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Johann Wolfgang von Goethe

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Academic year: 2022

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Johann Wolfgang von Goethe

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Johann Wolfgang von Goethe

Faust am Goetheanum 2017

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Vorwort

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Stimmen aus dem Publikum

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Zur Inszenierung

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von Christian Peter und Alexander Höhne Einige kuriose Daten & Fakten

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zu «Faust 2016»

Die Kunst des Schauspiels

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Andrea Pfaehler berichtet über ihre Arbeit am «Faust»

Rudolf Steiner, aus dem Vortrag:

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Anthroposophie und Dichtung Rudolf Steiner:

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Eurythmie als sichtbare Sprache Goethes «Faust» und die Gegenwart

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Von Alexander Höhne

Alles andere als ein Mauerblümchen

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Die revolutionäre Haltung des Gretchens.

Von Sebastian Jüngel Stimmen zu Goethes «Faust»

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Goetheanumleitung und Generalsekretäre der Anthropposophischen Gesellschaft

«Bewundert viel und viel

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gescholten Helena ...»

Zur Inszenierung von «Faust 2», Akt 3, Szene 1. Von Andrea Pfaehler

Zur Dramaturgie

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Von Alexander Höhne Rudolf Steiner, aus dem Vortrag:

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Anthroposophie und Kunst – Eurythmie

Rudolf Steiner über

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Goethes «Faust»

Die Ausstellung

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mit einer Einführung von Alexander Höhne Hinter den Kulissen

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Kurzbeschreibung der Szenen

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Zeiten

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Besetzung 2017

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Wir stellen uns vor

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Chronik der Faustdichtung

182

Glossar

186

Impressum

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Faust 1, Studierzimmer 1

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Herzlich willkommen

zu «Faust 1 und 2» am Goetheanum

Zwölf Jahre ist es her, seit sich der Vorhang nach der letzten Faustinszenierung schloss.

Seit 1938 haben rund achtzig ungekürzte Gesamtaufführungen von «Faust» am Goethe- anum stattgefunden. Den Anfang machte die Welturaufführung 1938 in der Regie von Marie Steiner-von Sivers. Das war über hundert Jahre nach Goethes Tod. Dadurch hat das Goetheanum Theatergeschichte geschrieben. Für Rudolf Steiner ist Faust der Repräsentant des modernen Menschen. Er wurde im ersten Goetheanum in der Malerei der kleinen Kuppel als Repräsentant des modernen Menschen abgebildet. Er versucht, sich in seinem Ich zu erfassen.

«Faust» ist ein Drama, das bis heute nichts an Aktualität eingebüsst hat. Man kann im Gegenteil den Eindruck gewinnen, dass Goethes Visionskraft erst durch die neueren Ent- wicklungen von Wissenschaft, Technik und Kultur in ihren Dimensionen verständlich wird.

Das gilt besonders für den zweiten Teil. Fausts Suche, seine Auseinandersetzung mit dem Bösen, sein Schuldigwerden, sein Erkenntnisringen und seine Frage nach dem wahren Sein, schliesst unmittelbar an unsere aktuellen Lebensfragen an. Faust steht für die Erfah- rung der Grenzen des Erkennens, aber auch für das Streben, über diese Grenzen hinauszu- gehen. Fragen wie Macht, Geld und Freiheit begleiten seinen Weg.

Durch die besonderen Darstellungsmittel der Eurythmie ergeben sich für schwer darstell- bare Szenen besondere Ausdrucksmöglichkeiten. Diese erlauben es, die subtilen Wirklich- keitsschichten des Dramas sichtbar zu machen. Die Inszenierung kann dazu auf Angaben zurückgreifen, die Rudolf Steiner als Regisseur von «Faust» selbst gemacht hat.

In der gegenwärtigen Inszenierung wird der Versuch unternommen, «Faust» aus der Aktua- lität unserer Zeit heraus zu greifen. So wie Goethe den Text vor seinem Tod versiegelt hat, sind wir als Zuschauende heute gefragt, seine kunstvolle Bildersprache für uns selbst zu entsiegeln.

Nach einer Probenzeit von rund fünfzehn Monaten fand die Première an Ostern 2016 statt. Es war eine enorme Herausforderung für das ganze Team, in so kurzer Zeit siebzehn Stunden Theater zu realisieren.

Wir freuen uns, Ihnen in diesem Jahr die Wiederaufnahme mit verschiedenen Neubeset- zungen präsentieren zu dürfen; gleichzeitig sind es auch die letzten drei Aufführungen dieser Inszenierung. In Vorfreude, Sie zu diesem ausserordentlichen Theaterereignis am Goetheanum zu begrüssen,

Stefan Hasler Nils Frischknecht

Sektion für Redende und Musizierende Künste Geschäftsführer Goetheanum-Bühne

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Faust 1, Nacht

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Faust 1, Walpurgisnacht

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Faust 1, Prolog im Himmel

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Faust 1, Nacht

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Faust 1, Studierzimmer II

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Faust 1, Prolog im Himmel

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Faust 1, Studierzimmer II

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Stimmen

aus dem Publikum

Die Eurythmie ist tief bewegend und beeindruckend und führt in Seelen- abgründe, Gefühlshöhen und ausge- lassene Stimmungen.

Eurythmie wunderbare Unterstützung der Worte.

Grandios! Gigantisch! Genial! Danke.

Fantastisch, tief berührend, beeindruckt von der Fantasie für Bühnenbild, Kostüme, Darstellung hoher geistiger Inhalte, trotzdem humorvoll nie platt oder effektheischend.

In unserer Zeit, wo Sprachverfall droht und vieles daran krankt, in „flache Unbedeutsamkeit“ abzusinken, ist diese Aufführung eine KULTURTAT, die für die Zukunft hoffen lässt!

„Erhabner Geist, Du gabst mir alles, alles, worum ich bat“

Modern (zeitgemäss):

aber nicht auf hohle Effekte bedacht.

Grosse Lebendigkeit und dynamische Ausdruckskraft, herrliche Kostümierung und ein modern sparsames, aber den Handlungsablauf sinnvoll begleitendes Bühnenbild sowie eine Vielfalt und Eindringlichkeit auszeichnende Musik haben für mein Empfinden diese Inszenierung charakterisiert.

Ein Wunder ist‘s ein Wunder bleibt‘s!

Ich war sehr beeindruckt! Irgendwann habe ich nicht mehr bemerkt, dass die Darsteller in Versen sprechen, überraschend! Insgesamt:

eine grandiose Leistung aller Beteiligter! Und Frage: Welcher Geist kann so viel Text beherrschen???

Tänze zeugten von hervorragendem körperlichen Können, Lieder wie auch die Musikstücke waren ein Vergnügen anzuhören.

Faust und Mephisto in beiden Besetzungen hervorragend und überzeugend präsentiert.

Schöne Kostüme.

Gute räumliche Gestaltung.

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Zur Inszenierung

von Christian Peter und Alexander Höhne

Rund zwölf Jahre nach der letzten Inszenierung von Goethes ganzem «Faust» am Goethe- anum wurden ab 2014 die Vorüberlegungen zur Gestaltung der aktuellen Inszenierung konkreter. Dabei kamen nicht nur die rund vierzig Jahre Bühnenerfahrung von Christian Peter und die rund dreissigjährige Beschäftigung mit Goethes «Faust» von Alexander Höhne zusammen. Selbstverständlich wurden auch die herausragenden Studien von Martina Maria Sam zur Aufführungsgeschichte von «Faust» am Goetheanum einbezogen. In drama- turgischen und praktischen Gesprächen flossen Anliegen und Erfahrungen der Goetheanum- leitung und insbesondere auch von Margrethe Solstad als Leiterin der Goetheanum Euryth- mie-Bühne und Verantwortliche für die Eurythmie im «Faust» mit ein. Die Umsetzung der Vorarbeiten wurde dabei zunächst von Margrethe Solstad und Christian Peter gemeinsam verantwortet. Später kam noch Andrea Pfaehler ins Regieteam. Für die Überarbeitung der Inszenierung für die Aufführungen im Jahr 2017 übernahm Christian Peter die Gesamtlei- tung allein.

Die Inszenierung hat sich vor allem in der konkreten Probenarbeit ausgestaltet, denn es ist ein geplantes Anliegen dieser Inszenierung, den beteiligten Menschen in einem konkreten Rahmen viele Möglichkeiten für die Mitgestaltung zu bieten und diese auch einzufordern.

So gesehen ist also nicht nur das Regieteam gestaltend gewesen, sondern es waren alle Beteiligten immer wieder eingeladen mitzuwirken. Dabei spielen die Erfahrungen von Roy Spahn (Bühnenbild), Rob Barendsma (Kostüme und chorisches Singen) und Florian Volkmann (Musik, Komposition, Improvisation) eine grosse Rolle. Keineswegs vergessen sollten wir die grossartige Leistung von Ilja van der Linden, der nach vierzig Jahren Mitwir- kung erstmals eine eigene Beleuchtung für «Faust» am Goetheanum entworfen hat.

Die neue Inszenierung versteht sich als zeitgenössisch, ohne sich anzubiedern oder an einen bestehenden Stil anzulehnen. Es geht einfach darum, dass wir nicht nur das Werk Rudolf Steiners und dessen Ansichten und Einsichten verstehen und ernst nehmen, sondern auch uns selbst. Gerade eine langjährige und intensive Auseinandersetzung sowohl mit dem Werk Rudolf Steiners als auch mit jenem Goethes sowie den Forschungen und Erkenntnissen der Gegenwart führt zu einem grossen Spektrum an Bezügen und An- liegen. Ohne beliebig zu sein, strebt diese Inszenierung nach der Integration von Prozessen und Erkenntnissen, die sich nun bald über zweihundert Jahre nach der Arbeit von Goethe am «Faust» erstrecken.

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Faust 1, Studierzimmer I

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Dabei ist zu beachten, dass Christian Peter, Jahrgang 1956, und Alexander Höhne, Jahr- gang 1965, Vertreter der Nachkriegsgeneration sind. Die beiden sogenannten Weltkriege im zwanzigsten Jahrhundert haben zu dramatischen Einschnitten in der Kultur aber auch im Bewusstsein geführt. Das hatte Rudolf Steiner bereits für die Zeit nach dem Ersten Welt- krieg festgestellt. Er starb 1925 und erlebte in München gerade noch das Aufkommen der nationalsozialistischen Bestrebungen mit. Für Christian Peter und Alexander Höhne erwies es sich als unmöglich, an eine Ästhetik der Erhabenheit und der Ganzheit anzuschliessen, wie sie in der Tradition von Marie Steiner-von Sivers seit 1936 für lange Zeit am Goethea- num noch erhalten blieb. Zeitgenosse zu sein, bedeutet auch einzusehen, dass es uns nicht mehr möglich ist, nach einer abschliessenden Ganzheit und Einheit zu streben. Vielmehr ist das Herstellen von Einheit und Ganzheit ein stets aktueller und fortwährend zu erneuernder Zustand. Die einzige Kontinuität ist die Veränderung.

In einer Zeit, in der unter anderem Richard David Precht in seinem Buch «Wer bin ich und wenn ja wie viele?» darüber philosophiert, was das moderne Bewusstsein kennzeichnet, wird Identität und Kontinuität der Person zu etwas, das immer wieder neu herzustellen und zu entdecken ist. Was ist das Durchgehende in einem Leben, in einer Persönlichkeit? Nicht nur Rudolf Steiner spricht in diesem Zusammenhang von dem höheren Selbst. Und Angelus Silesius sinnierte: «Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, verdirbt, wenn er stirbt». Bei Goethe heisst es entsprechend: «Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde» (Gedicht: Selige Sehnsucht). Das bedeutet aber auch, dass wir uns nicht an die äussere Person oder eine vermeintliche Stabilität der Wirklichkeit halten sollen, sondern uns selbst und die Welt immer wieder neu entdecken können und sollen. Darauf zielt unter anderem die Unbefangenheitsübung in den «Nebenübungen» im anthroposophischem Schulungsweg ab.

In seiner «Praktischen Ausbildung des Denkens» geht Rudolf Steiner auf die Untersuchun- gen ein, die im Zusammenhang mit der Einführung der Eisenbahn von Ärzten gemacht worden waren. Diese zeigten, dass sowohl Bahnfahren selbst als auch das Erleben vorbei- fahrender Züge im Grunde gesundheitsschädlich ist. Rudolf Steiner wies darauf hin, dass es nun mal so sei, dass manche Kräfte und Erfindungen in die Welt kommen und gekom- men sind, und nun müssen wir Wege finden, sinnvoll und möglichst schadenfrei mit ihnen umzugehen und sie zu nutzen. Es besteht sicher kein Zweifel daran, dass Verbrennungs- motoren und andere technische Errungenschaften neben Freiheiten und Möglichkeiten auch viel Leid und grosse Schäden anrichten, vor allem in der Natur. Dennoch können wir nicht sofort auf sie verzichten und die meisten Menschen haben sie als Teil ihres Lebens akzeptiert.

Auf diesem Hintergrund und aus den Erfahrungen der Gespräche mit dem Publikum letztes Jahr sollen im Folgenden ein paar Motive in der gegenwärtigen Inszenierung näher be- leuchtet werden.

Vorspiel auf dem Theater

Goethe stellt der eigentlichen Faust-Tragödie drei Vorspiele voran, die einen jeweils anderen Kontext für das Folgende aufmachen. Der erste Kontext wird durch die «Zueignung» eröff- net. Hier ist der Bezugsraum das Leben und Schaffen von Goethe als Dichter und Mensch.

Der zweite Kontext wird durch das «Vorspiel auf dem Theater» geöffnet. Hier bezieht sich Goethe auf seine Erfahrungen als Regisseur, Intendant, Dichter und Minister. Bereits Goethe kannte das Phänomen, über das Precht ein ganzes Buch geschrieben hat. Er konnte in seiner eigenen Brust miterleben und nachfühlen, wie sich ganz verschiedene Anliegen und Betroffenheit einstellten, je nach der Rolle, in der er sich selbst sah oder empfand. Goethe begnügte sich mit diesem Vorspiel, um seine Erfahrungen anzudeuten. Bei der Erarbeitung dieser Perspektivwechsel wurden in den ersten Leseproben nur einzelne Sätze aus diesem Vorspiel gelesen. Und trotz der Figurennamen, die im Text die Stimmen differenzieren, wurde für unser Erleben eine gewisse Einheitlichkeit der Reflexion und eine noch grössere Vielfalt erlebbar. Aus dieser Erfahrung bildete sich ein Konzept für die Inszenierung des Vor- spiels. Es sollten mehr Stimmen die angedeutete Vielfalt verdeutlichen und zugleich sollte sich auch das gesamte Faust-Ensemble zum ersten Mal zeigen. Die Inszenierung hat sich dieses Vorspiel also angeeignet und stellt es nicht nur dar.

Prolog im Himmel

Der dritte Kontext wird durch den «Prolog im Himmel» gebildet. Hier verdeutlicht Goethe seine Auseinandersetzung mit dem Neuen Testament, aber auch mit der Hiob-Sage aus dem Alten Testament und der Hierarchielehre der Scholastik bzw. bestimmter platonischer Philosophie-Schulen. Mit dem «Prolog» eröffnet sich zugleich eine Rahmenhandlung, die sich am Ende des 5. Aktes (im «Faust 2») schliesst. Das macht deutlich, dass Goethe sei- nen «Faust 1 und 2» als eine Einheit, als eine einzige Tragödie konzipiert hat. Zwischen dem «Vorspiel» und dem «Prolog» gibt es also einen Bruch, den in dieser Inszenierung eine recht laute akustische Alarmanlage signalisiert. Diese schafft zugleich einen starken Kontrast zwischen den profanen Anliegen der sehr diesseitigen Egos im «Vorspiel» und den transzendenten Wesen, die nun im «Prolog» erscheinen. Goethe aktualisiert hier nicht nur christliche Ideen, sondern auch solche der Renaissance oder des Germanentums. Denn es wird hier ein Zusammenleben von Göttern, Dämonen und Menschen angedeutet. Mit Mephistopheles und dem Erdgeist treten dann im Folgenden auch tatsächlich Geistwesen in den Lebensraum von Faust.

Traditionell werden die Erzengel im «Prolog» eurythmisch dargestellt. Die Eurythmie muss- te dabei auf das Bühnenbild abgestimmt werden. Hier stellt sich sofort die Frage nach dem Zusammenspiel der Sprechenden mit den Eurythmisierenden. Wie viele Sprechende stehen zur Verfügung? Wie gut wirken Sprechen und Bewegen zusammen? Wie gut sind die Gruppen sichtbar? Wie ist die Beleuchtung in dieser Szene? … Und dann stellt sich auch die Frage, ob es noch zeitgemäss ist, den Chören einen donnernden, möglicherweise

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pathetisch wirkenden Klang zu geben. Wie stellt sich die Erfahrung der Begegnung mit der geistigen Welt heute dar? Was ist glaubwürdig? Was erleben wir selbst als stimmig? Auf diese Fragen gibt es vielleicht keine Antworten, die für alle gelten. In dieser Inszenierung haben wir uns für einen leisen Einstieg in den Auftritt der Engel entschlossen. Die geistige Welt spricht nicht nur laut zu uns, sondern auch ganz leise. Zuhören ist eine Aktivität, die geübt werden will.

Weitere Aspekte der Inszenierung

Leider ist es nicht möglich, auf diese Art und an dieser Stelle auf alle Fragen und Anlie- gen dieser Inszenierung von «Faust» am Goetheanum einzugehen. Daher sollen hier einige weitere Aspekte zusammenfassend behandelt werden.

Aufteilung einzelner Rollen auf mehrere Personen

In der Gesamtheit der Faust-Tragödie gibt es deutliche Brüche in der Persönlichkeit von Faust und mit ihm zusammenhängend bei Mephisto. Diese Brüche, die vor allem durch die Verjüngung in der Hexenküche und durch die Begegnung mit Helena gekennzeich- net sind, werden durch den Wechsel der Hauptdarsteller markiert. So gibt es zwei Faust- und zwei Mephisto-Darsteller. In der Vorarbeit zu dieser Inszenierung gab es die Idee, mit vier Teams zu arbeiten. Doch hatten wir den Eindruck, dass so viele Brüche den Fluss der Inszenierung zu stark beeinträchtigen. Eine andere Figur, die solche Brüche zeigt, ist Helena. Vor allem am Anfang des dritten Aktes, in dem Helena über sich erzählt, thematisiert Goethe verschiedene Überlieferungen der Helena, die schwerlich harmonisch zu einem Bild zusammenfliessen. Daraus entstand die Idee, dieser Uneinheitlichkeit der Helena-Legen- den auch durch mehrere Schauspielerinnen Ausdruck zu verleihen. Aus unterschiedlichen Gründen erwies sich eine Aufteilung auf drei Frauen besonders gut geeignet. Da im dritten Akt jedoch wirklich nur eine Frau an der Seite von Faust erscheinen kann, bezieht sich diese Aufteilung nur auf die Einführung der Heldin. (Siehe dazu auch den Artikel von Andrea Pfaehler auf S. 115.)

Musik im «Faust»

Die Musik der aktuellen Faust-Inszenierung verdeutlicht am besten, dass es der Regie nicht darum geht, die Zuschauer in eine Zeit zurückzuversetzen, in der Goethe oder Rudolf Steiner gelebt haben (könnten). Die Musik zeigt, dass es um eine Auseinandersetzung mit Goethe, «Faust» und Rudolf Steiner geht, die in einer von Popkultur geprägten Gesellschaft stattfindet. Wobei hier Popkultur als Ausdruck einer demokratischen, vom Volk (lt. popu- lus) geprägten, Lebensweise verstanden wird. Dabei wurde jedoch keineswegs willkürlich vorgegangen, sondern kreativ, künstlerisch und entschlossen. Neben wiedererkennbaren Hits, die in bestimmten Motiven sehr passend zur Dynamik im Stück erscheinen, wurden neue Kompositionen und Improvisationen entwickelt. Die Regie arbeitete hier sehr eng mit Florian Volkmann zusammen. Dieser zeichnet sich durch eine breite Kenntnis nicht nur moderner, sondern auch traditioneller Musik sowie Volksmusik vieler Jahrhunderte aus.

Da die Musik oft unmittelbar Emotionen anspricht oder formuliert, ist hier ganz natürlich die stärkste Varianz im Erleben des Publikums zu erwarten. Dennoch wurde gerade auch deswegen sehr viel Arbeit und Ausprobieren in die Gestaltung der Mitwirkung der Musik gesteckt.

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Faust 1, Auerbachs Keller in Leipzig

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Humor und Spott im «Faust»

Goethes «Faust» ist eine Tragödie, ein Trauerspiel. Sie endet mit dem Tod des Helden, des- sen Werk unvollendet bleibt. Gemäss dem Tragödienformat des Dramas wird das Sterben des Helden verzögert. Und es gibt wohl kaum eine andere Tragödie, die siebzehn Stunden braucht, um die zentrale Figur ihrer Handlung sterben zu lassen. Konsequenterweise gibt es andere, die auf der Lebensreise von Faust sterben müssen. Und ebenso konsequenter- weise kann die Dramatik im «Faust» nicht nur aus Spannungen und tragischem Erleben bestehen. Es findet viel Witz und Komik statt. Der Spott spielt eine wichtige Rolle, vor allem dann, wenn Mephisto mit von der Partie ist. Es gibt aber nicht nur Spott im «Faust».

Spott ist eine Ausdrucksform von Ablehnung bis zu Hass und Goethe war eindeutig mehr ein Liebender als ein Hassender. So finden wir im ganzen Stück immer wieder auch liebe- vollen Humor und liebendes Mitgefühl. Diese sind wegen ihrer Zartheit auf der Bühne nicht so leicht darzustellen. Und es gibt zudem viele Momente, in denen Derbheit und Grobheit in den Vordergrund treten. Goethe hat selbst harte Konflikte und Kriege miterlebt. So verwun- dert es nicht, dass das Tragische, das Ausgeliefertsein, das ungewollt und gelegentlich auch das gewollt Böse immer wieder die Aufmerksamkeit fordern. Humor und Spott werden dann zu starken Kontrasten, die das sonst zu mächtig erscheinende Leiden auffangen müssen.

Während das Tragische oft düster und grau erscheint, wirken Humor und Lebensfreude bunt. So findet sich gerade Lebensfreude und auch Humor in den liebevoll gestalteten Kos- tümen gespiegelt, die nicht zuletzt die Freude am Spiel thematisieren. Der ganze «Faust»

ist schlussendlich eine bejahende, farbenfrohe Inszenierung der Freude am Leben und am Theater.

Mythologie im «Faust»

Die Mythologie im «Faust» schöpft nicht nur aus den Mythen einer Nation. Diese Mythologie ist vielmehr ein Abbild der Beschäftigung mit Mythen unterschiedlicher Quellen. Es fliessen hier Kulturgüter verschiedener Nationen und Zeiten zusammen. Am einfachsten erkennbar sind deutsche und griechische Mythen. Mythen sind Erzählungen, die Kulturinhalte be- wahren und vermitteln. Sie legen oft mehr Wert auf psychologische oder lebenspraktische Bildungskraft als auf historische Richtigkeit. Wahr ist ein Mythos, solange er diese Kraft bewahrt. Andere Kulturen pflegen daher Mythen und andere Formen des Erzählens als wesentliche Elemente ihrer Bildungsarbeit. Der Wert solcher Bildungsformen wurde zu Leb- zeiten Goethes auch in Deutschland erkannt: Etwa von den Gebrüdern Grimm, die lebendige Erzähltraditionen in Schriftform brachten und Mythen in Form von Märchen bewahrten und zugänglich erhielten. Durch die Renaissance war insbesondere die griechische und auch die römische Mythologie wiederbelebt worden und selbstverständlich gibt es die christliche Mythologie. Da die Naturwissenschaften zu Goethes Lebzeiten ihren Siegeszug noch nicht so deutlich angetreten hatten wie im zwanzigsten Jahrhundert, verwundert es nicht, dass er sein Interesse an der Naturphilosophie sowie der experimentellen Physik und Biologie besonders gern über antike Mythen verdeutlichte. Dazu gehört auch sein Evolutions-Denken.

Hier konnten kosmogonische Schöpfungsmythen verdeutlichen, dass ihm die Erzählungen der Bibel über die Erschaffung der Welt nicht ausreichten. Sein unverkennbares Interesse

an Alchemie ist nicht nur eine mythologische Angelegenheit, sondern scheint für Goethes Denken und Forschen an sich wesentlich zu sein. Die Mythologie dient also mindestens zweierlei Zwecken. Zum einen thematisiert sie wertvolles Handlungswissen, zum anderen versteckt sie Interessen und Erkenntnisse, denen sich nicht allzu viele voll bewusst und wach nähern wollen oder können. Die Erkenntnisse spielen sich oft mehr im Unbewussten ab als in der Klarheit des Denkens. Vor allem dann, wenn dieses nicht gewohnt ist, mit Symbolen und Metaphern zu operieren.

Bergschluchten – Ausblick ins Nachtodliche

Eine der grössten Herausforderungen für das menschliche Denken ist die Tatsache unserer Sterblichkeit, ist unser Tod. Besitzt der Mensch einen unsterblichen Anteil? Hat er Zugang oder kann er Zugang erlangen zum Heiligen Geist, zum Heiligen Gral oder zum Stein der Weisen? Goethe wollte diese Frage nicht nur philosophisch beantworten. Dazu war er viel zu praktisch und sinnlich veranlagt. Er wollte lebendige Ideen, die man am besten noch mit eigenen Augen sehen und nachvollziehen kann. Die bedeutendste Legende, den wich- tigsten Mythos der Möglichkeit eines Fortbestehens nach dem Tod überliefert das Neue Testament. Und die Auferstehungsbotschaft des Neuen Testaments scheint für die Figur Faust am Anfang der Tragödie der einzige Grund zu sein, sich angesichts des Elends und des Mangels in der Welt und im eigenen Menschsein nicht selbst das Leben zu nehmen. In der Szene nach Fausts Tod wagt Goethe einen Ausblick ins Nachtodliche. Dieser Ausblick wirft einige Fragen auf. Aus einer Entwicklungsperspektive erscheint Dr. Marianus als ent- puppter Dr. Faust. Andererseits ist dieser Dr. Marianus auch eine Art Psychopompos, ein Seelengeleiter. In dieser Deutung hat die Auffassung Platz, dass Goethe hier Bezug nimmt auf einen Lehrer der Alchemie, der für ihn eine gewisse Bedeutung erlangt hat. Dennoch ist das Unsterbliche von Faust in der Szene anwesend, darüber besteht kein Zweifel. Denn Gretchen erscheint in der Szene und schreitet Faust voran:

Die eine Büsserin, sonst Gretchen genannt Vom edlen Geisterchor umgeben, Wird sich der Neue kaum gewahr, Er ahnet kaum das frische Leben, So gleicht er schon der heiligen Schar.

Sieh, wie er jedem Erdenbande Der alten Hülle sich entrafft Und aus ätherischem Gewande

Hervortritt erste Jugendkraft.

Vergönne mir, ihn zu belehren, Noch blendet ihn der neue Tag.

Mater gloriosa

Komm! hebe dich zu höhern Sphären!

Wenn er dich ahnet, folgt er nach.

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Einige kuriose Daten & Fakten zu «Faust 1 und 2 ungekürzt»

FAUST 1

16 Schauspieler spielen 128 Rollen 20 Eurythmisten spielen 125 Rollen FAUST 2

16 Schauspieler und 20 Eurythmisten spielen ca. 300 Rollen

Während der Probenphase von Januar 2015 bis Ostern 2016 wurden

171 kg Kaffee getrunken, darin 34,5 kg weisser Zucker und 17 kg Rohrzucker versenkt und mit 741 l Milch, zu gleichen Teilen voll und halbfett, verdünnt.

Kostüm

Anzahl Kostümgarnituren 503, davon alleine 73 im Mummenschanz 82 Paar Schuhe

71 Hüte 92 Perücken

2000 Kleiderbügel für 700 Kostüme Bühnenbild

2040 kg Stahl 88 Lenkrollen 20 Goldsprühdosen 80l rote Farbe 15 Überlebensdecken ca. 800 Scheinwerfer

Zulieferer aus Brno, Tschechien Budapest, Ungarn Alicante, Spanien Hamburg, Deutschland Himberg bei Wien, Österreich Shenzen, China

Vietnam

Wacken, Deutschland Umfang

12111 Zeilen Spielzeit ca. 17 Std.

Szenen Faust 1:

3 Vorspiele und 25 Szenen Faust 2:

5 Akte mit 25 Szenen

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Faust 1, Hexenküche

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Andrea Pfaehler möchte, dass die im «Faust» enthaltenen Geschichten erzählt werden – einfach aus der Sprache des Stückes selbst.

«Faust» am Goetheanum zu inszenieren heisst, ihn ungekürzt zu spielen. An einem ande- ren Haus würde ich erwägen, auf diesen oder jenen Satz zu verzichten. Dann könnte der Schlagabtausch rasanter gespielt werden. Die intensive tägliche Arbeit mit dem genialen Text zeigt mir, dass jeder Satz durch den Schauspieler erobert werden kann. Für die Proben ist mir wichtig, dass diese Feinheiten erfasst werden. Dadurch, dass man sie als Darstel- lerin, als Darsteller versteht, wird der Vortrag der Verse für die Zuschauer nicht langweilig.

Gleichzeitig soll es nicht so wirken, als ob man das Publikum belehren will: «Hört genau hin, da steckt so viel drin, das müsst ihr schon alles richtig erfassen, damit ihr damit etwas anfangen könnt.» Das Publikum soll ja von diesem Reichtum einfach beschenkt werden, weil der Schauspieler diese Fülle in sich hat. Darin liegt für mich die Kunst des Schauspiels.

Gedankenführung erfassen und gestalten

Für mich steht die Sprache Goethes im Vordergrund. Welche Geschichten erzählt er? In den Leseproben untersuchen wir gemeinsam, was Goethe gemeint haben könnte – nicht immer einfach, aber immer spannend. Verschiedene Sekundärliteraturen können helfen, die Themen von ganz unterschiedlichen Perspektiven aus zu erarbeiten. Rudolf Steiners Ausführungen erlebe ich wie eine Schatzkiste – bei niemand anderem spüre ich so stark die Liebe und Verehrung gegenüber Goethe.

Auf Grundlage der eigenen Bilder geht es in den Proben darum, die Szene «lesbar» auf die Füsse zu stellen. Das heisst, über Sprache und Spiel sind die inneren Bilder zu erlösen.

Einen Gedanken über mehrere Zeilen zu entwickeln, ist man aber heute nicht mehr gewöhnt! Eine differenzierte Gedankenführung nicht nur zu erfassen, sondern sie zu gestalten, ist heute eine eigene Kunstfertigkeit. Und das unter besonderen Anforderungen.

Die Akustik des Saals im Goetheanum zwingt einen dazu, frontal Theater zu spielen. Auch wenn es das heute eigentlich nicht mehr gibt: Hier, auf der Bühne des Grossen Saals, muss man, um verstanden zu werden, nach vorn sprechen, auch wenn der Bühnenpartner hinter einem steht. Dann nimmt man Blickkontakt zu ihm auf, wendet sich wieder nach vorn, spricht weiter. Die Trennung von Wort und Aktion drosselt das Tempo und erfordert, eine eigene Methode zu entwickeln, damit dieser Wechsel nicht laienhaft oder «gestört» klingt.

Spiel mit Eurythmie

Im dritten Akt von «Faust 2» tritt Helena in Erscheinung. Christian Peter sieht in ihrem Text drei verschiedene Aspekte, die zu ihrem Wesen gehören. Margrethe Solstad (Eurythmie) und ich haben die Szene dann szenisch umgesetzt (siehe auch Beitrag «Bewundert viel und viel gescholten Helena ...»). Wie kommt es dazu, dass Helena Projektionsfläche für den anderen

Die Kunst des Schauspiels

Andrea Pfaehler berichtet über ihre Arbeit am «Faust»

ist, nicht aber sie selbst? Wie kommt sie zu ihrer eigenen Identität? Die Eurythmistinnen des Mädchenchors spiegeln das Wesen der Helena und stützen es damit. Gesprochen wird der Chor von Schauspielerinnen – als Teil des Chores, ohne selbst Eurythmie zu machen.

Freilassender Zugang zum Zeitgeschehen

Durch die tägliche Auseinandersetzung mit dem Werk werden mir die Tiefen des Werks mehr und mehr sichtbar. Ich verstehe nun, warum es Doktorarbeiten allein über einzelne Szenen gibt! Am wichtigsten aber ist mir, dass sich das, was in der Tragödie enthalten ist, auch im Alltag wiederfinden lässt. Das hat eine wichtige Konsequenz für die Einstudierung.

Denn ich muss dann nicht fragen: Wie bekomme ich beispielsweise den IS in die Szene?

Sondern ich sehe das Stück und entdecke, wie viel von der Szene in den vom IS beherrsch- ten Gebieten steckt! Das befreit die Inszenierung vor einer oberflächlichen Aktualisierung.

Der Zeitbezug ist im Werk enthalten, jedoch unaufdringlich, freilassend, vielleicht auch mal kaschiert, dass man ihn finden wollen muss… Die andauernde Aktualität selbst noch nach zweihundert Jahren macht «Faust 1 und 2» für mich zu einem Werk der Weltliteratur.

Dokumentation: Sebastian Jüngel

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Faust 1, Hexenküche

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Faust 1, Vor dem Tor

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Faust 1, Hexenküche

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Faust 1, Auerbachs Keller in Leipzig

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Faust 1, Am Brunnen

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Faust 1, Der Nachbarin Haus

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Der Verstand ist die durchgesiebte Phantasie. Das beachten die Leute nicht, deshalb halten sie den Verstand für ein so viel größeres Wirklichkeitselement, als die Phantasie es ist. Aber die Phantasie ist das erste Kind der natürlichen Wachstums- und Bildekräfte selbst. Daher drückt die Phantasie etwas unmittelbar Wirkliches nicht aus, denn solange die Wachstums- kraft im Wirklichen arbeitet, kann sie nicht zur Phantasie werden. Es bleibt erst etwas übrig für die Seele als Phantasie, wenn das Wirkliche versorgt ist. Aber innerlich, der Qualität, der Wesenheit nach ist die Phantasie durchaus dasselbe wie die Wachstumskraft. Dasjenige, was unseren Arm von der Kleinheit größer werden läßt, ist dieselbe Kraft wie dasjenige, was in uns dichterisch in der Phantasie, überhaupt künstlerisch in der Phantasie tätig ist in der seelischen Umgestaltung. Das muß man wiederum nicht theoretisch verstehen, sondern man muß es innerlich gefühls- und willensmäßig verstehen. Dann bekommt man vor dem Walten der Phantasie auch die nötige Ehrfurcht, unter Umständen auch gegenüber diesem Walten der Phantasie den nötigen Humor. Kurz, es wird die Anregung für den Men- schen geschaffen, in der Phantasie eine in der Welt waltende göttliche Kraft zu empfinden.

(Kristiana, Osla, 20. Mai 1923)

Rudolf Steiner

,

aus dem Vortrag:

Anthroposophie und Dichtung

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Faust 1, Strasse 1

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Rudolf Steiner: Eurythmie als sichtbare Sprache

[...] Sie werden nur begreifen, was in der Eurythmie dargestellt wird, wenn Sie eben ins Auge fassen, daß Eurythmie eine sichtbare Sprache sein will. Mit der Sprache selbst ist es auch so. Wenn wir die Sprache mimisch gestalten, so haben wir an der gewöhnlichen Sprache das Vorbild, aber wenn wir die Sprache selbst gestalten, so hat diese als solche kein Vorbild.

Sie tritt als selbständiges Produkt aus dem Menschen heraus. Nirgends in der Natur ist das- jenige vorhanden, was in der Sprache sich offenbart, in der Sprache zutage tritt. Ebenso muß Eurythmie durchaus etwas sein, was eine ursprüngliche Schöpfung darstellt. Die Sprache – gehen wir von ihr aus – erscheint als Hervorbringung des menschlichen Kehlkopfes und desjenigen, was mit dem Kehlkopfe mehr oder weniger zusammenhängt. Dieser Kehlkopf, was ist er denn eigentlich? Die Frage muß einmal aufgeworfen werden, denn ich habe oft an- gedeutet, in der Eurythmie wird der ganze Mensch zu einer Art von Kehlkopf. Wir müssen also einmal uns die Frage vorlegen: Was für eine Bedeutung hat denn überhaupt der Kehlkopf?

Wenn wir zunächst auf die Sprache als auf eine Hervorbringung aus dem Kehikopfe hin- schauen, so werden wir nicht aufmerksam darauf sein, was da eigentlich aus dem Kehlkopfe herauskommt, was sich da bildet.

[...] Werden Sie sich bewußt, daß alle diese Elemente, die aus dem Kehlkopf herauskommen, die Bestandteile alles dessen sind, was im Sprechen zutage tritt, werden Sie sich bewußt, daß alles das aus bestimmten Bewegungen besteht, denen ursprünglich in der Anlage die Formungen des Kehlkopfes und seiner Nachbarorgane zugrunde liegen. Da heraus kommt es.

[...] Der Mensch ist ja nicht etwas Abstraktes. Er ist in jeder Minute irgend etwas. In jeder wachen Minute ist er irgend etwas. Man kann ja hindösen selbstverständlich, da ist man nichts Genaues. Man ist auch dann etwas, wenn man hindöst; aber man ist eigentlich in jeder Minute irgend etwas. Bald ist man der Sich-Verwundernde, bald ist man der Sich-Fürchtende, bald ist man der, nun, sagen wir, der Dreinschlagende. Irgend etwas ist man in jeder Minute, in jeder Sekunde. Man ist nicht bloß abstrakt ein Mensch, man ist in jeder Sekunde irgend etwas. So ist man eben auch zuzeiten der Sich-Verwundernde, der Erstaunende.

[...] Nehmen Sie an, ich erstaune, ich sage: a. Das kann ich nicht abbilden, das muß ich aus- sprechen. Wenn ich aber dasjenige ausdrücken will, was rund ist, das etwas abrundet, diesen Tisch hier zum Bespiel, was tue ich denn da, wenn ich nicht sprechen will? Ich bilde es nach, ich forme es nach (entsprechende Geste). Wenn ich eine Nase abbilden will, indem ich nicht spreche, indem ich nicht sage Nase, sondern mich verständigen will, so kann ich zeichnend es hinstellen (entsprechende Geste). So ist es aber, indem ich die Konsonanten bilde. Sie sind Nachbildungen von etwas Äußerem, sie formen immer etwas Äußeres nach. Nur drücken wir diese Formen aus eben in einer Luftgestaltung, die aus den Nachbarorganen des Kehlkopfes, aus Gaumen und so weiter hervorkommt Wir bilden mit Hilfe unserer Organe eine Form aus, die nachgestaltet, nachbildet, nachahmt dasjenige, was da draußen ist. [...]

(Laut-Eurythmie-Kurs, Erster Vortrag, 24. Juni 1924, GA 279, S. 44ff) Faust 1, Walpurgisnacht

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Faust 1, Walpurgisnacht

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Faust 1, Walpurgisnachtstraum

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Faust 1, Walpurgisnacht

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Faust 1, Walpurgisnacht Faust 1, Walpurgisnachtstraum

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Faust 1, Walpurgisnacht

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Faust 1, Nacht. Strasse vor Gretchens Türe

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Bereits in diesem Titel sind die drei Bezugspunkte genannt, die die grundlegende Frage für diesen Artikel stellt: Wie steht es um Goethe und Faust in der Gegenwart und was kenn- zeichnet die Gegenwart?

Eine Charakterisierung der Gegenwart hängt sehr stark vom Zeitpunkt der Betrachtung ab.

Nichts ist vergänglicher als die Gegenwart. Sie ist der Umschlagort, an dem die Zukunft Vergangenheit wird. Schauen wir hingegen auf die Gegenwart als Prozess, dann können wir diesen Ort vergrössern. Unsere Gegenwart (im Frühjahr 2017) ist von grundlegenden Fragen geprägt: Wie können wir wirtschaftlich stark, kulturell flexibel, allgemein menschlich und ökologisch nachhaltig leben? Und wie können wir in diesem «wir» die ganze Menschheit unterbringen? Dazu kommt die andere Frage: Müssen wir diese Herausforderungen anneh- men oder reicht es, wenn wir uns nur um uns selbst kümmern? Und wer gehört warum zu uns und wer nicht? Sinnbildlich wurde diese Frage besonders pointiert von Donald Trump formuliert. Seine Amerika-zuerst-Politik macht diese Grenzfrage deutlich. Und sie wurde im Laufe seiner ersten Amtsmonate bereits weiter verschärft und viele müssen sich nun fragen: Was macht einen Amerikaner zu einem Amerikaner? Doch das muss uns hier nicht weiter beschäftigen.

Goethe (1749-1832) hat sich in seiner Lebenszeit mit ebensolchen Fragen beschäftigt, denn diese wurden unter anderem durch die Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in der Französischen Revolution (1789) thematisiert. Seine Beschäftigung blieb jedoch weit- gehend auf den europäischen Kontext beschränkt. Goethe hatte zu Amerika ein idealistisch geprägtes Bild, in dem Freiheit (von Altlasten) eine zentrale Rolle spielt, wie sein Gedicht

«Den Vereinigten Staaten» in «Zahme Xenien» (1795f) zeigt:

Goethes «Faust»

und die Gegenwart

Von Alexander Höhne

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Faust 1, Nacht

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Amerika, du hast es besser Als unser Kontinent, das alte, Hast keine verfallene Schlösser

Und keine Basalte.

Dich stört nicht im Innern, Zu lebendiger Zeit, Unnützes Erinnern Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück!

Und wenn nun eure Kinder dichten, Bewahre sie ein gut Geschick

Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Goethe erscheint in dieser Hinsicht gerade auf Grundlage der ganz anderen kulturellen Fragestellungen der Gegenwart nur noch begrenzt als relevant. Aber sein Sprachgenie hat noch immer Bedeutung, denn seine Leistungen zur Ausgestaltung der deutschen Sprache bleiben eine Grundlage aller Deutschsprachigen. Aber diese Grundlage hat inzwischen vor allem eine historische Relevanz. Relevanter für die Gegenwart erweist sich sein Interesse an Alchemie und Psychologie. Das Fragen nach den Grundlagen des Daseins der Wirklich- keit und des Seins bleiben aktuell, wird heute aber vor allem durch die Quantenphysik, Neurobiologie, Soziologie und Ökonomie beantwortet. Für die anthroposophisch orientier- te Wissenschaft ist neben Goethes Farbenlehre besonders die goetheanistische Methodik relevant. Diese basiert auf einem genauen Beobachten und dem Erarbeiten von (organischen) Zusammenhängen. Dabei geht es Goethe zudem um die Erarbeitung komplexer Zusammen- hänge:

Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte.

(Goethe, ohne Jahr, Maximen und Reflexionen, 500, Goethes Werke, Bd. 12)

Goethes «Faust» gilt als sein Opus Magnus, als sein Lebenswerk und zugleich als ein Werk, das seine eigene Vervollkommnung thematisiert. In seinem «Faust» thematisiert Goethe verschiedene, allgemein menschliche Motoren der biografischen Entwicklung. Ein Thema ist dabei die sinnbildliche Befreiung aus einer (übertriebenen) mittelalterlichen Demut, die dann aber (leider) in die Hybris eines überheblichen Selbstbewusstseins umschlägt.

Das Suchen nach einem mittleren Weg (zwischen übertriebener Demut und übertriebenem Selbstbewusstsein) ist ein zentrales Motiv fortschreitender menschlicher Entwicklung.

Dabei ist der Mensch immer wieder auch mit dem Problem konfrontiert, dass sich seine Absichten nicht immer in den Folgen seiner Taten manifestieren. Dieses Problem lässt Goethe im «Faust» durch Mephistopheles formulieren:

[Ich bin] Ein Teil von jener Kraft,

Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Uns Menschen geht es oft andersherum. Unsere Absichten sind gut, aber die Ergebnisse entsprechen immer wieder mal nicht den Zielen oder Wünschen, die wir anstreben. Sind wir ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft? Doch das wäre als Charakterisierung des Menschlichen sicher übertrieben. Es verdeutlicht jedoch ein Spannungsfeld, das grundsätzlich zur Gegenwart des Menschseins gehört. So jedenfalls sieht es wohl Goethe, der den HERRN über Faust sagen lässt, als Mephisto die Erlaubnis erfragt, ihn seine «Strasse sacht zu führen»:

Solang er auf der Erde lebt, So lange sei dir‘s nicht verboten, Es irrt der Mensch so lang er strebt.

Ist Faust, ist der Mensch überhaupt, ein Wesen, das durch Irrtum Wahrheit finden soll, finden muss oder eben auch finden darf? Ist es der Durchgang durch den Irrtum, der uns zu Weisen macht, wie Friedrich Rückert (1788-1866) schreibt:

Das sind die Weisen, Die durch Irrtum zur Wahrheit reisen.

Die bei dem Irrtum verharren, Das sind die Narren.

Brauchen wir das Scheitern, um weise zu werden? Brauchen wir eine Kunst des Schei- terns? Das Scheitern ist etwas, an dem wir wachsen können und es muss keineswegs endgültig bleiben. Würde ein Kind die vielen Versuche zu gehen, zu sprechen oder sonst eine Fähigkeit zu erwerben nur deswegen aufgeben, weil es zunächst immer wieder schei- tert, dann wäre aus der Menschheit wohl nicht das entstanden, was uns ausmacht. Ohne Entdeckerfreuden, ohne die Freude am Experiment, ohne das Suchen nach neuen Lösungen würde uns Menschen ein zentraler Aspekt unseres Wesens verloren gehen: Wir sind nicht nur Geschöpf, sondern auch Schöpfende. Und wir lernen nicht nur durch den Erwerb von Wissen, wir lernen noch wesentlicher durch (unsere eigenen) Erfahrungen. Manche Erfahrungen durchlaufen Einzelne auf eine Art, dass sie der ganzen Menschheit als Vorbild oder Abschreckung dienen können. Denn es ist zum Glück nicht erforderlich, dass wir alle Erfahrungen selbst, jeder für sich, durchlaufen müssen.

Die (phantasievoll ausgeschmückte) Lebensgeschichte des Dr. Johann Faust wurde zunächst wohl mit der Absicht erzählt, andere Menschen zu warnen und abzuschrecken.

Die Erzählungen zu Faust basieren auf einem realen Mann, der unter anderem in Staufen, Baden-Württemberg, rund sechzig Kilometer entfernt vom Goetheanum gewirkt haben soll.

Man vermutet, dass er von ca. 1480 bis 1541 gelebt hat. Die real auffindbaren Spuren dieses Lebens hat Hans-Ulrich Stoldt 2009 in seinem Spiegelonline Artikel Der Mogeldoktor zusammengefasst und kommentiert. Dabei kommt er zu der Feststellung: «Ja, das ist gewiss: Faust hat gelebt. Viel mehr weiß man nicht». Und doch ist einiges mehr klar, auch wenn es sich mehr um Legenden als um Tatsachen handelt. Die alten Faust-Erzählungen berichten von einem Mann, der üble Folgen seines freien Experimentierens und Denkens erleiden musste. Das berichtet auch Stoldt, indem er wie folgt zitiert:

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Als der Morgen anbrach, bot sich den verschreckten Studenten ein fürchterliches Bild:

«Sie sahen keinen Faustum mehr und nichts, dann die Stuben voller Blut gesprützet. Das Hirn klebte an der Wandt, weil jn der Teuffel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte.

Es lagen auch seine Augen und etliche Zäen allda – ein greulich und erschrecklich Specta- ckel». Die sterblichen Überreste des Doktors fanden sich draussen auf einem Misthaufen, sein Gesicht war auf den Rücken gedreht.

Vor solchen Folgen wollte man die Menschen warnen. Doch entwickelte sich recht bald noch ein anderes Interesse. Denn in den Faust-Geschichten zeigt sich (auch) ein Mensch, der neue Schritte auf seinem Entwicklungsweg geht. Er mag straucheln, Fehler machen und auch das eine oder andere beschädigen oder zerstören, doch sein Weg, sein Streben kann als wichtig und bedeutsam dargestellt werden. Vorbildlich ist diese Geschichte vor allem dadurch, weil sie zeigt, dass das Streben nach neuen Fähigkeiten und neuen Erkenntnissen für das Menschliche wesentlich ist. Und es zeigt, dass es eine Neigung im Menschen geben kann, ausser Acht zu lassen, dass die Ziele nicht die Mittel heiligen.

Goethes «Faust» ist eine Tragödie. Eine Tragödie meint hier ein dramaturgisches Grund- konzept. Ihr Pendant ist die Komödie. In der Tragödie scheitert der Held an der Übermacht der angenommenen Herausforderung, in der Komödie überwinden die Beteiligten einen von aussen gesehen unnötigen Konflikt durch ein glückliches Geschick (oder die Gnade einer höheren Macht). Eine Tragödie hingegen hat kein Happy End. Sie endet mit dem Scheitern, der Verblendung oder dem Tod.

Goethes «Faust» endet zwar mit dem Tod, eröffnet aber mit der Szene «Bergschluchten»

einen Ausblick in das Nachtodliche. In diesem Nachtodlichen gehen die Erfahrungen des vergangenen Lebens nicht verloren. Sie werden verarbeitet. Sie werden neu beleuchtet.

Und sie werden zur Grundlage für zukünftige Leben. Gotthold Ephraim Lessing schreibt in seinen Reflexionen auf die «Erziehung des Menschengeschlechts» (1795) über eine Menschwerdung, die auf viele Leben verteilt erscheint:

§. 98.

Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neueFertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?

So stellt uns Goethe mit seinem «Faust» vor Fragen, die sich nicht ohne Weiteres theo- retisch lösen lassen. Sie wollen gelebt oder zumindest im Leben berücksichtigt werden.

Und das gilt heute noch genauso wie vor rund zweihundert Jahren.

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Faust 1, Dom

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Manchmal frage ich mich, wie es dazu kommen konnte, dass das Gretchen allzu oft naiv und artig vorgestellt wird. Ist es denn nur Koketterie, wenn sie Faust bei ihrer ersten Begegnung brüsk zurückweist? Oder ist es Selbstbewusstsein? Weiss sie nicht durchaus den Schmuck zu schätzen, anfangs noch scheu, dann mit der Nachbarin Marthe gemein- same Sache machend? Und hat sie nicht ein feines Gespür für den inneren Wert eines anderen? Die Art und Weise, wie auf Gretchen geblickt wird, macht darauf aufmerksam, wie einzelne Aspekte einer Persönlichkeit entweder ausgeblendet oder hervorgehoben werden und aus der jeweiligen Sicht ihr Ruf konstruiert wird. Bürsten wir doch einmal das eingangs angeführte Bild gegen den Strich.

Klarheit über das Wesen anderer

Gretchen weist also Faust zurück. Später erfahren wir, dass sie auf seine äussere Erschei- nung («recht wacker») aufmerksam war und sogar auf Details wie seine Stirn achtete.

Auch die Schönheit des Schmuckes weiss sie sehr zu schätzen, ja zu schützen, indem sie ihrer Mutter vom zweiten Schatzkästchen nichts erzählt. Gretchen sehnt sich schliesslich nach körperlicher Berührung («Küsse») und lässt sich auf Faust sexuell ein. Sie weiss also durchaus, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und setzt dafür sogar den ihr von Faust ge- gebenen Schlaftrunk für ihre Mutter ein – wenn auch mit Bedenken. (Die Einnahme wird, was Gretchen allerdings nicht ahnte, für die Mutter tödlich enden.)

Gleichzeitig hat Gretchen ein feines Gespür für den Wesenskern eines anderen. Als sie Faust bei der ersten Begegnung zurückweist, meint sie damit sein Auftreten ihr gegenüber, nicht Heinrich an sich, in den sie sich ja schliesslich verliebt hat. Indem sie Heinrich nach seinem Glauben fragt, erschliesst sie, wie wenig er mit einem Umkreis verbunden ist. Ihm geht es allein ums Fühlen – und das hat mit einem selbst zu tun; ein «Christentum», einen Blick auf andere, hat er nicht, wie Gretchen festhält. Diese Frage stellt Gretchen nun aber nicht etwa nur im Stillen, sie konfrontiert Faust damit direkt. Und so, wie die Geschichte weitergeht, zeigt sich darin ihre Treffsicherheit: Für Faust ist der andere nur im Zusammen- hang seiner eigenen Bedürfnisse interessant; er kümmert sich nicht ums Gretchen, nicht um sein mit ihr gezeugtes Kind und ist auch im zweiten Teil bei aller Zärtlichkeit gegenüber Helena nicht gerade zimperlich, wenn es um das Durchsetzen seiner Ideen geht. Selbst seine Beziehung zu Mephisto ist nutzorientiert.

Gretchen erkennt das Böse. Sie empfindet die atmosphärische Nachwirkung des Mephisto in ihrem Stübchen («so schwül», «so dumpfig»). Sie ahnt beim Schmuck, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht. Und das nicht einfach nur aus kirchlich-moralisch ab- gesichertem Empfinden, auch wenn sich Gretchen mehrmals auf das Christentum bezieht.

Selbst im Kerker, wo es um ihr eigenes Leben geht, weist sie die Hilfe des Bösen zurück.

Alles andere

als ein Mauerblümchen

Die revolutionäre Haltung des Gretchens

Von Sebastian Jüngel

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Faust 1, Ein Gartenhäuschen

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Aufmüpfig

Gleichzeitig ist Gretchen gesellschaftlich voll integriert. Sie besorgte den Haushalt der Familie, sie kümmerte sich um ihre Schwester, als ihre Mutter dies nicht konnte, ihr Vater hat ein Vermögen hinterlassen, sie ist mit für die Wirtschaft zuständig. Im Gespräch mit Lieschen widerspricht Gretchen auch nicht den geltenden gesellschaftlichen Werten.

Allerdings lebt sie da schon ausserhalb der Konventionen, teilt sie doch das Schicksal von «Bärbelchen», vorehelich schwanger zu sein. Wie stark sich Gretchen noch mit den gesellschaftlichen Moralvorstellungen identifiziert, zeigt ihre Verzweiflung. Dass sie im Dom ohnmächtig wird, macht deutlich, wie sehr ihre Kräfte erschöpft sind und dass sie diesen Konflikt nicht (allein) lösen kann. Sie ist alleingelassen und geht durch ein tiefes Einsamkeitserlebnis. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass Gretchen letztlich ihre eigenen Bedürfnisse über die gesellschaftlichen Normen gestellt hat und darin Faust folgt: Sie hat sich standesübergreifend auf Faust eingelassen, sie hat mit ihm vorehelich geschlafen, sie hat seinetwegen ihre Familie zurückgestellt. Sie ist aufmüpfig. Alles andere als ein Mauerblümchen.

Trotz ihrer Not und dem von Faust verursachten Leid bleibt sie ihm treu. Auch hier folgt sie ihm nicht blind, erscheint ihm aber wie warnend in der Walpurgisnacht und steht ganz am Ende des ersten Teils für ihn ein, was sie nicht machen müsste – sie könnte zukunfts- zugewandt im Himmel ihre Errettung erwarten. Wie treu sie Faust gegenüber ist, zeigt sich noch einmal am Ende des zweiten Teils, als sie sich bei der «Himmelskönigin» für ihren Geliebten einsetzt und ihn liebevoll in die Himmelssphären einführen möchte.

Sicheres Urteilsvermögen

Gretchen ist also zwar tief mit den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit verbunden, löst sich aber zunehmend von ihnen, soweit ihr das möglich ist. Betrachtet man den frühen Tod ihres Vaters, ihrer Schwester, später den ihrer Mutter und ihres Bruders bildhaft, wird deutlich, dass sie zunehmend allein auf sich selbst gestellt ist, den Schutz der Familie ver- liert. In ihrer Zeit tritt an die Stelle familiärer Bindung die Gesellschaft, hier personalisiert vom Bösen Geist im Dom. Gegen die gesellschaftlichen Konventionen kommt Gretchen allein nicht an, sie kann ihren individuellen Lebensweg noch nicht vollständig gehen. Hier scheitert weniger das Gretchen. Vielmehr zeigt Goethe, wo die Entwicklungsgrenzen des Individuums innerhalb des bestehenden gesellschaftlichen Wertesystems liegen.

Bis zuletzt bleibt dem Gretchen die sichere Urteilskraft erhalten: Selbst im Kerker und trotz zeitweiliger Verwirrung vermag sie die gute Seite ihres Geliebten und den dunklen Ein- fluss Mephistos zu unterscheiden. Zeigte sie zunächst Treue gegenüber ihrer Familie und der Religion, bleibt sie ergeben gegenüber dem Gericht Gottes, den Engeln, den heiligen Scharen. Gretchen erweist sich bei all dem zwar nicht als im prüde Sinne «rein», aber als ausserordentlich sicher in ihrem Urteilsvermögen. Sie erhebt die irdische Liebe ins Geistige und wird vom vermeintlichen Mauerblümchen zum Schutzgeist des «gelehrten Herrn».

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Faust 1, Kerker

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Faust 2, Anmutige Gegend

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Stimmen zu Goethes «Faust»

Goetheanumleitung und Generalsekretäre der Anthropposophischen Gesellschaft

Dr. Constanza Kaliks, Hartwig Schiller, Dr. Seija Zimmermann, Marianne Schubert, Dr. Stefano Gasperi, Prof. Stefan Hasler, Johannes Kühl, Dr. Virginia Sease, Prof. Jaap Sijmons, Dr. Michaela Glöckler, Claus-Peter Röh, Mats-Ola Olsson, Dr. Christiane Haid, René Becker

«Faust» am Goetheanum ist nicht nur ein Ereignis, sondern ein fulminantes Bühnen- ereignis, für das mehr als ein Jahr auf und hinter der Bühne hart gearbeitet wurde, es ist zugleich auch eine Unternehmung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, ihren Sektionen. Und ganz besonders ein Kernanliegen der Anthroposophischen Gesellschaft, deren Mitglieder und Förderer zusammen mit Stiftungen dieses drama- tische Grossereignis ermöglichen.

Um die gemeinsame Intention dieses Vorhabens sichtbar werden zu lassen, haben wir Kolleginnen und Kollegen aus der Goetheanumleitung und Generalsekretäre der Anthroposophischen Gesellschaft aus verschiedenen Ländern Europas nach ihrer ganz persönlichen Stellung zu «Faust» gefragt. Es ging uns dabei um den unmittel- baren, existenziellen Bezug zu diesem grossen Stück Weltliteratur. Wie lebt Faust in mir? Eine Frage, die sich jeder Zuschauer auch stellen kann, um seine faustische Natur zu entdecken in Verbindung mit den zentralen Fragen unserer Zeit. Die von der Goetheanum-Bühne gezeigte Inszenierung ist neu – und so werden Sie, ob Sie das Stück zum ersten Mal sehen oder bereits einige Inszenierungen kennen gelernt haben, neuen Eindrücken begegnen. Wir möchten Sie, verehrtes Publikum, daher einladen, sich ebenfalls ganz unbefangen der Frage auszusetzen «Wie lebt Faust in mir?» – wenn es gut geht, entdecken Sie sich dabei mit Faust neu!

Dr. Constanza Kaliks, Jugendsektion

«Faust» ist eine Biografie voller Welt. Seine Geschichte, seine Liebe, seine Suche, sein Drang nach Freiheit und Wissen, sein Glück und Unglück werden zu einer Angelegenheit des Menschen. Oder: Wie viele der menschlichen Angelegenheiten werden durch Goethe zur Geschichte dieses einen Menschen! Sie klingen in einer Sprachschönheit, die alles durchdringt: die Weite der Zeit, die undenkbare Vielfalt der Bilder, die Abgründigkeit und Höhe von Fausts Sehnsüchten und Erfahrungen. Bei Helena, bei den Hexen, bei Gretchen, bei Mephisto: immer diese Schönheit des Wortes. Sie erfüllt einen mit Staunen. Zum Leben und zur Kunst denke ich an Goethes Worte:

Das Unbeschreibliche, Hier ist’s getan.

Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Der «Faust», so sagen es die Nachschlagewerke, sei das Nationalepos der Deutschen.

Diese Aussage hat die unterschiedlichsten politischen Systeme überdauert: das heilige römische Reich deutscher Nation, die Kleinstaaterei, das Bismarck-Reich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, DDR und BRD.

Wessen Nation soll es also Nationalepos sein?

Der Held entringt sich dem Mittelalter, steigt hinab zu den Müttern, trifft Helena, das Urbild griechischer Identität, verstrickt sich in den ersten Bankenskandal und emanzipiert, eman- zipiert, emanzipiert sich.

Zuletzt scheint er von allen guten Geistern verlassen, zuallerletzt an Mephisto verloren – bis der Deus ex machina ihn erlöst. Ein Deus, der deshalb wirklich ist, weil er den Chor der Göttlichkeit erscheinen lässt, weil dieses Wunder, mit Tertullian zu sprechen, unglaublich ist und weil es der Wirklichkeit eines ohnmächtig-grenzenlosen menschlichen Strebens entspricht.

Welche Nation soll das sein, deren Epos hier gesungen wird? Die deutsche vielleicht wegen ihres permanenten Wechsels, ihrer Unstetigkeit und dauernden Fluktuation, wegen ihrer Schuldhaftigkeit, verzweifelten Griffe und Missgriffe nach dem Ideal?

Nation und Staat sind leicht zu verwechselnde Worte. Doch Nation bezeichnet vor allem einen kulturgeschichtlichen, Staat hingegen einen politisch-rechtlichen Zusammenhang.

Die Nation, der Faust angehört, ist in der Kuppelmalerei des ersten Goetheanum abgebildet.

Es ist die blaue, in innerer Schau dargestellte Figur, welche die Schrift des «ICH» liest. Um diese Gestalt herum zeigen sich alle jene Stationen, welche das Werden einer souveränen

«Ich-Wesenheit» ermöglichen. Menschen «haben nicht nur ein ‹Ich›, sondern wissen auch davon», wie es in der Geheimwissenschaft im Umriss über die Archai als Menschenvor- fahren heisst (GA13, S. 164).

Was da geschildert wird und wovon der «Faust» erzählt, ist eine neue Nation. Ihr Charakter ist kosmopolitisch. Sie vereinigt das Menschentum der Zugehörigen durch ein Wissen von dem Allgemein-Menschlichen des Mensch-Seins. Der Geist dieses Menschentums heisst Michael und weiss den Dr. Faustus als seinen ersten Protagonisten. Es handelt sich um eine Nation des höheren ICH-Menschen, die durch alle Versuchungen und alles Scheitern hindurch nicht von ihrem Streben lassen darf.

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Dr. Seija Zimmermann, Vorstand am Goetheanum

Ist «Faust» heute noch aktuell?

Pflegen wir die Beziehung zu Goethes «Faust» aus Tradition oder gibt es da für den moder- nen Menschen Verständliches, ja sogar erst jetzt Verständliches, verglichen mit Goethes Zeit oder mit der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Rudolf Steiner seine Gedanken zu Goethes «Faust» äusserte? Im ersten Teil von «Faust» kann man sich noch einigermassen zurechtfinden, aber wie ist es mit dem zweiten Teil? Der zweite und dritte Akt im zweiten Teil sind voll von Figuren und Gestalten aus der griechischen Mythologie, die dem heutigen Menschen ohne Spezialkenntnisse nicht mehr vertraut sind. Es bedarf insofern offensicht- lich eines Leitfadens, um aus der verwirrenden Fülle zu einer Orientierung zu gelangen, ohne jedoch das künstlerische Geschehen auf der Bühne und den gesamten Prozess zwi- schen dem Zuschauer und dem Bühnengeschehen zu stören.

Im zweiten Akt des zweiten Teils steht Wagner im Laboratorium. Es geht um die Entste- hung von Homunkulus. Allein die Bezeichnung «Homunkulus» und nicht «Homo» gibt einen Hinweis darauf, an was der Dichter dachte. Homunkulus ist das kleine Menschlein. Rudolf Steiners erste eigene Darstellungen seiner Auffassung zum Homunkulus-Wesen finden sich im Faust-Aufsatz 1902. «Nur ein rein geistiges, ein auf geistige Weise geborenes Wesen könnte sich unmittelbar mit dem Geistigen vereinigen. Der Menschengeist ist kein solches Wesen. Er muss durch das Materielle vollständig hindurch wandeln.»

Homunkulus lebt insofern nicht in der sinnlichen Sphäre, sondern bewegt sich in den Dimensionen des Übersinnlichen, die mit verschiedenen Bewusstseinszuständen zu errei- chen und zu erkennen sind. In der Anthroposophie differenzierte Bewusstseinszustände wie Tagesbewusstsein, Traumbewusstsein und Schlafbewusstsein bekommen nun durch die Reise von Homunkulus auf der Bühne ein künstlerisch-sinnliches Kleid in Form der vielfältigen Gestalten. Für den Zuschauer ist es nicht entscheidend, jede einzelne Figur dem Namen nach zu kennen. Er darf sich ganz hineinbegeben ins künstlerische Gesche- hen, wodurch in ihm durch den Zauber des Geschehens zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum etwas erlebbar wird, was gerade in dem Moment entsteht. Das Bleibende eines solchen Erlebnisses ist dann die Erinnerung an ein Geschehen, erzeugt durch das Visuell-Sprachliche. Diese Authentizität des Gegenwärtigen ist ein Zugang des modernen Menschen. Er ist gewohnt, gleichzeitig in mehreren Abläufen und Geschehnissen zu leben.

Dr. Virginia Sease, Vorstand am Goetheanum, emeritiert

Vor 60 Jahren: eine amerikanische Studentin erlebte Goethes «Faust» am Goetheanum

Eine Begegnung mit einem grossen Kunstwerk kann für den Schicksalsverlauf eines Le- bens – besonders, wenn sie in der Jugend stattfindet – von grosser Bedeutung sein. Später blickt man auf die Fäden, die zum eigentlichen Ereignis hingeleitet haben, zurück.

So geschah es vor sechzig Jahren, im Jahr 1956 in den Vereinigten Staaten, einer zwanzig- jährigen Studentin. Durch das Studium der grossen englischen Weltliteratur stösst sie auf das Faust-Thema im Drama «Die tragische Historie vom Doktor Faustus» von Christopher Marlowe. Es fällt die Entscheidung, Germanistik als Hauptfach zu studieren, denn hier wird Goethes «Faust» angeboten, natürlich viel zu schwierig für ihre damaligen Deutschkenntnisse, aber trotzdem wird sie überraschenderweise zugelassen. Mit zwanzig Jahren kam die Erfül- lung eines schon länger gehegten Wunsches, eine erste Europareise zu unternehmen.

Die Verfasserin dieser Zeilen war diese junge Frau.

Ich erfuhr dann durch meine ehemalige Deutschlehrerin, die jedes Jahr das Goetheanum besuchte, dass Goethes «Faust» im Sommer 1956 am Goetheanum aufgeführt wird. Fausts Magie war kein Vergleich zu dem Zauber der Aufführung, die ich damals erlebte. Vom ersten Moment an die Worte zu hören, die ich vorher nur gelesen hatte, brachten mich, die ich fast nur Schriftdeutsch kannte, in eine andere Wirklichkeitsdimension. Die Kunst der Sprachgestaltung war mir nicht bekannt und ich meinte, so muss Goethe es irgendwo an- geordnet haben, in Angaben, die mir noch nicht zugänglich waren. Durch die Sprache selbst wurde die Inszenierung belebt und die Schauspielerinnen und Schauspieler gestalteten die Bilder nur minimal durch Bewegung, was das Gegenteil des damaligen amerikanischen Dramas oder Films war. Lange danach, beim Lesen von «Faust», hörte ich noch immer die Stimmen von Kurt Händewerk, Erna Grund, Dora Gutbrod und anderen. Es erweckte eine beginnende Einsicht in mir: Deswegen ist der Mensch von allen Geschöpfen sprachbegabt, weil Sprache mehr ist als Singen.

Die Eurythmie bereitete die andere wesentliche «theatralische» Offenbarung von einer anderen Welt. Sie konnte alles darstellen und beleben, von Hexen und Nymphen bis zu den höchsten Geistwesen, scheinbar ohne irgendeine Mühe.

Nun, sechzig Jahre später, nach mehreren Gelegenheiten, am Goetheanum das Meister- werk in verschiedenen Inszenierungen und Schauspielensembles zu erleben, freue ich mich auf Goethes «Faust» 2017. Für jeden wird es auf seine Art einen wichtigen biogra- fischen Moment bedeuten.

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Faust 2, Kaiserliche Pfalz. Saal des Thrones

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Faust 2, Weitläufiger Saal, mit Nebengemächern

(verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz)

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Faust 2, Weitläufiger Saal, mit Nebengemächern

(verziert und aufgeputzt zur Mummenschanz)

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Prof. Stefan Hasler, Sektion für Redende und Musizierende Künste

Diese Faustsprache erscheint mir immer wieder als eine Klang-Partitur: mal starke Rhyth- men und Metrisches, mal fast Prosa, mal staccato, mal klanglich getragen und verbunden, mal kurze Verse, dann wieder lange Verse …

Am besten geschäh dir, / Du legtest dich nieder, / Erholtest im Kühlen / Ermüdete Glieder, / Genössest der immer / Dich meidenden Ruh; / Wir säuseln, wir rieseln, / Wir flüstern dir zu. (7263ff)

So sprechen die Nymphen zu Faust. Da brauche ich als Zuhörer nichts von den Worten zu verstehen und werde gleich durch den sich wiederholenden Rhythmus, durch die vielen Umlaute und Diphthonge, durch die kurzen Verse, durch die Sprachmelodie eingeschläfert und im wahrsten Sinne des Wortes «eingesäuselt». Ganz anders wach werde ich als Zuhörer durch die folgende Aussage Fausts:

Hund! abscheuliches Untier! – Wandle ihn, du unendlicher Geist! wandle den Wurm wieder in seine Hundsgestalt, wie er sich oft nächtlicher Weile gefiel vor mir herzutra- ten, dem harmlosen Wanderer vor die Füße zu kollern und sich dem niederstürzenden auf die Schultern zu hängen. (4399)

Hier stockt mir der Atem, ich werde blitzwach, die Aussage trifft mich im Allerinnersten und ich sitze auf der Stuhlkante in Mitgefühl zu Faust, in dieser aussichtslosen Lage: Kein Rhythmus, direkte Aussagen, von Versen kann man gar nicht sprechen (auch die Numme- rierung der Herausgeber stockt an dieser Stelle), emotionale Ausbrüche in der Sprache. – Kurz gesagt: In allen Charakteristiken das pure Gegenteil der vorigen Stelle.

Genau so mannigfaltig wie die Klangerfahrung der Sprache ist auch die Wirkung des Zusammenspiels der verschiedenen Bilder durch Figuren und Personen: mal sind die Prota- gonisten in Harmonie verbunden, mal stehen sie in Spannung zueinander, mal stehen sie in völliger Dissonanz mit sich selbst, oder mit dem Umfeld …

* mal tauscht sich Gretchen mit Frau Marthe in aller Innigkeit aus

* mal wendet sich Gretchen mit grossem Abscheu gegen Mephisto

* mal findet sich eine grosse Truppe durch den Wein vereint in Auerbachs Keller

* dann erlebt die grosse Hofgesellschaft den Anblick von Paris und Helena als eine ganz andere Wirklichkeit

* mal ist Faust im stillen Gespräch mit seinem Inneren, da darf ich als Zuschauer fast nicht dabei sein!

* mal wendet sich Mephisto in kurzen Aussprüchen zum Publikum, da bin ich ganz froh, auch mal direkt angesprochen zu werden.

Im Ganzen also eine grossartige, eine zeitlose Sinfonie, ein volles menschliches Leben mit aller Dramatik, Spannung und Sinnesfreude. «Komponiert» vom Leben selbst und auf- geschrieben sowie diktiert durch Johann Wolfgang von Goethe.

Marianne Schubert, Sektion für Bildende Künste FAUST 1

Hab nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie!

Durchaus studiert, mit heißem Bemühen.

Da steh ich nun ich armer Tor!

Und bin so klug als wie zuvor;

[...]

Und sehe, dass wir nichts wissen können!

Das will mir schier das Herz verbrennen.

[...]

Es möcht kein Hund so länger leben!

Drum hab ich mich der Magie ergeben, [...]

Dass ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammen hält [...]

Mit der Figur des Faust hat Goethe den Entwurf des modernen Menschen geschaffen. Er- innert nicht die Faust’sche Frustration an die Suche und Verzweiflung vieler Zeitgenossen?

Der Versuch, Fesseln von Glauben, Tradition und Natur abzustreifen, scheitert, der Mensch wird sich selbst und seiner Umwelt fremd. Doch die Probleme unserer Zeit, Kriege, Flücht- lingsströme, Umweltkrisen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen, sind mit einer rein materialistisch-mechanistischen Weltsicht nicht zu lösen.

Rudolf Steiner sagt in seinem Vortrag «Goethe als Vater einer neuen Ästhetik»: «… nur indem der Menschengeist diese Wirklichkeit überschreitet, die Schale zerbricht und zum Kerne vordringt, wird ihm offenbar, was diese Welt im Innersten zusammenhält ... nicht mehr im einzelnen Naturgeschehen, nur am Naturgesetz, nicht mehr am einzelnen Indivi- duum, nur an der Allgemeinheit können wir Befriedigung finden.»

So ist Goethes «Faust» ein erstaunlich aktuelles Drama.

Referenzen

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In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens.. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit

Sorgfältig zog er die verletzende Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom Nacken und verband die greuliche Tatze des Untiers, sodaß die Mutter sich vor Freuden

Ich war grenzenlos glücklich an Friedrikens Seite; gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem

in Italien betriebenen Suche nach einer ›Urpflanze‹ zu begreifen, aus der alle existierenden Pflanzen hervorgegangen sein sollen: »Woran würde ich sonst erkennen,

»Verzeihen Sie, sagte Wilhelm, Sie haben mir streng genug alle Fähigkeit zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz