forscher/in und dem/der ‚Untersuchten‘, die teilhabende Beobachtung als

‚mobile Methode‘zu überdenken. Mobilität ist ein inhärentes Merkmal eines Großteils sozialwissenschaftlicher Forschung: etwa‚ins Feld‘oder ins Archiv zu gehen oder online ‚zu surfen‘. Für Anthropolog*innen sowie auch für andere Sozialwissenschaftler*innen ist es wichtig,‚im Feld‘zu sein; für Historiker*innen (sowie für viele geisteswissenschaftliche Forscher*innen) ist es wichtig,‚im Ar- chiv‘zu sein–beide beinhalten einen gewissen Grad der körperlichen Entortung.

In dieser Hinsicht berücksichtigt eine kritische sozialwissenschaftliche Per- spektive auch die Rolle sozialer Kategorien wie etwa Klasse, Geschlecht oder Ethnizität, die die Mobilität der Forschenden und der‚Erforschten‘prägen.

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Politikwissenschaften

In den Politikwissenschaften werden Fragen der Mobilität auf unterschiedliche Weise angesprochen: Erstens ist soziale Mobilität (Klasse, Geschlecht, Ethnizität etc.) und die Frage, wie soziale Mobilität politische Teilhabe, Wahlverhalten und Repräsentation westliche Demokratien seit den 1970er Jahren beeinflusst, Pro- gramm der Disziplin, wobei die Analyseeinheit hauptsächlich der Nationalstaat war. Zweitens wird Mobilität in Studien zu neuen sozialen Bewegungen in Hin- blick auf neue Arten, Menschen zu mobilisieren und deren Einfluss auf politische Aktivitäten, Agenda-Bestimmungen und politische Lösungen um nationale Grenzen und darüber hinaus in Angriff genommen. Der dritte Aspekt betrifft die Untersuchung von Migration, z.B. die Ursachen von menschlicher Mobilität, die Gesetze und Regulierungen in Aufnahmeländern, migrantische Strategien zum Erschaffen von Zugehörigkeit, Identität und politische Partizipation (in den Aufnahme- wie in den sogenannten‚Heimat‘ländern). Die Forschung konzen- triert sich auf die Reise der Migrant*innen, auf die benötigten und erworbenen Ressourcen und auf Auswirkungen aufpolicy und Politik. Die sogenannte af- fektive Wende in der Politikwissenschaft untersucht seit Kurzem, wie Affekte Netzwerke zwischen Migrant*innen auf deren Reise erschaffen, mit welchen Affekten diese in Aufnahmeländern konfrontiert sind, wie diese die Integration von Migrant*innen und/oder Flüchtenden in Aufnahmeländern fördern, oder wie der öffentliche Diskurs über Flüchtende von Affekten angetrieben wird.

Diese Perspektive trägt die Idee von unbewussten aber nicht notwendigerweise arationalen Emotionen und Affekten zu Studien bei, die auf rationalen Akteuren basieren. Außerdem wird die Untersuchung von Affekten auch in anderen mo- bilitätsverwandten Feldern angewandt, z.B. bei der Mobilisierung innerhalb sozialer Bewegungen und dem Alltäglichen (vgl. z.B. Papacharissi 2015; Tarrow 2011). Zusätzlich zur Affektivität und Mobilität von Akteur*innen widmet sich die Politikwissenschaft auch der Mobilität von Objekten und Ideen. Beispiels- weise setzt sich politik- und sozialwissenschaftliche Forschung zu internatio- nalen Beziehungen mit den Prinzipien der internationalen Kooperation und des Konflikts auseinander. Dies beinhaltet, unter anderem, auch transnationalen Handel, d.h. den Austausch von Objekten und ihrer Regulierung; zudem der Bewegung von Ideen in der Form von Werten und kulturellen Normen, die sich einander annähern oder angezweifelt werden können (vgl. z.B. Nincic 2011;

Rosenau 2003). Solche Prozesse verwickeln staatliche und nichtstaatliche Ak- teur*innen auf Makro- und Mikroebene. Zusätzlich ist die Bewegung von In- formationen ein wichtiger Aspekt politischer Kommunikation, der untersucht, wie politische Akteur*innen ihre Agenden über diverse Medienkanäle als Mittel zur Mobilisierung zirkulieren können (vgl. z.B. Chadwick 2006; Murray und Matland 2014).

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Afrikawissenschaften

Außer Frage steht, dass afrikanische Gesellschaften schon immer von einem hohen Mobilitätsgrad innerhalb und jenseits des Kontinents gekennzeichnet waren. Im Kontext der Afrikawissenschaften haben die Mobility Studies unter- schiedliche Bewegungen untersucht: die Sklavenreisen innerhalb Afrikas sowie durch die Sahara, über den Indischen Ozean und den Atlantik (Curto und Lovejoy 2004), Flucht und Migration als dringliche Themen der zeitgenössischen Forschungsdebatten, die Expansion der kolonialen Grenze und ihre bleibende Auswirkung auf afrikanische Gesellschaften, Routen und Lebensläufe. Neueren Datums wird Mobilität, seitdem das Feld der Urban Studies in den Afrikawis- senschaften blüht, dort auch in ihren vielen Formen und Varianten einer Überprüfung unterzogen. Soziale Mobilität wird als soziale Ungleichheit be- trachtet, besonders weil Berufsmöglichkeiten und höher bildende Schulen oft abseits von Wohnorten liegen. Zudem können die Änderung religiöser Zuge- hörigkeit, Konversion oder ethnische, kulturelle oder politische Zugehörigkeit im Kontext kultureller Mobilität untersucht werden. Die Zirkulation von Waren, Menschen und Ideen und die daraus entstehenden kulturellen Begegnungen und Verstrickungen stellen Fragen nach den Rhythmen, den Strömungen und dem Imaginären jener Bewegungen. Jedoch werden afrikanische Mobilitäten, sobald sie zwischen dem afrikanischen Kontinent und anderswo (z.B. Europa, Asien, Nordamerika) stattfinden, überbetont. Mobilitätsformen innerhalb des globalen Südens werden allgemein viel weniger erforscht, ganz abgesehen von der Ver- nachlässigung von Mobilität innerhalb des Kontinents, die schließlich viel häu- figer ist und deswegen weitere Forschung erfordert. In der etablierten Mobili- tätsforschung werden afrikanische Fälle und Perspektiven bisher wenig beachtet.

Ausgehend von dem Argument, dass afrikanische Mobilitäten in den Mobility Studies noch nicht ausreichend berücksichtigt wurden, initiierte die Mobility Studies-Zeitschrift Transfers2016 einen Sonderbereich über „African Mobili- ties“. Die kritische Entwicklungssoziologie und die Postcolonial Studies gehen davon aus, dass Mobilität zunehmend in Prozessen des Otherings eine Rolle spielt. Oder um es anders zu fassen: Mobilität ist mit‚westlicher‘Modernität assoziiert, das Sesshafte mit den‚unterentwickelten Anderen‘(Bakewell 2008, 35–36; Nyamnjoh 2013, 659). Diese Vorstellung ist eng mit Konzeptualisierungen von Mobilität verbunden, welche Individualität und Mobilität mit Modernisie- rung zusammendenken. Afrikanische Mobilität wird daher oft im Sinne von Gemeinschaft gefasst; dem liegt die Annahme zugrunde, dass Afrikaner*innen wegen ihrer Verbundenheit zueinander und ihrem Zuhause und ihrer Sehnsucht nach einer mythischen Heimat diasporische Gemeinschaften bilden. Diese Wahrnehmungen sind von rassialisierten Ideen von Mobilität beeinflusst, die afrikanische Handlungsfähigkeit als von Kollektiven dominiert imaginieren, was Alexandra Ganser / Annegret Pelz 22

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wenig Raum für individuelle Handlungsfähigkeit lässt. Die Vorstellungen von Diaspora bestreiten allerdings auch die Dichotomie von Kollektivität und Indi- vidualität, da sie die Rolle von„imagined communities“(Anderson [1983] 2006) wie auch die der„encountered communities“(Brah 1996, 192) bei der Erleich- terung oder Erschwerung individueller Migrationsprozesse andeuten.

Entwicklungssoziologie

Die Entwicklungssoziologie beschäftigt sich insbesondere mit dem Verstehen und Untersuchen von theoretischen und praktischen Fragen zu Entwicklung als Prozess, Diskurs und Praktik. Die zentralen Anliegen der soziologischen For- schung zu Entwicklungsprozessen–z.B. sozialer Wandel, soziale Mobilität (wie auch allgemein in der Soziologie) und soziale Ungleichheit auf globaler, regio- naler und lokaler Ebene, Transformationen von Normen, Werten und Wissen und die Einführung von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Struk- turen im globalen Süden–werden in Analysen miteinbezogen und die Natur, Bedingungen und Möglichkeiten von sozialem Wandel erklärt. Einige Ansätze gehen beispielsweise der Auswirkung von internationalem (neoliberalem) Handel im Zuge der Globalisierung nach (siehe z.B. Rauch 2009; Scholz 2004, 2005). Andere erforschen den Ideentransfer, z.B. im Hinblick auf gute Regie- rungsführung, die Emanzipation von Frauen oder die Idee von ‚Entwicklung‘

selbst (z.B. Müller-Mahn und Verne 2010; Peet und Hartwick 2009; Sidaway 2007). In den letzten Jahren wurden Fragen dazu, wie Migration und Mobilität sich mit Entwicklungsprozessen kreuzen, zu wichtigen Themen in der Ent- wicklungssoziologie (Glick Schiller und Faist 2009; Castles 2009). Diese betreffen sowohl die soziale Mobilität von mobilen Akteur*innen als auch Möglichkeiten für soziale Mobilität bei Mitgliedern ihres Netzwerkes, die von Remissionen und anderen Formen von transnationalen Ressourcen und Wissenstransfer profi- tieren (z.B. Brinkerhoff 2012; Faist, Fauser und Kivisto 2011). Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Mobilität und Entwicklung hat nicht nur im Hinblick auf über nationale Grenzen hinweg bestehende soziale Texturen und Transformationsprozesse Einblicke geliefert, sondern beansprucht auch, die Entwicklungssoziologie nicht auf die Erforschung des globalen Südens zu re- duzieren, da ähnliche Entwicklungsprozesse zunehmend auch im globalen Norden beobachtet werden können. Die Schwerpunktsetzung auf Mobilität in der Entwicklungssoziologie erlaubt notwendige Schwerpunktverschiebungen auf die Vernetzung von sozialen und räumlichen Anliegen.

Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 23

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5. Die Beiträge

Die in diesem Band versammelten Beiträge verhandeln Formen und Formatio- nen, Repräsentationen und personale Akteur*innen der (Im)Mobilität und le- gen die interdisziplinären Analyseebenen und Forschungsergebnisse der For- schungsplattform in diachroner Perspektive dar. Als Resultat unserer Inter- und Multidisziplinarität, die mit einer Vielzahl thematischer, theoretischer und me- thodologischer Zugänge arbeitet, beinhaltet der Band ein Spektrum von Ansät- zen zur Erforschung der Komplexität von soziokultureller Mobilität, aus denen unsere gemeinsame Perspektive besteht. Jede einzelne Studie verpflichtet sich zu einer umfassenden Prüfung des Leistungsvermögens der Mobility Studies für den eigenen Gegenstandsbereich und bringt so die diversen disziplinären Posi- tionen derMobility-Debatten ein, die gleichermaßen die Basis für den Austausch zwischen den Disziplinen bieten. In den folgenden Beiträgen ist unser interdis- ziplinärer Dialog durch eine Reihe von Schlüsselbegriffen geleitet: Mobilität und Medialität, Translokalisation und translokale Gemeinschaften, Mobilität und Geschichte/Temporalität, geschlechtsspezifische Mobilität, sowie kleine/minde- re, mobile, kulturelle und literarische Formen, wie auch Verstrickung und Re- lationalität (Adey 2006) von Mobilität und Immobilität.

Der Eröffnungsbeitrag„Why Mobilisation Matters: Critical Enquiries about Mobilities, Communications and Power“ von Roman Kabelik, Barbara Maly- Bowie und Syntia Hasenöhrl diskutiertMobilisierungals ein produktives Kon- zept für interdisziplinäre Forschung. Die multiskalare und multimodale Aus- einandersetzung mit dem Konzept der Mobilisierung hebt die kritische Ver- flechtung von Bewegung, Kommunikation und Macht hervor und verfolgt deren Funktionsweisen entlang körperlicher, ideologischer, technologischer, territo- rialer und historisch kontingenter Linien. Mobilisierung wird einerseits genutzt, um eine historisch spezifische Reihe von Praktiken des‚Mobilmachens‘zu ent- werfen, andererseits wird Mobilisierung verwendet, um eine sehr allgemeine moderne Tendenz zunehmender Mobilitäten zu beschreiben. Der Beitrag nähert sich dem Konzept als einem Konflikt aus Mobilwerden und Mobilmachen. Ka- belik, Maly-Bowie und Hasenöhrl erforschen Mobilisierung im Sinne von Kommunikation, Körper und Macht aus einer kritischen Perspektive und er- läutern Prozesse der Mobilisierung, statt sich beschreibender Darstellungen von Mobilitäten zu bedienen. Sie interessieren sich für Fragen von Materialität (z.B.

Technologien zur Produktion von Mobilitäten), Emotion (z.B. wie Affekte und Emotionen evoziert und benutzt werden, um Menschen zu verbinden und phy- sische und/oder emotionale Entfernungen zu überbrücken), Macht (z.B. welche Arten von Bewegungen werden erleichtert, überwacht oder eingeschränkt) und wie sich diese einander überschneiden–eine Herangehensweise, die einer in- terdisziplinären Perspektive auf Mobilisierung Rechnung trägt.

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Den Abschnitt „Ethnisierte und vergeschlechtlichte Mobilität“ eröffnet der Beitrag von Petra Dannecker und Birgit Sauer „Gender und Mobilität oder Mobilität und Gender? Programmatische Überlegungen zu einem komplexen Zusammenhang“ über die Relation von Mobilität und Geschlecht. Gezeigt wird, dass geschlechtsspezifische Machtstrukturen trotz unterschiedlicher ge- schlechtsspezifischer und feministischer Perspektiven auf Mobilität immobility turn seit den 1990er Jahren kaum berücksichtigt werden. Anhand der beiden Forschungsprojekte – „Sicherheitsstrategien und Sicherheitswahrnehmung migrantischer Unternehmerinnen in Wien“und„Für wessen Wohl? Analyse der Rechte unbegleiteter Minderjähriger in Migrations- und Asylverfahren“ –wird im zweiten Teil diskutiert, wie Geschlechterkonstruktionen in unterschiedlichen Bewegungs- bzw. Mobilitätsmustern ausgehandelt und konstruiert werden, um erstens zu zeigen, dass Mobilität vergeschlechtlicht ist und daher zweitens Ge- schlechterideologien, -bedeutungen und -praktiken prägt, produziert und re- produziert, jedoch auch herausfordert.

Alev Çakır und Katharina Fritsch analysieren im nächsten Beitrag„Ethnicised Social Mobility as Self-governing among Franco-Comorian Politicians in Mar- seille and türkiyeliEntrepreneurs in Vienna“ die Rolle vontürkiyeli(‚aus der Türkei stammenden‘) Unternehmer*innen mit kleinen oder mittleren Unter- nehmen in Wien sowie diejenige französisch-komorischer lokaler Politiker*in- nen als ethnisierte Vermittler*innen in Marseille. Die Analysekontexte sind erstens Diskurse über ‚migrantisches Unternehmertum‘in der Europäischen Union (EU) und vor allem in Österreich, besonders im Hinblick auf‚Integration‘

und‚wirtschaftliche Beiträge‘und zweitens die Frage nach der politischen Re- präsentation von‚ethnischen Gemeinschaften‘in Frankreich, wo dieses Phäno- men meist mit dem Begriff descommunautarismeund im öffentlichen Diskurs als Gegensatz zum ‚französischen Republikanismus‘gefasst wird. Vor diesem Hintergrund betonen Çakir und Fritsch die Rolle der sozialen Kategorie der ethnischen Zugehörigkeit im Hinblick auf Diskurse und Praktiken der sozialen Mobilität in postkolonialen und post-Gastarbeiter*innen-Kontexten. Ausgehend von episodischen Interviews mittürkiyeli-Unternehmer*innen und franko-ko- morischen Politiker*innen diskutieren die beiden Verfasserinnen ethnisierte soziale Mobilität anhand der zwei Dimensionen der‚Integration‘durch Ethni- sierung und der Bedeutung von ethnisiertem Wissen für die Aufgaben der Un- ternehmer*innen und Politiker*innen. Dem foucaultschen Konzept desgover- ningsals Zusammenspiel von Herrschafts- und Selbstpraktiken folgend sprechen sich Çakir und Fritsch für ein Verständnis von ethnisierter sozialer Mobilität als einer Form der Selbstregierung aus. Wie die Analyse zeigt, benutzentürkiyeli- Unternehmer*innen und franko-komorische Politiker*innen ethnische Zuge- hörigkeit als eine politische, wirtschaftliche und soziale Ressource in ihren Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 25

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professionellen Aufgaben, was auf die Relation zwischen sozialer Mobilität und Ethnisierungsprozessen hinweist.

Birgit Englerts Beitrag„Moving beyond Hip-Hop: Tracing Mobilities in the Work of Franco-Comorian Artists Soprano and Ahamada Smis“ liefert eine Analyse von Hip-Hop aus Marseille aus Mobility Studies-Perspektive. Der Schwerpunkt liegt auf dem Werk zweier franco-komorischer Künstler, die Mu- sikalben herausgegeben haben, deren Titel unterschiedliche Dimensionen von Mobilität andeuten: SopranosCosmopolitanie(2014) und Ahamada Smis’Ori- gines(2013). Der Beitrag stützt sich auf 2012 und 2015 durchgeführte qualitative Feldforschung in Marseille sowie auf die Analyse von Liedtexten und Internet- quellen. In der Hip-Hop-Forschung wird die politische Relevanz oft mit dem Liedtext oder dem Grad der künstlerischen‚Authentizität‘(‚keeping it real‘) in Verbindung gebracht, was Künstler*innen an vorgegebene Rollen bindet. Mo- bilität wird in dem Beitrag als Widerstandsstrategie gegen die Bindung an spe- zifische Orte und Rollen verstanden. Englert argumentiert, dass die Mobilität in translokalem Rap eine politische Dimension besitzt, die notwendigerweise we- niger direkt ist als die von den Künstlern geäußerten Kommentare zu politischen Themen. Dabei geht es nicht nur um die Steigerung ihrer Sichtbarkeit, sondern auch darum, Ideen von‚Herkunft‘herauszufordern.

Den Abschnitt„Mobilität und Medialität“eröffnet der Beitrag von Alexandra Ganser„(Im)Mobilität und Medialität im Hollywood-Weltraumfilm:Interstellar undThe Martian“. Der Weltraumfilm ist eines der wenigen Filmgenres, das seit Ende des Kalten Krieges noch mehr als zuvor fast ausschließlich in Hollywoods Händen liegt. Seit Anbeginn des sogenannten‚Wettlaufs ins All‘(space-race) mit der Zündung der sowjetischen Sputnik-Rakete 1957 haben sich der Hollywood- Weltraumfilm und die tatsächlichen Entwicklungen in der Astrotechnologie wechselseitig beeinflusst. Die enge Zusammenarbeit zwischen der US-Filmin- dustrie und derNational Aeronautic Space Agency (NASA) hatte schon kurz davor durch Walt DisneysMan in SpaceundMan and the Moon(beide 1955) Berühmtheit erlangt; sie setzt sich auch im 21. Jahrhundert fort. In Zeiten glo- baler Finanz- und Wirtschaftskrisen ist die NASA mehr denn je auf die öffent- liche Legitimation ihres wachsenden Budgets und ihrer Ziele (etwa die Erkun- dung des Planeten Mars) angewiesen: die „Traumfabrik Hollywood“ scheint hierfür der geeignete Ort zu sein, der nationale Diskurse aufnimmt und trans- national zirkuliert. Alexandra Ganser geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Mobilitätsdiskurse und -entwürfe im Weltraumfilm an genau dieser Schnittstelle zwischen nationaler(final) frontier-Rhetorik und globaler Wirk- mächtigkeit zum Tragen kommen. Sie untersucht Weltraummobilität, wie sie in Christopher Nolans Interstellar (2014) und Ridley ScottsThe Martian (2015) ausgearbeitet wird und korreliert diese Entwürfe mit der Mobilität des Mediums Film auf unterschiedlichen Ebenen. Während beide Filme sowohl für ihre Äs- Alexandra Ganser / Annegret Pelz 26

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thetik als auch ihren edukativen Wert im Bereich der Astronomie von Kriti- ker*innen gelobt wurden, sind sie aus einer globalen und ökokritischen Sicht auf Mobilität und Immobilität kritisch zu reflektieren.

Annegret Pelz zeigt in ihrem Beitrag„Album und Picknickdecke: Stabilisie- rende Medien und ephemere Formen mobiler Kollektivbildung“an zwei mobilen Geselligkeitsformen–dem literarischen Picknick und dem netzwerkbildenden Album–, wie die Literatur Praktiken und Prozesse von Vergesellschaftung als einen dynamischen Vollzug von stabilisierenden Medien und flüchtigen Formen denkt. Der erste Teil des Beitrags beschreibt das kreative Schaffen von Zugehö- rigkeit durch das Sammeln von Inskriptionen als eine traditionsreiche social media-Praxis, bei der physische und kommunikative Deterritorialisierung zu- sammenwirken. Das Sammeln von Freundschaftsbekundungen im Papierzeit- alter unterscheidet sich von den digitalen Formen durch Präsenz und Bewegung im Raum. Im zweiten Teil des Beitrags markiert die auf einer Wiese, im Schatten und am Waldrand ausgelegte Picknickdecke den Ort, an dem sich eine Gruppe von Menschen draußen und unterwegs versammelt, um den Augenblick essend, musizierend und erzählend zu genießen. Dieses literarische Sujet wurde vor allem in der Romantik als gegenkulturelles Geselligkeitsdispositiv in Anspruch genommen. In beiden Formen mobiler Kollektivbildung agieren Artefakte –leere Buchseiten und ein flexibles Stück Stoff–als mittelnde Akteure und laden zu kreativen und kollektiven Akten der Gemeinschaftsbildung ein: Das auf Reisen mitgeführte Album stabilisiert entfernte Zugehörigkeiten, die Picknick- decke vermittelt einen Ort für ephemere Zusammenkünfte in der mobilen Welt.

Der Beitrag von Marianne Windsperger „Preserving Lived Contexts:Yizker bikheras Portable Archives from a Transgenerational Perspective“befasst sich mit der Tradition vonYizker Bikhernin der Gegenwartsliteratur. Der jiddische TerminusYizker Bikherbezeichnet Bücher, die in Reaktion auf die Zerstörung der jüdischen Lebenswelten im Osten Europas entstanden. Diese Bücher wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Displaced Persons-Camps von ehemaligen Bewohner*innen eines Ortes oder in Landsmannschaften-Organi- sationen zusammengestellt und umfassen verschiedene Materialien wie Karten, Fotografien, Dokumente und Namenslisten. Windsperger untersucht in ihrem Beitrag die Mobilität der Bücher und zeichnet Formen des Sammelns und Schreibens in der Gegenwartsliteratur nach, die sich mit derYizker Bukh-Tra- dition verbinden.

In dem Abschnitt„Bildbewegungen“wendet sich der Beitrag von Franz M.

Eybl „Traveling Images: Kategorien piktoraler Mobilität in Bildmedien der Frühmoderne“ dem Buchdruck als einem Medium zu, das Abbildungen und Abgebildetes mobilisiert. Druck und Bildpublikation transferieren und kodifi- zieren im transeuropäischen (und unter kolonialem Blickwinkel bereits globa- lisierten) Rahmen ikonologische Bildvorstellungen vor allem im Bereich der Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 27

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Religion, wo im Zeichen der konfessionskulturellen Christianisierung ganze Buchtypen (Totentanz) und Bildprogramme (Freskenzyklen) auf Bildlektüren beruhen (Eybl 2014; Telesko 2016). Diese ihre Basis stellt einen etablierten Be- stand vontraveling imagesbereit. Die Beweglichkeit der Bilder trifft ihrerseits auf diskontinuierliche Rezeptionspraktiken innerhalb historisch wie regional ver- schiedener kultureller Blick- und Lesesystemen. Am Beispiel der Sonnenblume entfaltet die barocke Emblematik appellative Sinnzuschreibungen der Affekt- kontrolle, der Untertanenmentalität sowie des Glaubens. Auf welche Weise die historischen Medien durchquert werden, erweist ein diachroner Blick auf die Relationen plurimedialer Dokumentationsformen dieser Bildvorstellung zwi- schen Bildlexikon, Kirchenausstattung, Festschrift, Historiographie und Land- schaftsarchitektur. Diese Beweglichkeit der Bilder korrespondiert mit einer Be- weglichkeit des Betrachtens in einer körperlichen Performanz.

Als nächstes geht der Beitrag von Christian Wimplinger „‚Die Augenbewe- gungen sind spontan.‘Protestbewegungen sind es auch. Zum ambulanten Ge- brauch von Negt und KlugesGeschichte und Eigensinn“der Frage nach, in wel- cher Hinsicht Negt und Kluges Kultbuch als ambulantes Medium gelten kann (Felsch 2015). Das philosophische GemeinschaftswerkGeschichte und Eigensinn (1981) von Oskar Negt und Alexander Kluge zählt neben Deleuze und Guattaris Mille Plateaux(1980) zu den ausufernden Theoriebüchern jener Zeit, die ihre Leser*innen zu neuen Denkweisen herausfordern. Nonlinear, multidirektional, vielpolig und offen in ihrer Form, setzen die Texte spontane Bewegungen sowohl innerhalb des Buches als auch im gesellschaftspolitischen Kontext frei. Hierzu kontextualisiert das Buch den zugrundeliegenden Bewegungsbegriff und legt einen Fokus auf die rhapsodische Darstellungsform vonGeschichte und Eigen- sinn.Durch Erzählen ohne Anfang und Ende, das Negt und Kluge„kugelförmiges Erzählen“nennen, imitiert das Buch die oft unverbunden nebeneinander ver- laufenden Geschichtsprozesse und lädt die Leser*innen dazu ein, in der Erzäh- lung stets bei den eigenen Interessen anzusetzen.

Viktoria Metschls Beitrag„‚Shhhhh, on existe…‘:Haute Cuisine, Subversion Televised and the‚Denaturalization‘against Dehumanization of the European Nation State in Sarah Maldoror’s TelefilmUn Dessert pour Constance(1980)“

widmet sich Bewegungen in Sarah Maldorors Un Dessert pour Constance.Ki- nematographische Bearbeitung wird hier als eine Art des Denkens verstanden, die in Bewegung setzt, statt Mobilität durch Generalisierung zu versteinern.

Durch die im Medium zeitgleiche Schaffung einer Welt und der Auseinander- setzung mit der Welt können die komplexen Verstrickungen von Mobilitäten zerlegt werden. Solches Denken-mit-Bildern strebt ein materialistisches Fun- dament für Bewegungen in den Realitäten desmotion picturesauf und jenseits der Leinwand an. In dem Beitrag wird Mobilität auf mehreren Ebenen bespro- chen: auf der Ebene der falschen Versprechen der sozialen Mobilität und ihrer Alexandra Ganser / Annegret Pelz 28

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race-basierenden Einschränkungen; auf jener der erzwungenen Mobilität von afrikanischen Menschen, um den Bedarf (neo-)kolonialer Industrien zu decken und der ihr gegenläufigen Mobilität, der Subversion von fixierten Identitäten und sozialen Positionen und der Rückwanderung. Dabei werden Maldorors Bilder mit dem dringlichen Aufruf des algerischen Soziologen Abdelmalek Sayad, die europäischen Nationalstaaten zu ‚denaturalisieren‘und mit Walter Rodneys Kritik an den dehumanisierenden kolonialen und neokolonialen Strukturen verwoben.

Den Abschnitt „Übersetzung und Transfer“ eröffnet Philipp Wagners Un- tersuchung„Zur Mobilität von Arbeiterliteratur. Die Dortmunder Gruppe 61 auf Lesereise im Schweden der 1970er Jahre“aus skandinavistischer Perspektive. Der Fokus auf Mobilität ermöglicht hier eine differenzierte Darstellung der Bezie- hungen zwischen deutsch- und schwedischsprachiger Literatur nach 1945. Am Beispiel der Lesereise der Dortmunder Gruppe 61 im Schweden der 1970er Jahre zeigt sich im ersten Teil, warum es wichtig ist, die Themen Arbeiterliteratur und Mobilität gemeinsam zu betrachten. Dabei wird der Begriff derregimes of mo- bilityallgemein für literatursoziologische Fragestellungen adaptiert. Im zweiten, analytischen Teil werden anhand der Lesereise die Beziehungen der literarischen Felder Westdeutschlands und Schwedens dargestellt. Dafür werden ästhetisch- politische Strategien ausgewählter Akteure und die Presseberichterstattung ausgewertet, bevor der Beitrag auf die Bedeutung derpublic diplomacyin diesem Kontext eingeht.

In vier Fallbeispielen fokussiert sodann Antje Wischmanns Beitrag „Über- setzung und literarischer Transfer als Figurationen transnationaler Mobilität“

Prozesse des transnationalen Austauschs zwischen Schweden und Deutschland, an dem Akteur*nnen beteiligt sind, die jeweils um 1963 und um 2011 mit dem Verlag Bonniers kooperierten. Transfer und Übersetzung von Literatur sind hier prominente Ausdrucksformen kultureller Mobilität. Im Vordergrund des Bei- trags stehen Prozesse der Übersetzung, Vermittlung und Distribution als Kom- ponenten der Literaturvermittlung. Die Akteur*innen werden mit Pascale Ca- sanova (2007) alsintermediariesverstanden, die Texte mittels einer Übersetzung in Umlauf bringen und erklärend-deutend an neue Leser*innengruppen ver- mitteln. Sofern sie mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet sind, tragen dieintermediariesin einem Verbund von Akteur-Netzwerk-Einheiten maßgeb- lich zum literarischen Transfer bei. Die Mobilisierung von Texten lässt sich auf zwei Ebenen in den Blick nehmen: Auf der literatursoziologischen Makroebene treten sich wandelnde Machtverhältnisse zwischen nationalliterarischen Feldern hervor. Auf der Mikroebene geraten die thematisierte textliche Mobilität, ein- zelne Anpassungen an den zu erwartenden neuen Kontext oder einige folgen- reiche Wissensrahmungen in den Blick. Sowohl Wissensrahmungen als auch intertextuelle Konstellationen ermöglichen De- und Rekontextualisierungen Kulturelle und soziale Mobilitätsforschung konzeptualisieren 29

Referenzen

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