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Was hat Arbeit mit Leben zu tun?

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Beziehungsarbeit, Arbeit in der Pfl ege von Kindern und Gebrech- lichen, ehrenamtliche Arbeit und so weiter und so fort. »Arbeit« lei- tet sich vom mittelhochdeutschen »arebeit« her und bedeutet als solches ursprünglich Mühsal, Beschwernis und Leiden. Frühere Kulturen machten denn auch aus ihrer Verachtung für die Arbeit keinen Hehl. Nur zu gern überließ man sie den Sklaven oder Leib- eigenen.

Wie passt das zusammen: leben und menschenwürdig arbeiten?

9 7 8 3 3 2 0 0 2 1 9 8 6

ISBN 978-3-320-02198-6

W a s ha t A rbeit mit L e ben z u t u n ?

60

Stefanie Holuba (Hrsg.)

Was hat Arbeit

mit Leben zu tun?

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Rosa-Luxemburg-Stiftung

Texte 60

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Karl Dietz Verlag Berlin

STEFANIE HOLUBA (HRSG.)

Was hat Arbeit mit Leben zu tun?

Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Stefanie Holuba (Hrsg.):

Was hat Arbeit mit Leben zu tun?

(Reihe: Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung; Bd. 60) Berlin: Karl Dietz Verlag 2009

ISBN 978-3-320-02198-6

© Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2009 Satz: Elke Sadzinski

Umschlag: Heike Schmelter (unter Verwendung eines Fotos der Video-Installtion »Berufung – Job – Maloche?« von Judith Siegmund in der Ausstellung »Hannah-Arendt-Denkraum«, Berlin 2006) Druck und Verarbeitung: MediaService GmbH BärenDruck und Werbung

Printed in Germany

Die vorliegenden Texte sind Ergebnis des Gesprächskreises

»Lebenszeit – Arbeitszeit« der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Das Redigieren der Manuskripte lag in den Händen von Marga Voigt.

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Inhalt

Vorwort 7

Rosalind Honig

Was hat Arbeit mit Leben zu tun?

Bericht aus der Praxis eines eigenständigen Arbeits-Lebens-Weges 11 Benno Herzog

Was ist Arbeit?

Kulturelle, politische und ökonomische Unterschiede

eines gesellschaftlichen Schlüsselbegriffes 23

Dietrich Fischer

Öffentlich geförderte Beschäftigung 38

Axel Krumrey

»Arbeit nur für Deutsche!« – oder wie der Arbeitsbegriff

als Instrument der Ausgrenzung missbraucht wird 53

Judith Siegmud Arendt und Arbeit

Reflexion einer interaktiven Erprobung

von Arendts Begriffen des Tätigseins 71

Adeline Otto

Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens Wider die Verwertungslogik des Menschen

nach ökonomischer Nützlichkeit 85

Resümee 96

Literatur-Empfehlungen 98

Zu den Filmen 99

Zu den AutorInnen 100

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»Um Arbeit für alle zu haben, muss man sie rationieren, wie Wasser auf einem Schiff in Not.«

Paul Lafargue

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Vorwort

Verehrte Leserinnen und Leser,

das Buch, das Sie in den Händen halten, will nachdenken über Arbeit. »Ja ja – Arbeit«, kann man da nicken und weiß, was gemeint ist. Das Wort Arbeit wird inflationär gebraucht, es ist zu einem großen »Alles und Nichts« geworden. Der tägliche Sprachgebrauch kennt viele Wendungen: Man geht zur Arbeit, wird zum Arbeitsessen eingeladen, man arbeitet im Haushalt, verrichtet Gartenarbeit, leistet Beziehungsarbeit – Arbeit am Computer, Arbeit in der (meist häuslichen) Pflege von Kindern und Gebrechlichen, Arbeit an sich selbst, politische Arbeit, ehren- amtliche Arbeit und so weiter und so fort. Allen Formulierungen gemeinsam scheint, dass Arbeiten bedeutet, etwas stetig und regelmäßig zu verrichten, auch wenn es keinen Spaß (mehr) macht. Das Wort Beziehungsarbeit kommt beispiels- weise erst dann ins Spiel, wenn die Liebe in die Jahre geraten ist. Rauschhaft ver- liebt würde wohl niemand auf die Idee verfallen, gemeinsame Unternehmungen und Gespräche unter dem Stichwort Beziehungsarbeit zu fassen. Verfolgt man die Herkunft des Wortes Arbeit zurück, bestätigt sich diese Deutung. »Arbeit« leitet sich vom mittelhochdeutschen arebeither und bedeutet als solches ursprünglich Mühsal, Beschwernis und Leiden.

Frühere Kulturen machten denn auch aus ihrer Verachtung für die Arbeit kein Hehl. Nur zu gerne überließ man diese den Sklaven oder Leibeigenen. In der An- tike galt es als Allgemeinplatz, dass Arbeit den Körper verunstalte – und dies selbstverständlich auf den Geist zurückwirkt. Aristoteles meinte, dass Arbeit und Tugend sich gegenseitig ausschlössen. Nur Politik, Kunst oder Rhetorik waren ei- nes freien Mannes (dem natürlich vor allem) würdig.

Erst mit der Industrialisierung änderte sich hierzulande die Bewertung von Arbeit. Arbeit wurde zum Lebenszweck, zum Gottes-Dienst, diente der Selbstver- wirklichung, hatte Anteil an der Menschwerdung des Affen – und wurde mit Be- deutsamkeit aufgeladen. Rund um den industriearbeitenden Menschen konstitu- ierte sich die Arbeiterbewegung mit ihren Arbeiterparteien, der lohnarbeitende Mensch bzw. Mann wurde zum zentralen Subjekt der Gewerkschaften und sozia- len Sicherungssysteme.

Würden wir der Arbeit ein Museum errichten, dann gehörte diese Art der Ar- beit dort hinein: Industriearbeit für die Lohn bezahlt wird. Das hat verschiedene Gründe, nur zwei seien hier genannt: Industriearbeit zieht weiter in andere Länder (irgendwo gibt es billigere Arbeitskräfte und Menschen, die dort den Gestank der Fabriken ertragen müssen), und es gibt Maschinen, die uns körperliche und stu- pide Arbeit abnehmen. An Letzterem ist nichts zu bedauern.

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Doch ein rechtes Jubelgeschrei angesichts des Aussterbens dieser Arbeit hier- zulande mag sich nicht einstellen. Der Abbau von Arbeitsplätzen, auch der von schrecklichen, wird zumeist als beängstigend und verunsichernd erlebt. Schon 1883 rechnete Paul Lafargue in seinem Buch »Recht auf Faulheit« vor: »Jede Mi- nute der Maschine ist gleich hundert Arbeitsstunden der Arbeiterin, oder viel- mehr, jede Minute Maschinenarbeit ermöglicht der Arbeiterin zehn Tage Ruhe.«

Ruhe – oder auch Freistellung vom Arbeitsprozess als paradiesischer Zustand:

Das klingt ebenso einleuchtend wie von der Realität entfernt.

Und was ist mit dem Schlagwort der »Ausbeutung«? Den dicken pfeiferau- chenden Kapitalisten mit Melone, der die Fabrik besitzt und das Letzte aus seinen Arbeitern herauspresst, sucht man vergeblich. Er ist unsichtbar geworden. Aber dadurch umso wirksamer.

»Nicht zu spät kommen, nur nicht. Solche Angst vor dem zu spät kommen, dem nicht genügen, dem ausgetauscht werden. Von wem nur. [...] Sie lassen sich aus- beuten und würden es doch nie so nennen. Ich arbeite gern, würden sie sagen, was auch sonst. Es können ja nicht alle Selbständig sein, Künstler oder Penner, einer muss ja arbeiten. Für wen eigentlich? Für Vorstandsvorsitzende, für Manager mit Millionensalären. Ein paar Milliarden Bonus für die Mitarbeiter einer Bank, die ein paar Milliarden Minus erwirtschaftet hat. Früher nannte man das Klassenkampf.

Die da oben die da unten. Heute nennt man es einfach Angestelltenverhältnis. [...]

Auf die Idee, dass da irgendetwas nicht stimmt, kommt kaum einer. Auf die Idee zu demonstrieren, keiner. Auf die Idee sich nach einem Stück Kommunismus zurück zu sehnen, und dieses verdammte System, das uns alle so glücklich macht und mit guten Zähnen ausstattet, kommen doch nur Chaoten. Am 1. Mai. Mit denen haben wir nichts zu tun. Wir müssen arbeiten. Gerne.« schreibt Sibylle Berg.

Wenn momentan in Deutschland über Arbeit gesprochen wird, fallen Stich- worte wie Wissensgesellschaft, digitale Bohème, Prekariat, Dienstleistungsgesell- schaft, lebenslanges Lernen etc. Klar ist, der Charakter der Arbeit hat sich gewan- delt – aber auch unser Anspruch an sie.

Körperliche Arbeit wird unwichtiger und zunehmend zum Mythos, geistige Fähigkeiten gewinnen an Bedeutung, soziale Kompetenzen sowieso. Das macht die Erwerbsarbeit und das Arbeitsleben vordergründig angenehmer. Doch auch diese Medaille hat ihre Kehrseite. Stechuhren und Taktzeiten in der Fabrik defi- nieren nicht nur den Beginn der Erwerbsarbeit – sie markieren auch deren Ende.

Selbstbestimmte und projektgebundene Arbeitszeiten führen dazu, dass die Gren- zen von Berufstätigsein und Freizeit verwischen. Abteilungen werden aus Firmen ausgegliedert, ehemals Angestellte machen sich selbständig, die »Ich-AG« er- reichte traurige Berühmtheit, FreiberuflerInnen ziehen ihr Los dem Arbeitslossein vor. Für viele ist das Selbständigsein nicht bewusste Entscheidung, sondern Flucht nach vorn mangels anderer Alternativen. Selbstausbeutung wird oftmals zur Kehr- seite der Selbstverwirklichung. (Das gilt für Selbständige ebenso wie für eigen-

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verantwortlich arbeitende Angestellte.) Natürlich immer in der Hoffnung auf den großen Gewinn, den großen Auftrag, bessere Zeiten.

Für die Bürgerinnen und Bürger der DDR waren die Wandlungen der Arbeits- welt eine doppelte »Wende«. Für viele von ihnen war das Ende der DDR 1990 verbunden mit dem Ende ihres bisherigen Betriebes oder der Arbeitsstelle. Dinge, die sie hergestellt hatten, wurden nicht mehr gebraucht; Lebensmittel, die sie pro- duzierten, gab es woanders besser, billiger oder einfach nur anders; Gedanken, die sie entwickelt hatten, wirkten überflüssig. Damit einher ging ein tiefgreifender Bruch in den Biographien. Schlagartig wurden Generationen arbeitslos oder/und zu Umzuschulenden erklärt. Ihre bisherigen Qualifikationen und Erfahrungen schienen kaum etwas wert. Wer bis dato ein Lexikon verfasst hatte, durfte es nun an der Haustür verkaufen. Parallel zu dieser Entwicklung wurden die Anforderun- gen der Wissensgesellschaft sichtbar, denen sich natürlich die Menschen aus dem gesamten Land stellen mussten und müssen. Der Computer hielt rasant Einzug bis in den letzten Winkel des Lebens, neue Kommunikationstechniken veränderten das Zeitempfinden der Arbeitswelt, erworbenes Wissen bekam eine immer kür- zere Halbwertszeit. Berufliche Orientierung ist von einer Phase am Lebensanfang zu einem immerwährenden Prozess geworden. Das birgt Chancen ebenso wie Risiken.

Eine Kultur des neuen Kapitalismus hat sich etabliert, welche den »flexiblen Menschen« als zentrales Moment hat. Jeder Arbeitnehmer erfindet sich immer wieder neu – das ist die Möglichkeit zum ständigen Neuanfang und gleichzeitig permanentes Entwerten von Lebenserfahrung. Die Arbeitsbiographie gerät zur le- benslangen Probezeit.

Wie passt das zusammen: Leben und menschenwürdig arbeiten? Wie kann man seinen Idealen nahe kommen und dennoch den Realitätsbezug wahren? Und ist das im Kapitalismus überhaupt möglich? Erwerbsarbeit bedingt bislang zwei Per- spektiven: die von denen »drinnen« und von denen »draußen«. Welches Potenzial hat es, den Arbeitsbegriff weiter als bislang zu fassen?

Über diese und andere Fragen denken die AutorInnen in den folgenden Texten nach. »Was hat Arbeit mit Leben zu tun?« fragt Rosalind Honig. Die Mentorin für

»Neue Arbeit – Neue Kultur« berichtet aus ihrer Praxis und gibt so einen biogra- phischen Einstieg in das Thema. Nach der praktischen Reflexion von Arbeit folgt die theoretische: Benno Herzog untersucht kulturelle, politische und ökonomische Unterschiede des Schlüsselbegriffes Arbeit in Europa.

Arbeit als Mangel – das ist das Thema der nächsten beiden Beiträge. Dietrich Fischer beschreibt das Entstehen der öffentlich geförderten Beschäftigung als Re- aktion auf Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik. Die Idee, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu fördern, verfolgt er bis in die heutige Zeit hinein.

Dass das Stichwort Arbeit in den politischen Debatten eine zentrale Rolle spielt, ist ein bekanntes Phänomen. Man denke nur an die ständig bemühten Argu-

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mente, was in Deutschland Arbeitsplätze schafft, was sie vernichtet etc. pp. Arbeit wird vor allem als (verhinderte oder drohende) Arbeitslosigkeit thematisiert beziehungsweise problematisiert. Einer speziellen Art politischer Auseinanderset- zung nimmt sich Axel Krumrey in seinem Text an. Er zeigt, welche Gedanken- gänge hinter solchem Slogan wie »Arbeit nur für Deutsche!« stehen und vor wel- chem Weltbild hier wer aus dem Arbeitsmarkt (respektive der Gesellschaft) ausgeschlossen werden soll.

Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht – Judith Sieg- mund greift diesen Gedanken von Hannah Arendt auf. Da aber das Einkommen an Arbeit geknüpft ist, entsteht das Problem von Prekarität. Prekarität meint aber nicht in erster Linie das Fehlen von ökonomischer Potenz, sondern den »Verlust der Welt« – verursacht durch Kontaktarmut und Passivität. Angesichts dieser Pre- karisierung stellt sich Adeline Otto die Frage, inwieweit Einkommenssicherheit, Anerkennung, sozialer Kontakt und Selbstverwirklichung auf anderem Weg zu er- reichen sind. Sie plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das Er- werbsarbeit und Einkommen entkoppeln würde.

Danach schließt sich ein Fundus an: Die Autoren empfehlen ihre Lieblings- bücher zum Thema. Parallel zum Buch ist eine DVD mit thematischen Kurzfil- men erschienen. Der Initiator des Konzeptes von »Neue Arbeit – Neue Kultur«, Frithjof Bergmann, kommt zu Wort und ein Potsdamer Projekt wird vorgestellt, das sich seinen Ideen verbunden fühlt. In »Kleingeld« begegnen sich ein obdach- loser Bettler und ein gut situierter Banker im aufstrebenden Berlin der 1990er Jahre. Der Spielfilm fragt nach dem Wert von Arbeit, in materieller, sinnstiftender und zwischenmenschlicher Hinsicht. Der Film »Handicap« ist eine Satire. Er zeigt das »leidvolle« Leben Rechtsradikaler und überlegt, ob diese mittels Arbeit zu resozialisieren wären: Hitlergrüße werden zu Wäscheständern.

Vergeblich suchen wird man im Buch die allumfassende Weltformel, was Ar- beit ist und wie es idealerweise mit ihr und uns weitergeht, inklusive der Lösung aller Probleme. Es geht uns eher darum, unterschiedliche Sichtweisen produktiv zu machen. Das Buch versteht sich als Beitrag zur Diskussion – nicht als deren Ende.

Eine anregende Lektüre wünscht Stefanie Holuba

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Rosalind Honig

Was hat Arbeit mit Leben zu tun?

Bericht aus der Praxis eines eigenständigen Arbeits-Lebens-Weges

»Ich kann mir nicht vorstellen, nochmal an meinen Arbeitsplatz zurückzugehen, ich halte diesen Druck und diese Fremdbestimmung nicht mehr aus! Ich kann dort nicht sein, wie ich bin. Ich passe da nicht mehr rein und kann einfach nicht mehr [...] Es müsste doch auch irgendwie anders gehen!?« So oder ähnlich hört es sich an, wenn Menschen zu mir in die Beratung kommen. Sie wenden sich vom Arbeitsmarkt ab, weil sie die Verschärfung von Druck, Misstrauen, Angst und Mobbing nicht mehr ertragen wollen oder können. Dennoch bleiben sie nicht in der Resignation stecken, sondern fragen sich, wie es anders gehen könnte. Sie machen sich auf, einen eigenständigen Arbeits-Lebens-Weg zu finden und heraus- zufinden, was Arbeit mit ihremLeben zu tun haben könnte.

Betrachtung des aktuellen Arbeitsmarktes

Die Arbeitswelt verändert sich drastisch: Geradlinige Verläufe des Berufslebens nach dem Motto »Schule – Ausbildung – Beruf – Rente« sind kaum noch zu fin- den. Die Berufsbiographien werden bunter, Zeiten der Arbeitslosigkeit kommen bei immer mehr Menschen vor, und die Aussicht auf kontinuierliche Vollzeit- beschäftigung ist für viele Menschen ins Utopische gerückt. In dieser Zeit des Wandels greifen die Rezepte von früher (»Wenn du fleißig bist und einen guten Abschluss machst, bekommst du auch einen guten Beruf mit anständigem Ein- kommen«) nicht mehr. Es ist komplizierter geworden, sich beruflich zu orientie- ren. Das Tempo nimmt zu und dieEntscheidung für einen Beruf gibt es nur noch selten.

Bewerbungsleitfäden fordern Menschen außer hoher fachlicher Kompetenz eine Reihe von Fähigkeiten ab, wenn sie den Wünschen des Arbeitsmarktes ge- recht werden wollen: Sie sollen zielorientiert, kommunikativ, flexibel, belastbar und mobil sein, sollen mitdenken, Verantwortung übernehmen und selbständig handeln können, Medien-, Methoden- und Sozialkompetenz sowie die Bereit- schaft zu lebenslangem Lernen mitbringen. Entsprechende Stellenanzeigen und die schlechten Erfolgsaussichten rauben vielen Menschen den Mut.1

1 Vgl. Frauke Hagemann: Starker Einstieg. Unterrichtsbausteine zur Berufsorientierung, Wiesbaden 2007, S. 15 ff.

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Trendforschungen gehen davon aus, dass die Spannung auf dem Arbeitsmarkt eher noch zunimmt: Menschen in Vollzeitjobs müssen immer mehr und effektiver arbeiten, den »wenigen Vollzeiterwerbstätigen steht ein großes Heer von Gelegen- heitsarbeitern und Aushilfsjobbern, Teilzeitbeschäftigten und Arbeitnehmern auf Abruf gegenüber. [...] Arbeitnehmer in Deutschland müssen in Zukunft zu Lasten des Familienlebens permanente Flexibilität und berufliche Mobilität beweisen.«2 Verständlich, dass manche Menschen einfach keine Lust oder Kraft mehr haben mitzuhalten und diesen Veränderungen der Arbeitswelt nicht mehr folgen wollen.

Gleichzeitig bieten solche Zeiten der Veränderung jedoch auch Chancen und neue Möglichkeiten. Da kurvige Lebensläufe normaler werden, wird die Angst geringer, mit einem solchen individuellen Weg etwas falsch zu machen. Lebens- lauflücken oder Situationen, in denen der nächste Schritt nicht automatisch funk- tioniert, geben verstärkt den Anreiz, sich der eigenen Wünsche, Stärken und Schwächen bewusst zu werden und unabhängig von dem »eigentlich normalen«

Weg und den Anforderungen des Arbeitsmarktes Schritte zu wagen, die ganz spe- ziell auf die eigene Persönlichkeit zugeschnitten sind und zu ganz neuen Arbeits- formen oder Lebensweisen führen können.

Es ist aber noch nötig, Energie in das Entdecken und Umsetzen dieser Mög- lichkeiten zu stecken, denn man begibt sich damit in ein neues Fahrwasser jen- seits des Hauptstroms. Die gängige Methode ist nach wie vor, die Menschen »fit für den Arbeitsmarkt« zu machen, da das Allheilmittel zur Bekämpfung der Ar- beitslosigkeit nach wie vor im Wirtschaftswachstum und einem darauf ausgerich- teten Arbeitsmarkt gesehen wird, dem sich die Menschen unterordnen müssen.

Aber wenn man Ausschau hält, stellt man fest, dass es neue Ansätze und Her- angehensweisen für berufliche Orientierung gibt. Ich selbst habe im Jahr 2004 das Konzept »Neue Arbeit – Neue Kultur« von Frithjof Bergmann kennen gelernt.

Neue Arbeit im Spannungsfeld zwischen Vision und Realität

Im Kern geht es beim Konzept »Neue Arbeit – Neue Kultur« einerseits um das Herausfinden und schrittweise Umsetzen dessen, was jeder in seinem Leben

»wirklich, wirklich will« und andererseits um das konkrete Ausprobieren und Um- setzen solidarökonomischer Ansätze und intelligenter Formen der Selbstversor- gung, um sich unabhängiger von Lohnarbeit zu machen. Hierfür sollen »Zentren für Neue Arbeit« gegründet werden, die auch gemeinschaftliche Unternehmens- gründungen ermöglichen. Dies alles vor dem Hintergrund einer »Neuen Kultur«, die auf partnerschaftlicher Zusammenarbeit basiert, auf respektvollem Umgang miteinander, nationaler und internationaler Vernetzung, ökologisch-ökonomisch-

2 Mark Hübner-Weinhold: Der Zweitjob wird zur Regel. Zehn Thesen: Welche Veränderungen der Forscher Horst W. Opaschowski bis 2020 für unser Leben prognostiziert. In: Hamburger Abendblatt, 16./17. Februar 2008, S. 59.

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sozial nachhaltigem Wirtschaften sowie der Freiheit, das Leben selbst zu ge- stalten.3

Viele Menschen haben sich von diesem Konzept ansprechen lassen, seit über 20 Jahren reist Frithjof Bergmann herum und hält inspirierende Vorträge darüber.

Im deutschsprachigen Raum wurden mehrere Projekte und Initiativen gegründet4, es gab Netzwerktreffen und viele Kontakte zu ähnlich arbeitenden Gruppen. Ein

»Zentrum für Neue Arbeit« mit all den oben beschriebenen Aspekten gibt es je- doch noch nicht. Nach wie vor geht es für die meisten darum, ihren eigenen Um- setzungsweg »Neuer Arbeit« und »Neuer Kultur« zu erarbeiten.

Mich hat angesprochen, dass bei Bergmanns Konzept die Menschen zuallererst

»fit für sich selbst« werden sollen, um mit dem ständigen Wandel auf dem Ar- beitsmarkt souverän umgehen zu können. Ich habe an der ersten MentorInnen- Fortbildung teilgenommen, die Frithjof Bergmann 2005/2006 in Kooperation mit dem Verein Mit Kindern wachsen5anbot. Während dieser Zeit kristallisierte sich mein Wunsch heraus, beratend tätig zu werden und Menschen sowohl auf ihrem beruflichen Weg als auch bei Projektgründungen im Sinne »Neuer Arbeit« und

»Neuer Kultur« zu unterstützen. Mitte 2006 machte ich mich als freiberufliche Mentorin selbständig. Seitdem begleite ich Menschen bei ihrer Berufs-Lebens- Gestaltung, gebe Workshops und halte Vorträge, bringe mich in das Neue-Arbeit- Netzwerk und das Netzwerk der MentorInnen ein und bin Mitbegründerin des Fundus e.V., eines offenen Werkstattprojektes in Potsdam.6

Aber natürlich ging nicht alles glatt, denn es zeigte sich relativ bald, dass es mein Lebensalltag als Teilzeit arbeitende Mutter zweier Kinder nicht hergab, pa- rallel Aufträge zu akquirieren, Fördergelder zu beantragen, die Arbeit inhaltlich weiter zu entwickeln sowie ein unterstützendes Netzwerk aufzubauen. Nachdem zwei vielversprechende Projekte, in die ich meine Tätigkeit einbinden wollte, sich viel langsamer entwickelten als erwartet, musste ich akzeptieren, dass das weitere Umsetzen der Arbeitsform »Einzelunternehmerin« durch meine ständige Überlas- tung nicht dem von mir selbst propagierten menschlicheren Arbeitsleben entsprach.

So leicht ging es also nicht mit meiner »Neuen Arbeit«.

In dieser Situation waren mir Erfahrungen aus meiner früheren Tätigkeit als Projektkoordinatorin von Susila Dharma – Soziale Dienste e. V.7hilfreich: wusste

3 Vgl. Frithjof Bergmann, Stella Friedland: Neue Arbeit kompakt. Vision einer selbstbestimmten Gesellschaft, Freiamt 2007.

4 www.neuearbeit-neuekultur.de 5 www.mit-kindern-wachsen.de/verein

6 Der Fundus soll sich zu einem Umfeld entwickeln, in dem Menschen solidarökonomische Ansätze praktizieren, sich gegenseitig unterstützen, Tätigkeiten ausprobieren und voneinander lernen können. Die Idee dazu entstand im Umfeld des freien Kindergarten- und Schulprojektes »Rappelkiste« (www.aktive-schule-potsdam.de) mit dem Ziel, auch für Jugendliche und Erwachsene eine anregende und entspannte Lernumgebung anzubieten, wie sie unsere Kinder dort schon täglich erleben (http://coforum.de/?5437).

7 Susila Dharma – Soziale Dienste e. V. ist ein gemeinnütziger Verein, der national und international partnerschaft- lich mit Entwicklungsprojekten kooperiert und dabei viele Aspekte einer respektvollen, menschlichen, wert- schätzenden Kultur der Zusammenarbeit umsetzt (www.susiladharma.de).

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ich doch, dass es normal ist, dass Projekte ihre Zeit brauchen, um sich zu ent- wickeln – zumal solche, die auf neuen Konzepten basieren. Und dass es noch län- ger dauert, sich auch wirtschaftlich zu etablieren. Jetzt half mir die Geduld, das konstruktive Hinterfragen meines Vorgehens, der kritische Blick und die Fähigkeit des Perspektivwechsels, die ich bei vielen Diskussionen im Susila-Dharma-Team einüben konnte – und ich konnte mir selbst Mut machen und mich darauf hinwei- sen, dass es wichtig ist, auch kleine Schritte und Erfolge wertzuschätzen. Zusam- men mit vielen bestärkenden Gesprächen mit den Menschen aus meinem Umfeld half mir das, mir Zeit zu nehmen, in mich hineinzuhorchen und herauszukristalli- sieren, welche Lernschritte vor mir lagen.

Schließlich fiel mir ein Aspekt auf, der ein grundlegender Bestandteil der

»Neuen Arbeit« ist: Frithjof Bergmann geht von einer Dreiteilung der Arbeitszeit aus: ein Drittel herkömmliche Erwerbsarbeit, ein Drittel »High-Tech-Selbstver- sorgung« in Gemeinschaften, ein Drittel das, was man »wirklich, wirklich will«.8 Und ich hatte in meiner Begeisterung versucht, nur eines davon zu leben, nur das

»wirklich, wirklich Gewollte«, denn der Fundus als solidarökonomisches Projekt war noch längst nicht so weit, dass er ausreichende Möglichkeiten zur Selbstver- sorgung bot. Da hatte ich wohl noch etwas zu lernen und begann, von Grund auf zu überprüfen, wie ich tatsächlich mein eigenes Berufsleben gestalten wollte – schön auf dem Boden der Realität, ohne jedoch meine Ideale aus den Augen zu verlieren.

So bin ich zu meinem eigenen Beispiel für Berufsorientierung im Sinne

»Neuer Arbeit« und »Neuer Kultur« geworden, entwickelte Schritt für Schritt mein Vorgehen, musste dabei auch Rückschläge hinnehmen, konnte meine Erfah- rungen jedoch immer in Lernschritte umwandeln, die mich weiter gebracht haben und natürlich auch in meine Beratungsarbeit einfließen.

Auch im Neue-Arbeit-Netzwerk ging es teilweise drunter und drüber. Es ge- lang uns nicht, mit den weit verstreuten Mitgliedern konstruktiv per E-Mail zu- sammen zu arbeiten, wir kommunizierten aneinander vorbei, Emotionen und In- halt liefen durcheinander und führten zu vielen unschönen Missverständnissen.

Dies hat meine Freude, mich für das Netzwerk zu engagieren, zunächst ziemlich gedämpft. War das hier nicht ein Netzwerk für »Neue Arbeit« und »Neue Kul- tur«?! Dann hat mich dieses Erlebnis jedoch herausgefordert: Ich wusste doch, dass es auch Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Hintergründen und Er- fahrungen möglich ist, gut und produktiv zusammen zu arbeiten – ich hatte es in verschiedenen Zusammenhängen erlebt. Allerdings ist dazu, außer regelmäßigen Treffen, die Bereitschaft der Mitglieder zu konstruktiver Kritik, wertschätzender Kommunikation und einem grundsätzlichen gegenseitigen Wohlwollen notwen- dig. Solch eine Kultur der Zusammenarbeit ist nicht selbstverständlich, sondern will offensichtlich eingeübt werden.

8 Vgl. Bergmann, Friedland: Neue Arbeit kompakt, S. 43.

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Und das Konzept »Neue Arbeit – Neue Kultur« birgt eine weitere Herausforde- rung: Es gibt keine Anleitung, wie es konkret umzusetzen ist. Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen, muss seine eigene, persönliche Form »Neuer Arbeit« und

»Neuer Kultur« entwickeln, was einerseits oft länger dauert, andererseits aber die große Chance bietet, die Ideen in vielfältiger Weise in die Realität umzusetzen.

Bei einem solchen Prozess stößt man immer wieder an eigene Grenzen und ist aufgefordert, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Geduld, Anerkennung von Ideen, Träumen, Stärken und Schwächen, Ehrlichkeit mit sich selbst und die Wertschätzung der anderen mit ihren jeweils eigenen Geschichten tragen dabei zur Umsetzung einer »Neuen Kultur« bei.

»Neue Kultur« wirklich leben!

Aus diesen Erfahrungen, aus meiner Beratungsarbeit und weil ich immer wieder auf meine eigenen Grenzen stieß, schälte sich mein jetziger Arbeitsschwerpunkt zur »Neuen Kultur« heraus: Mir geht es darum, ein partnerschaftliches Miteinan- der in unserer Gesellschaft zu fördern, das die bisher vorherrschenden Aspekte wie Konkurrenzdenken, Misstrauen, angst- und druckgeleitetes Handeln nach und nach ersetzen kann.

Schon als Studentin hatte ich mich mit gesellschaftlichen Konzepten beschäf- tigt, die zu dem Prinzip des Neuen Denkens passen, das seit den 1980er Jahren (z. B. Vester oder Capra) propagiert wird: Dabei geht es u. a. darum, für eine Ent- wicklung der gesellschaftlichen Kultur

• rein lineares durch prozesshaftes Vorgehen zu ersetzen,

• die Konzentration auf Ziele durch eine Betonung des Weges zu ergänzen,

• vom polarisierenden, technokratischen Denken zu integrativem, systemischem und vernetztem Denken und Handeln zu gelangen.

Von der Haltung her passt auch das Konzept »Neue Arbeit – Neue Kultur« zu die- sen Prinzipien.

Aus dem im vorigen Abschnitt Gesagten ergeben sich weitere Punkte, die für eine

»Neue Kultur« wichtig sind:

• Geduld,

• gegenseitiges Wohlwollen, konstruktive Kritik, gewaltfreie Kommunikation,

• Wertschätzung von Wünschen, Ideen und Träumen,

• Ehrlichkeit mit sich selbst und anderen,

• Wertschätzung von Unterschiedlichkeit (auch und gerade der Meinungen) einschließlich des Lernpotenzials, das darin liegt,

• Fokus auf den gemeinsamen Nenner, so klein er auch sein mag: Was ist das ge- meinsameZiel – bei aller Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen? Wo kann man sich ergänzen, wo muss man sich einigen, was kann parallel laufen?

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• Bereitschaft zu einem gemeinsamen Lernprozess, zum Perspektivwechsel, zur Horizonterweiterung,

• Bereitschaft zur Selbstreflexion/zur Übernahme der Verantwortung für das ei- gene Sein und Handeln, wozu sowohl das Annehmen eigener Schwächen und Ängste, als auch eigener Stärken gehört.

Weitere Aspekte entnehme ich einem Zielsystem für nachhaltige Entwicklung.9Es geht hier um gesellschaftliche Prinzipien, die das Menschliche in den Vorder- grund rücken:

• Fehlerfreundlichkeit, eine Fehler-Lernkultur,

• Entschleunigung der Lebensprozesse,

• die Lebensnähe von Entscheidungswegen,

• der verantwortliche Umgang mit Geld, Nutzen der Möglichkeiten von Tausch- ringen, Regionalwährungen und ähnlichen Konzepten,

• das Nutzen (nicht lediglich Tolerieren) von Vielfalt – sowohl interkulturelle Vielfalt als auch unterschiedliche Herangehensweisen innerhalb desselben Kulturraums.

Diese Sammlung ließe sich sicherlich noch fortsetzen – es gibt eine Reihe von Gruppen, Projekten, Ansätzen und Konzepten, die alle auf ihre Weise eine Neue Kultur umsetzen. Ich selbst habe beispielsweise das pädagogische Konzept der Nichtdirektivität von Rebeca und Mauricio Wild10, den Ansatz partizipativer Pro- jektentwicklung »Planning for Real«11und die Entwicklungshilfearbeit von Susila Dharma – Soziale Dienste e. V.12genauer kennengelernt und dabei festgestellt, dass diesen so unterschiedlichen Arbeitsfeldern eine Grundhaltung den Menschen gegenüber gemeinsam ist. »Neue Kultur« geht vom Menschen aus, Freiheit wird hier nicht als »grenzenloser Raum«, sondern als die Möglichkeit verstanden, im Einklang mit sich selbst zu handeln.13

Diese Grundhaltung, die genauso auch im Arbeitsleben umgesetzt werden kann, umfasst den Respekt vor den individuellen Bedürfnissen, dem Wissen und den Fähigkeiten der beteiligten Menschen.14Dazu die Geduld, sich auf gemein- same Lern- und Kooperationsprozesse einzulassen, deren Ergebnisse nicht unbe- dingt vorhersehbar sind und das Schaffen einer Umgebung, in der eben diese Pro- zesse geschehen können. Hierarchische Strukturen werden in einer Weise gewandelt, dass Führungspersonen nicht mehr Leiter sind, die alles bestimmen,

9 Vgl. Projektgruppe TU Berlin: Nachhaltige Regionalentwicklung. Unveröffentlichter Projektbericht, Berlin 1997, S. 41 ff.

10 Vgl. z. B. Rebeca Wild: Erziehung zum Sein. Erfahrungsbericht einer aktiven Schule, Heidelberg 1986 oder die Arbeit der »Rappelkiste« (www.aktive-schule-potsdam.de).

11 Vgl. Tony Gibson: The Power in Our Hands. Neighbourhood based – World shaking, Charlbury/Oxfordshire 1996.

12 Vgl. Susila Dharma – Soziale Dienste e.V. (Hrsg.): Durch Partnerschaft wachsen. Grundsätze und Erfahrungen partnerschaftlicher Zusammenarbeit, Hamburg 2006.

13 Vgl. Frithjof Bergmann: Die Freiheit leben, Freiamt 2005, S. 73-91.

14 Vgl. Rosalind Honig: Nichtdirektive Planung. Verbesserte Umsetzung partizipativer Projektentwicklung in Deutschland durch ein pädagogisches Konzept. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Berlin 2000, S. 92 f.

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sondern eher moderierende, organisierende, ermöglichende Begleiter des gemein- samen Arbeits-prozesses.15Partnerschaftliche Kooperation tritt gleichwertig neben (manchmal ja auch hilfreiches) Konkurrenzdenken. Vertrauen, Achtsamkeit und Konfliktfähigkeit ersetzen Misstrauen und Kontrolle. Fehlerfreundliche Prozesse ermöglichen es, optimal angepasste Lösungswege auszuprobieren und die Lern- kultur hilft allen Beteiligten, sich zu entwickeln und Erfahrungen zu sammeln. Ich bin überzeugt, dass viele Projekte und Arbeitsprozesse sich leichter und besser umsetzen ließen, wenn während ihrer Entwicklung außer dem Inhalt auch eine solche »Neue Kultur« in den Blick genommen würde. Das trüge im Übrigen auch zu mehr Spaß und Genuss bei der ganzen Sache bei.

Eine offene und wertschätzende Kommunikation der beteiligten Menschen un- tereinander ist dabei von zentraler Bedeutung. Konkrete Anknüpfungspunkte, um dies zu üben, bietet z. B. Marshall B. Rosenberg mit seinem Konzept »Gewalt- freie Kommunikation«.16

Wenn es schon so viele Erkenntnisse und Möglichkeiten in dieser Richtung gibt – warum hört sich das alles so schön an, wird jedoch nicht einfach und selbst- verständlich gelebt? Wieso gibt es trotz vieler Inseln, wo »Neue Kultur« längst umgesetzt wird, kein Übergreifen einer solchen Haltung auf den »Mainstream«?

Zur Geschichte der politischen Kultur in Deutschland

In einer Analyse, warum Verfahren, die den Prinzipien der Neuen Kultur entspre- chen, nicht so leicht funktionieren, habe ich mich ausführlicher mit der deutschen politischen Kultur auseinandergesetzt.17Sie ist eine der Grenzen, auf die man im- mer wieder stößt, wenn man versucht, Wege jenseits traditioneller Pfade zu gehen:

In Deutschland hatte sich, v. a. in Preußen, ein konservativ-autoritäres Verhält- nis zwischen Staat und Gesellschaft herausgebildet, das sich durch alle deutschen Staatsformen bis zum Dritten Reich gehalten hat. »Ob konservativ oder faschi- stisch, in jedem Falle siegte das Prinzip von Befehl und Gehorsam [...] und hat in Deutschland zur Ausbildung einer Untertanenkultur geführt [...].«18

Martin Greiffenhagen nennt fünf Merkmale, die den deutschen Obrigkeitsstaat charakterisieren, von denen ich hier zwei herausgreifen will19:

• Die prinzipielle Unterscheidung von Staat und Gesellschaft:

In Deutschland waren nur Regierung und Verwaltung politisch tätig, die Ge- sellschaft hatte sich politischer Tätigkeit weitgehend zu enthalten. Dabei wur-

15 Vgl. hier auch das Konzept »Serving Leaders« in Ken Jennings, John Stahl-Wert: Serving Leaders. Führen heißt dienen, Offenbach 2004.

16 Vgl. Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, Paderborn 2007.

17 Vgl. Honig: Nichtdirektive Planung, S. 50 ff.

18 Martin Greiffenhagen: Vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie: Die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Peter Reichel (Hrsg.): Politische Kultur in Westeuropa. Bürger und Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Frankfurt a. Main/New York 1984, S. 54.

19 Vgl. ebenda.

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den zur Gesellschaft nicht nur Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Vereinsleben und Familie, sondern zunächst auch die Parteien gezählt.

• Die politischen Tugenden des Untertanen:

Die Bürger als Untertanen mussten absolute Folgebereitschaft gegenüber staat- licher Autorität sowie das Eingeständnis zeigen, selbst inkompetent in politi- schen Fragen zu sein und sich daher nicht in solche einzumischen.

In England dagegen hatte der Staat während der Industrialisierung einen geringe- ren Stellenwert, dort konnte sich eine »Zivilkultur« entwickeln. »Zivil ist diese Kultur in dem Sinne, dass sie nach Möglichkeit stets ›zivile‹ Lösungen an Stelle von ›staatlichen‹ Lösungen gesucht hat, um den gesellschaftlichen Frieden zu si- chern.«20Unabdingbare Voraussetzung für eine Zivilkultur wie im früheren Eng- land ist die Existenz eines Gesellschaftsvertrauens, also der Annahme, dass man seinen Mitmenschen grundsätzlich vertrauen kann.21

Die weitere Entwicklung der deutschen22politischen Kultur seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt, dass sie einem drastischen Wandel unterliegt, der sich von Gene- ration zu Generation mehr von der obrigkeitlichen Tradition entfernt. Meinungs- forschungen belegen immer höhere Werte zugunsten einer demokratischen Ein- stellung der Bevölkerung, auch wenn noch in den 1970er Jahren Basisinitiativen oder alternative Gruppen eher als »Störenfriede« galten und politisches Engage- ment häufig noch als suspekt angesehen wurde.23Das alte Verständnis vom Staat, der agiert und der Bevölkerung, die folgt, sitzt jedoch auch heute noch tief in den Köpfen und macht es sehr schwierig, eine »Neue Kultur« zu leben. So gibt es viele Vorschriften, die das Engagement von Initiativen erschweren, aber auch viele Bürger, die erwarten, dass es »der Staat schon richtet«. Aus dieser Quelle stammt die Tendenz, Verantwortung lieber abzugeben und auch das tiefe Mis- strauen oder Unverständnis, das einem so häufig noch entgegenschlägt, wenn man es wagt, unkonventionelle, individuelle Wege zu gehen.

Darüber hinaus hat die obrigkeitliche Tradition über die persönlichen Familien- geschichten und entsprechende automatisierte Verhaltensmuster weitreichenden Einfluss in das Verhalten Einzelner, was umso dramatischer sein kann, je weniger man sich solche Muster bewusst macht. Jürgen Müller-Hohagen hat entspre- chende Verhaltensweisen in Bezug auf Nachwirkungen des Nationalsozialismus bis heute analysiert und stellt fest, wie wichtig es ist, »bei der Suche nach Bedin- gungen seelischer Störungen systematisch auch solche aus dem gesellschaftlich- historischen Bereich für möglich zu halten, vermittelt natürlich immer über indi- viduelle Erfahrungen.«24Ängste, Misstrauen, das Gefühl sich unterordnen oder

20 Karl Rohe: Großbritannien: Krise einer Zivilkultur? In: Peter Reichel (Hrsg.): Politische Kultur in Westeuropa, S. 175.

21 Vgl. ebenda.

22 Hier beziehe ich mich auf die Entwicklung in Westdeutschland.

23 Vgl. Greiffenhagen: Vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie, S. 54.

24 Jürgen Müller-Hohagen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen. Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung, München 2005, S. 151.

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Macht durch Unterdrückung ausüben zu müssen, Minderwertigkeitsgefühle oder mangelnde Konfliktfähigkeit können hier ihren Ursprung haben. »Die Humanität einer Gesellschaft bestimmt sich wesentlich nach dem, wie in ihr mit Angst umge- gangen wird.«25Fast jeder kennt unterschwellige Ängste, zum Beispiel die Angst, etwas »falsch« zu machen, wenn man es »anders« macht. In der obrigkeitlichen Tradition wurde man für das Abweichen von der Norm teilweise sehr hart bestraft.

Obrigkeitliches Verhalten ist bei vielen ins Unbewusste übergegangen und macht sich hintergründig und auf unerwartete Weise gerade in Situationen be- merkbar, in denen man an seine Grenzen kommt. Plötzlich legt man aus einer Überforderung heraus Verhaltensweisen an den Tag, die man doch eigentlich im- mer abgelehnt hat. Viele Mütter und Väter können ein Lied davon singen, wenn es um die Erziehung ihrer eigenen Kinder geht. Und es braucht eine bewusste und ehrliche Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit diesem Thema, wenn es nicht zu einem Fallstrick auf dem eigenständigen Weg werden soll.

Spannungsfelder der eigenständigen Arbeits-Lebens-Gestaltung

Um Menschen auf einem eigenständigen Arbeits-Lebens-Weg zu unterstützen, ist es also notwendig, das Erbe der obrigkeitlichen Tradition sowie die Möglichkei- ten einer »Neuen Kultur« ins Bewusstsein zu rücken.

Unsere Gesellschaft befindet sich derzeit in einer ambivalenten Situation: Einer- seits bestehen noch die dominanten, alten Strukturen, andererseits gibt es immer mehr Entwicklungen, die sich von diesen Strukturen lösen und neue Wege gesell- schaftlichen Handelns aufzeigen. Hiervon wird das alte System zunehmend infil- triert und ändert sich – zwar langsam, aber stetig. Lukas Willhauck stellt diese Am- bivalenz in Anlehnung an Habermas als ein Spannungsfeld zwischen Lebenswelt und System dar26: Auf der einen Seite steht das System, über das mit formalen Re- geln, Strukturen und mit Kontrolle versucht wird, das gesellschaftliche Leben zu or- ganisieren, auf der anderen Seite die Lebenswelt, in der konkrete Situationen mit ihren jeweiligen Problemen und Potenzialen im Vordergrund stehen, auf die spon- tan, bedürfnis- und interessenspezifisch reagiert wird. Früher war das System der al- les entscheidende Faktor, heute bekommen die Bedürfnisse und Interessen aus der Lebenswelt zunehmend Gewicht, was sich in neuen Organisations- und Entschei- dungsformen ausdrückt. Dabei kann der Grad dieser Entwicklung – das Verhältnis zwischen »alt« und »neu« – nicht klar ermittelt werden, jedoch kann weder der wei- ter bestehende Einfluss des alten, noch der hinzugekommene Einfluss des neuen Denkens und Handelns geleugnet werden – beides besteht parallel zueinander.

25 Ebenda, S. 190.

26 Vgl. Lukas Willhauck: Partizipatorische Planung als politische Kultur. Chancen für neue Formen politischen Handelns im Spannungsfeld von Lebenswelt und politisch-administrativem System. In: Beiträge zur Kultur- geschichte der Natur, Bd. 7, Berlin 1997, S. 35 f.

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Für die eigenständige Arbeits-Lebens-Gestaltung bedeutet dies, dass es wichtig, aber auch möglich ist, Gleichgesinnte zu finden oder Menschen in ähnlichen Le- benssituationen, mit denen man sich austauschen, sich gegenseitig bestärken und unterstützen kann. Das ist der Grund, warum MentorInnen der »Neuen Arbeit« und

»Neuen Kultur« zusätzlich zur individuellen Begleitung Einzelner auch die Ent- wicklung von Projekten, Gemeinschaften und Netzwerken unterstützen, die für Menschen auf kurvigen Lebenswegen als sicherndes und bestärkendes Umfeld dienen können. Wir arbeiten daran, Beratungsansätze zu entwickeln, die der neuen Situation am Arbeitsmarkt gerecht werden. Ansätze, die vom einzelnen Menschen und seinen Möglichkeiten ausgehen, ohne die aktuelle Situation der Arbeitswelt sowie die ambivalente gesellschaftliche Situation aus den Augen zu verlieren. Es geht darum, nicht nur punktuell beratend zu unterstützen, sondern auch die Umset- zung der erarbeiteten Schritte zu begleiten. Wir halten es für wichtig, integrativ an die Arbeitsmarktproblematik heranzugehen und beziehen sowohl die persönlich- menschlichen als auch die gesellschaftlich-kulturellen Aspekte mit ein.

Dabei sind die Aus- oder Fortbildungen der MentorInnen ganz unterschiedlich:

Gestaltarbeit, Biographiearbeit, Berufsnavigation, systemische Arbeit, prozess- orientierte Psychologie, Wishcraft und ähnliche – meist in Kombination mit ande- ren »fachfremden« Berufen, die in die individuelle Begleitung je nach Situation einfließen. Nicht die konkrete Methode, sondern die Haltung bei der Arbeit ist entscheidend. Es ist noch Praxisarbeit notwendig, um die Ansätze und die dazu- gehörige Haltung grundsätzlicher auszuarbeiten, zu erproben und Netzwerke wei- terzuentwickeln, durch die mehr Menschen auf dem Weg ihrer eigenständigen Arbeits-Lebens-Gestaltung unterstützt werden können. Hierzu haben wir eine MentorInnen-Akademie gegründet, die einen Rahmen für regelmäßige Treffen bietet. MentorInnen der »Neuen Arbeit« und »Neuen Kultur« sowie Coaches und BeraterInnen, die ihre Arbeit um die Prinzipien der »Neuen Arbeit« und »Neuen Kultur« erweitern möchten, sollen hier eine Anlauf-, Austausch- und Weiterbil- dungsmöglichkeit erhalten, sie ist also unser eigenes unterstützendes Projekt.

Außerdem wollen wir uns über die Akademie mit anderen Gruppen vernetzen, die ebenfalls Menschen und Projekte im Sinne einer »Neuen Kultur« fördern.

Die Spannungsfelder, in denen sich die Arbeit zur Unterstützung einer eigen- ständigen Arbeits-Lebens-Gestaltung bewegt, können so beschrieben werden:

• Das Spannungsfeld zwischen persönlichen Wünschen und Ideenund der ganz praktischen, konkreten, individuell passenden Realisierung aus der aktuellen, oft problematischen Situation heraus. Hierzu gehört auch die Wertschätzung ganz kleiner Schritte und Erfolge, die den Tatsachen der Realität(wie z. B. der Notwendigkeit einer Grundsicherung) Rechnung tragen, ohne die Ideale aus den Augen zu verlieren.

• Das Spannungsfeld zwischen traditionell etabliertem Vorgehenund der Mög- lichkeit, neue Wegeauszuprobieren. Dies in einer Gesellschaft, die sich immer schneller entwickelt, aber nach wie vor das Ausscheren aus traditionellen Bah-

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nen skeptisch beäugt. Hierbei geht es auch um ein respektvolles Umgehen mit eigenen Ängsten und Blockaden und darum, die eigene Intuition und das Ge- fühl neben dem Verstand wieder bewusst in die Entscheidungsfindung einzu- beziehen. Hierdurch wird das Kennenlernen der eigenen Schwächen und Stär- ken sowie das Vertrauen in sich selbstgefördert. Dies gegenüber den ebenso starken Stimmen des Massenbewusstseins, die laut »ja, aber« oder »das war doch schon immer so, da kann man nichts ändern« sagen und Ängste verstär- ken, etwas falsch zu machen.

• Das Spannungsfeld zwischen vermeintlich gegensätzlichen Vorgehensweisen. Es geht jedoch um die Verbindungfehlerfreundlichen Vorgehens mit planbaren Er- gebnissen, die Verbindungsogenannter harter Fakten mit weichen Qualitäten, die Verbindunglinearer, zielorientierter Methoden mit prozessualen, systemischen Herangehensweisen. Gegenseitige Ergänzungund ein Ausnutzen der Vielfalt an Möglichkeiten bergen das größte Potenzial. Es geht um partnerschaftliche Struk- turen und ebenso um das Etablieren gleichwürdiger Beziehungen zwischen Men- schen unterschiedlicher Geschlechter, Kulturen, sozialer Hintergründe, Alters- gruppen – und mit unterschiedlichen Berufsbiographien. Und auch um das Finden und Nutzen der vermeintlich gegensätzlichen Anteile in sich selbst.

• Das Spannungsfeld durch den großen Beratungsbedarf vieler Menschen, der häufig zu Gruppenangeboten führt und wenig Zeit lässt für die eigentlich not- wendige individuelle Begleitung. Alle Formen der Begleitung sollen dem Em- powerment von Menschen dienen, die sich dem aktuell vorherrschenden Druck des Arbeitsmarktes nicht mehr anpassen wollen oder können. Wir bestärken sie, ihre individuelle Umgangsweise mit der Arbeitsmarktsituation zu ent- wickeln und einen eigenständigen Weg zu gehen – eingebunden in unser großes Netzwerk nützlicher Kontakte.

• Das Spannungsfeld zwischen der persönlichen Lebenssituationund der berufli- chen Herausforderung. Dazu gehört die Klärung der Bedeutung des Begriffs

»Arbeit« für das eigene Leben, das Herausfinden des persönlich passenden Maßes an Aktivität und Entspannung, an Familienzeit und Arbeitszeit oder ei- ner sinnvollen Verbindung von beidem, eine persönlich angepasste Arbeits- organisation, das Finden von ArbeitgeberInnen, Gruppen, Projekten, Gemein- schaften, die das persönliche Vorgehen fördern.

Am Ziel?

»Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die kurz, einfach und falsch ist.«27

Die Ausgangsfrage »Was hat Arbeit mit Leben zu tun?« ist nur individuell zu beantworten, das haben die vorherigen Abschnitte gezeigt. Zunächst geht es um

27 Henry L. Mencken, zitiert in Honig, 2000, S. 91.

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eine Begriffsklärung: Was ist »Arbeit« überhaupt? Außer Erwerbsarbeit, Haus- arbeit und ehrenamtlichem Engagement gibt es unendlich viele Möglichkeiten des Tätigseins. Wenn man nicht unreflektiert dem Diktat des Arbeitsmarktes folgen, sondern einen eigenständigen Weg finden möchte, ist es notwendig, zuerst Prio- ritäten für das eigene Leben zu setzen und daraufhin festzustellen, welchen Stel- lenwert »Arbeit« und »Geldverdienen« darin haben sollen. Suche ich den alles erfüllenden Traumjob? Oder einfach eine Geldquelle? Es geht darum, die eigene Arbeits-Lebens-Gestaltung als Ganzes zu betrachten, sich das eigene Leben ein- mal ganz genau anzuschauen und die Ist-Situation zu vergleichen mit dem, was man »eigentlich« gerne möchte. Danach werden Möglichkeiten herausgearbeitet, in der aktuellen Realität – mit all ihren Schwierigkeiten – dennoch erste Schritte zu dem wirklich Gewollten zu gehen und sich so auf das Ziel hin zu bewegen.

Gleichzeitig – und das ist die zweite Schlussfolgerung – darf man das Thema nicht losgelöst von dem gesellschaftlichen Kontext betrachten, in dem wir uns be- wegen. Es ist notwendig, sich darüber klar zu sein, wie der Begriff »Arbeit« in unserer Gesellschaft belegt ist – vom glorifizierten Statussymbol »Arbeitsplatz«

bis zur »Pflichterfüllung« im Haushalt ist vieles möglich. Außerdem ist es hilf- reich, sich der geschichtlichen Entwicklung unserer politischen Kultur bewusst zu sein, um auf dem eigenständigen Weg nicht zu resignieren, der hierdurch er- schwert werden kann, sondern gezielt diejenigen Menschen, Projekte und Kon- zepte zu suchen, die unterstützend wirken können.

Durch Bekanntmachen und Erzählen, dass man sich dem aktuellen Druck des Arbeitsmarktes nicht mehr aussetzen möchte, dass man einen anderen, stimmige- ren, schöneren Arbeits-Lebens-Weg sucht, können Gleichgesinnte davon erfah- ren. So ist es möglich, Projekte zu finden, die zu einem passen und Gruppen, die eine »Neue Kultur« voranbringen – und dieses Netzwerk wächst.

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Benno Herzog Was ist Arbeit?

Kulturelle, politische und ökonomische Unterschiede eines gesellschaftlichen Schlüsselbegriffes

Kaum eine gesellschaftspolitische Debatte kommt heutzutage ohne den Rückgriff auf Arbeit aus. Ob es um Verteilungsgerechtigkeit geht oder um gesellschaftliche und persönliche Wertschätzung, um Chancengleichheit, ökonomische Rahmenbe- dingungen oder Finanzkrise, stets wird in einem oder anderen Moment auf die Ar- beit zurückgegriffen. Daher verwundert es auch nicht, dass Arbeit in den Sozial- wissenschaften ganz allgemein und auch in linken Bewegungszusammenhängen als Schlüsselbegriff zum Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse verwendet wird.

Dieser Schlüsselrolle steht allerdings entgegen, dass nicht immer dasselbe ge- meint ist, wenn über Arbeit gesprochen wird. Arbeit ist je nach Kontext Beitrag zur persönlichen Freude, Fundament des Reichtums der Nationen, Waffe zur Be- freiung der Unterdrückten, Ausdruck religiöser Spiritualität, Garant von Autonomie und Freiheit, patriotische Tugend, ökonomische Notwendigkeit, Spaß und vieles mehr. Schon diese kurze Aufzählung verdeutlicht, dass es »den« Arbeitsbegriff nicht gibt. Allerdings ist die jeweils gewählte Bedeutung nicht zufällig oder der persönlichen Willkür unterstellt. Der ökonomische, soziale und kulturelle Kontext entscheidet oft über die spezifische Bedeutung des Arbeitbegriffes. Bedeutungsin- halte sind in vielen Fällen gerade keine Selbstverständlichkeiten, obwohl sie von den Betroffenen als solche wahrgenommen und folglich auch nicht hinterfragt werden.

Im Folgenden wird der Hintergrund verschiedener Konnotationen des Arbeits- begriffes beleuchtet. Der Verweis auf Unterschiede in Europa und entlang der Zeitachse verdeutlicht die Vielfalt des Arbeitsbegriffes und schärft den Blick für die feinen Unterschiede und die latent kommunizierten Selbstverständlichkeiten, wenn Menschen über Arbeit sprechen. Dabei erhebt der Text keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit – im Gegenteil: Die Auswahl der untersuchten Aspekte und re- gionalen Besonderheiten kann deutlich erweitert werden. Das Ziel ist es vielmehr, durch den Verweis auf Unterschiede, die historische Zufälligkeit oder Bedingtheit des eigenen Arbeitsverständnisses zu hinterfragen. Der Arbeitsbegriff in Deutsch- land steht dabei im Mittelpunkt der Darstellung. Der Methode des permanenten Vergleichs folgend, wird in jedem Abschnitt mit dem Verweis auf Alternativen in- nerhalb Europas (und hier besonders Englands und Spaniens), die Nicht-Selbst- verständlichkeit der eigenen Diskursgeschichte herausgearbeitet.

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In einem ersten Schritt wird die Rolle der Religion mit ihren Auswirkungen auf die Vorstellung zur Arbeit herausgestellt. Da sich die Darstellung auf die in Eu- ropa dominanten Arbeitsbegriffe beschränkt, werden hier vor allem der Katholi- zismus und zwei Arten des Protestantismus vorgestellt. In einem zweiten Teil ste- hen politische Aspekte, allen voran die Rolle des Bürgertums und sein Einfluss auf die Konnotation von Arbeit im Mittelpunkt. Im dritten und letzten Teil geht es dann um die ökonomischen Aspekte des Arbeitsbegriffes, also um die Frage, wie unterschiedliche ökonomische Gestaltungen des Kapitalismus die Wahrnehmung der Arbeit beeinflussen.

Die Darstellung ist so gewählt, dass sie sowohl drei unterschiedliche Ebenen (Religion, Politik, Ökonomie) herausarbeitet, als auch eine historische Linie dar- stellt. Hatte vor einem halben Jahrtausend noch die Religion die Deutungshoheit über gesellschaftliche Prozesse, so wurde diese im 18. Jahrhundert mehr und mehr von der (nationalen) Politik abgelöst. Und schließlich erleben wir in den letzten 150 Jahren wie die Ökonomie eigene Ansprüche und Wertvorstellungen teils still, teils offen vorträgt. Es sollen bei diesen drei Aspekten sowohl Verbin- dungslinien, historische Kontinuitäten, als auch Friktionen zu erkennen gegeben werden.

Religion: Arbeit und geistliches Wohl – Einheit oder getrennte Sphären?

Die Welt des Glaubens mit ihren Regeln und moralischen Imperativen wirkt stets auch auf den Arbeitsalltag der Gläubigen ein. Religion stellt dabei einerseits An- forderungen an das Verhalten des Einzelnen und hilft andererseits die soziale Wirklichkeit zu interpretieren. Doch auch die religiösen Schriften selbst rufen da- bei oft unterschiedliche Interpretation hervor. Bei der christlichen Religion kann in Bezug auf Arbeitsvorstellung auch vor der Aufspaltung in verschiedene Kon- fessionen nicht von einer kohärenten Botschaft gesprochen werden.

Bereits im Alten Testament finden sich zwei verschiedene Aspekte des Arbeits- begriffes wieder: Mit der Vertreibung aus dem Paradies wurde den Menschen Ar- beit als Strafe auferlegt. Mühsal und Last prägen diesen Aspekt der harten körper- lichen Arbeit. Doch man findet hier auch durchaus das Gegenbild: Arbeit als gottähnliches, schöpferisches Bepflanzen, Bebauen und Bewahren fand entgegen der Vorstellung des Paradieses als arbeitsfreier Existenz bereits vor der Vertrei- bung aus dem Paradies statt (Gen. 2, 15).

Da das Werk und Leben Jesu eher auf das Jenseits gerichtet war, finden sich im Neuen Testament keine Aussagen Jesu, die sich direkt mit dem Phänomen der Ar- beit beschäftigen. Als Schlüsselszene kann jedoch die Vertreibung der Händler aus dem Tempel gelesen werden. Handel, also profane Tätigkeit, wurde als Ent- weihung der Heiligen Stätte verstanden und musste von dieser getrennt gesche- hen. Mit der Geburt des Christentums werden somit Aspekte des Arbeitslebens

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von der Religion getrennt. Das alltägliche Arbeiten war für das Seelenheil besten- falls wertneutral. Handel – und hier besonders der Geld- und Zwischenhandel – galten aber als bedenklich, waren sie doch stets von der Gefahr des Wuchervor- wurfs begleitet. Auch wurde die Gefahr gesehen, dass Arbeit zu Habgier und Ver- schwendung verleitet. Seelenheil, so die allgemein verbreitete Rezeption, konnte nicht über Arbeit, sondern nur über die Hinwendung zum Heiligen und zu guten Werken erlangt werden. Dennoch bot Arbeit neben der Notwendigkeit seinen Le- bensunterhalt zu schaffen auch eine Chance für das Seelenheil: Wenn Arbeit nicht auf Besitz, sondern auf Geld für die Caritas zielte, hatte sie durchaus auch ihre Funktion für das Jenseitsstreben. Außerdem zügele Arbeit die Begierlichkeiten und galt als Heilmittel gegen Müßiggang.28

Bis zum Vorabend der Neuzeit bedeutete Arbeit für die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung körperliche Anstrengung, Mühe und Plage. Auch wenn es durch- aus Ansätze gab, Arbeit als gottähnliche Schöpfung, Schaffung von Möglichkeiten zum Almosengeben etc. positiv zu konnotieren, so war die alltägliche, schwere Arbeit doch nicht nur wegen der damit verbundenen Anstrengungen negativ besetzt. Auch die soziale Situation der Arbeitenden war in der Regel die der Ab- hängigkeit und sozialen Minderberechtigung. Die moralische Entwicklung des Menschen und die Erlangung des Seelenheils waren eher mit kontemplativen Tätigkeiten verbunden, und wem es der Stand erlaubte, der zog diese selbstver- ständlich der Arbeit, verstanden als körperliche Tätigkeit, vor.

Mit Luther änderte sich die Bewertung der alltäglichen Arbeit in den lutheri- schen Regionen Europas so grundlegend, dass hier von der Entstehung einer neuen Arbeitsethik gesprochen werden kann. Neu bei Luther ist vor allem die Be- gründung der Arbeitspflicht, da er Arbeit als eine Pflicht des einzelnen Menschen direkt gegenüber Gottversteht. Luther stellte somit eine unmittelbare Verbindung des Einzelnen, Arbeitenden zu Gott her, wobei Arbeit selbst zu einem Medium dieser Verbindung wird. Diese neuartige Begründung schlägt sich auch in Luthers Berufsbegriff nieder, dem er durch seine Bibelübersetzung zu weiter Verbreitung verhalf. Die Mönche, die bis dahin den Berufsbegriff für sich okkupiert hatten, da sie meinten als Einzige einer Berufung zu folgen, haben laut Luther gerade keinen Beruf. Dem Ruf Christi müsse in der Weltgeantwortet, Tugenden nur in der Welt geübt werden.29Den Gedanken, durch einzelne gute Werke sein Seelenheil si- chern zu können, kritisierte Luther als Werkheiligkeit. Nach Luthers Vorstellung hat Gott jedem Einzelnen ein Stück Arbeit zugewiesen, durch dessen Erfüllung der Mensch als Handlanger Gottes zugleich seine Pflicht gegenüber den Mitmen- schen erfüllt.30Profane Tätigkeiten bekamen nun die Würde eines Gottesdienstes und da Arbeit Gottesdienst war, konnte sie auch nie mit Verdruss getan werden, sondern war fröhlicher Dienst an Gott und dem Nächsten.

28 Vgl. Andreas Pawlas: Die lutherische Berufs- und Wirtschaftsethik: eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 41.

29 Vgl. Max Weber: Die Protestantische Ethik I – Eine Aufsatzsammlung, Gütersloh 2000, S. 344.

30 Vgl. Pawlas: Die lutherische Berufs- und Wirtschaftsethik, S. 59.

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Hier entwickelte sich zum ersten Mal der Gedanke der Arbeitsfreude, also die Vorstellung, dass nicht nur das Ergebnis, das Werk, der geistige Lohn, die Bezah- lung oder der gesellschaftliche Nutzen der Arbeit nachträglich Sinn und dadurch vermittelt Freude bereitet, sondern dass die Arbeitstätigkeit selbst Freude bereit- hält.

Doch einfach nur tätig zu sein reichte nicht aus, sich seines Gnadenstandes zu versichern. Entscheidend war die Art und Weise, wie die Arbeit ausgeführt wurde.

Diese soll in Demut, Gehorsam und vor allem im Glauben verrichtet werden.

Christen sollen nach Luther nur auf die Arbeit selbst sehen und nicht auf deren Er- trag, denn die Frucht der Arbeit, also sowohl der sichtbare Ertrag als auch beson- ders die Gewährung der Gnade Gottes, hängt allein vom Glauben ab. Gott will demnach, dass der Mensch arbeitet, er will aber nicht, dass der Mensch glaubt, die Arbeit sei es, die ihn erhält.

Im Calvinismus hingegen – und hier kann die Entwicklung in England als bei- spielhaft gelten – war der Gedanke der Treue zur Arbeit von weit geringerer Be- deutung. Im Gegenteil: Ein Berufswechsel war (auch mehrmals im Leben) durch- aus angesehen, wenn damit die Chance auf einen größeren ökonomischen Erfolg verbunden war. Dies lässt sich auf die calvinistische Prädestinationslehre zurück- führen, welche besagt, dass das Schicksal der Seele des Einzelnen im Jenseits vorherbestimmt und nicht, wie im Katholizismus durch eine tugendhafte Lebens- führung, bzw. Buße und Ablässe, positiv beeinflussbar sei. Weltlicher (ökonomi- scher) Erfolg galt als Beweis der Gnadenwahl, war also lediglich Mittel zur Beant- wortung der drängenden Frage nach dem eigenen Status vor Gott. Durch Leistung, Berufsarbeit, verbunden mit asketischer Selbstkontrolle, sollte die Gnadenwahl als weltlicher Erfolg sichtbar gemacht werden. Während man also bei Luther die Versöhnung mit Gott im Diesseits fühlenwollte, so konnte man im Calvinismus seine jenseitige Seeligkeit wissen, da der sichtbare Erfolg als Beweis des Gnaden- standes galt.31

Diese unterschiedlichen Auffassungen innerhalb des Protestantismus blieben nicht ohne Folgen. Das Luthertum regte dazu an, permanent selbst zu überprüfen, wie man seine Tätigkeiten ausführte und da es auf die Art und Weise ankam, wie eine Arbeit verrichtet wurde, konnten deutsche Autoren die deutsche Arbeit von dem »asketischen, alles durchdringenden Arbeitsethos« der Engländer abgrenzen.

Ihm fehle die typisch deutsche »Gemütlichkeit und Natürlichkeit«. Deutsche Ar- beit wurde als tiefer, urwüchsiger, authentischer empfunden und von der Arbeit des bloßen Gelderwerbs willen und ohne inneren Wert positiv unterschieden. Im calvinistischen England hingegen führte die Rationalisierung der Lebensführung zu einem starken ökonomischen Aufschwung. Die Bedeutung der Arbeit stieg, al- lerdings nicht als Wert an sich, sondern lediglich als Mittel zum Zweck.

31 Vgl. Weber: Die Protestantische Ethik, S. 151.

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In den folgenden Jahrhunderten blieb die Tatsache, dass Arbeit im Protestantis- mus eine sozial hoch akzeptierte Tätigkeit war, nicht ohne Folgen. Arbeit wurde als Heilmittel gegen Krankheit, Armut und Kriminalität gesehen. Krankheiten wurden nun weniger als Schicksal oder Strafe Gottes gesehen, sondern eher als Folge von Faulheit.32Folglich konnte das Handauflegen eines Königs oder Ker- zenaufstellen und Beten für einen Heiligen (wie in katholischen Gegenden noch heute gängige Praxis) nicht mehr helfen. Bettler wurden von nützlichen, weil dem Seelenheil des Spenders zuträglichen, Almosenempfängern in zu erziehende Faul- pelze umcodiert. Durch die Arbeitspflicht sollte ihnen tugendhaftes Verhalten bei- gebracht werden.

Als Folge speziell des Luthertums kann die Verbreitung des Berufsgedankens gesehen werden. Noch heute verweist »Beruf«, anders als beispielsweise »Job«, auf einen engen Zusammenhang von Arbeit und Persönlichkeit. Das Berufsmotiv löste sich dabei in den Jahrhunderten nach Luther langsam von dem Gedanken von Gott zu etwas berufen zu sein. Da aber Arbeit eine stark gefühlsmäßige, sinn- volle Tätigkeit war, durch die sich das eigene Sein ausdrücken ließ, verlagerte sich der Ursprung der Berufung von Gott mehr und mehr in das (gedanklich neu entstehende) Individuum und wirkte auch da weiter, wo Menschen nicht mehr an den evangelischen Ansatz gebunden waren. Durch den Berufungsgedanken ent- wickelte sich Arbeit in lutherisch geprägten Regionen von einem Zwang zum Überleben zu einer moralischen Pflicht und zu einem Sinngebungsmoment. Diese starke Betonung des Sinns einer Arbeitstätigkeit(nicht zu verwechseln mit dem eher im Calvinismus verbreiteten Motiv des Arbeitsergebnisses) und der daraus resultierenden Arbeitsfreudesind weder im Calvinismus noch im Katholizismus zu beobachten.

Der Katholizismus in Europa verfolgte die ursprüngliche, christliche Linie trotz der Reformationsbewegung weitgehend weiter. Katholische ökonomische Lehren, wie diejenigen der bedeutenden Escuela de Salamancain Spanien, die in etwa zeitgleich zu der Reformationsbewegung entstanden und deren Ideen noch heute einen Grundpfeiler des katholischen Ökonomieverständnisses bilden33, ver- suchten zwar Antworten auf moralische und ökonomische Fragen zu geben, spra- chen dabei aber der Arbeit weder einen moralischen Wert noch einen Wert für die Ökonomie zu. Preise, Löhne oder Wert der Produkte wurden in ihren Vorstellun- gen niemals auf Arbeit zurückgeführt.

Auch in den auf die Entstehung der protestantischen Herausforderung folgen- den Jahrhunderten reagierte die katholische Kirche oft nur halbherzig auf die neuen Bewegungen mit ihrer Höherbewertung der Arbeit und die relative Rück- ständigkeit vieler katholischer Gebiete. Noch heute existiert für den lutherischen

32 Vgl. Holger Schatz, Andrea Woeldike: Freiheit und Wahn deutscher Arbeit, Münster 2001, S. 19.

33 Vgl. hierzu auch Alejandro Chafuen: Economia y ética – Raices cristianas de la economia de libre mercado, Madrid 1991 und Fabián Estapé Rodriguez: Revalorización de la escolástica en la formación del pensamiento económico. In: Anales de la Real Academia de Ciencias Morales y Politicas, Nr. 73, Madrid 1996.

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Berufsbegriff in den romanischen Sprachen oft keine adäquate Übersetzung. Ar- beit oder Beruf bekamen keinenmoralischen Stellenwert. Über den moralischen Wert der einzelnen Handlung entschied oftmals die Intention. Es bestand zudem noch die Möglichkeit, sich durch das Sakrament der Beichte und nachfolgender Buße seiner Sünden zu entledigen. Die katholische Kirche betrachtete die Ent- wicklung in vielen protestantischen Ländern mit großer Skepsis, widersprach doch die Verwandlung der Arbeit von einer »Last« zur »Lust« und zum Garanten des persönlichen Wohlstandes oder gar zur Selbstbestätigung der katholischen Vorstellung von der Mühsal, in welche Gott die sündigen Menschen gestellt habe.34 Auch verneinte die katholische Kirche Arbeit als Grundlage persönlichen Reich- tums und sozialen Aufstiegs. Lange Zeit hing sie daher den Vorstellungen eines mittelalterlichen Ständestaates nach, worin sie wiederum der Ansicht Luthers deutlich näher stand als derjenigen Calvins.

Mit ihrer, im Gegensatz zum Protestantismus, starken Trennung von Geist und Materie, von Transzendenz, wirklichem Sein und Nähe zu Gott auf der einen Seite und weltlichem Besitz, Haben, aber auch Arbeit auf der anderen Seite bleibt die Rolle der Arbeit im Katholizismus fast ausschließlich auf den weltlichen Be- reich beschränkt. Arbeit galt also als weltliche Notwendigkeit, um den Lebensun- terhalt zu sichern, als instrumentelles Handeln, dessen Sinn und Ziel der Mensch (nicht Gott) ist.

Durch dieses Verschließen der Arbeit gegenüber transzendentalen Vorstellungen wird es schwieriger, den Arbeitsbegriff mit anderen abstrakten Vorstellungen wie Nation, Selbstverwirklichung, Menschwerdung etc. zu füllen. Arbeit bleibt ganz selbstverständlich eine Notwendigkeit. Eine Öffnung für geistig-moralische An- sprüche der Arbeit selbst, wie es Luther gelang, bleibt beim Katholizismus ausge- schlossen. Arbeit als Instrument oder Mittelhingegen ist im Katholizismus durchaus mit moralischen Ansprüchen verknüpft. So kann auf der einen Seite die Zielbestim- mung der Arbeit moralisch begründet werden, auf der anderen Seite wird diesem Ziel als »bloßem« weltlichem Bedürfnis ein Teil der Dringlichkeit genommen.

Politik: Arbeit adelt – Das Bürgertum und der Arbeitsbegriff

Die Emanzipation des Bürgertums in Europa führte dazu, dass auf vielen Gebie- ten eigene Vorstellungen entwickelt wurden, welche sich teilweise direkt gegen die alten Machthaber aus Adel und Klerus richteten. Ein eigenständiger bürger- licher Arbeitsbegriff begann sich zuerst von England her zu formieren. Francis Bacon (1561-1626) gilt als einer der ersten bürgerlichen Ökonomen. Da Ökono- mie (ganz im calvinistischen Sinne) von Moral nicht zu trennen war, legte er eine Moral der Nützlichkeit, basierend auf rational-technischem Wissen, Arbeit und der damit verbundenen Produktivität vor.

34 Vgl. Schatz, Weoldike: Freiheit und Wahn, S. 53.

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Hier entsteht erstmals der uns heute so selbstverständliche Begriff der Arbeit als abstrakte, verschiedene Tätigkeiten zusammenfassende Bezeichnung. Erst mit ihrer begrifflichen Entstehung wird abstrakte Arbeit formbar. Sie wird gleichsam geöffnet und es wird Raum geschaffen für viele verschiedene Deutungen und Fül- lungen des Arbeitsbegriffes, die überhaupt nicht möglich wären, wenn weiterhin selbstverständlich davon ausgegangen würde, dass Arbeiten so unterschiedlich sind, dass man von Arbeit nicht abstrakt sprechen kann. In diesem historisch er- sten Fall ist es also die Nützlichkeit, die alle Arbeiten miteinander verbindet und die Vorraussetzung schafft, allgemein von Arbeit zu reden.

1690 veröffentlichte John Locke seine »Two Treatise on Government«, worin er den Zusammenhang von Macht, Reichtum, Eigentum und Arbeit herstellte.

Gehörten vorher Arbeit und Armut ganz selbstverständlich zusammen, galt nun Arbeit erstens ökonomisch als Grund für Reichtum und zweitens rechtsphiloso- phisch als Grund für Eigentum.35Jetzt ist es die Arbeit, die der Natur die Dinge abringt, die Recht und Eigentum schafft und damit zum Quell des Besitzes wird.

Mit der Höherbewertung von Arbeit und der Vorstellung eines Zusammenhan- ges von Arbeit und Nützlichkeit, Arbeit und Reichtum, Arbeit und gesellschaftli- chem Fortschritt, aber besonders auch Macht und Arbeit, konnte das Bürgertum seine Ansprüche an staatliche Führungspositionen gegen den nicht-arbeitenden Adel moralisch und ökonomisch begründen. Dieser schien nun nicht mehr zur Führung bestimmt und moralisch höher stehend, sondern als das genaue Gegen- teil der Arbeit: unnütz, Reichtum und gesellschaftlichen Fortschritt hemmend und zunehmend machtloser. Die Betonung des Leistungswillens des Bürgertums ge- gen das Geburtsprivileg des Adels, die Bejahung von Arbeit als Wert, die Über- zeugung, dass sich Anstrengung auch im Diesseits lohnt, sowie der Glaube an Fortschritt und sozialen Aufstieg, nehmen im englischen Bürgertum ihren Anfang.

Der Einfluss bürgerlicher Arbeitsvorstellungen breitete sich durch die Teilhabe an oder die Übernahme der politischen Macht durch das Bürgertum von England her über Frankreich auch bis nach Deutschland aus, traf dort aber mit dem spezi- fisch deutschen Idealismus zusammen, der dem Arbeitsbegriff eine andere Schat- tierung verlieh.

In Deutschland sah Johann Gottlieb Fichte Arbeit anthropologisch als dem Menschen zugehörige Möglichkeit, der Freiheit Ausdruck zu verleihen. »Die Na- tur hat die Menschen [...] zur Freiheit bestimmt, d. i. zur Tätigkeit.«36Dieser Satz reflektiert alle drei Grundkategorien des idealistischen Arbeitsbegriffes: Arbeit als überindividuelle, natürlicheKategorie, welche die Bestimmung des Menschen ausmacht, Arbeit als Entwicklungzur menschlichen Freiheit und Arbeit als Tätig- keitallgemeiner Art. Wirkliches menschliches Leben drückte sich demnach nur

35 Vgl. Johannes Schnarrer: Arbeit und Wertewandel im postmodernen Deutschland: eine historische, ethisch-syste- matische Studie zum Berufs- und Arbeitsethos, Hamburg 1996, S. 87 f.

36 Johann Gottlieb Fichte, zit. nach: Werner Conze: Arbeit. In: Otto Brunner et al.: Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1973, S. 184.

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