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Säkularisierung und Religion

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Academic year: 2022

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Di ng el /T ie tz (H g. ) kul ar is ie run g un d R el ig io n

ISBN: 978-3-525-57093-7

Die Herausgeberinnen

Prof. Dr. Irene Dingel ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte.

Prof. Dr. Christiane Tietz ist Ordentliche Professorin für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Was steckt hinter dem Begriff »Säkularisierung« und mit welchen Theorien und Theorieentwicklungen sind wir konfrontiert? Die Beiträge dieses Bandes ver- suchen dies zu klären und sowohl historische als auch gegenwarts bezogene Zugänge zu entwickeln. Dabei geht es um Säkularisierungsschübe und deren Auslöser in der Geschichte; um die Frage danach, wie Religion und religiöse Praxis in jeweils unterschiedlicher Weise auf Säkularisierungsphänomene reagierten. Im interdisziplinä- ren Gespräch erörtert dieser Band die Wechselseitigkeit von Säkularisierungs- und Religionskonzepten.

VERÖFFENTLICHUNGEN DES INSTITUTS FÜR EUROPÄISCHE GESCHICHTE MAINZ, BEIHEFTE BAND 123

Irene Dingel Christiane Tietz (Hg.)

Unter Mitarbeit von Marion Bechtold-Mayer

Säkularisierung und Religion

Europäische Wechselwirkungen

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Instituts für Europäische Geschichte Mainz

Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Herausgegeben von Irene Dingel

Beiheft 123

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Europäische Wechselwirkungen

Herausgegeben von

Irene Dingel und Christiane Tietz

Unter Mitarbeit von Marion Bechtold-Mayer

Vandenhoeck & Ruprecht

(5)

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://d-nb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Dieses Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons- Lizenz BY-NC-ND International 4.0 (»Namensnennung – Nicht kommerziell –

Keine Bearbeitungen«) unter dem DOI 10.13109/ 9783666570933 abzurufen.

Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Coverabbildung: Grossmünster, Zürich, Wikimedia Commons, CC-BY-SA-3.0, © Marcin Białek, 2012.

Satz: Vanessa Weber, Mainz

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1056

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Vorwort ... 7

I. Säkularisierung – Diskussionen um ein Forschungsparadigma Hartmut von Sass

Von Deutungsmächten wunderbar verborgen. Habermas, Taylor

und die Metakritik der Säkularisierungstheorie ... 11 Detlef Pollack

Religion in der Moderne ... 39

II. Historische Zugänge und Perspektiven Christopher Voigt-Goy

Naturwissenschaft als »Leitwissenschaft«? Zum Verhältnis von

naturwissenschaftlicher Methode und Religion in der Frühen Neuzeit .. 65 Jan Kusber

Politische Ideologien und ihre säkularisierende Wirkung –

das Beispiel Russland im 20. und 21. Jahrhundert ... 85

III. Perspektiven auf Säkularisierung in der Gegenwart Manfred Sing

Der Islam als Kontrastfolie in der Säkularisierungsdebatte.

Ein mehrfaches Missverständnis? ... 105 Rebecca Milena Fuchs

Glaube durch Denken ins Gespräch bringen und zum

»Tisch des Lebens« (Joseph Ratzinger) einladen. Phänomene des Säkularismus als Ansporn für kirchliche Selbstreflexion

und theologische Konzentration ... 145

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Matthias Felder und Frank Mathwig

Bekennen und Säkularisierung. Zur gesellschaftlichen Verortung

der Kirche aus reformierter Sicht ... 165 Michael Germann

Säkularisierung und Religion in der Perspektive

des Religionsverfassungsrechts ... 183

Autoren- und Mitarbeiterverzeichnis ... 215 Orts- und Personenregister ... 217

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In den vergangenen Jahren ist das historisch-soziologische Narrativ, das die Entstehung der modernen Welt auf bereits in der Frühen Neuzeit ein- setzende und sich im Zuge der Jahrhunderte verstärkende Säkularisierungs- prozesse zurückführt, zunehmend in die Kritik geraten. Gleichzeitig mehren sich Stimmen, die fast aggressiv eine noch stärkere Säkularisierung fordern.

Eine interdisziplinäre Tagung, die in Zürich vom 4. bis 6. Dezember 2015 in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Richard Amesbury stattfand, vom Schwei- zerischen Nationalfond unterstützt wurde und in diesem Band in Auswahl dokumentiert wird, hatte sich deshalb zum Ziel gesetzt, Licht auf die Säku- larisierungsthese bzw. auf das Säkularisierungsparadigma selbst zu werfen.

Nach grundlegenden Klärungen der Begrifflichkeit sowie der Theorien und Theorieentwicklungen werden sowohl historische als auch gegenwarts- bezogene Zugänge entfaltet, um die Säkularisierungsthese und ihre Anwend- barkeit auf den Prüfstand zu stellen.

Zur Sprache kommen zunächst Säkularisierungsschübe und deren Auslö- ser in der Geschichte; dabei interessiert besonders die Frage, wie weit Reli- gion und religiöse Praxis tatsächlich verdrängt wurden. Wie haben Säkula- risierungsprozesse gelebte Religion verändert? Und welche gesellschaftlichen und politischen Folgen gingen damit einher? Kam es zu einem Rückzug der Religion aus der Öffentlichkeit oder gerade zu ihrer Selbstbehauptung gegen säkularisierende Tendenzen?

Für die Gegenwart werden die Perspektiven unterschiedlicher christlicher Konfessionen sowie des Islam berücksichtigt und eine religionsverfassungs- rechtliche Einschätzung vorgelegt. Dadurch erhalten gegenwärtige Debatten über die Rolle von Religion in säkularisierten Gesellschaften sowie For- derungen nach notwendigen Säkularisierungen eine differenziertere Gestalt.

Ganz am Ende soll der Dank stehen, und zwar an all diejenigen, die zum Entstehen dieses Bandes beigetragen haben. Eine besonderer Dank geht an Dr. Christiane Bacher und Vanessa Weber für die geduldige und kompetente Betreuung der Drucklegung in der Redaktion des Leibniz-Instituts für Euro- päische Geschichte.

Mainz und Zürich, den 2. Februar 2019 Irene Dingel und Christiane Tietz

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um ein Forschungsparadigma

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Von Deutungsmächten wunderbar verborgen

Habermas, Taylor und die Metakritik der Säkularisierungstheorie

Auftakt: Die Säkularisierung in Zeiten ihrer Nachrufe

Das Ableben der Säkularisierungsthese dauert schon jetzt länger als ihre vitale Existenz in vergangenen Dekaden. Der zeitgenössische Daseinsmodus jener These gleicht insofern den Variationen ihrer heutigen Traueranzeige.

Es waren spätestens die mittleren 1990er Jahre, die den kumulativ herbei- geführten Bruch mit jener früheren Erfolgsgeschichte besiegeln sollten.

Der Gestus reichte von einer unversöhnlichen Verabschiedung, die Rodney Stark »Secularization, R.I.P.« titeln ließ1, bis hin zu einer vorsichtigeren Dif- ferenzanamnese à la David Martin oder José Casanova, die jene Großthese bekanntlich in Subthesen einer Aufsplitterung sozialer Systeme, der Privati- sierung, Urbanisierung, Modernisierung zergliederten2.

Alle diese Reaktionen zwischen Verabschiedung und Differenzierung zollten dem Umstand Tribut, dass sich die Säkularisierungstheorie in ihrer klassischen Gestalt entweder als schlicht falsch erweisen musste, konfron- tierte man sie endlich mit der Normativität des Faktisch-Empirischen3, oder aber als uninformativ, weil die von ihr behaupteten korrelativen oder gar kausalen Verhältnisse als zu unspezifisch, ambivalent und mit Blick auf unterschiedliche Zeiten, Kulturen und Milieus invariant und darum unsen- sibel daherkamen4. Die methodischen Implikationen umfassender, ja global angelegter Generalisierung soziologischer Erklärungen haben sich als der-

1 Siehe Rodney Stark, Secularization, R.I.P., in: Sociology of Religion 60/3 (1999), S. 249–273, bes. S. 260f. und 270.

2 Dazu José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago, IL u.a. 1994, Kap. 1: Secularization, Enlightenment, and Modern Religion und bes. S. 211f.

3 Dazu Peter L. Berger, The Desecularization of the World. A Global Overview, in: Ders. (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids, MI 1999, S. 1–18, bes. S. 3; Hans Joas, Glaube als Option.

Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012, Kap. 1 und 3.

4 Siehe Hartmut Lehmann, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 22007, Kap.  3: Säkularisierung, Transformation der Religion oder Rückkehr der Religionen; Johannes Zachhuber, Die Diskussion über Säkula- risierung am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Christina von Braun u.a. (Hg.), Säku- larisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007, S. 11–42, bes. S. 14–19.

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art problematisch herausstellt, dass das Projekt der Säkularisierungstheo- rie nicht einfach faktisch gescheitert ist. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die dia gnostischen oder gar explikativen Hoffnungen, die auf jener Theorie ruhten, von vornherein uneinlösbar waren. Das theoretische Ergebnis immer neuer Dekonstruktionen vormaliger Allgemeinheitsansprüche liest sich wie der Beipackzettel zu den unübersehbaren »Risiken und Nebenwirkungen«

einfachster Präparate. An die Stelle des Generalschlüssels, der Modernitäts- steigerung noch mit Religionsrückzug parallelisieren konnte, treten nun weitaus zurückhaltendere Befunde. Sie implementieren zusätzliche kultu- relle, historische, intellektuelle Parameter in die soziologische Theoriebil- dung5. Mit der handlichen These von der Säkularisierung ist es seitdem vor- bei, angebrochen ist hingegen längst die Zeit tentativer Verallgemeinerungen bestenfalls mittlerer Reichweite6. Damit ist die derart provinzialisierte Säku- larisierung als theologisches und philosophisches Thema wenn nicht uninte- ressant geworden, dann immerhin erheblich marginalisiert.

Doch stellt sich diese in sich komplexe Debatte nur als erste Phase der Kri- tik am Säkularisierungsparadigma heraus. Sie sei als die intern-soziologische bezeichnet. Eine zweite Periode schloss sich seit den frühen Nullerjahren an, die auf die gesellschaftlich schwerwiegenden Resultate der Säkularisierung und ihre gegenläufigen Revisionen aufmerksam machte. Jene antizipative Kritik als – so im Untertitel – »Metakritik« könnte die extern-ideenpolitische genannt werden. Ging es im ersten Fall noch um die Widerlegung einer allzu forsch formulierten Säkularisierungstheorie mit den bekannten proto-ideo- logischen Beimischungen vom »Ende der Religion«7, geht es im zweiten Fall jenseits der Alternative zwischen wahrhafter Säkularisierung und der »Wie- derkehr der Götter«8 um die Implikationen beider Szenarien für die indivi- duelle Identität, die kollektiven Wertungen und die Legitimierung von Staat

5 Zu diesen Differenzierungen und dem daraus folgenden Begriff der Säkularisierung siehe C. John Sommerville, Secular Society / Religious Population. Our Tacit Rules for Using the Term »Secularization«, in: JSSR 37/2 (1998), S. 249–253.

6 Die säkularisierungstheoretischen Annahmen sind demnach nicht einfach unzu- treffend, sofern sie in einem case-by-case-Vorgehen mit spezifischem soziologischen Fokus erprobt werden; dazu wiederum Berger, The Desecularization of the World.

A Global Overview, S. 18. – Es sei, so José Casanova, daher für eine sensible For- mulierung der Säkularisierungstheorie nötig, die protestantische Spezialperspek- tive, die Präferenz für liberale Konzeptionen des Politischen und die methodische Referenz auf den souveränen Staat soziologisch aufzugeben; so in Casanova, Public Religions in the Modern World, S. 39.

7 Vgl. Jörg Dierken, Religion am Ende – am Ende (doch) Religion? Soziologische und theologische Perspektiven, in: Ders., Ganzheit und Kontrafaktizität. Religion in der Sphäre des Sozialen, Tübingen 2014, S. 23–42.

8 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München ³2007.

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und Gesellschaft unter pluralistischen Vorzeichen. Während die intellektu- elle Gestimmtheit zunächst die der offensiven Kritik war, ist sie nun die der abwägenden Warnung.

Von dort aus ist es kein allzu weiter – und dennoch sehr gewagter – Sprung in eine dritte Phase, die sich zur zweiten zeitlich nur leicht versetzt abzeich- nete und die die involviert-gegenmissionarische genannt sei9. Die Bedenken steigern sich hier in ein parteiliches Engagement für die Desäkularisierung in doppelter Frontstellung zu allen post-Weberschen Theoremen, aber auch gegenüber allen als allzu seicht empfundenen returns zu irgendwelchen Göt- tern im Dunstkreis kitschiger Spiritualität. Nicht Kritik dominiert in die- ser dritten Phase, auch nicht nur die Warnung vor den unwiederbringlichen Verlusten gerade erfolgreicher Säkularisierungen. Denn diese Warnung wird nun zu einer »äußeren Mission« amplifiziert, einer Mission zugunsten der Wiederaneignung anderenfalls verschollener Sinnressourcen, Identitätsstif- ter, Existenzvertiefer, Akzeptanzbeschaffer.

Im Folgenden wird die These vertreten, dass Jürgen Habermas und Charles Taylor – ein sich nicht unbedingt sympathisches Gespann – keineswegs zur ersten Phase gehören, sondern der »religiös unmusikalische« Habermas zur zweiten der Warnung und der praktizierende Katholik Taylor zur dritten der Gegenmission10. Dazu werden zunächst kurze Abrisse ihrer theoretischen Anliegen mit Blick auf die Frage der Säkularisierung angeboten (1), anschlie- ßend zentrale Motive durchgegangen, die in einem inszenierten Dialog zwischen beiden problemorientiert besprochen werden (2), um mit einem Vorschlag zu enden, wie Habermas und Taylor im Blick auf die skizzierte Diskussion neu gelesen werden könnten (3).

1. Habermas und Taylor über Säkularisierung:

Ein doppeltes abstract

Die klassische Theorie der Säkularisierung besagt, Module der Moderni- tät verhielten sich korrelativ oder verursachend umgekehrt proportional zum Florieren des Religiösen. Die Intensivierung aller Konkretionen der Moderne ginge demnach, so Weber, Durkheim und all ihre Jünger »zweiter Hand«, mit einer Erosion religiöser Praxis in privaten Zirkeln sowie einer

9 Vielleicht ist es insofern angebracht, statt von »Phasen« innerhalb einer Entwicklung eher von »Dimensionen« einer Debatte zu sprechen.

10 Zur Religion als analogon einer musikalisch metaphorisierten Stimmung, Dynamik, Atmosphäre siehe klassisch Georg Simmel, Die Religion (1912), in: Martin Buber (Hg.), Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1912, bes. S. 12 und 42.

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Entkirchlichung im öffentlichen Raum einher11. Eben diese Hybridtheorie krankte von vornherein an zwei Irritationen, deren Beachtung zugleich den schleichenden, dann sich beschleunigenden Abtragungsprozess einläutete, welchen wir heute eher zur Kenntnis nehmen, als wirklich noch diskutie- ren: Zum einen passten prominente Weltregionen nicht ins global angelegte Raster der Säkularisierung. Die USA zur »great exception from the rule«

zu erklären, war daher lediglich religionssoziologische Kosmetik, die ihren Dienst allerdings erstaunlich lange verrichtete. Zum anderen fungierte das schillernde Etikett der »Säkularisierung« nie als rein deskriptiv-analytischer Term. Schon die theoretisch wie empirisch ungedeckten Extrapolationen, die besagten, die Säkularisierung münde in ein »religionsloses Zeitalter«, über- zogen das diagnostische Konto beträchtlich. Profitieren konnte davon eine negativ gefärbte, von vielen jedoch mit Genugtuung rezipierte Eschatologie der Post-Religion12.

Diese hier nur skizzierte Debatte gehört in die erste Phase, die gerade als intern-soziologische der Kritik vorgestellt wurde. Zwar bildet sie den Hin- tergrund, nicht aber das Zentrum des Interesses unserer beiden Begleiter.

Worum aber geht es ihnen dann? Als Jürgen Habermas im Oktober 2001 das Rednerpult der Frankfurter Paulskirche betrat, lag das, was sich als

»nine/eleven« ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat, nur einige Tage zurück. Unter dem Titel »Glauben und Wissen«, mit dem sich der Friedens- preisträger in die Tradition von Hegel und Adorno stellte, zeigte der erklärte Atheist Habermas eine diagnostische Sensibilität, die er in Sachen Religion zuvor nie hat bekunden wollen. Es hätte nahe gelegen, die »Theorie des kom- munikativen Handelns« unter dem Eindruck pseudo-religiös motivierten Terrors von einer methodischen Religionsdistanz zu einer programmati- schen Religionsaversion fortzuschreiben. Genau dies ist – zur Überraschung vieler Kollegen und zur verfrühten Freude einiger Theologen – nicht gesche- hen. Habermas hielt sich an ein Diktum, welches sich bereits im 1981 veröf- fentlichten Hauptwerk findet; dort heißt es:

Die Fähigkeit, die besten Traditionen anzueignen und zu verarbeiten, ist […] ein Zeichen für die Anschlussfähigkeit und die Fassungskraft von Gesellschafts the o- rien, die immer auch auf die Durchsetzung eines bestimmten, im kollektiven Selbst- verständnis verwurzelten Paradigmas von Gesellschaft abzielen13.

11 Vgl. den Überblick bei Zachhuber, Die Diskussion über Säkularisierung am Beginn des 21. Jahrhunderts, Abschnitt 1 und 2.

12 Dazu bereits Emile Durkheim, Die Grundformen des religiösen Lebens (1912), in:

Friedrich Fürstenberg (Hg.), Religionssoziologie, Neuwied u.a. 21970, S. 35–55.

13 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsratio- nalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 1981, S. 269.

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Habermas löste diese methodische Regel genau 20 Jahre später so ein, dass er die zum Teil drastisch veränderten Parameter im Abendland mit in die

»Fassungskraft« seiner Gesellschaftstheorie produktiv aufnahm. Folglich be- währte die Theorie des kommunikativen Handelns ihre »Anschlussfähigkeit«

gerade dadurch, dass sie »der« Religion nicht konfrontativ, sondern invitativ begegnete14. Habermas blieb ganz Habermas, sofern er nicht primär von der Binnenlogik der Religion her dachte; angetrieben war er vielmehr von der bedrohlichen Herausforderung des Rechtsstaates durch Gewaltakte unter- schiedlichster Couleur, die auf ein Motivationsdefizit eben dieses Rechts- staates aufmerksam machten. Für diese motivationalen Leerstellen stellten Religionen gerade nicht das Problem dar, sondern womöglich einen Teil der Lösung.

Dabei erweist sich für Habermas nicht die Legitimierung des Rechtsstaa- tes als die eigentliche Schwierigkeit; hier ist er ganz Kantianer, insofern die Autonomie der Moral auf die politische Ebene gehoben wird, sodass das Poli- tische in seiner Fundierung selbstgenügsam wirkt. Heteronome Quellen der Legitimierung hingegen müssten alles nur durcheinander bringen15. Haber- mas geht es weit eher um politische (Sekundär-)Tugenden – wie Solidarität, Engagement, Empathie –, die sich Fragen der Begründung offenbar entzie- hen, für das Funktionieren eines Staatsgebildes jedoch unhintergehbar seien.

In leichter Abwandlung der berüchtigten Böckenförde-Doktrin stellt Haber- mas fest: »Der liberale Staat ist langfristig auf Mentalitäten angewiesen, die er nicht aus eigenen Ressourcen erzeugen kann«16. Was hier als »Mentalitäten«

angesprochen ist, beinhaltet Motivationen und Haltungen, die ihrerseits Ele- mente der Sinnstiftung voraussetzen, als deren »Sitz im Leben« Habermas vornehmlich die Religion ausmacht.

Nicht die Religion als autarkes und aus internen Gründen zu stärkendes, ja zu pflegendes Sozialsystem spielt für Habermas die maßgebliche Rolle;

ihm geht es hingegen um das Anzapfen motivationaler Leistungen, die mit dem Rechtsstaat kompatibel sind, sich in ihm selbst jedoch nicht finden las- sen. Daraus ergeben sich bereits die zwei wesentlichen Aspekte, die Haber- mas’ Lagebericht als problematische Beigaben mit sich führt: Denn so sehr die Habermas’sche Wertschätzung der vor allem nicht-kognitiven Aspekte der Religion einen merklich neuen Ton anschlug, wurde die oben zitierte

14 Vgl. Jan Philip Reemtsma, »Laudatio« zur Verleihung des Friedenspreises des Deut- schen Buchhandels 2001, S. 2–8, hier S. 2, URL: <http://www.friedenspreis-des- deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2001_habermas.pdf> (05.05.

2016).

15 Dazu Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den »öffentlichen Vernunftgebrauch« religiöser und säkularer Bürger, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt  a.M.

2005, S. 119–154, hier S. 126.

16 Ders., Einleitung, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, S. 7–13, hier S. 9.

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»Anschlussfähigkeit« seiner Theorie den Vorwurf der Funktionalisierung der Religion als Sozialkitt »höherer Ordnung« kaum los. Zudem wiederholte sich das Ausgangsproblem der (partiellen) Inkompatibilität von Staat und Kirche nun innerhalb der Theorie als potenzielle Unversöhnlichkeit säkula- rer mit religiösen Überzeugungen. Entsprechend entwickelt Habermas das Kommunikationsparadigma fort zu einer Analytik bürgerlicher Überset- zungsrechte und -pflichten.

Habermas’ Beitrag zur Säkularisierungstheorie liegt demnach nicht in einer neuen Version der Theorie selbst. Unter Rückgriff auf Tendenzen klas- sischer Säkularisierung in Mitteleuropa sowie mit Blick auf dazu gegenläu- fige Prozesse florierender Religiosität und deren erneuter Prominenz stellt er die Frage nach den nichtrechtsstaatlichen Gründen des Rechtsstaates. Anlass dazu ist in gleichen Maßen die »Dekonstruktion des Christentums«17 sowie ein verstärkter Pluralismus, für den der religiös zunehmend unüberschau- bare Markt nur eine weitere Zutat bildet. Habermas wird daher nicht müde davor zu warnen, das Verschwinden christlich imprägnierter Sinnquellen einfach hinzunehmen bzw. diese neue Pluralität theoretisch zu ignorieren.

Dabei ist der Respekt vor »der« Religion immer schon mit Blick auf die Sta- bilität des Rechtsstaates ausgedrückt; sie ist also stets mit Hintergedanken formuliert, die Habermas seit seiner Friedenspreisrede antizyklisch vorträgt:

Säkularisierungen im doppelten Modus von Erosion und Pluralisierung sind solange eine ernsthafte Bedrohung für den Rechtsstaat, als sich keine post- religiösen Äquivalente (er)finden lassen18. Da diese Substitution manchen als nicht praktikabel oder gar unmöglich, jedenfalls illusorisch erscheint, wäre die Säkularisierung als Bedrohung des Rechtsstaates auf Dauer geschaltet.

Geht es Habermas um die Religion als Integral einer rechtsstaatlichen Stabilisierung, entnimmt Charles Taylor die Religion, insbesondere das abendländische Christentum, dieser instrumentalisierenden Klammer. Nun

17 So Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums. Aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich u.a. 2008, bes. S. 237–264.

18 Dazu bes. Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt (2007), URL:

<http://www.nzz.ch/articleevb7x-1.110807> (05.05.2016)  – Das sehen Autoren wie Richard Rorty ganz anders: Solidarität, Engagement, Empathie und insgesamt ein Sinn für Empfindsamkeit könnten sich der Welt der Literatur verdanken, dazu Richard Rorty, Der letzte Intellektuelle in Europa. Orwell über Grausamkeit, in:

Ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von Christa Krüger, Frank- furt a.M. 1992, Kap. 8; ders., Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbe- zogenheit, in: Joachim Küpper / Christoph Menke (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003, S. 49–66, bes. S. 57. – Zudem ließe sich die angebli- che Säkularisierungsresistenz christlicher Feste als Kulminationspunkte lebenswelt- licher Orientierung und Sinnstiftung diskutieren. Beweist nicht gerade Weihnach- ten – ich muss zugeben: heute ist der 25. Dezember – gerade die bereits vollzogenen Transformationen, welche die christliche Botschaft durch nicht-christliche Elemente in den Hintergrund treten lässt.

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geht es nicht mehr um eine Warnung vor den motivationalen Untiefen bür- gerlicher Partizipation in Zeiten verstärkter Pluralisierung, sondern um ein umfassendes Narrativ, das auf eine Pointe hin zugeschnitten ist: die enga- gierte Wiedergewinnung dessen, von dem jene letztlich unentbehrliche Großerzählung kündet19. In einem ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Zugriff mit materialen Grundentscheidungen, die sich aus bestimmten kom- munitaristischen, sprachphilosophischen, aber auch persönlich-religiösen Präferenzen speisen, versucht Taylor, eine Frage zu beantworten und sie mit einer Verlustgeschichte zu flankieren. Die Frage lautet: »Warum war es in unserer abendländischen Gesellschaft beispielsweise im Jahre 1500 prak- tisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben, während es im Jahre 2000 vielen von uns nicht nur leichtfällt, sondern geradezu unumgänglich vorkommt?«

(51; vgl. 899 und 927)20.

Sieht man für einen Moment von den weitreichenden Prämissen, die diese Frage mit Blick auf die religiöse Vergangenheit und Gegenwart mit sich führt, ab, öffnet sich sogleich der Blick für Taylors Passionsgeschichte mit ausführ- licher Einleitung; denn sofern die Säkularisierung als Erosion des privat und öffentlich kodierten Glaubens erfolgreich ist, führe sie zu einer existentiellen Leere, lebensweltlichen Verflachung, einer verkümmerten Artikulationsfä- higkeit, die einem öden Humanismus das Feld überlassen muss (988) – uns aber als Wesen ohne »Fülle« (36, 1206) zurücklasse. Taylors pessimismus- affiner Katholizismus gibt sich also als Gegenwartsdiagnose aus, greift aber immer wieder ins Register antizipierter Bedrohung. Deren Summar findet sich in der Klage eines elementaren Transzendenzverlusts (512), wobei die explizite Parteilichkeit der Beschreibung zusehends und im letzten Kapitel von A Secular Age dann ganz offensiv in ein desäkularisierendes Manifest übergeht. Unter der Zwischenüberschrift »Conversions« liefert Taylor die Heiligen-Vita einiger religiöser Überläufer, deren deskriptive und konfessi- onelle Einseitigkeit – um es mit Günter Thomas zu sagen – »unverschämt«

zu nennen ist21.

Doch die Dinge liegen bei Taylor auch hier weitaus komplizierter. Paral- lel zur Säkularisierung als Verlustgeschichte revidiert Taylor genau dieses vertraut gewordene Narrativ, indem der angebliche Verlust eines glaubenden Engagements in Formen der Umbesetzung und Transformation seinerseits umkodiert wird. Zwar leugnet Taylor klassische Säkularisierungsprozesse

19 So Charles Taylor gegen Lyotard in: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 2009, S. 958.

20 Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich bis zum Ende des Abschnitts auf Taylor, Ein säkulares Zeitalter.

21 Günter Thomas, Die Versuchung religiöser Nostalgie. Eine protestantische Lek- türe von Charles Taylors »Ein säkulares Zeitalter«, in: EvTh 73/6 (2013), S. 421–436, hier S. 431.

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keineswegs (859), hält aber immer wieder dagegen, dass die »Formen des Religiösen in der Gegenwart« (so der Titel der 1999 gehaltenen Gifford- lectures) ganz unterschiedlichen Zuschnitts seien, die mit einem eindeutigen Verlust gerade nichts zu tun haben müssen.

Dabei ist nicht immer klar, ob Taylor die Säkularisierungsprozesse im Sinne der Erosion anders und zurückhaltender beurteilt oder ob er sie aner- kennt, aber auf andere als von der Säkularisierungstheorie vorgesehenen Gründe zurückführt. Immerhin wird von hier aus die Differenzierung dreier Arten der Säkularisierung verständlich, deren Vermischung Taylor wie- derholt anprangert22. Demnach ist als Säkularisierung 1 die Trennung von Öffentlichkeit (aus der sich die Religion zurückziehe oder verdrängt werde) und Privatem (wo sie ihr Refugium finde) zu verstehen (13). Als Säkulari- sierung 2 bezeichnet Taylor den schwer greifbaren Rückgang religiöser Pra- xis als solcher (14). Diese beiden Formen der Säkularisierung interessieren Taylor allerdings nur peripher, weil sein Interesse einer dritten, den beiden anderen vorgelagerten Form gilt. Die Säkularisierung 3 reagiert auf die oben zitierte Frage, um den Bedingungen der Möglichkeit offiziellen Unglaubens und damit der Faktizität des Optionalen des Glaubens nachzugehen (15, 34 und 703f.). Noch einmal Taylor im Original: »Eine säkulare Epoche ist eine, in der der Niedergang aller über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Ziele denkbar wird« (43).

Der entscheidende Term ist »denkbar«; denn »säkular« meint nun gerade nicht säkularisiert, sondern jenseits der gewählten Option von Glaube, Nichtglaube, Andersglaube nimmt der Begriff auf die Notwendigkeit Bezug, sich aus einem religiösen Spektrum zu entscheiden, und die Möglichkeit, ein bestimmtes Leben zu führen im Bewusstsein der Kontingenz der eigenen Wahl angesichts lebensweltlicher Alternativen (31)23.

Um zusammenzufassen: Habermas befindet sich im Modus permanenter Sorge; diese gilt nicht der Religion selbst, sondern der Stabilität des Rechts- staates, der in motivationaler Hinsicht unterversorgt sei und daher auf Quel- len des Engagements angewiesen bleibe, die entweder durch klassische Säku- larisierung erodierten oder durch einen zersplitterten lebensanschaulichen Pluralismus unter Druck gerieten. Vorausgesetzt ist folglich, dass Religionen jenes Defizit begleichen könnten, und verständlich wird, dass selbst bei reli- giöser Unmusikalität die Erosion oder Zergliederung der Religion gerade

22 Allerdings, so kritisiert Hans Joas, vermische Taylor selbst mit den unterschiede- nen Arten der Säkularisierung ganz divergente Entwicklungen und Fragestellungen;

dazu Joas, Glaube als Option, S. 73.

23 Dazu Richard Amesbury, Religious Neutrality and the Secular State. The Politics of God’s Absence?, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.), The Presence and Absence of God, Tübingen 2008, S. 201–221, hier S. 218.

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kein Evangelium für die »Habermasse«24 darstellt. Taylor hingegen vollführt eine Doppelbewegung, indem mittels eines weiten Begriffs der religio Erosi- onen öffentlicher Religionspraxis im Gefolge Hans Blumenbergs als Umbe- setzungen gedeutet werden25. Sogleich setzt Taylor jene zuvor abgewiesene Verlustgeschichte voraus, um der Drohgebärde lebensweltlicher Verflachung etwas Dringlichkeit einzuhauchen und um zum Schluss im Aufweis der Möglichkeit des Glaubens in einem säkularen Zeitalter ideenpolitische Agitation gegen den Religionsverlust zu betreiben. Während Habermas in der extern-ideenpolitischen Phase im Modus der Warnung vor der Bedro- hung eines instabilen Rechtsstaates verbleibt, gehört Taylor in die involviert- gegenmissionarische Phase, um die Gebietsverluste des Transzendenzbezugs zumindest im Modus der Möglichkeit potenziell zu dementieren.

2. Der Dissens im Dialog: Fünf Exemplare

Es mag deutlich geworden sein, dass das Interesse an den Dynamiken der Säkularisierung bei Habermas und Taylor ganz unterschiedliche Formen annimmt. Diese Differenz lässt sich auf verschiedene Ausrichtungen philoso- phischer Theoriebildung zurückführen, sicher aber auch auf fast gegenläufig ausgeprägte intellektuelle Stimmungen. Am nachhaltigsten wirkt die Diver- genz in der Stellung zur christlichen Tradition: Habermas verpflichtet sich zu genau jener Neutralität, die er dem Rechtsstaat weltanschaulich abverlangt, um jene Äquidistanz ein ums andere Mal zugunsten rechtsstaatlicher Stabi- lisierungsmaßnahmen bewusst zu suspendieren. Taylor hingegen steht von vornherein zu jenen »starken Wertungen«26, die seinen erweiterten Begriff der Säkularisierung informieren. Die hermeneutische Regel der Abtragung oder zumindest Explikation der an den Gegenstand des Verstehens immer schon herangetragenen (Vor-)Urteile wird umfunktioniert, um eben jenes Voreingenommensein zum veritablen Zugang zur Materie zu erklären. Es deutet sich hier ein Dissens an, dem nun anhand von fünf miteinander ver- wobenen Momenten genauer nachzugehen ist.

24 Jacob Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 63.

25 Vgl. Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung [Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Legitimität der Neuzeit (1966)], Frankfurt a.M. 1974, S. 19, 90, 232.

26 Charles Taylor, Self-Interpreting Animals, in: Ders., Philosophical Papers, Bd. 1:

Human Agency and Language, Cambridge 1985, ND 2005, S. 45–76, hier S. 65.

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2.1 Motivationsdefizite des Rechtsstaats

Der Rechtsstaat lebt nach Habermas über seine Verhältnisse, insofern sich die Motivation des autark legitimierten Staates aus Quellen speisen müsse, die über die engen Grenzen des Rechtlichen hinausgingen. Gerade in Zeiten des Terrors und der Gewalt verweist Habermas auf die bleibende Relevanz religiöser Symbolhaushalte für den Staat, aber auch die Gesellschaft, die sich diesen Staat gibt und wählt. Zwar sei die ehemals religiös kodierte Legitimie- rung längst profaniert27, während sich evaluative Aspekte lebensweltlicher Orientierung und biographischer Signifikanz einer derartigen Abtragung entzögen oder zumindest entgegenstellten.

Entsprechend sei es im Eigeninteresse des Verfassungsstaates, mit den kul- turellen und darin auch religiösen Quellen von Normbewusstsein, Gemein- schaftssinn und Solidarität »schonend« umzugehen28. Habermas setzt dem- nach immer schon voraus, dass jene Quellen legitimationsfördernd wirken könnten, obschon es diese Quellen selbst sein mögen, die unter einem zuneh- menden Anerkennungs- und Begründungsdefizit leiden. Die gesellschaftlich wie politisch weitaus realistischere Inversion der genannten Böckenförde- Doktrin findet bei Habermas daher keine Erwähnung; es könnte doch sein, dass die Religion langfristig auf Mentalitäten angewiesen ist, die sie nicht aus eigenen Ressourcen erzeugen kann29. Für Habermas hingegen zeichnet sich die post-säkulare Gesellschaft gerade dadurch aus, sich auch in ihren dezi- diert säkularisierten Elementen »einen Sinn für die Artikulationskraft religi- öser Sprachen« zu bewahren30. Oder noch etwas emphatischer ausgedrückt:

»(D)ie profane, aber nicht-defätistische Vernunft (hat) zu viel Respekt vor dem Glutkern, der sich an der Frage der Theodizee immer wieder entzündet, als dass sie der Religion zu nahe treten würde«31.

27 Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. Laudatio: Jan Philipp Reemtsma, Frankfurt a.M. 2001, S. 12; dazu auch Nicholas Adams, Habermas and Theology, Cambridge 2006, Kap. 1: Religion in Public und Kap. 4: Sacred and Profane.

28 Ders., Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?, in: Ders. / Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Frei- burg u.a. 2005, S. 15–37, hier S. 33.

29 Dazu Hans-Joachim Höhn, Gewinnwarnung. Religion  – nach ihrer Wiederkehr, Paderborn 2015, S. 70. – Eben diese Lage zwischen Legitimationsdefizit und Hand- lungsnotwendigkeit nennt Hans Blumenberg die »rhetorische Situation«, sodass nun das Verhältnis Religion / Politik bzw. Religion / Rhetorik neu zu bedenken wäre; dazu Markus Buntfuss, »Modere Religion« als Antwort auf die »rhetorische Situation«

des neuzeitlichen Christentums, in: Philipp Stoellger (Hg.), Rhetorik und Reli- gion, Berlin u.a. 2015, S. 143–153.

30 Habermas, Glauben und Wissen, S. 13.

31 Ebd., S. 15.

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Der gegen dieses irenische Bild gerichtete Einwand einer Indienstnahme der Religion für die motivationalen Abgründe des Rechtsstaates ist bereits angesprochen worden. Dabei verweist Habermas gegen Kritiker wie Chris- tian Danz mit gewissem Recht darauf, dass seine Verhältnisbestimmung von Staat und religiöser Tradition den intrinsischen Wert der Religion überhaupt nicht ausschließe32. Doch scheint die hier implizit mitlaufende politische Theologie auf ein Friedensangebot an die etwas erlahmte Religion Zentral- europas hinauszulaufen, die die Kirchen als institutionelle Vertreter jener Religion kaum werden annehmen können oder wollen. Selbst Theologen liberaler Tradition werden die »gegenpolitischen« Tendenzen der Kirche zur politischen Agenda des Staates verteidigen, zumal Religion zur Kultur auch im Modus der religiösen Kritik der Kultur gehört33.

Insofern müssten Habermas’ Hoffnungen auf religiöse Stabilisierungs- dienste zugunsten eines verlässlichen Staatsgebildes nicht nur gedämpft, sondern gerade mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert werden:

So sehr die christliche Religion eine der Nächsten- und Fernstenliebe sein mag, ist damit noch nicht ausgemacht, ob die rechtstaatliche Solidarität wirklich gestärkt würde, wenn sich etwa ein christlich motivierter Pazifis- mus in friedensethische Debatten einschaltete. Gerade dieses (gegen-) poli- tisch ganz ernstzunehmende Engagement könnte es sein, das die säkulare Kritik des Staates erweitert, sodass die Religion mit jener »Obrigkeit« nun keinesfalls »schonend« umgehen wird34. Mit Charles Taylor ließe sich in Umkehrung der Habermas’schen Prämissen gar vermuten, ein Rechtsstaat, der tatsächlich Respekt vor dem religiösen »Glutkern« zeige, setze genau jene innere Stabilität für den Konflikt mit der Religion voraus, den sich der Staat gerade von der »Artikulationskraft« der Religion zu erhalten erhoffte35.

Unter Habermas’ Parametern läge eine Privatisierungsdoktrin, die die sonst öffentlich beunruhigende Religion domestizierte, viel näher, wenn die Sta- bilitätsrate des Rechtsstaates ein bestimmtes Maß unterschreitet. Also: Die

32 So ders., Ein Symposion über Glauben und Wissen. Replik auf Einwände, Reaktion auf Anregungen, in: Ders., Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, S. 183–237, hier S. 187.

33 Vgl. Dierken, Religion am Ende – am Ende (doch) Religion?, S. 41f. – Für einen stärkeren Begriff des Gegenpolitischen siehe Stanley Hauerwas, The Reality of the Church. Even a Democratic State is not the Kingdom, in: Ders., Against the Nations.

War and Survival in a Liberal Society, Minneapolis, MN u.a. 1984, S. 122–131; ders., With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids, MI 2001, Kap. 4 und 5.

34 Dazu Hartmut von Sass, Politik des Pazifismus. Eine theologische Verteidigung, in:

ZEE 60/1 (2016), S. 41–47.

35 Vgl. Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: Ders., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a.M. 2009, S. 11–66, bes. S. 41–49.

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Religion als Inbegriff ihrer konfessionellen Pluralität wird den Staat viel eher irritieren, als sich für die Lieferung sonst fehlender Motivationsreserven ein- spannen zu lassen.

2.2 Übersetzungsleistungen

Eben jene Spannungen auf institutioneller Ebene spiegeln sich auch auf sprachlicher. Es ist wiederum Habermas, der den potenziellen Konflikt zwischen Rechtsstaat und Religion als ein Kollidieren unterschiedlicher Sprachspiele beschreibt. Es entsteht somit das Bild von zwei separaten sets an Artikulationsformen in der Spannung von Eigentümlichkeit und Übertrag- barkeit, von Abkapselung und Anschlussfähigkeit. Dabei erkennt Habermas durchaus die Grenzen simpler Eingemeindung der »semantische(n) Erb- schaft religiöser Überlieferungen«36. Im Gefolge von Kierkegaard (sowie in Opposition zu Schleiermacher) arbeiteten Barth und Bultmann, so Haber- mas, »an der christlichen Glaubensbotschaft das Nicht-Integrierbare heraus, die unversöhnliche Opposition von Glauben und Wissen«37.

Da es keinen Metadiskurs gebe, der jenseits der Alternative zwischen säkularen und religiösen Sprachspielen liege, sei eine Übersetzung in eine Richtung vonnöten – und zwar in die säkularen und als solche für alle ver- ständlichen Diskurse. Es sei eine Suche nach der »rettende(n) Formulierung«

notwendig, damit jene »Erbschaft« erfolgreich angetreten werden könne.

Schließlich vollziehe sich eine Säkularisierung, die nicht vernichte, »im Modus der Übersetzung«38.

Zwar unterstreicht Habermas zuweilen den komplementär-gegenseitigen Lernprozess, sodass sowohl die Aufklärungstradition als auch der religiöse Lehrbetrieb zur Reflexion anzutreten hätten39. Doch diese Komplementa- rität besteht nicht in dem Versuch, die Sprachspiele gegebenenfalls in beide Richtungen zu übertragen, sondern in der Verteilung der Übersetzungslas- ten auf beide Seiten der Trennlinie, die zwischen säkularen und religiösen

36 Jürgen Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen. Zur Wirkungs- geschichte und aktuellen Bedeutung von Kants Religionsphilosophie, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, S. 216–257, hier S. 218.

37 Ebd., S. 246.

38 Ders., Glauben und Wissen, S. 15; dazu Christiane Tietz, Habermas’s Call for Trans- lating Religion into Secular Language, in: Michael P. DeJonge / Christiane Tietz (Hg.), Translating Religion. What is Lost and Gained?, New York u.a. 2015, S. 104–

122, bes. S. 115–117; Stephan Jütte, Analogie statt Übersetzung. Eine theologische Selbstreflexion auf den inneren Zusammenhang von Glaubensgrund, Glaubens- inhalt und Glaubensweise in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Tübingen 2016, Abschnitt 5.2.

39 Vgl. Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?, S. 17.

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Artikulationen verläuft. Allerdings ist auch dies bei Habermas so eindeutig nicht. Manches Mal klingt es so, dass allein die religiösen Bürger sich zu bemühen hätten, den Standards des säkularen Diskurses zu genügen, so sie sich in den »Diskurs der Moderne« tatkräftig einbringen wollen. Die kogni- tive Dissonanz als Bewohner zweier Staaten – civitas Dei et civitas terrena – zu verarbeiten, bedeutete dann, Übersetzungsarbeiten in der Hoffnung zu voll- bringen, die zuvor beschworenen semantischen Sinnressourcen tatsächlich in der Übersetzung retten zu können. Dann aber klingt es etwas versöhnli- cher, wenn Habermas jene Lasten auf potenziell alle Diskursteilnehmer ver- teilt. Der liberale Staat kann sogar von Ungläubigen erwarten, so Habermas weiter, dass sie eigene Anstrengungen unternehmen, um religiöse Gehalte in eine säkular zugängliche Sprache zu übertragen40. Und dann wiederum fin- den sich bei Habermas Einlassungen, in denen die Übersetzungsforderung ganz aufgegeben zu sein scheint, sodass auch genuin religiöse Gründe den

»zwanglosen Zwang des besseren Arguments« stiften könnten: Nicht immer werde übersetzt und nicht immer sei die Nichtübersetzung mit Unverständ- lichkeit gleichzusetzen41.

Abgesehen von diesem dritten, gleichsam pragmatisch entkräfteten Fall und abgesehen von der unentschiedenen Frage, wer die Subjekte des Über- setzens zu sein haben, bleibt das Problem, wie die »Erfahrung der säkulari- sierenden Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale«42 produk- tiv eingebracht werden könnte. An welche »rettenden Übersetzungen« denkt Habermas und wo sieht er sie erfüllt? Es ist nicht so, dass Habermas keine Beispiele gäbe; hier ist eins: »Mit seinem Begriff der Autonomie zerstört er [Kant, H. von Sass] zwar die traditionelle Vorstellung der Gotteskindschaft.

Aber den banalen Folgen einer entleerenden Deflationierung kommt er durch eine kritische Anverwandlung des religiösen Gehaltes zuvor«43.

Doch auch hier drängt sich der Verdacht auf, Habermas’ Beschreibung der Lage spiele die Tiefe des »garstig breiten Grabens« zwischen säkularen und religiösen Äußerungen herunter. Schon diese simple Entgegensetzung ist unglücklich, zumal sich beide Seiten noch einmal in unterschiedliche

»Dialekte« aufsplittern. Dann aber muss auch der faktische Primat, den der säkulare Diskurs genießt, problematisch erscheinen, weil in Zeiten seiner Pluralisierung das Vokabular, in welches übersetzt werden müsste, selbst zur Disposition steht44. Setzen wir jedoch einmal voraus, dass Her-

40 So ebd., S. 26; ders., Religion in der Öffentlichkeit, S. 136–138.

41 Vgl. ebd., S. 133f. und 136.

42 Ders., Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats?, S. 32.

43 Ders., Glauben und Wissen, S. 13.

44 Ein Teil der Debatte gehört einem Dialog zwischen Habermas und Joseph Ratzinger an, in welchem letzterer auf jene Pluralität des Sprachlichen und damit Rationa- len aufmerksam macht  – ohne (zumindest hier) auf die katholisch naheliegende

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kunfts- und Zielsprache eindeutig wären, ist immer noch zu diskutieren, ob nicht die gesamte Idee der »rettenden Übersetzung« von einer sprach- philosophischen Konfusion lebt. Schon das von Habermas selbst gegebene Beispiel, nach dem die »Gotteskindschaft« in das Sprachspiel der »Autono- mie« geglückt übertragen sei, belegt eher das Gegenteil des Behaupteten;

denn es illustriert gerade treffend – so wäre wiederum mit Taylor einzu- wenden45 – das Scheitern der vermeintlichen Rettung jener semantischen Potenziale am metaphorischen Mehrwert religiöser Artikulation. Also: Um die Eigenheit religiöser Sprachspiele wirklich wertzuschätzen, ist deren partielle Unübersetzbarkeit gerade anzuerkennen; nicht der Text dürfte an einem ihm externen Standard gemessen werden, um diskursiv akzeptabel zu sein, sondern für ein wirkliches Verstehen wäre die umgekehrte Rich- tung einzuschlagen, um sich mit der internen Grammatik der Texte ver- traut zu machen.

2.3 »Subtilere« Sprachen

Die konservativ-pessimistische Klage über den Verlust einer moralisch tref- fenden, in ihrer Tiefe und ihrem Reichtum wirklich signifikanten Sprache findet sich zumeist gar nicht bei liberalen Diskursethikern. Viel häufiger trifft man sie auf einer der Gegenseiten an, nämlich bei kommunitaristi- schen Tugendethikern wie Alasdair McIntyre, der meint, die Sprache der Moral befinde sich gegenwärtig in einem »state of grave disorder«46. Aus die- ser Unordnung folgen dann kritische Einlassungen gegen zahlreiche Ismen wie Individualismus, Pragmatismus und Naturalismus, denen entsprechend sprachkreativ oder in Rückbesinnung auf das Erlernen der »alten Sprache«

zu begegnen wäre. Dabei wird allerdings häufig übergangen, dass die Zeit

Gegenposition zu verfallen, nach der die Religion über jene im Rationalen vergeb- lich gesuchte Einheit verfüge; siehe Joseph Ratzinger, Was die Welt zusammen- hält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: Haber- mas / ders., Dialektik der Säkularisierung, S. 39–60, bes. S. 55. – Dass der Debatte eine ebenso unglückliche Entgegensetzung von »Vernunft« und »Religion« zugrunde liegt, ist in jenem Kontext vielleicht sogar unvermeidbar; zum Problem siehe Herbert Schnädelbach, In der Höhle des Löwen. Zur Diskussion zwischen Jürgen Haber- mas und Kardinal Ratzinger. Ein Nachtrag, in: Ders., Religion in der modernen Welt, Frankfurt a.M. 2009, S. 147–152; Ingolf U. Dalferth, Glaube oder Vernunft? Kritik einer Konfusion, in: Ders., Transzendenz und säkulare Welt. Lebensorientierung an letzter Gegenwart, Tübingen 2015, S. 129–177.

45 Dazu Charles Taylor, Heidegger on Language, in: Hubert L. Dreyfus / Mark A.

Wrathall (Hg.), A Companion to Heidegger, Oxford 2008, S. 433–455, hier S. 441f.

46 Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 21984, S. 2; ähnlich: Elizabeth Anscombe, Modern Moral Philosophy, in: Philosophy 33/1 (1958), S. 1–19.

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der Heraufkunft genau jener Ismen religionssemantisch eine »pluralistische Sprachrevolution«47 im ausgehenden 19.  Jahrhundert gewesen ist, in der ins besondere der »Sprachgeist«48 Schleiermachers nachwirken konnte. Mit Blick auf unser Thema wäre es demnach verfrüht bis verfehlt, Säkularisie- rungsprozesse mit Spracherosionen gleichzusetzen. Im Gegenteil scheint es so zu sein, dass die in Zeiten der Industrialisierung etwa in England und Deutschland einsetzende Entkirchlichung eine Suche nach neuen Artiku- lationsformen freisetzte, deren Intensität jedoch zugleich die Dringlichkeit dieses Projekts bezeugte.

Doch Habermas und mehr noch Taylor erzählen die Geschichte ganz anders. Für sie zeichnet sich in der Tat ein Konnex zwischen Säkularisie- rungsschüben und Spracheinbußen ab, wobei nicht immer klar ist, was als Ursache und was als Wirkung fungiert. Gegen rein prozedurale Ethiken (wie bei Richard Dworkin) macht Taylor geltend, dass wir uns einen »Sinn für das, was gut, heilig, bewundernswert ist«49, zu erhalten haben. Und da jede Erfahrung ein Vokabular voraussetze, schrumpfe das Erfahrene und damit zugleich der orientierende Sinn fürs Gute, Heilige und Bewundernswerte, wenn es zu semantischen Verlusten komme. Hier bedient sich Taylor eines sprachidealistischen Arguments, in welchem Sprache nicht nur Ausdruck bleibt, auch nicht nur als quasi transzendentale Ermöglichung von Erfahrun- gen fungiert, sondern auf diese Erfahrung gar ursächlich wirken könnte50.

Neben dieser intellektualisierenden Analyse bietet Taylor eine histori- sche Symptomerkundung, die jene semantische Verlustgeschichte bebildern und darin erhärten soll. Bereits in seinem Buch Quellen des Selbst verfolgte Taylor das Schwinden der »subtileren Sprachen« der Romantik, die heute an Resonanz und Kraft eingebüßt hätten und einem instrumentellen Sinn der Sprache hätten weichen müssen51. Die daraus gefolgerte Verflachung und Reduktion unserer Lebensvollzüge gießt Taylor dann in ein umfassendes

47 Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 32007, S. 171; vgl. ferner: ders., Kirchendämmerung. Wie die Kir- chen unser Vertrauen verspielen, München 32013, Kap. 1: Erste Untugend: Sprach- losigkeit.

48 Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S.  132  – Vielleicht hatte Blumenberg dabei an folgende Passage gedacht: »Das Christenthum hat Sprache gemacht. Es ist ein potenzirender Sprachgeist von Anfang an gewesen und noch«:

Friedrich D.E. Schleiermacher, Hermeneutik. Neu nach den Handschriften hg.

und eingel. von Heinz Kimmerle, Heidelberg 21974, S. 38.

49 Taylor, Die Politik der Anerkennung, S. 59.

50 Vgl. ders., Lichtung or Lebensform. Parallels between Heidegger and Wittgenstein, in: Ders., Philosophical Arguments, Cambridge u.a., S. 61–78; ders., Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Aus dem Englischen von Karin Wördemann, Frank- furt a.M. 2002, S. 30f.

51 Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identi- tät. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt a.M. 1996, Kap. 23; ders.,

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Narrativ, das sich seinerseits in (ungefähr) fünf Kapitel teilen lässt: Es beginnt mit den frühneuzeitlichen Verinnerlichungsschüben, die schließlich in eine

»Apotheose des modernen Subjekts« mündeten und einen gesellschaftlich katastrophalen Individualismus begründeten. Für diesen verantwortlich seien vor allem Luther, Descartes und Rousseau52. Aus diesem Bild sub- jektivistischer Ich-AG’s ergebe sich ein »Providenzieller Deismus«, der den anthropozentrischen Wandel in einer unpersönlichen Ordnung der Welt spiegele53. Die unvermeidliche Folge bestehe darin, dass der Sinn für jen- seitige Ziele verkümmere, um sie so sehr herunter zu drosseln, dass man für die Erreichung der Vorhaben keine divine Hilfe mehr benötige: Gnade wird entbehrlich54. Über die Zwischenstufen eines ausgrenzenden Humanis- mus mit Blick auf den Menschen55 und eines exklusiven Naturalismus mit Blick auf die Umwelt56 gelangt Taylor schließlich zu dem, was er »immanent frame« nennt. Während wir zunächst als »poröse Selbste« existierten, die die Osmose zwischen Lebenswelt und Jenseits zuließen, glichen wir nun »abge- pufferten Monaden«, die in einem moralischen und epistemischen Kokon dahinsiechen. Irritationen von außen seien da nicht nur unerwünscht, son- dern verunmöglicht. Doch das irgendwie sich bewahrende Bedürfnis nach

»mehr« breche sich irgendwann Bahn, sodass Taylor bereits im Präteri- tum feststellt: »Es verband das Gefühl, der immanente Rahmen sei einen- gend, ja erdrückend und lasse etwas Lebenswichtiges unberücksichtigt, mit dem rückwärtsgewandten Blick auf die tiefen Wurzeln der Kultur und der Ordnung«57.

Bei aller Sympathie für Taylors Sprachidealismus und bei aller Bewun- derung für seine Geduld, narrativ weit auszuholen, muss sich Widerstand gegen diese nostalgischen Anwandlungen regen. Ähnlich wie Rodney Starks Einwand gegen klassische Säkularisierungsprozesse, der darauf beruht,

Ein säkulares Zeitalter, S. 1252; »Subtilere Sprachen« ist eine Wendung, die auf den englischen Schriftsteller Percy Shelley zurückgeht, der allerdings – und das will zu Taylors Sicht nicht ganz passen – ein strenger Verfechter des Atheismus gewesen war.

52 Siehe Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 363 und 1213.

53 Dazu ebd., Kap. 6.

54 So ebd., S. 418f.

55 Vgl. ähnliche Kritiken bei Alain Badiou, Nachwort: Das gemeinsame Verschwinden von Mensch und Gott, in: Ders., Das Jahrhundert. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, Berlin u.a. 22010, S. 203–219; Ulrich H.J. Körtner, Wiederkehr der Religion?

Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gütersloh 2006, S. 172.

56 Dazu auch Jürgen Habermas, der meint: »Der Fluchtpunkt dieser Naturalisie- rung des Geistes ist ein wissenschaftliches Bild vom Menschen in der extensionalen Begrifflichkeit von Physik, Neurophysiologie oder Evolutionstheorie, das auch unser Selbstverständnis vollständig entsozialisiert« (Glauben und Wissen, S. 11).

57 Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S.  1215; zu den Wendungen des »porösen« und

»abgepufferten« Selbst siehe ebd., bes. S. 72.

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dass mit dem Mythos vom wahrhaft christianisierten Abendland Schluss gemacht wird, um auch die Säkularisierung als Abtragung einstiger Ideale zu verabschieden58, könnte man Taylors Voraussetzung anzweifeln, dass der

»immanente Rahmen« die Konklusion aus Sprachverlusten bilde. Weder ist einzusehen, warum uns die Zeit um 1500 semantisch überlegen gewesen sei, noch ist zu erkennen, dass jener Sprachverlust mit klassischen Säkularisie- rungseffekten Hand in Hand gehe. Taylor begeht hier denselben Kurzschluss, den er strukturell an der Säkularisierung 1 und 2 bemängelte. Also: Das alte Bild einer korrelativen oder kausalen Relation zwischen Moderne und Säkularisierung wird ersetzt durch modernen Sprachverlust, der erodierend auf das sonst porös-offene Ich wirke. Selbst wenn man Taylors Skizze der lebensweltlichen Immanentisierung zustimmt, könnte sie auf ganz andere als semantische Einbußen zurückgehen, auf Gründe, die Taylor selbst mit der Resonanzlosigkeit religiöser Bilder – Ursünde, Sühnetod, leibliche Auf- erstehung – zumindest gestreift hat.

2.4 Was fehlt: Zum Diskurs über Leerstellen

Taylors Litanei über die zu (er)tragenden Einbußen existentieller Artiku- lation hat prominente Vorgänger, aber auch zahlreiche Ableger in gegen- wärtigen Diskursen. Diese haben sich mittlerweile zu einem eigenen Genre verdichtet: dem Genre der Intimbekenntnisse im Blick auf das, was einem selbst noch im Nicht-Glauben fehle  – Fehlermeldungen eben. Hölderlins

»Fehl Gottes« wird entsprechend dankbar oder reserviert aufgenommen, um genauer zu verorten, wo man als Atheist oder angefochten Glaubender heute eigentlich steht. So hält Herbert Schnädelbach fest, »fromme Atheis- ten« leisteten sich gerade keine Verachtung der Religion, sondern bewahrten sich einen Sinn für das, was fehlt59. Martin Walsers Erkundungen zur Ins- titution der Rechtfertigung im Kontrast zum bloßen Rechthaben gehen in eine ähnliche Richtung. Nach Walser leugne der etwas altmodische Atheist zwar Gott, bleibe aber ahnungslos, wenn er nicht sofort dazu sage, dass der gerade geleugnete Gott fehle, um dem Einzelnen als ein bleibender Mangel gegenwärtig zu sein60. Allerdings leidet die Gegenseite keineswegs an nur

58 Dazu Stark, Secularization, R.I.P., bes. S. 254.

59 So Herbert Schnädelbach, Der fromme Atheist, in: Ders., Religion in der moder- nen Welt, S. 78–85, hier S. 85.

60 So Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012, S.  33; dazu Ulrich H.J. Körtner, Über den Fehl Gottes im Gespräch mit Martin Walser, in: Ders., Gottesglaube und Religionskritik, Leipzig 2014, S. 43–64;

Hartmut von Sass, Fehlermeldung. Über Martin Walsers Versuchungen, in: HBl 1/2 (2014), S. 127–138 (zu » ›Umgang mit Unsäglichem‹. Martin Walser und die Rechtfer- tigungsfrage«).

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vakanten Positionen, etwa wenn der Mainzer Philosoph Kurt Flasch – analog zu Thomas Nagels Erkundungen »what is it like to be a bat« – bekundet, »wie es sich anfühlt, kein Christ zu sein«61.

Habermas’ und Taylors Beiträge zur Säkularisierung gehören in weiten Teilen genau dieser Fehlermeldungsgattung an. So lesen wir beim späten Habermas:

Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt. Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach. Sie bewahren die Dimensionen unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen. Warum sollten sie nicht immer noch verschlüsselte semantische Potentiale enthalten, die, wenn sie nur in begründende Rede verwandelt und ihres profanen Wahrheitsgehaltes entbunden würden, eine inspirierende Kraft entfalten können?62

Habermas bestimmt hier gerade nicht das Wegbrechen religiöser Bestände als Grund der Leere, sondern sieht diese Traditionen als verbleibende Arti- kulationen genau dessen, was fehlt. Dabei nennt er konkrete dogmatische und lebensweltliche Exemplare dieser prekären Dimension: Der Verlust des Auferstehungsglaubens hinterlasse eine »spürbare Leere«63; oder aus Zürich und der Beisetzung Max Frischs 1991 zurückkehrend dokumentiert Haber- mas die Hilflosigkeit der Moderne, ein angemessenes Äquivalent für die Bewältigung des unversöhnlichen Endes zu finden64. Taylor stimmt zu und steigert den Befund:

Wer für das geordnete, unpersönliche Universum optiert  – sei’s in seiner wissen- schaftlich-materialistischen Form oder in einer eher spiritualisierten Spielart –, spürt den drohenden Verlust einer Welt der Schönheit, des Sinns, der Wärme und der Per- spektive einer über das Alltägliche hinausgehenden Selbsttransformation65.

Die Welt, die nun durch die fünf oben skizzierten Stadien – Subjektivismus, Deismus, Humanismus, Naturalismus, Immanentisierung – hindurchgegan- gen sei – also unsere Welt –, lasse uns im »tiefempfundene(n) Verlust« und demnach in ihrer eigenen Verflachung, »Selbstverkleinerung«, Sinnlosigkeit,

61 Vgl. Kurt Flasch, Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2013, Kap. 9; siehe ferner Thomas Nagel, What is it Like to Be a Bat?, in: PhRev 83/4 (1974), S. 435–450.

62 Habermas, Einleitung, in: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, S. 13.

63 Ders., Glauben und Wissen, S. 13.

64 Vgl. ders., Ein Bewusstsein von dem, was fehlt.

65 Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 987.

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Fragilisierung, einer nagenden Unzufriedenheit am Transzendenzverlust und den rasch sich revidierenden Utopien zurück66. Zwar schränkt Taylor sofort ein, dass jenes »Unbehagen an der Immanenz« keineswegs nahelege, sich nach dieser proto-apokalyptischen Bestandsaufnahme zu den Fleisch- töpfen Ägyptens zurückzubegeben  – aber diese Bekundung bleibt reine Makulatur67. Denn genau das hat Taylor im Sinn, sodass seine Erwägungen zu den Quellen des säkularisierten Selbst das vorsichtige Abwägen immer mehr einbüßt, um der historisch wie argumentativ so ungedeckten wie unvorbereiteten Parteinahme für einen theistisch kodierten Katholizismus Platz zu machen. Doch dieser ist selbst Teil des Problems.

Zuweilen unterlegt Taylor sein Engagement für die Rückgewinnung trans- zendenzbezogener Selbsttransformationen mit einer Doktrin, die man den

»religiösen Energieerhaltungssatz« nennen könnte. Wir kennen diese Lehre von Autoren wie Thomas Luckmann und seinen Überlegungen zur unsicht- baren Religion, die nach der Entkirchlichung des Glaubens in weniger greif- bare Formen entgleite68. Das Potenzial des Religiösen bleibe demnach kon- stant, ihre Erscheinungen aber wechselten. Eine Säkularisierung als Verlust religiöser Bedürfnisse und Orientierungen sei nur eine Konfusion, weil es lediglich Umbesetzungen, aber keine wahrhaften Verluste geben könne.

Taylor könne sich, so bekennt er, nicht vorstellen, dass die »Nachfrage nach Religion« einfach so verschwinde, Menschen verfügten nun einmal über die Vorstellung lebensweltlicher »Fülle«, sodass es einen »absoluten Nullpunkt«

nicht wird geben können. Wie einst für Schleiermacher ausgeschlossen blieb, mit einem radikalen Atheismus zu rechnen, scheint es bisweilen auch für Taylor unmöglich, Säkularisierung als effektive Erosion zuzulassen. Religi- onen bleiben faktisch säkularisierungsresistent, selbst wenn sie, so Taylor, nicht als anthropologische Konstante missverstanden werden sollten69.

Schon bei Habermas, mehr noch bei Taylor ist zuletzt nicht mehr klar, mit welcher Stimme sie sprechen: Ist es die des Philosophen, des Religions- soziologen, des Gegenwartsdiagnostikers – oder eben des religiös Bewegt- Inspirierten? Vor allem bei Taylor zeichnet sich eine Entwicklung ab, die all diese Stimmen zugunsten der letzten integriert. Dass das Schlusskapitel von A Secular Age ein ungedeckter Scheck bleibt, ist oft genug festgestellt wor- den70. Aber es ist eine andere Frage zu stellen, und sie zu stellen, heißt schon,

66 Vgl. ebd., S. 516, 523, 892.

67 Ebd., S. 525.

68 Dazu Thomas Luckmann, The Invisible Religion (1967), dt.: Die unsichtbare Reli- gion. Mit einem Vorwort von Hubert Knoblauch, Frankfurt a.M. 1991.

69 Vgl. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 726 und 1273 bzw. 887, Anm. 48.

70 Etwa Tobias Braune-Krickau, Charles Taylors religionsphilosophische Rehabilitie- rung der christlichen Religion in »Ein Säkulares Zeitalter«, in: NZSTh 53/4 (2011), S. 357–373, hier S. 360.

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sie beantwortet zu haben: Können und möchten wir uns gerade im Blick auf Fragen von Sinn und Orientierung zu Taylors ambivalenter Narration verste- hen, ist es möglich, sich diese Großerzählung wahrhaft anzueignen, finden wir uns in jenem apokalyptischen Szenario mit seiner eigenen, auch eigen- tümlichen Unversöhnlichkeit wirklich wieder?

2.5 Post-säkular: Drei Lesarten

Wir begeben uns zurück auf solideren Boden, wenn es nun um die Lesart des Post-Säkularen geht, die sich aus Taylors Bestimmung der Säkularisierung 3 ergibt. Sie hebt sich von zwei anderen Ansätzen ab, die im einen Fall tradi- tionell-deskriptiv, im anderen Fall logisch-normativ erscheinen. Das tradi- tionelle Verständnis findet sich bei Habermas. Dabei fungiert das Attribut

»post-säkular« als Bestimmung von Gesellschaften oder Staaten und reagiert auf das Wiedererstarken religiöser Traditionen. Demnach gelte, dass eine postsäkulare Gesellschaft eine solche sei, »die sich auf das Fortbestehen der Religion in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt«71.

»Post-säkular« reflektiert demnach unter klassisch säkularisierungstheoreti- schen Prämissen noch unverständliche Gegenbewegungen, die zugleich mit einem tief ins Gesellschaftlich-Politische hineinwirkenden Mentalitätswan- del einhergehen. Der Term »post-säkular« ist demnach eine Abbreviatur der Kritik der herkömmlichen Säkularisierungstheorie. Während sich nun der Staat »lernbereit« gegenüber vormals verabschiedeten Sinnressourcen zeige, müsse das religiöse Bewusstsein zwar die konfessionelle Pluralität, die Auto- rität der Wissenschaft und die Prämissen des Verfassungsstaates akzeptie- ren, dürfe sich aber auf die Offenheit von Staat und Gesellschaft für seinen politischen Beitrag unbedingt verlassen72.

Ein anders gelagerter Begriff des Post-Säkularen findet sich bei Ingolf Dalferth. Hier spielt die deskriptive Funktion des Begriffs ebenso wenig eine Rolle wie religionssoziologisch greifbare Tendenzen gegenwärtiger »Fröm- migkeit« oder »Spiritualität«. Vielmehr wird der Begriff als Element allein staatlichen  – und also nicht: gesellschaftlichen oder gar persönlichen  – Selbstverständnisses verwendet, um anzuzeigen, dass sich Staaten etwa in ihrer Rechtsprechung und -ordnung weder affirmativ, noch reserviert, sondern gar nicht auf Religion(en) beziehen. Wir lebten noch, so Dalferth,

71 Habermas, Die Grenze zwischen Glauben und Wissen, S. 251.

72 Vgl. ders., Religion und nachmetaphysisches Denken. Eine Replik, in: Ders., Nach- metaphysisches Denken, Bd. 2: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012, S. 120–182, hier S. 121; ferner Hans-Joachim Höhn, Gewinnwarnung, S. 47–54 und 60–70.

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im säkularen Staat, solange die definitorische Referenz auf die Religion selbst noch in Neutralitätsbekundungen fortbestehe. Entsprechend führt Dalferth aus:

Das Bild ändert sich, wenn man den Operator »post« nicht nur auf »säkular«, sondern den ganzen Sinnkontrast von »säkular vs. religiös« bezieht, also nicht nur die Über- windung einer säkularen Moderne meint, sondern die Überwindung einer Moderne, die sich durch Absetzung von einer religiösen Vormoderne als säkular bestimmt hat73.

Wirklich säkular lebten wir erst, wenn gar kein Anlass mehr bestünde, sich genau so zu charakterisieren74. Erst wenn wir uns weder religiös, noch säkular bestimmen und weder nicht-religiös, noch nicht-säkular, um uns zu beschreiben, habe man die säkulare Moderne wirklich verlassen. »Post- säkular« zeigt also die erfolgreiche Verabschiedung des Säkularen an, indem Letzteres »definitiv« nicht mehr Verwendung findet.

Vor diesem doppelten Hintergrund des Post-Säkularen im Sinne der konfliktträchtigen »Rückkehr der Religion«75 bzw. als kritische Anzeige, nach der die Bezugnahme auf die Religion für den Staat obsolet gewor- den ist (oder werden soll?), mag verständlicher werden, wie der Taylor’sche Begriff des Post-Säkularen aussehen müsste, zumal Taylor selbst keinen tragenden Gebrauch des Begriffs macht76, und dies aus nachvollziehbaren Gründen: Wenn ein »säkulares Zeitalter« als ein solches definiert wird, das die Unerschütterlichkeit des Glaubens durch den Nicht-Glauben als

»lebendige Option« untergraben hat, bezeichnete die »post-säkulare« Ära das demgegenüber fortgeschrittene Stadium, in welchem der Glaube gar keine Option, nur noch eine historische Reminiszenz bleibt. Insofern ist es eine gute Nachricht, wenn wir zumindest in einer durch die Säkularität 3 gekennzeichneten Zeit leben, weil sie den Glauben als veritable Möglichkeit sehr wohl kennt. Mit dem Post-Säkularen ist hingegen der Verlust eben die- ser Möglichkeit bezeichnet77.

73 Ingolf U. Dalferth, Religionsfixierte Moderne? Der lange Weg vom säkularen Zeit- alter zur post-säkularen Welt, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 7 (2011), S. 9–30, 25; vgl. ders., Orientieren durch Unterscheiden.

Christlicher Glaube und säkulare Welt, in: Ders., Transzendenz und säkulare Welt.

Lebensorientierung an letzter Gegenwart, Tübingen 2015, S. 1–54.

74 Ders., Religionsfixierte Moderne?, S. 10.

75 Dazu Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der »Kampf der Kulturen«, München 2000, bes. S. 35–58.

76 Zuweilen verwendet Taylor »post-säkular« ähnlich wie es Habermas in der ersten Version tut, als Anzeige wiedererstarkender Religionen; siehe Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 895.

77 Dieses Stadium, in dem auch der Glauben keine Option darstellen, kann Säkularisie- rung 4 genannt werden; so Hans-Martin Barth, Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein, Gütersloh 2013, S. 60f.

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