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Bekennen und Säkularisierung

Im Dokument Säkularisierung und Religion (Seite 166-184)

Zur gesellschaftlichen Verortung der Kirche aus reformierter Sicht

1. Einleitung

Die Schweiz sei »eines der am stärksten säkularisierten Länder Europas«, äußerte kürzlich der Berner Theologe Matthias Zeindler im Rahmen der Reformationsfeierlichkeiten1. Die Bemerkung lässt sich als eine Art Zustandsbericht über den Säkularisierungsdiskurs im schweizerischen Pro­

testantismus lesen, für den drei Merkmale kennzeichnend sind:

1. Die Säkularisierungsthese hat erst sehr spät kirchliche Aufmerksamkeit erhalten. Beispielhaft dafür steht die Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz von 1994, in der der Säkularisierungsbegriff – neben einer ein­

leitenden Bemerkung zur wirtschaftlichen Entwicklung im Nachkriegs­

europa – lediglich an zwei Stellen auftaucht: einerseits im Zusammenhang der Absetzbewegung der Freikirchen und Gemeinschaften gegenüber den säkularistischen und ökumenischen Tendenzen in den Landeskirchen und andererseits in dem Versuch des Zusammenrückens der beiden gro­

ßen Konfessionen als Reaktion auf die fortschreitende Entkirchlichung in den 1960er bis 1980er Jahren2.

2. Die Säkularisierungsthese ist umstritten, nicht weil die Realität ihrer Symptome bezweifelt würde, sondern weil die Meinungen über deren Ursachen und Wirkungen weit auseinandergehen.

3. Eine Diskussion über Phänomene, die typischerweise dem Säkularisie­

rungsparadigma zugerechnet werden, findet zwar inzwischen auch in den Kirchen statt, aber nach wie vor jenseits der Theologie. Säkularisierungs­

zumutungen werden als pragmatische Aufgaben ekklesialer Organisation ernstgenommen, nicht aber als ekklesiologische Herausforderung im Blick auf das kirchliche Selbstver ständnis.

1 Matthias Zeindler, Helvetia semper reformanda. Die Schweiz – ein nach­ und vor­

reformatorisches Land, in: vice­versa 2 (2015), S. 6.

2 Lukas Vischer u.a. (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Frei­

burg u.a. 1994, S. 299, 307f.

Spannend ist das Thema Säkularisierung im schweizerischen Kontext weniger im üblichen Sinne als gesellschaftlicher Phänomenkomplex, der die Kirchen auf dem falschen Fuß erwischt, sondern mehr im Blick auf das eigentümlich kirchliche Desinteresse an einer theologisch­ekklesiologi schen Reflexion.

Zwei Thesen stehen zur Diskussion: 1. Die lange Abwesenheit einer kirchli­

chen Säkularisierungsdebatte ist weder zufällig noch ein theologisches Desi­

derat, vielmehr resultiert sie aus einer von langer Hand vorbereiteten und fest etablierten ekklesiologischen Grundentscheidung im 19. Jahrhundert. Und 2. Die das kirchliche Selbstverständnis des schweizerischen Protestantismus über lange Zeit kennzeichnende Säkularitätsvergessenheit bewirkt eine prag­

matisch motivierte Säkularitätsversessenheit, in deren Folge die Säkularisie­

rungsthese sukzessive den traditionellen Platz der Ekklesiologie okkupiert und deren Funktion übernimmt. Insofern bildet die Ekklesiologie – nicht nur hier, sondern grundsätzlich – den theologischen Lackmustest für die der reformatorischen – und erst recht der reformierten – Theologie gerne attes­

tierte Affinität zu Moderne und Säkularisierung.

Im Folgenden sollen ausgewählte Aspekte kirchlicher Praxis auf ihre theo­

logischen Bezüge, Voraussetzungen und Konsequenzen hin befragt werden.

Der Referenzrahmen »kirchliche Praxis« ist in dem weiten Sinne zu verstehen, wie er traditionell in der spezifisch reformierten Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat als »Königsherrschaft Christi« zum Ausdruck kommt. Zwei Experimentierfelder bieten sich an: einerseits die schweizerisch­reformierte Haltung gegenüber dem kirchlichen Bekenntnis und ihre Auswirkungen auf das kirchliche Selbstverständnis als Volkskirche (im bewussten Gegensatz zur Bekenntniskirche). Und andererseits – aus umgekehrter Perspektive – die expliziten und impliziten Wechselbeziehungen zwischen Staat und Kirche in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen. Unsere Überlegungen schließen an die in den Studien von Campiche et al. begründete Zurückhaltung gegen­

über einer Übertragung der internationalen Säkularisierungsdiskurse auf die Schweiz an3. Allerdings sprechen nicht nur historische, politische und soziologische Faktoren für den Sonderfall Schweiz, sondern auch binnen­

theologische und binnenekklesiologische Argumente, die die soziologische Außensicht teilweise bestätigen und plausibilisieren.

3 Vgl. Alfred Dubach / Roland J. Campiche (Hg.), Jeder ein Sonderfall. Religion in der Schweiz, Basel 1993; Roland J. Campiche, Die zwei Gesichter der Religion. Faszina­

tion und Entzauberung, Zürich 2004.

2. »Sonderfall« Schweiz?

Im Nationalen Forschungsprogramm 58 »Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft« wird Säkularisierung als »die abnehmende Bedeutung der Religion auf gesellschaftlicher und individueller Ebene« bezeichnet4 und bedient sich bekannter Verlustrhetoriken, die bereits Hans Blumenberg als zweifelhaftes juristisches Enteignungsmodell, Thomas Luckmann als Fehlkonstruktion und Charles Taylor als religiöse Subtraktionsgeschichte kritisiert haben5. Je nachdem als Rationalisierungs­, Privatisierungs­, Aus­

differenzierungs­, Deinstitutionalisierungs­, Pluralisierungs­ oder Misch­

variante postuliert, erhält das »master narrative von Niedergang und De­

christianisierung«6 eine normative, negativ besetzte Pointe7. Dabei bleibt wesentlich unklar, was eigentlich auf dem Spiel steht, was also mit den auf der Verlustliste notierten Phänomenen und Beobachtungen kirchlich oder lebensweltlich verloren geht.

Der an der Georgetown­Universität in Washington lehrende Religionsso­

ziologe José Casanova hat immer wieder den Pauschalisierungen und Ent­

kontextualisierungen im Säkularisierungsdiskurs widersprochen. Bekannt ist seine These vom Sonderstatus der westeuropäischen Säkularisierung:

Die drastische Säkularisierung Westeuropas ist vielmehr in globaler Perspektive als Ausnahme erkennbar, für die es nur wenige Parallelen andernorts gibt […]. Der Zusammenbruch der moralischen Autorität und der Plausibilitätsstrukturen einiger

4 NFP 58, Die Religiosität der Christen in der Schweiz und die Bedeutung der Kir­

chen in der heutigen Gesellschaft. Forschungsresultate aus ausgewählten Projekten des Nationalen Forschungsprogramms »Religionsgemeinschaften, Staat und Gesell­

schaft«, Themenheft  IV, November 2011, S.  10, URL:  <http://www.nfp58.ch/files/

downloads/NFP58_Themenheft04_DE.pdf> (25.07.2018).

5 Vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frank­

furt a.M. 62012, S. 1–134; dazu Daniel Weidner, Säkularisierung, in: Robert Buch / Daniel Weidner (Hg.), Blumenberg lesen. Ein Glossar, Berlin 2014, S.  245–259;

Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991, S. 179; Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frank­

furt a.M. 2009, S. 889.

6 Benjamin Ziemann, Säkularisierung, Konfessionalisierung, Organisationsbildung.

Dimensionen der Sozialgeschichte der Religion im langen 19.  Jahrhundert, in:

ASozG 47 (2007), S. 485–508, hier S. 491 im Anschluss an David Nash, Reconnect­

ing Religion with Social and Cultural History. Secularization’s Failure as a Master Narrative, in: Cultural and Social History 1 (2004), S. 302–325.

7 Zur Kritik dieser Verlustgeschichte vgl. die brillante Analyse von Ingolf U.

Dalferth, Religionsfixierte Moderne? Der lange Weg vom säkularen Zeitalter zur post­säkularen Welt, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 7 (2011), S. 9–32.

der europäischen Nationalkirchen ist so außergewöhnlich, dass wir eine bessere Er­

klärung brauchen als den bloßen Verweis auf allgemeine Modernisierungsprozesse8.

Einzigartig sei die Entwicklung in Europa, »weil dort der Säkularismus als eine teleologische Theorie der Religionsentwicklung aus der aufklärerischen Religionskritik hervorging und obsiegte. Diese Religionskritik […] macht aus europäischen Säkularisierungstheorien mehr als Deskriptionen sozialer Prozesse; sie sind vielmehr kritische Genealogien der Religion und norma­

tive Teleologien, für die der Niedergang der Religion das Ziel der Geschichte ist«9. Drei Aspekte stehen im Zentrum:

[1.] die kognitive Kritik der Religion als eines primitiven, prärationalen Weltbilds, das durch den Fortschritt der Wissenschaft und des rationalen Denkens überwunden würde; [2.] die politische Kritik kirchlich verfasster Religion als einer Verschwörung von Herrschenden und Priestern um das Volk unwissend und unterdrückt zu hal­

ten, was durch den Fortschritt der Volkssouveränität und demokratische Freiheiten überwunden würde; [und 3.] die humanistische Kritik an der Idee von Gott selbst als einer menschlichen Selbstentfremdung und als einer selbstverleugnenden Projektion menschlicher Wünsche und Absichten auf eine jenseitige Welt10.

Die drei Kritiken gelten in unterschiedlichen Ausprägungen für alle sozia­

len Bewegungen und politischen Parteien in Europa, aber auch für die diese Phänomene reflektierenden Säkularisierungstheorien selbst. »Die Annahme, dass eine Gesellschaft desto areligiöser werde, je moderner sie sei, wurde in Europa zu einer Selbstverständlichkeit  – in der Religionssoziologie, aber auch bei der Bevölkerung«11. Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Institutionalisierung der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa trat verstär­

kend hinzu, »insofern diese eine Übertragung der kollektiven Identifikation von der imaginären Gemeinschaft der Nationalkirche oder der Konfession auf die imaginäre Gemeinschaft des Nationalstaats zur Folge hatte«12. Die modernen wohlfahrtsstaatlichen Regimes adoptieren also die kommunitä­

ren, sozialkohäsiven Impulse und Funktionen von den christlichen Kirchen und ihren Institutionen.

8 José Casanova, Die religiöse Lage in Europa, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt  a.M. 22007, S.  322–357, hier S. 333; vgl. ders., Beyond European and American Expertionalisms. Towards a Global Perspective, in: Grace Davie u.a. (Hg.), Predicting Religion, Aldershot 2003, S. 17–29; ders., Public Religions in the Modern World, Chicago, IL u.a. 1994.

9 Casanova, Die religiöse Lage, S. 337.

10 Ebd., S. 338.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 338f.

Weniger bekannt ist, dass Casanova darüber hinaus der Schweiz eine gewisse Sonderstellung in Europa einräumt:

Im allgemeinen sind […] katholische Länder stärker religiös als protestantische oder gemischte Länder (wie Westdeutschland und die Niederlande), obwohl die Schweiz (ein gemischtes und traditionell ähnlich wie Holland »versäultes« Land) am oberen Ende der europäischen Religionsskala zu platzieren ist, mit Raten, die – was Glau­

benseinstellungen betrifft – denen des katholischen Österreich und Spaniens ähneln und – was Kirchenbesuch und Konfessionsbindung angeht – Polen und Irland nahe­

kommen. […] Was die Schweiz betrifft, haben die kantonale Struktur und in gewissem Masse die Neutralität und provinzielle Isolation vom übrigen Europa die schweizeri­

schen Kirchen vor ähnlichen säkularisierenden Folgen bewahrt13.

Die These von der relativ stabilen Kirchenbindung – bei der Casanova auf statistische Daten aus den 1990er Jahren zurückgreift – ist von der Realität längst überholt. Die zweite These vom Einfluss der politischen Strukturen der Schweiz – die der Religionssoziologe allerdings nicht weiter ausführt – verdient dagegen eine vertiefte Betrachtung, denn sie hat einige gewichtige Beobachtungen auf ihrer Seite.

1. Auf protestantischer Seite hat es im strengen Sinne niemals eine natio­

nale Schweizer Kirche gegeben. Reformierte Kirchen begegnen angesichts ihrer kantonalen Organisation stets im Plural. Entsprechend vielfältig und differenziert fallen auch die Wahrnehmungen von Säkularisierungs­

phänomenen aus.

2. Die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung setzte in der Schweiz verzögert ein und war kaum durch das staatliche Interesse motiviert, sich der Loyalität der Arbeiterschaft zu versichern. Die sozialkohäsive Funktion staatlicher Sozialpolitik war weniger stark ausgeprägt und Sozialdemokratie und Gewerkschaften waren weder »aktive Säkularisierungsagenten« (Benja­

min Ziemann) noch eine »alternative culture« (Vernon L. Lidtke) wie im deutschen Kaiserreich14.

13 Ebd., S. 323, 339. Der Autor bezieht sich dabei auf empirische Befunde von Andrew M. Greely, Religion in Europe at the End of the Second Millenium, New Brunswick, NJ 2003, der auf Daten der European Values Studies von 1981, 1990 und 1995 sowie des International Social Survey Program von 1991 und 1998 zurückgreift.

14 Das gilt auch für Leonhard Ragaz und die religiösen Sozialisten oder Karl Barth während seiner Safenwiler Zeit; vgl. dazu einführend und mit einschlägigen Lite­

raturhinweisen Robert Barth, Leonhard Ragaz (1868–1945), in: Wolfgang Liene­

mann / Frank Mathwig (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, S. 9–31 und Wolfgang Lienemann, Karl Barth (1886–1968), in: Ebd., S. 33–56.

3. Die politische Kritik an einer machtpolitischen Kollaboration von Staat und Kirche spielt in der reformierten Schweiz – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Die Staat­Kirchen­Verhältnisse – und auch hier muss im Plural gesprochen werden – weisen bis heute eine erstaunliche Vielfalt, Uneinheitlichkeit und bisweilen Uneindeutigkeit auf. Die von Ulrich Barth aus lutherischer Sicht vertretene These, dass Demokratisie­

rung als »säkularisierungsverstärkende[r] Modernisierungsfaktor« auf die Kirchen einwirkt, geht von einer Differenz zwischen der Organisations­

struktur staatlicher und kirchlicher Ordnungen aus, die für die reformier­

ten Kirchen grundsätzlich nicht zutrifft15. Aus historischer Sicht muss das Bedingungsverhältnis zwischen Kirchen und Staat für die reformierte Schweiz vielmehr umgekehrt werden.

4. Hinzu tritt ein in Kirche und Gesellschaft nach wie vor etabliertes Volks­

kirchenverständnis, dem spezifische Brechungen bei der Wahrnehmung, Zuordnung und Beurteilung von Säkularisierungs­ und Modernisie­

rungsphänomenen korrespondieren.

5. Die humanistische, epistemisch motivierte Kritik wurde keineswegs nur von außen an die Kirchen herangetragen, sondern bildet einen integralen Aspekt ihrer eigenen theologischen und politischen Entwicklungen. Sie gehört – um einen Begriff Casanovas aufzunehmen – zur »Genealogie«

reformierter Kirchen und ihrer Selbstverständnisse.

6. Durch die kirchliche Absorbierung von Säkularisierungsimpulsen konn­

ten deren kirchenkritische Tendenzen teilweise neutralisiert oder positiv integriert werden. Die Kirchen selbst  – genauer: bestimmte kirchliche Strömungen und Selbstverständnisse  – können als Trägerinnen gesell­

schaftlicher Säkularisierungsdynamiken auftreten. Paradigmatisch dafür steht der sogenannte Apostolikumstreit im 19. Jahrhundert, der, von der Zürcher Kirche ausgehend, die gesamte protestantische Schweiz erfasst und diese bis heute prägt.

7. Schließlich korrespondiert das reformierte Modell der »Königsherrschaft Christi« mit Casanovas Kritik an der – von John Rawls und Jürgen Haber­

mas prominent vertretenen – Bipolarität von Öffentlichkeit und Privat­

sphäre. Im Anschluss an Alfred Stepan unterscheidet der Religionsso­

ziologe drei Bereiche, »Arenen« bzw. »Level« von Öffentlichkeit16: »it is conceptually and politically useful to distinguish three important arenas of the polity: civil society, political society, and the state. Obviously, in any given polity these three arenas expand and shrink at different rates,

15 Vgl. Ulrich Barth, Säkularisierung. I. Systematisch­theologisch, in: TRE 29 (1998), S. 603–634, hier S. 624, 629.

16 Vgl. Melanie Zurlinden, Religionsgemeinschaften in der direkten Demokratie.

Handlungsräume religiöser Minderheiten in der Schweiz, Wiesbaden 2015, S.  14, Fn. 14.

interpenetrate or even dominate each other, and constantly change«17. Das reformierte Kirche­Staat­Verständnis bietet eine Alternative zur Kontrast­

folie der katholischen Civitates­ und lutherischen Zwei­Reiche­ respektive Zwei­Regimenter­Lehre, die Anschlussmöglichkeiten an Casanovas tria­

disches Verständnis von staatlicher, politischer und zivilgesellschaftlicher Sphäre bereithält18.

3. Säkularisierung aus kirchlich­theologischer Sicht

Aus binnenkirchlicher Sicht rücken von den genannten Punkten die säku­

larisierungsaffine Theologie, die sich in einem für gesellschaftliche Dyna­

miken aufgeschlossenen Volkskirchenverständnis widerspiegelt, und die Vorstellung von politischer Öffentlichkeit, in der Staat und Kirche als koope­

rierende und konkurrierende Akteure auftreten, ins Zentrum. Sich diesen Zusammenhängen aus theologischer Perspektive zu nähern, setzt die Unter­

scheidung zwischen der komplementären ekklesiologischen und ekklesialen Perspektive voraus, eine Ebenendifferenzierung, die freilich durch die zur Diskussion stehenden Sachverhalte selbst schon in Frage gestellt oder unter­

laufen wird.

17 Alfred Stepan, Rethinking Military Politics. Princeton, NJ 1988, S. 3; vgl. Casa­

nova, Public Religions, S. 217, vgl. dazu Zurlinden, Religionsgemeinschaften in der direkten Demokratie, S. 9–12.

18 Zur Unterscheidung zwischen lutherischer Zwei­Reiche­ und Zwei­Regimenter­

lehre vgl. die Bemerkungen von Volker Leppin, Grenzen und Möglichkeiten der Obrigkeit. Zu Entstehung und Kontext von Luthers Zwei­Reiche­Lehre, in: Irene Dingel / Christiane Tietz (Hg.), Die politische Aufgabe von Religion, Göttingen 2011 (VIEG Beiheft 87), S. 247–258. Zum reformierten Topos der Königsherrschaft Christi vgl. aus historischer Sicht Judith Becker, Die Königsherrschaft Gottes bei Calvin und im frühen reformierten Protestantismus. Perspektiven der drei mono­

theistischen Religionen, in: Ebd., S.  277–298 und aus systematisch­theologischer Perspektive mit vielen Literaturhinweisen Günter Thomas, Die politische Aufgabe der Kirche im Anschluss an das reformierte Modell der »Königsherrschaft Christi«.

Beobachtungen politischer Ethik, in: Ebd., S. 299–228. Vor dem Hintergrund seiner Interpretation der Barmer Theologischen Erklärung plädiert der Bochumer Syste­

matiker für einen christologischen Umbau der theologischen »Verbindung zwischen Sünde und Politischem« in Gestalt der Ersetzung des Dualismus von »sündiger Welt / versöhnt in Christus« durch die »Triade sündig / versöhnt / erlöst« (S. 327). Zu der an die Religionssoziologie Luhmanns anschließenden dreistelligen Ebenendif­

ferenzierung von Religion und Kirche vgl. die kritischen Bemerkungen gegenüber einem organisationsvergessenen zweistelligen Staat­Kirche­Verständnis von Martin Petzke / Hartmann Tyrell, Religiöse Organisationen, in: Maja Apelt / Veronika Tacke (Hg.), Handbuch Organisationstypen, Wiesbaden 2012, S.  275–306, hier S. 284–287. Schließlich gehört in diesen Zusammenhang auch der dreistellige Kir­

chenbegriff von Hans­Richard Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: Ders., Botschaft und Ordnung. Beiträge zur Kirchentheorie, Leipzig 2009, S. 13–55.

3.1 Konsensprinzip »Volkskirche«

Die Zurückdrängung der ekklesiologischen Fragestellung gehört zu den Kennzeichen eines Kirchenverständnisses, das Säkularisierungsphänomene weniger als Angriff, denn als Ausdruck und Form ihres eigenen Kircheseins begreift. In diesem Sinne bemerkt das Handbuch der reformierten Schweiz von 1962:

Die allgemeine Säkularisierung des geistigen Lebens hat auch die Schweiz nicht unberührt gelassen, doch wird die Problematik der Volkskirche nicht in dem Masse empfunden, wie sie in Ländern anderer Tradition oder in der zunehmenden Ver­

städterung und Vermassung zwangsläufig aufbrechen muss. In der Volkskirche, die praktisch ohne weiteres mit der in der Verfassung garantierten Glaubens­ und Ge­

wissensfreiheit bestehen kann, lebt die alte zwinglische Überzeugung weiter, dass das Evangelium nicht nur da ist zur Erbauung der einzelnen Seele, sondern dass es eine Kraft ist zur Gestaltung und Erneuerung des ganzen Volkslebens19.

Und im anschließenden Abschnitt »Zum Problem der Volkskirche« spricht bereits die Formulierung für sich: »Unsere Kirche hat in der Geschichte in mancherlei Variationen die Gestalt einer bekenntnisfreien, irgendwie mit dem Staate verbundenen Volkskirche gefunden«20. Ein Blick in die verschie­

denen Kirchenordnungen würde diesen Eindruck erhärten.

Die Gründe für ein solches hierarchisch flaches, tendenziell egalitäres und nach synodal­presbyterialen Grundsätzen demokratisch verfasstes Kirchenverständnis sind vielfältig und reichen bis in die reformatorischen Anfänge zurück. Nicht zuletzt aus dieser Tradition folgt ein gewachsenes

»Misstrauen gegenüber Institutionen«, das Roland Campiche der schwei­

zerischen Bevölkerung attestiert21. Bestätigt wird diese Beobachtung durch die kategorische Bedeutung, die der demokratischen Organisation und dem Egalitätsprinzip in Gestalt der reformatorischen Formel vom »Priestertum aller Getauften« beigemessen wird, wie das Vernehmlassungsverfahren zum Verfassungsentwurf des Kirchenbundes von 2013 eindrucksvoll bestätigt22.

Das institutionentheoretisch unter­ oder unbestimmte Kirchenverständnis des schweizerischen Protestantismus erklärt zugleich das Übergewicht der

19 Ernst Gerhard Rüsch, Wesen und Eigenart des schweizerischen Protestantismus, in:

Schweizerischer Protestantischer Volksbund SPV (Hg.), Handbuch der Reformierten Schweiz, Zürich 1962, S. 1–10, hier S. 6.

20 Gotthard Schmid, Zum Problem der Volkskirche, in: SPV (Hg.), Handbuch der reformierten Schweiz, S. 10–14, hier S. 10.

21 Campiche, Die zwei Gesichter, S. 233.

22 Vgl. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK), Verfassungsrevision. Be­

richt zur Vernehmlassung, Bern 2014, URL: <http://www.kirchenbund.ch/sites/

default/files/media/pdf/themen/verfassungsrevision/140327_verfassungsrevision_

Organisationsperspektive, in der Fragen nach der Gestaltung und Funktion von Kirche nicht nur im Vordergrund stehen, sondern an die Stelle der klas­

sischen ekklesiologischen Fragen nach dem Ursprung, Sein und Ziel von Kir­

che treten. Eine profilierte Ekklesiologie scheitert an der institutionenkriti­

schen Grundhaltung – die sich nicht zuletzt der historischen Idee vom Ethos der »Willensnation« verdankt23 – und einem ebenso typischen Pragmatis­

mus, der anstelle von Grundsatzentscheidungen auf die jeweils konsensualen Spielräume des Machbaren gerichtet ist.

Reformierte Kirchenverständnisse in der Schweiz orientieren sich an den jeweiligen Bedürfnissen, Erwartungen und Interessen und weisen eine Plu­

ralität auf, die einem erkennbaren Profil nicht nur im Wege steht, sondern auch bewusst entgegenwirkt. Diese Eigenart hat unmittelbare Auswirkun­

gen für den Säkularisierungsdiskurs. Denn diesem fehlt eine notwendige Kontrastfolie, relativ zu der Säkularisierungsphänomene überhaupt als sol­

che sichtbar werden können. Tatsächlich finden sich Hinweise auf gesell­

schaftliche Anpassungszumutungen an die Adresse der Kirchen innerhalb des reformierten Protestantismus der Schweiz nur selten. Dagegen begegnen zentrale, unter der Überschrift »Säkularisierung« debattierte Phänomene – etwa Individualisierung, Deinstitutionalisierung, Flexibilisierung oder Pri­

vatisierung – bereits im 19. Jahrhundert im Umfeld der Selbstbeschreibungen und ­verständnisse liberaler kirchlicher Gruppierungen. Insofern liegt die Frage nach einer – wie auch immer gearteten – »internal secularization« bzw.

»Selbstsäkularisierung« im schweizerischen Protestantismus nahe24. Gel­

tungstheoretisch bestätigt wird diese kommunitär­egalitäre Struktur durch die verbreitete Transformation der ekklesiologischen Formel von der ecclesia semper reformanda in eine universal einsetzbare Erklärungsmatrix für kon­

tingente Weltverhältnisse. Wenn Welt und Weltorientierungen als einem per­

manenten Wandel unterworfene – mehr oder weniger – adhoc­Phänomene betrachtet werden, sind Säkularisierungsnarrative nicht nur unspektakulär, sondern bestätigen bestenfalls, was Reformierte immer schon wussten.

bericht­vernehmlassung_de­print.pdf> (30.11.2015). Die einzelnen Vernehmlas­

sungsantworten können eingesehen werden auf URL: <http://www.kirchenbund.ch/

de/verfassungsrevision> (30.11.2015).

23 Vgl. Paul Widmer, Die Schweiz als Sonderfall. Grundlagen, Geschichte, Gestaltung, Zürich 22008.

24 Vgl. Mark Chaves, Denominations as Dual Structures. An Organizational Analysis, in: Nicholas J. Demerath u.a. (Hg.), Sacred Companies. Organizational Aspects of Religion and Religious Aspects of Organizations, New York, NY u.a. 1998, S. 175–

194; Hartmann Tyrell, Religion und Organisation. Sechs kirchensoziologische Anmerkungen, in: Jan Hermelink / Gerhard Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform

194; Hartmann Tyrell, Religion und Organisation. Sechs kirchensoziologische Anmerkungen, in: Jan Hermelink / Gerhard Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform

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