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οὐκ ἀκριβῶς. Eine Untersuchung der Rolle der Genauigkeit in Aristoteles‘ wissenschaftstheoretischen Überlegungen

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Helmut Hofbauer

οὐκ ἀκριβῶς . Eine Untersuchung der Rolle der Genauigkeit in Aristoteles‘ wissenschafts- theoretischen Überlegungen

Lehrgebiet Philosophie II, Praktische Philosophie: Ethik, Recht, Ökonomie Bachelorarbeit

Fakultät für

Kultur- und

Sozialwissen-

schaften

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FernUniversität in Hagen

B.A.-Studiengang Kulturwissenschaften Bachelor-Abschlussarbeit im Fachschwerpunkt Philosophie

Abgabedatum 20. 3. 2017

Thema:

οὐκ ἀκριβῶς. Eine Untersuchung der Rolle der Genauigkeit in Aristoteles‘ wissenschaftstheoretischen Überlegungen

Betreuer:

Dr. Klaus Honrath Lehrgebiet Philosophie II

vorgelegt von

Helmut Hofbauer

Matrikelnummer 7496354

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Inhaltsverzeichnis

1. Ansatz und Zielsetzung der Arbeit...1

2. Grundlagen...5

2.1. Sprachgebrauch und Bedeutung des Begriffs vor Aristoteles...5

2.2. Platon...10

3. Die ἀκρίβεια bei Aristoteles...15

3.1. ἀκρίβεια in Aristoteles‘ Wissenschaftstheorie...15

3.1.1. Philosophie der hervorbringenden Wissenschaften...16

3.1.2. Theoretische Philosophie...24

3.1.3. Praktische Philosophie...30

3.2. Konsequenzen für das aristotelische Wissenschaftsmodell...36

3.2.1. Erkenntnistheorie unter den Bedingungen der Ungenauigkeit...37

3.2.2. Die Ordnung der wissenschaftlichen Disziplinen...43

4. Ausblicke auf die Moderne...46

Literaturverzeichnis...51

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1. Ansatz und Zielsetzung der Arbeit

»Erlaucht,« sagte er »es gibt nur eine einzige Aufgabe für die Parallelak- tion: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden! Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!«1

Diese merkwürdige Forderung lässt Robert Musil Ulrich, den Mann ohne Ei- genschaften, als Antwort auf die Frage nach der Gestaltung der Thronjubilä- umsfeierlichkeiten von Kaiser Franz Joseph I. äußern. Der Gegensatz von „Ge- nauigkeit und Seele“ bildet ein zentrales Motiv des Romans und ist für Musil zugleich ein Hauptcharakteristikum der Moderne.2 Die Entdeckungen und Er- klärungen der exakten Wissenschaften beschrieben die Welt als von Naturge- setzen bestimmt und in Formeln berechenbar. Anderseits konnten sie die Phä- nomene des Gefühls- und Seelenlebens nicht annähernd mit der gleichen Stren- ge darstellen, geschweige denn erklären. Dass es für die Emotionen keine eher- nen, ausnahmslosen Gesetze gleich denen der Physik geben kann, ist eine Grunderfahrung des Romanprotagonisten.3 Wenn wir dem Mathematiker Ul- rich bei seinem Experiment, durch das Probieren unterschiedlicher Lebensge- staltungen diese Aporie zu überwinden, durch den Roman folgen, lesen wir zu- gleich ein philosophisches Essay über ein antikes Thema. Der Anspruch auf Genauigkeit (ἀκρίβεια) und die Kluft zwischen den Wissenschaften von der Natur und denen vom Menschen und seinem Verhalten, wie sie von Musil dis- kutiert werden, sind schon in der Antike, insbesondere im Denken von Aristo- teles, beschrieben worden. Dessen Verständnis von Genauigkeit nachzugehen, soll Gegenstand dieser Arbeit sein. Dabei sollen geläufige Missverständnisse der Interpretation aufgezeigt werden, die auf eine unreflektierte Übertragung wissenschaftstheoretischer Prämissen der Gegenwart auf die Antike zurück- führbar sind.

1 Musil 1992, S. 596 f.

2 Vgl. Braun 1954, S. 305 ff.

3 Vgl. Musil 1992, S. 825 f.

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Vom altgriechischen Ursprung ἀκρίβεια führt die Transformation über die latei- nische acribia der Kirchensprache schließlich zum deutschen Substantiv Akri- bie4, welches noch immer Bestandteil des bildungssprachlichen Wortschatzes ist. Akribie und das abgeleitete Adjektiv akribisch werden im heutigen Sprach- gebrauch verwendet, wenn besondere Genauigkeit, Sorgfalt oder Gründlichkeit bei einem Vorgehen betont werden soll. In wissenschaftlichen Zusammenhän- gen hat „akribisch“ positive Bedeutung und drückt die Anerkennung für die Exaktheit eines Verfahrens oder die Detailgenauigkeit (und den damit verbun- denen Fleiß des Wissenschaftlers) aus. Außerhalb der wissenschaftlichen Sphä- re findet sich aber auch die Verwendung mit negativer Konnotation, die Akribie mit Pedanterie gleichsetzt, sie also in kritischer Weise als ein „Übergenauneh- men“ charakterisiert. Die stehende Wendung „wissenschaftliche Akribie“ ver- weist auf den häufigsten Anwendungsbereich des Begriffs, nämlich die Tätig- keiten von Wissenschaftlern und Forschern. Innerhalb wissenschaftlicher Zu- sammenhänge lassen sich die Erscheinungsformen von Akribie abhängig von Methode und Gegenstand bestimmen:

Zum einen als Erscheinungsform der Akribie, die durch eine strikte Einhaltung von spezifischen Regeln beschrieben werden kann. Zu dieser Form gehört im weiteren Sinn auch die Forderung nach logischer Exaktheit und Widerspruchs- freiheit der Argumentation und der Beweisverfahren. Diese Form der Akribie bezieht sich auf die theoretischen Komponenten wissenschaftlichen Arbeitens.

Dazu müssen die methodischen und logischen Regeln, die im jeweiligen fach- lichen Diskurs gelten, bekannt sein und befolgt werden. Die gleichen Anforde- rungen gelten natürlich auch für die philosophische Argumentation.

Eine zweite Bestimmung des Begriffs Akribie ergibt sich, wenn man die empi- risch vorgehenden Bereiche der Wissenschaften betrachtet: Hier ist sie als höchste Sorgfalt in der Durchführung zu verstehen. Die Exaktheit von Messun- gen, das genaue, aufmerksame Beobachten und Beschreiben oder Abbilden von Phänomenen, sowie deren präzise Klassifikation, sind die Erkennungsmerkma- le des Akribischen bei jedem empirischen Vorgehen.

4 Die ältesten Belege für „Akribie“ in deutschen Texten datieren ins frühe 18. Jahrhundert, das abgeleitete Adjektiv akribisch wird erst später gebildet. Vgl. Deutsches Fremdwörter- buch 1995, S. 280 f.

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Akribie kann noch in einer dritten Bedeutung verstanden werden, nämlich als Vollständigkeit bei der Durchdringung eines Gegenstands. Das wissenschaftli- chen Arbeiten darf keinesfalls Tatsachen und Methoden ohne sachlichen Zwang willkürlich auswählen oder beiseite lassen. Auch Widersprüche oder Widerlegungen, die sich im Verlauf einer Untersuchung zeigen, dürfen nicht unterschlagen werden. Ein Vorgehen, dass auf prinzipiell relevante Erkenntnis- se, Zusammenhänge oder Quellen verzichtet (oder den Weg dazu nur unvoll- ständig beschreitet), ist weder akribisch noch wissenschaftlich.

Diese drei aufgeführten Aspekte wissenschaftlich-philosophischer Akribie er- gänzen sich wechselseitig; sie beschreiben heute selbstverständliche und basale Anforderungen an das Arbeiten in den Einzelwissenschaft und der Philosophie.

Unser modernes Verständnis des Begriffs soll in der geplanten Arbeit den Hin- tergrund für die Untersuchung von ἀκρίβεια in den Schriften des Aristoteles bilden, zugleich aber auch hinterfragt werden. ἀκρίβεια und verwandte Wort- formen (oftmals Komparative oder Superlative) werden von Aristoteles häufig gebraucht,5 etwa in der Formulierung, dass etwas an anderer Stelle in seinem Werk genauer behandelt werde (wobei sich diese Verweise überwiegend auf andere Pragmatien, nicht auf die exoterischen Schriften beziehen). Er verwen- det ἀκρίβεια ebenfalls als Kriterium zur Bestimmung des Verhältnisses und der Stellung der Wissenschaften zueinander. Der Ersten Philosophie (d.h. der Me- taphysik) soll eben aufgrund ihres Strebens nach klaren, grundlegenden Prinzi- pien, aus denen wiederum die Erscheinungen deduziert werden können, ent- sprechend dem Kriterium der Genauigkeit der höchste Rang unter den Wissen- schaften zukommen. In der Zoologie und Biologie wendet Aristoteles aller- dings eine andere Interpretation der Akribie an, die sich über eingehendes De- tailwissen und die Genauigkeit von Beobachtungen bestimmt.

Besonders differenziert erscheint die Bedeutung von ἀκρίβεια in der prakti- schen Philosophie ausgeführt (u.a. im Methodenexkurs der Nikomachischen Ethik, NE 1094a22-1095b13), wo Aristoteles auch die notwendige Abwei- chung vom Exaktheitsideal erklärt. Dabei geht es ihm um die besondere Schwierigkeit ethischer Definitionen, da im Feld des Handelns das vom Men-

5 „The adjective is a favourite of Aristotle‘s...“ stellt Jonathan Barnes in seinem Kommentar unter Berufung auf den Index Aristotelicus von Bonitz fest. J. Barnes: Aristotle Posterior Analytics, 1994, S. 189

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schen Gesetzte (νόμος) im Zentrum steht, das nicht von Natur (φύσις) aus oder mit Notwendigkeit geschieht. Aristoteles ersetzt an dieser Stelle das Exakt- heitsideal durch ein Wissen im Umriss (τύπῳ), das in der Kenntnis der Gegen- stände und Zusammenhänge nur dem Grundriss nach besteht. Dieses Wissen kann nicht alle in der Ethik relevanten Details konkreten Handelns umfassen, da die Vielfalt von Handlungsoptionen und variierenden Umständen, die dabei berücksichtigt werden müssten, prinzipiell unerschöpflich ist. Ein anderer As- pekt, der eine Abweichung von der Genauigkeitsforderung notwendig macht, ist die Uneindeutigkeit von Gütern wie Handlungen in der praktischen Philoso- phie, sofern sie nicht nur für sich genommen betrachtet werden: Reichtum kann seinem Besitzer ebenso schaden wie nützen, Tapferkeit in der Schlacht zum Sieg oder zum katastrophalen Untergang führen. Hier handelt es sich um ein Wissen „ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ“, wie es sich zumeist verhält. Zur ἀκρίβεια wissen- schaftlichen Vorgehens, die eine möglichst hohe Sicherheit des Wissens durch den Besitz der allgemeinen Prinzipien gewährleisten soll (wie etwa in Met. I 2, 982a26 ausgeführt), lässt Aristoteles in der praktischen Philosophie diese wich- tige methodologische Abweichung zu, ohne aber den Wert dieses Felds für die menschliche Erkenntnis in Frage zu stellen.

Aristoteles setzt die unterschiedlichen Stufen6 der ἀκρίβεια des Weiteren ein, um das Verhältnis der Einzeldisziplinen zueinander zu erklären. In AP I Kapitel 27 legt Aristoteles dar, inwiefern er eine Wissenschaft als genauer im Vergleich zu einer anderen bewertet. Die Kriterien für ihn sind dabei die Einheit in der Behandlung des „Dass“ (die Tatsache einer Erscheinung, die untersucht wird) und des „Warum“ (die Ursache einer Erscheinung). Für eine Wissenschaft mit dem höchsten Grad an Exaktheit genüge es nicht, das Dass eines Sachverhalts ohne sein Warum bestimmen zu können. Als weiteres Kriterium für den Grad der ἀκρίβεια wird die möglichst hohe Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Aussagen gegenüber außerdisziplinären Kontexten und zusätzlichen Vorbedin- gungen angeführt.

Ausgehend vom aktuellen Forschungsstand soll in dieser Arbeit die Verwen- dung des Begriffsfelds ἀκρίβεια bei Aristoteles dargestellt werden. Obwohl in Kommentaren häufig Bezug auf den Begriff genommen wird, sind Einzelunter- suchungen zu diesem Thema bisher Mangelware. Die Arbeit von Dietrich Kurz

6 Ottfried Höffe spricht von „Genauigkeitshierarchie“. Höffe 2010, S. 30

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zur Begriffsgeschichte erscheint philologisch zuverlässig und gesteht Aristote- les auch ein eigenes Kapitel zu, hat aber erkennbar philosophische Defizite und entspricht nicht mehr dem Stand der aktuellen Aristotelesforschung. Andere Abhandlungen (Höffe, Anagnostopoulos) konzentrieren sich vorwiegend auf die aristotelische Ethik. In dieser Arbeit soll, nach einer kurzen Darstellung der Ausgangssituation vor Aristoteles, sein Verständnis des Genauen in Beziehung zu seiner Einteilung der Wissenschaften in drei Klassen untersucht werden. Im Anschluss soll es um seinen Umgang mit dem Folgeproblem gehen, wie es um Wissen bestellt ist, sofern es „οὐκ ἀκριβῶς“ ist und welcher Methoden sich die Wissenschaft im Grenzbereich zum Unbestimmten bedienen kann. Am Ende der Arbeit sollen dann einige Beispiele aus der weiteren Geschichte des Be- griffs die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Moderne und dem Verständnis des Aristoteles erhellen.

2. Grundlagen

2.1. Sprachgebrauch und Bedeutung des Begriffs vor Aristoteles

Aristoteles gibt für ἀκρίβεια (oder eine andere davon abgeleitete Wortbildung) an keiner Stelle seiner Werke eine systematische Definition, die einem moder- nen Leser das Verständnis erleichtern könnte. Dass die modernen deutschen Übersetzungen „genau“, „präzise“ oder „exakt“ nicht deckungsgleich mit dem aristotelischen Begriff sind, lässt sich bereits bei einer flüchtigen Betrachtung einzelner Textstellen nicht leugnen.7 Deshalb soll dieser Untersuchung ein kur- zer Blick auf die Verwendung des Begriffs in der Zeit vor Aristoteles vorange- stellt werden. So können die Abweichungen zu unserem Verständnis von Ge- nauigkeit8 durch die Einbeziehung von sprachlichem Kontext und Vorgeschich- te transparent gemacht werden; auch die Akzentverschiebungen, die Aristoteles

7 Zum Beispiel Met. 990b15 „οἱ ἀκριβέστεροι τῶν λόγων“: Bonitz übersetzt mit „schärfere Beweise“, Schwarz mit „genauere Argumente“. Beide treffen den Sinn nicht richtig. Aris- toteles bezieht sich an dieser Stelle auf erweiterte Begründungen der Ideenlehre, die offen- kundig widersprüchlich sind (Idee der Relation, Dritter-Mensch-Argument). οἱ ἀκριβέστεροι sind die Darstellungen, die ausführlicher und detaillierter argumentieren, aber in Aristoteles Verständnis sicher nicht die „genaueren“ sind.

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gegenüber anderen Autoren vornimmt, werden auf diesem Weg fasslich. Ob- wohl „ἀκριβής“ bereits früher spezifisch fachbegriffliche Bedeutung entwickelt hatte (neben dem philosophischen Diskurs in unterschiedlicher Weise auch im Gerichtswesen und in der Medizin), kann Aristoteles dennoch auf gängige um- gangssprachliche Verwendungsweisen zurückgreifen, die für seine Zeitgenos- sen ohne philosophisches Fachwissen verständlich waren.9 Die Annahme, dass hinter dem Wort ἀκρίβεια eine „methodische Idealvorstellung“ stehe, die seit dem fünften Jahrhundert „in verschiedenen Bereichen des tätigen und geisti- gen Lebens diskutiert wurde“10, erscheint daher äußerst problematisch. Kurz‘

Deutung von ἀκρίβεια als methodisches Ideal vernachlässigt Genauigkeit als Eigenschaft des betrachteten Gegenstands, die besonders in den naturwissen- schaftlichen Werken präsent ist. Auch ein Blick auf die Kritik an der ἀκρίβεια in Textzeugnissen anderer Autoren11 legt eine alternative Deutung zu dem von Kurz präsentierten Entwicklungsmodell nahe.12

8 Wenn in dieser Arbeit für ἀκρίβεια und ἀκριβῶς vorwiegend „Genauigkeit“ und „genau“

verwendet werden, dann lediglich um die Begriffstreue zu bewahren, nicht weil dies als verbindliche Interpretation gelten soll. Gelegentlich wird aus stilistischen Gründen auf Synonyme (exakt, präzise etc.) zurückgegriffen oder die Begrifflichkeit der verwendeten Übersetzungen zitiert. Auf inhaltlich bedingt abweichende Übersetzungen wird im Text hingewiesen.

9 Etwa im Protreptikos, siehe Kapitel 3.1.1. dieser Arbeit.

10 Kurz 1970, Widmung

11 Im Corpus Hippocraticum findet sich der (auch aus philosophischer Sicht) spannende Text

„Über die alte Heilkunst“, in dem sich manche Parallelen zu aristotelischen Positionen er- kennen lassen. Der Verfasser argumentiert gegen strikte Exaktheitsforderungen an die Me- dizin als Wissenschaft, gerade im Sinn von mathematisch quantifizierenden Kriterien. Vgl.

VM 590, Die alte Heilkunst 1994, S. 251 u.a.

12 Die wichtige Arbeit von Kurz (noch immer die einzige Monographie zum Thema ἀκρίβεια) zeichnet sich durch eine umfangreiche Sammlung von Quellen zur Begriffsge- schichte und ein feinsinniges Verständnis für den Sprachgebrauch im Einzelfall aus. Der Qualität im Detail stehen allerdings grob verallgemeinernde Thesen gegenüber, die aus philosophischer Sicht fragwürdig erscheinen. So kann etwa die – mehr postulierte als be- legte – Entwicklungsgeschichte des Begriffs ἀκρίβεια aus einem elementaren handwerkli- chen Kontext (der Zimmerei) zu einem philosophischem Abstraktum als charakteristisches Beispiel für diesen Fehler genannt werden (siehe Kurz, S. 10 ff.). Auf den ersten Blick er- scheint das zwar als eine durchaus plausible Annahme. Dabei lässt Kurz allerdings unbe- rücksichtigt, dass sich sprachgeschichtliche Entwicklungen ebenfalls in entgegengesetzter Richtung ereignen können, also Allgemeinbegriffe eine Verengung in der Anwendung er-

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Die Etymologie des Wortes, das in den frühesten Belegen im fünften Jahrhun- dert v. Chr. als Adjektiv ἀκριβής und als Substantiv ἀκρίβεια erscheint, kann nicht sicher erschlossen werden.13 Die verbreiteten Übersetzungen mit „sorgfäl- tig, gewissenhaft, genau, gründlich, streng, fleißig, sparsam“14 sind in Bezug auf den Sprachgebrauch zumindest der ältesten Belege unzureichend, da hier ἀκριβής vorwiegend als Eigenschaft des Gegenstands verstanden wurde und nicht als Bestimmung des Handelns (oder Gestaltens) des Subjekts gegenüber dem Gegenstand.15 Im Unterschied zu den erwähnten Übersetzungen wurde auch eine Steigerung der zugeschriebenen Eigenschaft ursprünglich offenbar nicht für erforderlich gehalten (keine Komparativ- oder Superlativformen).16 Die Verbformen ἀκριβόω und ἐξακριβόω leiten sich von der Nominalform ab und können unter den erwähnten Annahmen nicht einfach als nähere Bestim- mungen einer Tätigkeit übersetzt werden. Besser wäre es, hier von einem „ge- nau machen in Bezug auf etwas“ zu sprechen.17 Einige Belegstellen deuten dar- auf hin, dass man mit ἀκριβής ein nahtloses, glattes Ineinanderpassen von Din- gen (etwa das Anpassen von Wundverbänden an Körperglieder, Theaterbärten an Gesichter oder von zwei Holzstücken bei einer Flöte) gemeint haben könn- te.18 Im 4. Jahrhundert findet der Begriff offenbar häufiger Verwendung und zu-

fahren (man denke an den Extremfall der Eigennamen von Orten oder Personen, die ur- sprünglich Gattungsbezeichnungen waren). Sprache ist auch in ihrer elementarsten Form kaum ohne Allgemeinbegriffe und Abstrakta denkbar; für manche aus sprachspezifischer Sicht konkrete und grundlegende Dinge können hingegen Begriffe fehlen. Bezeichnender- weise haben die beiden ältesten Belegstellen, die Kurz für ἀκριβής angibt (S. 19, S. 62 f.), weder einen handwerklichen Bezug noch sonstigen anschaulichen Sinn. Die Zuordnung zum Handwerklichen lässt sich weder ex negativo mit dem Nichtvorkommen des Wortes in der epischen Dichtung noch aus der häufigen Verbindungen des Adjektivs mit τέχνη – dies gilt auch für einige „nichthandwerkliche“ Begriffe – schlüssig begründen. Kurz‘ Neigung zur Konstruktion einer Entwicklungsgeschichte des Begriffs führt auch zu unbegründeten Einwänden gegen Aristoteles im Schlusskapitel seiner Abhandlung.

13 Vgl. Kurz 1970, S. 1 14 Vgl. Kurz 1970, S. 2 15 Vgl. Kurz 1970, S. 3 16 Vgl. ebd.

17 Kurz 1970, S. 5

18 Belegstellen führt Kurz u.a. aus Aristophanes, Thukydides und dem Corpus Hippocraticum an, die zeitlich allerdings z.T. relativ spät liegen bzw. in der Datierung unsicher sind. Seine Aussagen zum Begriffsursprung bleiben bloße Vermutungen.

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sammengesetzte Neubildungen sind belegt, zum Beispiel ἀπακριβόομαι, das die Ausarbeitung eines Gegenstand mit Ausführlichkeit oder Detailtreue be- zeichnet. Die Komposita mit λόγος (ἀκριβο-λογέομαι und δι-ακριβο-λογέομαι in Zusammenhang mit Rede, Argumentation oder Wortbedeutung) werden häu- fig von Platon verwendet.

ἀκριβής ist früh auch in Gerichtsreden belegt, wo sich eine Ausdehnung des Begriffs auf die epistemische Ebene erkennen lässt: Nicht mehr dem Gegen- stand allein, auf den sich eine Aussage bezieht, kommt diese Eigenschaft zu, sondern die Aussage selbst und die Person, die die Aussage macht, werden da- mit bezeichnet. Eine Aussage ist gerade dann genau, wenn sie auf Augenzeu- genschaft beruht oder als Wiedergabe eines Berichts eines anderen Augenzeu- gen akzeptiert werden kann. So kann Gorgias in der Apologie des Palamedes fragen, ob exaktes Wissen oder bloße Meinung („εἰδὼς ἀκριβῶς ἢ δοξάζων“) Grundlage der Anklage ist.19 Exaktes Wissen, erfahren wir im Weiteren, meint hier ein persönliches Sehen, eigene Anwesenheit oder selbst von jemand erfah- ren zu haben, basiert also auf direkter oder indirekter Zeugenschaft. Besondere Beachtung verdient die wahrscheinlich älteste Belegstelle für ἀκριβής über- haupt, die uns unter den Fragmenten Heraklits überliefert ist: „ὀφθαλμοὶ τῶν ὤτων ἀκριβέστεροι μάρτυρες“.20 Sie zeigt erstens, dass Genauigkeit bereits von Heraklit so verstanden wurde, dass nicht (bzw. nicht allein) der Gegenstand da- mit bezeichnet wird, sondern das erkennende Subjekt und dessen Wahrneh- mungsorgane, die den Gegenstand erfassen. Zweitens lässt die Komparativ- form erkennen, dass Heraklit Abstufungen dieser Eigenschaft einräumt.

Schließlich ist auch die metaphorische Übertragung der Zuverlässigkeit der Zeugenschaft auf die Organe der sinnlichen Wahrnehmung bemerkenswert, da er die Möglichkeiten einer erweiterten Verwendung des Begriffs außerhalb der Fachsprache des Gerichtswesens demonstriert.21 Aristoteles wird später in Be- zug auf das Verhältnis der Genauigkeit von Seh- und Hörsinn die gleiche An- sicht wie Heraklit vertreten. Wohlgemerkt ist bei den älteren Gerichtsreden Ge- nauigkeit allein in Bezug auf die Zeugenschaft zu verstehen, jedoch nicht als Zuverlässigkeit von dinglichen Beweisen oder gar als logische Folgerichtigkeit

19 Vgl. Kurz 1970, S. 16

20 DK 22 B 101a, Mansfeld, Primavesi 2011, S. 260.

21 Vgl. Kurz 1970, S. 19

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einer Argumentationskette.22 ἀκρίβεια ist in den Zusammenhängen von Ge- richtsreden stets positiv besetzt. Fehlt sie, so wird dies als ein gravierender Nachteil für die betroffene Prozesspartei ausgelegt.23

Die methodische Reflexion bei Thukydides betont den Aspekt des Genauen für seine Geschichtsdarstellung. Dies zeigt sich durch seine Verwendung von ἀκρίβεια für die Wiedergabe der Ereignisse und Reden aus seiner unmittelba- ren Gegenwart und dem Fehlen des Begriffs bei den Beschreibungen weiter in der Vergangenheit zurückliegender Handlungen.24 Die wirklichkeitstreue Dar- stellung auf Basis sicheren Wissens ist für Thukydides die Voraussetzung sei- ner Historiographie. Zugleich begrenzt er diese Sicherheit auf das oben be- schriebene Kriterium der Zeugenschaft. Motive, Gründe und Zusammenhänge können in der Geschichte nicht mit ausreichender Sicherheit bestimmt wer- den.25 Exaktheit fordert Thukydides jedoch explizit für die Abfolge des Ge- schehens: Die Chronologie der Ereignisse muss ebenso zuverlässig sein wie deren Darstellung, eine abweichende oder unpräzise zeitliche Einordnung kriti- siert Thukydides ausdrücklich.26

Auch in der Medizin als Fachwissenschaft erhält ἀκριβής eine zusätzliche Be- deutung, die Regelmäßigkeit: Bei fiebrigen Erkrankungen werden stets iden- tisch wiederkehrende Temperaturverläufe als ἀκριβής bezeichnet. Eine be- stimmte Form der Malaria kann dadurch diagnostiziert werden.27 Ebenso wird der Begriff in der Diätetik für die Regelmäßigkeit der Ernährung verwendet.28 Interessant in Zusammenhang mit Aristoteles ist auch die kritische Stimme des Autors der Abhandlung Über die alte Heilkunst, der auf die Problematik der Anwendung der ἀκρίβεια hinweist:

22 Vgl. Kurz 1970, S. 20 ff.

23 „Hinter allem steht die Überzeugung, daß Exaktheit vor Gericht erstrebenswert ist und daß, wer ihr weitgehend gerecht wird, damit überzeugender wird.“ Kurz S. 22

24 Vgl. Kurz 1970, S. 42

25 „Ein solcher Ansatz führt folgerichtig dazu, nur dem Inhalt der einzelnen Wahrnehmung völlige Sicherheit zuzubilligen, da jede Verknüpfung als Werk des Verstandes nur eine ab- geleitete Gewißheit haben kann.“ Kurz 1970, S. 56

26 Vgl. Kurz 1970, S. 58 27 Vgl. Kurz 1970, S. 64 ff.

28 „δίαιτα ἀκριβής bedeutet also, daß der Patient an jedem Tag zur gleichen Zeit das gleiche ist.“ Kurz 1970, S. 68

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Darum ist die Behandlung viel komplizierter und bedarf größerer Sorg- falt. Man muß sich nämlich nach einem Maß umsehen. Als Maß aber wird man keine Zahl und kein Gewicht finden, auf die man sich beziehen könnte, um zu exakten Ergebnissen [τὸ ἀκριβὲς] zu gelangen, sondern nur die körperlichen Empfindungen. Darum ist es schwierig, so exakte Erkenntnisse zu gewinnen, daß man nur kleine Fehler nach der einen oder anderen Seite macht, und ich würde einen solchen Arzt loben, der nur kleine Fehler macht; denn das vollkommen Richtige ist nur selten zu er- kennen.29

Hier geht es nicht um Regelmäßigkeit, sondern darum, ob und inwieweit Ge- nauigkeit für medizinische Verfahren grundsätzlich erreichbar ist. Mit der An- wendung mathematischer Methoden erscheint eine erfolgreiche Diagnose und Behandlung unmöglich, da individuelle Unterschiede und subjektive Empfin- dungen des Patienten so nicht mehr adäquat bestimmt werden können. Der Ver- fasser wendet sich kritisch gegen eine Einschränkung der medizinisch-empiri- schen Methoden durch zu strikte philosophische Prämissen, wie das Erklä- rungsmodell des Empedokles, das Krankheitsursachen und Therapien allein aufgrund der vier Grundelemente des Kosmos definiert.30

2.2. Platon

Platons Philosophie kennt unterschiedliche Nuancen von ἀκριβής: Im Bereich der herstellenden Tätigkeiten kann Platons Verständnis von Genauigkeit als Gegenstandseigenschaft, auf der epistemischen Ebene als Grad der Wissenssi- cherheit beschrieben werden. In den Wissenschaften der Praxis, die sich mit menschlichem Handeln befassen, kommt ein neuer Akzent hinzu, der die Ex- aktheit als ausschließlich durch die platonischen Ideen gewährleistet sieht, ein Ansatz von dem sich dann Aristoteles kritisch distanzieren wird.

Wissen im Sinne von ἐπιστήμη wird von Sokrates in Platons Dialogen stets als Kompetenz von Fachleuten erwartet, weil diese sich besonders lange und in- tensiv mit einem Gegenstand beschäftigt und dabei die entsprechende τέχνη er- worben haben. Dieses Expertenwissen findet der platonische Sokrates dann al- lerdings immer ausschließlich auf den Geltungsbereich des Faches beschränkt:

Sokrates berichtet in der Apologie, Politiker, Dichter und Handwerker nach

29 VM 590, Die alte Heilkunst 1994, S. 251 f.

30 Vgl. VM 621, Die alte Heilkunst 1994, S. 264. Vgl. auch die Untersuchung von Triebel- Schubert, Evolution und politische Anthropologie im 5.Jh.v.Chr.: Bemerkungen zu der hip- pokratischen Schrift De vetere medicina, Stuttgart 1989.

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ihrem Wissen befragt zu haben, jedoch allenfalls auf Fachwissen gestoßen zu sein, das sich als nicht übertragbar auf andere Disziplinen erwies. Dabei zeig- ten bezeichnenderweise die Handwerker und Dichter, also die Vertreter der poietischen Disziplinen, in höherem Maße tatsächliches Wissen als die poli- tisch Tätigen.31 Platon verwendet τέχνη-Analogien häufig, wenn es ihm um die Bestimmung philosophischen (insbesondere ethischen) Wissens geht.32 Auch für den Bereich der theoretischen Wissenschaften scheint Platon die Frage nach ihrer Exaktheit für zulässig zu halten, etwa wenn er Sokrates den wahrsagekun- digen Euthyphron fragen lässt, ob dieser glaube, exakte Kenntnis über die gött- lichen Dinge zu haben („ἀκριβῶς οἴει ἐπίστασθαι περὶ τῶν θείων“).33 Wenn Eu- thyphron am Ende seiner Erklärungsversuche der Frömmigkeit (τὸ ὅσιον) sich darauf zurückzieht, er könnte Sokrates das Ganze nicht ἀκριβῶς vermitteln, weil es zu umfangreich (πλείονος ἔργου) wäre, sondern nur auf vereinfachte Weise (ἁπλῶς), dann zeigt dieser Bedeutungswechsel von ἀκριβῶς an, dass er Sokrates‘ Ziel nicht begriffen hat:34 Die von Sokrates geforderte Genauigkeit von Wissen, die als Zuverlässigkeit und Vollständigkeit des Fachwissens zu verstehen ist, ersetzt Euthyphron in seinen Worten durch die Genauigkeit der Rede, die eben nicht so ausführlich und detailliert sein kann, wie es wohl erfor- derlich wäre. Die einfache (ἁπλῶς) Bestimmung, die er Sokrates im Anschluss zu liefern vermag, zeigt analog auf inhaltlicher Ebene ein rein formales und utilitaristisches Verständnis von Frömmigkeit und verfehlt damit offenkundig die von Sokrates gesuchte Aussage über deren Wesen (und unser Wissen dar- über). Die ἀκρίβεια der Rede, wie sie von Euthyphron hier verstanden wird, meint eine Genauigkeit im Formalen, wie sie in der Philosophie der „Sophis- ten“ praktiziert wurde. Über etwas genau zu sprechen, bedeutete für die Philo- sophen der Sophistik, Begriffe rhetorisch versiert und unter Berücksichtigung aller möglichen Deutungen auszulegen, was ihnen den Vorwurf der Spitzfin- digkeit einbrachte.35 Im Rahmen dieser Redeform nutzten sie sprachliche und begriffliche Ambivalenzen (besonders im ethischen Kontext), um auf den ers-

31 Vgl. Apologie 21e-22c

32 Vgl. van Ackeren 2009, S. 334 ff.

33 Euthyphron 4e 34 Vgl. Euthyphron 14 b

35 Etwa bei Aristophanes, siehe Kurz 1970, S. 24 ff.

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ten Anschein widersprüchlich und provozierend wirkende Thesen zu verteidi- gen; man denke etwa an die Personifikation des Lasters in Prodikos‘ Herakles- rede, die sich selbst als Eudaimonia charakterisiert, also als das genaue Gegen- teil.36 Die Sophisten in Platons Dialogen stellen der sokratischen Forderung nach Genauigkeit des Philosophierens37 dessen notwendige Einschränkung auf das „Angemessene“ (μέτριος) entgegen, das Platon wiederum in negativem Sinn als nur „Mäßiges“ (also Unzureichendes) bewertet.38

Deutlich wird Platons, gegenüber seinen Vorgängern verändertes, Verständnis des Begriffs ἀκρίβεια besonders in den Dialogen Phaidon und Menon. Im Phai- don erklärt Platon, dass die richtige Einsicht (φρόνησις) durch den Leib behin- dert werde, die Sinne als Erkenntnisquelle grundsätzlich unzuverlässig wären.39 Genauigkeit wird von Platon nicht mehr der körperlichen Ebene, sondern nur der Ebene des Denkens zugeschrieben.40 Wahres und genaues Erkennen ist für Platon nicht durch die Fähigkeiten der Sinne gewährleistet, weil diese unsicher und unbeständig sind. Ob und auf welche Weise Abstrakta wie Gerechtigkeit, Schönheit oder das Gute existieren (εἶναι), kann nicht durch sinnliche Perzepti- on erfasst, sondern allein durch Denken (διάνοια) erschlossen werden, das nicht durch die Unzuverlässigkeit und die Einflüsse des Körperlichen beein- trächtigt wird.41 Im Menon versucht Sokrates durch die beispielhafte Belehrung eines Sklaven in der Geometrie zu zeigen, dass der Erwerb von Wissen als Wiedererinnerung (ἀνάμνησις) von bereits Gewusstem zu verstehen ist. Der Sklave gelangt durch Sokrates‘ beständiges Fragen aus eigenem Vermögen zu Wissen „nicht minder genau [οὐδενὸς ἧττον ἀκριβῶς] als irgendein anderer um diese Dinge wissen wird“.42 Höchste Genauigkeit ist bei Platon im Denken und für die Allgemeinbegriffe der Ideen erreichbar, aber nicht im Bereich der Empi- rie.43 Auch der Kontext der Geometrie im Menon muss bei Platons Bestim-

36 Wiedergegeben in Xenophons Erinnerungen an Sokrates II, 1, 21–34 37 εἰς τὴν ἀκρίβειαν φιλοσοφεῖν, Gorgias 487c

38 Vgl. Kurz 1970, S. 92 39 Vgl. Phaidon 65a ff.

40 Vgl. Kurz 1970, S. 94 f.

41 Vgl. Phaidon 66d 42 Menon 85c f.

43 Wenn Platon von Genauigkeit in Bezug auf das Sehen spricht, dann ausschließlich dort, wo es metaphorisch für einen geistigen Vorgang steht. Vgl. Kurz 1970, S. 90

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mung von ἀκρίβεια bedacht werden: Die geometrischen Beweisverfahren wer- den im Menon paradigmatisch für die philosophische Argumentationsform dar- gestellt. Wie in der reinen Geometrie kann die Seele (ψυχή) prinzipiell voraus- setzungslos sichere Erkenntnis über das Seiende erlangen, wenn sie nicht durch die unzuverlässigen und unbeständigen Wirkungen der Körperlichkeit beein- trächtigt wird. Diese Tätigkeit der Seele zu entfalten, versteht Platon als die ei- gentliche Aufgabe der Philosophie. Der Gebrauch des Begriffs ἀκρίβεια er- scheint gegenüber der Sophistik auf den ersten Blick nur als geringfügige Ak- zentverschiebung von einer Eigenschaft des Logos bei den Sophisten (im Sinne von Rede, Argument, Schluss) zum platonischen Verständnis in Bezug auf φρόνησις und die dianoetischen Vermögen der Seele. Platon strukturiert die Er- kenntnisvermögen nach ihrem Grad an Zuverlässigkeit und setzt Genauigkeit mit der Gewissheit einer Aussage gleich, die einem uneingeschränkten Wahr- heitsanspruch genügt.44 In diesem Modell können Bestimmungen der empiri- schen Welt nur akzidentell genau sein, nämlich insofern sie an dem zugrunde- liegenden Allgemeinen (also den Ideen) teilhaben, die im eigentlichen Sinn ge- nau sind.

Besonders deutlich wird die Trennung zwischen der empirischen Ebene der veränderlichen Dinge und dem Bereich der beständigen Dinge im Philebos, wenn Sokrates nach den genauesten Wissenschaften fragt.45 Die Wissenschaf- ten, die sich mit Berechnen und Messen befassen, sind zweierlei: Die ange- wandten (in Architektur und Handelswesen) und diejenigen, die „κατὰ φιλοσοφίαν“ vorgehen. Dabei käme Letzteren der höhere Rang zu, da sie sich (ausschließlich) mit unvergänglichen Gegenständen befassten und deshalb hö- here Genauigkeit erreichten. Mit der Würde dieser Gegenstände argumentiert Platon gegen die utilitaristische Haltung des Gorgias, der die Zweckdienlich- keit einer Wissenschaft als deren eigentlich Wert definiert.46 Neben dem Attri- but ἀκριβής werden im Philebos weitere Adjektive zur Charakterisierung der Wissenschaften, die sich mit dem ewig Seienden befassen, angeführt: Sie sol- len ἀληθής (wahr), βέβαιος (beständig) und σαφής (klar) sein; keine dieser Be- stimmungen kann auf die Welt der Sinne, der Bewegung und der Veränderung

44 Vgl. Kurz 1970, S. 97 45 Vgl. Philebos 57c 46 Vgl. Philebos 58c

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zutreffen.47 Seiend im exakten Verständnis ist für Platon nur das unvergänglich Seiende, im Unterschied zum Gewordenen, Werdenden und Nicht-Seienden, von denen nur in ungenauem Sinn gesagt werden kann, das sie sind.48 Der ἀκρίβεια auf der ontologischen Ebene entspricht die Genauigkeit der Erkennt- nisvermögen und der Eigenschaften der Seele. So kann Platon in der Politeia erklären, dass man die genauesten Wächter zu Philosophen machen muss: ὅτι τοὺς ἀκριβεστάτους φύλακας φιλοσόφους δεῖ καθιστάναι.49 Diese Genauigkeit definiert Platon im weiteren Verlauf des Dialogs als den Besitz aller vier Kardi- naltugenden, die er zur Voraussetzung erklärt, um die höchsten Gegenstände auch mit der höchsten Genauigkeit erkennen zu können.50 Die Methode die Platon für die Erlangung der genauesten Erkenntnis vorsieht, ist die διαίρεσις.

Mit dem dihairetischen Verfahren klassifiziert Platon die Gegenstände gemäß ihren spezifischen Eigenschaften und gewinnt auf diese Weise Definitionen.

Diesen Weg zum exakten Erkennen vergleicht Platon mit dem Messen.51 Messen und mathematisch-geometrische Methoden kennzeichnen Platons Vorstellung vom Kosmos, da sie in höchstem Grad genau sind und mit der ἀκρίβεια der höchsten Dinge selbst korrespondieren. Kurz sieht die Genauig- keit bei Platon im Grad der Nähe zum Einen, das die höchste Stufe der „Seins- pyramide“ einnähme und „Exaktheit selbst“ sei, so „daß Platon Exaktheit gera- dezu als ein Wesensmerkmal der Dinge selbst ansehen konnte, dessen Reinheit von ihrer Stellung im Kosmos des Seins abhängt“.52 Mit zunehmendem Ab- stand in der ontologischen Ordnung nimmt das Ungenaue zu und die Welt ge- horcht ihrem Demiurgen immer weniger genau, da ihr körperlicher Anteil die Unordnung befördert.53 Bleibt Platon in der Politeia noch ganz dem Exaktheits- ideal treu, dessen Anwendung es dem Philosophen ermöglicht, Gesetze aufzu- stellen und ihre Einhaltung zu überwachen,54 so gesteht er im Politikos Kritik

47 Vgl. Philebos 58e-59b

48 Vgl. Kurz S. 98. „… weil damit die geforderte Trennung der beiden Bereiche nicht vollzo- gen ist.“

49 Politeia 503b. Dazu auch Kurz 1970, S. 100 f.

50 Vgl. Politeia 504e 51 Vgl. Kurz 1970, S. 102 52 Kurz 1970, S. 106 53 Vgl. Politikos 273b

54 Vgl. Politeia 484c f. Vgl. Kurz 1970, S. 114

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an dieser Haltung zu. Die Gesetze könnten nicht alle Einzelfälle umfassen und so nicht immer das Gerechte und Beste für jeden genau bestimmen.55 Der Wi- derspruch, der hier zwischen der potentiell möglichen Genauigkeit der Er- kenntnis der Ideen und den Anforderungen der Gesetzgebungen für den kon- kreten Anwendungsfall auftritt, weist bereits auf den Ansatz von Aristoteles voraus. Aristoteles wird vom Verständnis der Genauigkeit als mathematisch- geometrischer Beweisform abgehen. Seine Lösung des Problems der ἀκρίβεια baut auf seiner Einteilung der Wissenschaften in drei unabhängige Disziplinen auf und wird sich im Bereich der praktischen Philosophie gänzlich von der For- derung nach höchster Genauigkeit lösen, was im Folgenden gezeigt werden soll.

3. Die ἀκρίβεια bei Aristoteles

Der ἀκρίβεια soll im folgenden Kapitel 3.1. entlang der aristotelischen Dreitei- lung der wissenschaftlich-philosophischen Disziplinen gefolgt werden. Da Aristoteles seine Klassifikation der Wissenschaften entsprechend ihren Funkti- onen und Zielen vornimmt, wird dabei der Zusammenhang der Ziele mit der erforderlichen Genauigkeit zu ihrer Erreichung dargelegt. Auch die Unterschie- de für die Realisierbarkeit der höchstmöglichen Genauigkeit innerhalb einer spezifischen Wissenschaft sollen als abhängig von deren Gegenstand und Me- thode aufgewiesen werden. In Kapitel 3.2. geht es dann um die Auswirkungen dieser Annahmen für die aristotelische Wissenschaftstheorie: Wenn höchste Genauigkeit nicht erreicht werden kann, welche Methoden sind dann innerhalb einer so gearteten Wissenschaft überhaupt zulässig? Und wie hängt die Genau- igkeit einer Wissenschaft mit dem Stellenwert zusammen, den Aristoteles ihr beimisst?

3.1. ἀκρίβεια in Aristoteles‘ Wissenschaftstheorie

Die Wissenschaften (ἐπιστῆμαι) werden von Aristoteles drei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet. Die eine Gruppe bilden die produktiven Wissenschaften,

55 Vgl. Politikos 294b und 295a f.

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die sich mit dem Erzeugen von Dingen befassen. Dazu rechnet er auch die Me- dizin, weil ihr Zweck die Herstellung von Gesundheit ist. Eine weitere Klasse bilden die praktischen Wissenschaften, wie Ethik und politische Wissenschaft, die sich mit dem Handeln befassen. Die dritte Gruppe stellen die theoretischen Disziplinen dar, deren Ziele ausschließlich theoretischer Art sind, die also dem Zweck der Betrachtung dienen;56 zu den theoretischen Disziplinen gehören u.a.

Physik, Metaphysik (πρώτη φιλοσοφία) und Mathematik.57 Unterscheidungs- kriterium der drei Wissensformen ist ihr spezifisches Ziel (eben das Herstellen, Handeln oder Betrachten).58 Aristoteles untergliedert diese drei Klassen noch weiter nach ihren jeweiligen Gegenständen und deren Eigenschaften (etwa die Naturwissenschaften, die zwar zur Theoretischen Philosophie gehören, sich aber mit den veränderlichen Dingen befassen – im Unterschied zur Ersten Phi- losophie, die Unveränderliches betrachtet)59. Es bietet sich bei unserer Untersu- chung der ἀκρίβεια an, diese Systematik als Ariadnefaden zu benutzen. Der Genauigkeitsaspekt von Zielen, Methoden und Gegenständen innerhalb der aristotelischen Wissenschaftsordnung wird auch zur Erklärung der rigorosen Grenzziehungen zwischen den Einzeldisziplinen bei Aristoteles einen Beitrag leisten können.60

3.1.1. Philosophie der hervorbringenden Wissenschaften

Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Ursachen für das Entstandene / Wer- dende (τα γιγνόμενα): Das, was allein von Natur aus entsteht und das, was durch den Menschen bewirkt wird.61 Die Tätigkeit des Erzeugens wird mit ποίησις bezeichnet, was sich vom Verb ποιεῖν (schaffen, machen, verfertigen)

56 Vgl. Met 1025b18 ff., Top 145a15 ff.

57 Vgl. Met 1026a18 ff.

58 Vgl. Met 1025b25 ff.

59 Vgl. Met 1026a13 ff. „Naturwissenschaften“ als Übersetzung für φυσική τέχνη soll den Umfang von Aristoteles allgemeiner Bewegungs- und Veränderungslehre stärker wiederge- ben als „Physik“, die im neuzeitlichen Verständnis erheblich enger gefasst wurde.

60 Darin besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Aristoteles und jenen neuzeitli- chen Ansätzen, die die Vorstellung einer homogenen Einheitswissenschaft anstreben oder implizieren. Otfried Höffe bringt das auf den Punkt: „Aristoteles kritisiert aber schon deren [der Einheitswissenschaft] zwei Voraussetzungen, die Idee einer einzigen Forschungsinten- tion und die einer homogenen Gegenständlichkeit.“ Höffe 1999, S. 30 f.

61 Vgl. Met 1032a12 ff.

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herleitet. Die Poiesis kann nach Aristoteles zwar – analog zu den vom ihm be- schriebenen natürlichen Entstehungsvorgängen – auch zufällig und unbeab- sichtigt vorkommen (καὶ ἀπὸ ταὐτομάτου καὶ ἀπὸ τύχης), im Regelfall aber entspringt sie einer Kunst (τέχνη) oder einem Vermögen (δύναμις) oder einer Überlegung (διάνοια) und stellt ein bewusstes Vorgehen dar, das auf ein kon- kretes Produkt als Ergebnis zielt.62 Die dem Bereich der Poiesis zugeordneten Wissenschaften kennzeichnet ihre Orientierung auf das Herstellen von fassli- chen Produkten oder Wirkungen (z. B. des Vorgangs der Katharsis, der zur Auf- führung einer Tragödie gehört), welche selbst aber auch wiederum um anderer Zwecke willen angestrebt werden können. Eine „ποιητικὴ τέχνη“ lässt sich folglich durch die Zweckorientierung ihrer Tätigkeit charakterisieren, die nicht um ihrer selbst willen durchgeführt wird, sondern ein Werk hervorbringen will.

Im Unterschied zu den Handlungen liegt ihr Nutzen in einem Ziel außerhalb ih- rer Aktivität.63 Die Ursache (ἀρχή) für die Herstellung eines Werkes liegt je- doch im Hervorbringenden selbst; ihre Bedingung ist eine bewusste Konzepti- on durch den Hersteller, die das angestrebt Ergebnis vorwegnimmt bzw. wäh- rend dessen Herstellung imaginiert.64 Für den empirisch orientierten Aristoteles ist natürlich immer die notwendige Erfahrung des Herstellenden oder Künstlers in seiner Tätigkeit die Vorbedingung, ohne die jeder Herstellungsprozess bes- tenfalls ein Zufallsprodukt erreichen könnte.

Zu den poietischen Wissenschaften zählen in der aristotelischen Klassifikation neben den unterschiedlichen Handwerken, der Medizin und den Tätigkeiten, die man mit dem heutigen Begriff als „Ingenieurwissenschaften“ bezeichnen könnte, vor allem die Rhetorik und die Poetik, die Aristoteles jeweils in eige- nen Schriften behandelt hat. Die Rhetorik lässt sich zum Teil allerdings auch den Wissenschaften des Handelns zuordnen, da sie gemäß Aristoteles, über die Einhaltung der formalen Anforderungen von Reden hinaus, zum politischen

62 Vgl. Met 1032a27 ff.

63 Vgl. NE 1040b6 f.

64 Vgl. Met 1032b15 ff. Aristoteles greift auf das Beispiel des Arztes zurück, der das Ziel (die Gesundheit des jeweiligen Patienten) kennt und auch das Mittel dazu (im Beispiel Wärme) einzusetzen versteht.

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Handeln beiträgt und auf das Ziel der Verwirklichung des guten Lebens in der Polisgemeinschaft hin ausgerichtet sein soll.65

Wie verhält es sich nun mit dem Bezug der herstellenden Wissenschaften zum Begriff ἀκρίβεια? Einesteils lassen Aristoteles‘ Ausführungen erkennen, dass er eine Art von Genauigkeit im hergestellten Produkt selbst für bestimmbar hält.

Dies zeigt sich etwa in der Rhetorik, wo er für die Rede, deren Verfertigung die Aufgabe der Rhetorik als Wissenschaft ist, von Genauigkeit in Zusammenhang mit deren Rhythmus spricht66 oder wenn er von der Präsentation der Rede han- delt, die in der geschriebenen Form am genauesten ist (im Gegensatz zur Streit- rede).67 Seine Aussagen zu Rhythmus und Stil definieren Genauigkeit über die formalen Eigenschaften des Werks.68 Zum anderen kennt Aristoteles eine Art von ἀκρίβεια, die sich im Bezug auf den Kontext ergibt, in dem eine Rede prä- sentiert wird: Vor Gericht wird die Genauigkeit zum wesentlichen Kriterium für die Glaubwürdigkeit einer Aussage. Im Gegensatz zur Volks- oder Streitre- de, bei der die Überzeugungskraft einen höheren Stellwert hat, betrachtet Aris- toteles im Kontext der Gerichtsrede die formale und stilistische Genauigkeit der Rede als nachrangig gegenüber der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Geschehnissen, die berichtet werden.69 Die Differenzen zwischen den unter- schiedlichen Arten der Rede, mit denen sich die Rhetorik befasst, werden nicht

65 Dazu Otfried Höffes Überblick über die Wissenschaften und Disziplinen der Philosophie nach Aristoteles, Höffe 1999, S. 32 f. und die besondere Rolle der Rhetorik S. 62 ff.

66 Vgl. Rhet. 1408b31. An dieser Stelle ist wörtlich die Abweichung von einem exakten Rhythmus gemeint, die die Rede von der Dichtung unterscheidet. Er soll „δὲ μὴ ἀκριβῶς“

sein, also nicht streng eingehalten werden, damit die Rede überzeugend wirkt.

67 Rhet. 1413b9: ἔστι δὲ λέξις γραφικὴ μὲν ἡ ἀκριβεστάτη. Bei der Streitrede wird hingegen deren darstellende Qualität hervorgehoben, sie ist die „schauspielerhafteste“ Form der Rede. Eine wissenschaftlich oder philosophisch genaue Argumentation wäre für Aristoteles hier unangemessen und nicht zielführend.

68 Als formale Genauigkeit ist auch die Verwendung an anderer Stelle zu verstehen: In Rhet.

1418a38 ff. erklärt Aristoteles, dass im Falle fehlender Beweise (ἐνθυμήματα), der Charak- ter der Person (ἔθος) in der Rede betont werden soll, da zum Rechtschaffenen eher der Ein- druck seines guten Charakters passe als (nur) eine exakt ausgefeilte Rede (ἢ τὸν λόγον ἀκριβῆ). Hier bezieht sich die ἀκρίβεια explizit auf diejenige Rede, die in einer Situation zu halten ist, in der plausible Beweise nicht erbracht werden können und eine Beurteilung folglich auf andere Kriterien angewiesen ist. Genauigkeit der Rede ist unter diesen Um- ständen aber nicht als Wahrheit in Bezug auf die Fakten zu interpretieren – diese bleibt von den fehlenden Beweisen unbeeinträchtigt.

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ausschließlich durch deren jeweilige Zielsetzung und den sich daraus ergeben- den formalen Anforderungen erklärt, sondern auch aufgrund von deren episte- mischen Unterschieden, d.h. deren Möglichkeiten, stringente Beweise für die Richtigkeit einer Aussage zu liefern. Beweise sind in der Rhetorik vorrangig als Plausibilitäten und Indizienbeweise zu verstehen, die Aristoteles als Enthy- meme bezeichnet. In Fällen, in denen es keine (zwingende) Gewissheit gibt und Zweifel bestehen („ἐν οἷς δὲ τὸ ἀκριβὲς μὴ ἔστιν ἀλλὰ τὸ ἀμφιδοξεῖν„)70 muss aufgrund der Glaubwürdigkeit des Redners geurteilt werden.

Zusammenfassend lassen sich in der Rhetorik zwei Bedeutungen des Begriffs ἀκρίβεια festhalten: Eine Genauigkeit, die sich in der Anwendung formaler Mittel wie Rhythmus, Stil und Argumentationsform beim Verfassen einer Rede zeigt, die aber für sich genommen noch keine Aussage über den Wahrheitsge- halt einer Rede darstellt. Sie ist lediglich als Vorbedingung für die Erreichung des Ziels des Redners zu sehen, also zum Beispiel einer Gemeinschaft zu einer politischen Entscheidung zu raten oder Richter von einer Aussage zu überzeu- gen. Dazu bedarf sie aber noch der anderen, epistemischen Form von Genauig- keit, die in der logischen Schlüssigkeit und Plausibilität der Argumentation be- steht. Aristoteles vergleicht die Rhetorik in Bezug auf ihr Vorgehen mit der Dialektik.71 Beide haben als Wissenschaften keinen eigentlichen Gegenstand, sondern können sich prinzipiell bereichsunabhängig mit jeder Form von Argu- mentation oder Schlussfolgerung auseinandersetzen. Die besondere Leistung der Rhetorik gegenüber der Dialektik besteht in der Berücksichtigung des Kon- textes einer Rede, ihrer Zuhörerschaft und der jeweiligen Emotionen, die sie analysiert und bewusst einsetzt. Aristoteles ergänzt dieses instrumentelle Ver- ständnis der Rhetorik um die Wahrheitsorientierung einer Rede:

Die Rhetorik ist nützlich, weil Wahrheit und Gerechtigkeit von Natur aus stärker sind als deren Gegenteile, so dass, wenn Entscheidungen unge- bührlich ausfallen, diese unterliegen müssten. Das aber ist Grund zu Ta- del.72

69 Zeugenschaft und Authentizität des Berichts bedürfen weder der Einhaltung formal-stilisti- scher Konventionen, noch müssen sie den Kriterien philosophischen Argumentierens genü- gen. Vgl. auch die Ausführungen von Dietrich Kurz zur ἀκρίβεια im Gerichtswesen, be- sonders S. 22 ff.

70 Rhet. 1356a7 f.

71 Vgl. Rhet. 1354a1 ff.

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Die höchste logische Strenge und Schlüssigkeit einer wissenschaftlichen Argu- mentation ist nun natürlich für eine Rede vor Gericht, vor einer politischen Ver- sammlung oder einer Festgemeinschaft ungeeignet, wenn die Zuhörer erreicht werden sollen; darin sieht Aristoteles einen Hauptgrund für die unterschiedli- chen Methoden von Rhetorik und Dialektik. Die stärkere Wirkung einer wah- ren Rede erklärt Aristoteles mit der natürlichen Ausrichtung der Menschen auf die Wahrheit: „οἱ ἄνθρωποι πρὸς τὸ ἀληθὲς πεφύκασιν ἱκανῶς“.73 Neben der exakten Erkenntnis umfasst die Wahrheit in dieser Definition aus der Rhetorik auch die Plausibilität, das „ὡς ἐπὶ τὸ πολὺ“.74 Höchste Genauigkeit der Aussage kann zwar etwa für die Augenzeugenschaft in Anspruch genommen werden, aber die Grenze zu den Aussagen, die als bloß plausibel oder in der Mehrzahl der Fälle zutreffend gelten, verläuft in dieser Wissenschaft fließend.

Nimmt man die Aussagen über ἀκρίβεια in der Poetik hinzu, ergibt sich eine weitere Perspektive. Im Zentrum der Definition der Dichtkunst steht bei Aristo- teles der Begriff der Mimesis, also der Nachahmung, der sich die Dichter als Instrument bedienen. Nachahmung ist allerdings in einem sehr weiten Sinn zu verstehen: So ahmt zum Beispiel der Aulosspieler Charaktere und Handlungen allein durch Rhythmus und Melodie seines Spiels nach.75 Im Drama sollen die Charaktere, die Handlung und die Sprache so nachgeahmt werden, dass sie ei- nen hohen Wiedererkennungswert besitzen und der Zuschauer im Wiedererken- nen Vergnügen empfindet. Diese Fähigkeit zum Nachahmen ist dem Menschen von Natur aus gegeben, er ist in ihr begabter als andere Lebewesen.76 Dafür spreche die Freude, die die Nachahmung bei jedermann hervorrufe:

Denn von den Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen [τὰς εἰκόνας τὰς μάλιστα ἠκριβωμένας], z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.77

Hier verwendet Aristoteles den Begriff der Genauigkeit offenkundig analog zu einer möglichst deckungsgleichen, detaillierten Ausarbeitung eines Bildes oder

72 Rhet. 1355a20 ff.

73 Rhet. 1355a15 f.

74 Dazu ausführlicher in Kapitel 3.2.1.

75 Vgl. Poet. 1147a24 f.

76 Vgl. Poet. 1448b4 ff.

77 Poet. 1448b9 ff.

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einer anatomischen Darstellung, die unser Wiedererkennen befördert. Wesent- lich dabei ist, dass das Abbild seine Funktion, der aus der sinnlichen Erfahrung gewonnenen Vorstellung in möglichst hohem Maße zu entsprechen, erfüllen kann. Darin liegt auch ein zentraler Unterschied zur platonischen Variante der Mimesis: Bei Aristoteles hat diese Art von Nachahmung keine ethische Kom- ponente. Wenn menschliches Verhalten auf einer Theaterbühne nachgeahmt wird, ist sein Wahrheitsgehalt für Aristoteles von der Genauigkeit der Darstel- lung abhängig, nicht von dessen moralischer Vorbildhaftigkeit. Die Genauig- keit der Mimesis in der Dichtkunst kann sich in der Gestaltung der Sprache, der Charaktere und der Handlung zeigen, wobei Letztere als die schwierigste gilt und vor allem von den Dichtern höchsten Ranges erreicht wird.78 Das obige Zi- tat und seine weiteren Ausführungen zur Mimesis in der Dichtkunst legen nahe, dass Aristoteles in den hervorbringenden Wissenschaften auch unterschiedliche Grade an Genauigkeit voraussetzt, die von einer Nachahmung erreicht werden können. Zugleich erhält das Konzept der Nachahmung eine erkenntnistheoreti- sche Funktion, die sich besser bestimmen lässt, wenn man eine andere Schrift des Aristoteles, den Protreptikos, hinzuzieht. Der Text des Protreptikos galt lan- ge Zeit als verloren, bis im 19. Jahrhundert einige sicher überlieferte Zitate in- nerhalb eines Werks von Iamblichos über die Pythagoreer identifiziert werden konnten und eine (Teil-)Rekonstruktion des Werks ermöglichten. Der Protrepti- kos gehört – im Unterschied zu den bisher zitierten Schriften – zu den soge- nannten exoterischen oder enkyklischen Werken, die Aristoteles für einen grö- ßeren Publikumskreis außerhalb des philosophischen Lehrbetriebs geschrieben und veröffentlicht hat. Im Gegensatz zu den oft skizzenhaft erscheinenden und wahrscheinlich noch keine endgültigen Fassungen zur Weitergabe darstellen- den Pragmatien, finden wir in dieser Mahnrede (einer Aufforderung an den Hö- rer, sich mit der Philosophie zu beschäftigen) eine konzentrierte Darstellung vom Wesen und Ziel des Philosophierens.79 Kurz weist auf die auffällig häufige Verwendung des Begriffs ἀκρίβεια im Protreptikos hin.80 Besonders bemer- kenswert erscheint ein Textabschnitt, in dem Aristoteles eine Analogie zwi-

78 Vgl. Poet. 1450a35 ff.

79 Ausführlich zum Protreptikos: Ingemar Düring 2005, S. 400 ff.

80 Vgl. Kurz 1970, S. 125

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schen den poietischen Tätigkeiten und der des Philosophen herstellt.81 Zuerst sei zu berücksichtigen, dass für den Gesetzgeber die Kenntnis der Natur sogar in höherem Maße wichtig sei als für den Arzt oder den Gymnastiklehrer. Diese müssten die körperlichen Zusammenhänge in Form von Erfahrungswissen ken- nen, um ihr Handwerk ausüben zu können. Für den Gesetzgeber hingegen wäre die Kenntnis der Seele und ihrer spezifischen Tüchtigkeit (ἀρετή) unabdingbar, um der Gemeinschaft (πόλις) die Wege zur Eudaimonia (bzw. deren zu vermei- dendes Gegenteil) zu lehren, was den Kern der Tätigkeit der Philosophen bilde.

Im zweiten Argumentationsschritt stellt Aristoteles die Bedeutung der Erkennt- nis der Natur für andere Handwerke heraus, die die besten Werkzeuge durch Beobachtung und Nachahmung natürlicher Phänomene wie Sonnenstrahlen oder Wasser entdeckten, wofür er als Beispiele Senkblei, Lineal und Zirkel nennt. In analoger Weise stellten Naturerkenntnis und -nachahmung für die Philosophie Werkzeuge zur Erkenntnis der Wahrheit (ἀλήθεια) dar, jedoch auf einer anderen Ebene: Der Philosoph strebt nach Ursachenwissen, das die Kenntnis der Gegenstände aus Erfahrung um deren Erklärung aus Prinzipien vervollständigt:

Der Philosoph allein ahmt die exakten Dinge selbst nach, denn er ist Be- trachter der Dinge selbst und nicht ihrer Nachahmungen. Wie nun aber ei- ner kein guter Baumeister ist, der nicht das Lineal und dergleichen Werk- zeuge verwendet, sondern einfach andere Häuser nachmacht, so wird wahrscheinlich auch derjenige kein guter Gesetzgeber und hervorragen- der Mann werden, der Gesetze für das Gemeinwesen gibt oder im Staat politisch wirksam ist bloß in Hinblick auf und in der Nachahmung ande- rer Handlungen oder anderer menschlicher Gemeinwesen, etwa der Spar- taner, Kreter oder anderer.82

Von allen, die Werke schaffen (τῶν δημιουργῶν), kann alleine der Philosoph Gesetze von Dauer geben, da er die zugrundeliegenden Prinzipien kennt und diese anzuwenden versteht. Folgt man Aristoteles‘ Argumentation, das Herstel- len als nachahmende Tätigkeit zu sehen, dann ist die höchste Genauigkeit nicht als rein formale Nachahmung zu verstehen, sondern sie erfordert ein weiterge- hendes Verständnis der den Dingen immanenten allgemeinen Prinzipien (was die Aufgabe der Philosophie ist). Nicht der Prozess der Nachahmung selbst ge- währleistet für Aristoteles Exaktheit, sondern erst die Verbindung mit dem Be-

81 Vgl. Protreptikos Fragment B 46 (Düring 1969, S. 53) 82 Protreptikos Fragment B 48, 49 (Düring 1969, S. 55)

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sitz der Prinzipien, mit Hilfe derer sich das Warum eines Sachverhalts bestim- men lässt. Das nachahmende Verfahren kann zwar bei der Gesetzgebung den erfolgreichen Verfassungen der Form nach ähnliche gestalten, wesentlicher für deren Erfolg und Dauerhaftigkeit ist jedoch die Nachahmung auf dianoetischer Ebene, die die realen Kausalitäten für ein gutes Staatswesen erfasst und nutzt.

Auf den ersten Blick erscheint die oben zitierte Vorstellung, dass der Philosoph sich an Prinzipien orientiert, die den Phänomenen zugrunde liegen und denen allein die höchste Exaktheit zukommt, dem platonische Konzept von den un- vergänglichen Ideen, die den wandelbaren Phänomen zugrunde liegen und de- nen allein wahres Sein zukommt, eng verwandt. Allerdings macht der Verweis auf die unterschiedlichen Verfassungen der Spartaner, Kreter und anderer deut- lich, dass Aristoteles daraus abweichende Konsequenzen zieht: Die Ursachen- kenntnis mit der höchsten Genauigkeit ist nicht ohne die Vielfalt der empirisch feststellbaren Formen zu erlangen und anzuwenden. Die Besonderheiten und die individuellen Umstände des Handelns und Herstellens sind bei der Gesetz- gebung stets zu berücksichtigen; die Gesetze, die für die Kreter den besten Weg zu einer stabilen Gemeinschaft als Grundlage ihrer Eudaimonia bedeuten, könnten in Athen möglicherweise zur Quelle von Unruhen und größtem Un- glück werden.

Aristoteles betont den Vorrang des theoretischen Lebens, dass sich um das rechte Nachdenken und um das Finden der Wahrheit bemüht. In diesen Tätig- keiten lässt sich die genaueste Form von Wissenschaft erreichen (κατά τήν ἀκριβεστάτην ἐπιστήμην).83

Genauigkeit in den herstellenden Wissenschaften ist in Aristoteles‘ Verständnis also als eine Qualität des Gegenstands und der Methode. In Bezug auf einen hervorzubringenden Gegenstand kann Genauigkeit den Grad der Ähnlichkeit oder Entsprechung zu einem bereits existierenden, bekannten Gegenstand be- zeichnen (das Konzept der Mimesis). Die Übereinstimmung kann sich auf Ebe- ne der sinnlichen Wahrnehmung zeigen, etwa als perfekte Ähnlichkeit einer marmornen Porträtbüste mit der realen Person, umfasst aber ebenso die Genau- igkeit in Bezug auf zugrunde liegende Prinzipien und philosophische Erkennt- nisse, für die häufig die Komparativ- und Superlativformen von ἀκριβής ver- wendet werden. Die ἀκρίβεια der herstellenden Wissenschaften könnte man als

83 Protreptikos Fragment B 85 (Düring 1969, S. 75). Vgl. auch das folgende Kapitel.

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„mimetische Genauigkeit“ definieren, die sich auf sinnlich-empirischer Ebene vornehmlich in einer Ähnlichkeit (das wiedererkennbare Porträt) oder Entspre- chung (der regelmäßige Verlauf der Fieberkurve) zwischen dem ursprünglichen Phänomen und seinem hergestelltem Abbild zeigt. Sie kennt unterschiedliche Grade und Abstufungen im Vergleich, und kann als Qualitätskriterium für die hergestellten (oder herzustellenden) Werke herangezogen werden.

3.1.2. Theoretische Philosophie

Bei der Verwendung des Begriffs Genauigkeit in den hervorbringenden und den praktischen Wissenschaften betont Aristoteles deren Beschränkung durch den zugrundeliegenden spezifischen Gegenstand (ὑποκειμένη ὕλη).84 Auch ein noch so akribisch durchgeführter Herstellungsprozess wird nicht immer zu ei- nem Ergebnis führen, das in höchstem Sinn als exakt bezeichnet werden kann;

auch für die besten Künstler wird ein getreues Abbild problematisch, gerade wenn das Original selbst ungenau oder unbeständig ist. Da das Ziel des Her- stellens nicht im Vorgang selbst, sondern in dessen konkretem Produkt besteht, ist die beschriebene substratbedingte Abweichung von der höchstmöglichen Form von Genauigkeit im Ergebnis zwar grundsätzlich nicht auszuschließen, kann jedoch toleriert werden; jedenfalls soweit das Ziel des Vorgangs noch er- reicht wird. In den theoretischen Wissenschaften, zu deren Gegenständen ne- ben Veränderlichem auch Abstrakta (wie in der Geometrie oder Logik) oder un- vergängliche Dinge (wie in der Astronomie) gehören, bezieht Aristoteles eine abweichende Position:

Denn auch der Schreiner und der Geometer suchen die gerade Linie auf verschiedene Weise: der eine, soweit sie für seine Arbeit nützlich ist, der andere mit der Frage, was ihr Wesen oder ihre Qualität sei; denn er ist Betrachter der Wahrheit. Auf dieselbe Weise muß man es auch in den an- deren Dingen halten, damit nicht etwa die Nebensachen die Hauptsachen überwuchern.85

Sowohl der zugrundeliegende Gegenstand als auch die spezifische Zielsetzung erfordern unterschiedliche Methoden, die entsprechend mit unterschiedlicher Genauigkeit vorgehen. Die Arbeit des Schreiners, der sein Werkzeug für einen geraden Zuschnitt eines Balkens verwendet, unterliegt den Einschränkungen

84 Vgl. NE 1094b11 ff. ὕλη wird hier sowohl in der Bedeutung von Substrat, Materie, als auch im Sinne von Untersuchungsgegenstand einer Wissenschaft verwendet.

85 NE 1098a29 ff.

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durch Zeit und Material, die ihm vorgeben sind; die Genauigkeit des Zuschnitts braucht aber nur ein für die Praxis akzeptables Maß zu erreichen. Ein Mehr ist nicht sinnvoll und kann nachteilige Wirkungen haben. Das theoretische Ver- ständnis eines Geometers hingegen betrifft zwar denselben Sachverhalt (die ge- rade Linie), spielt aber für das Schaffen des konkreten Werks eines Schreiners keine Rolle, auch wenn dieser es besitzen könnte. Dass das theoretische Wissen Aristoteles als höherrangig gegenüber dem Wissen über das Handeln und über das Herstellen gilt, lässt sich am Beginn der Metaphysik ablesen.86 In dem be- rühmten Abschnitt, in dem er dem Menschen ein Streben nach Wissen (εἰδέναι) von Natur aus (φύσει) zuspricht, erklärt er dies mit der Freude, die uns jede Sinneswahrnehmung bereite, auch wenn sie keinem Zweck diene und wir keine Handlung (πράττειν) erstrebten. Wissen in denjenigen unter den theoretischen Wissenschaften, in denen es Elemente (στοιχεῖα), Prinzipien (ἀρχαί) und Ursa- chen87 (αἴτιαι) gibt, besteht eben darin, diese ausfindig zu machen.88 Der Weg dazu führt von dem, was uns zuerst bekannter und klarer erscheint, zu dem was tatsächlich (φύσει) bekannter und klarer ist.89 Die Methode in den Wissenschaf- ten von der Natur besteht in einem Fortschreiten von den durch die sinnliche Wahrnehmung erfassten Phänomenen zu deren Grundelementen und Ursachen, mithilfe derer jene beschrieben und erklärt werden können. Das umfassendste Wissen besitzt Aristoteles zufolge derjenige, dessen Wissenschaft auf das All- gemeine zielt, das jedoch schwer zu erkennen ist, da es den größten Abstand zum Ausgangspunkt, der sinnlichen Wahrnehmung hat. Darin liegt in seinem Verständnis der Primat der Ersten Philosophie (also der Metaphysik), die sich mit den ersten und allgemeinsten Prinzipien, die allem anderen zugrunde lie-

86 Vgl. Met. 980a1 ff.

87 Aristoteles Vorstellung von Ursachen unterscheidet sich erheblich von der modernen. Ma- rio Vegetti: „Zum Beispiel schließt die Behandlung der „Ursache“ durch Aristoteles im zweiten Buch seiner Physik keinen Humeschen Begriff einer kausalen Verknüpfung ein, nach dem die Ursache der notwendige Vorgänger zu ihrer Wirkung ist.“ Vegetti 2001, S. 247 in seinem Aufsatz zum Thema der Ursache.

88 Phys. 184a1 ff.

89 Für das „klarer“ verwendet Aristoteles hier σαφέστερα, den Komparativ von σαφής, das er häufig synonym oder als Entsprechung zum bereits mehr fachsprachlichen ἀκριβής ge- braucht. Wissen, dass die Kenntnis der Prinzipien und Ursachen umfasst, hat für Aristote- les also den Vorzug größerer Klarheit und Bekanntheit gegenüber dem reinen Erfahrungs- wissen.

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gen, befasst.90 Der Weisere ist dabei der „Genauere“, der auch die Ursachen in seiner Wissenschaft zu lehren fähig ist.91 Wie das Prinzipienwissen, das dem Menschen nicht von Anfang an gegeben ist, aufgrund eines komplexen Prozes- ses erworben wird, beschreibt Aristoteles am ausführlichsten in der Zweiten Analytik.92 Da das aristotelische Wissenschaftsverständnis hier besonders deut- lich formuliert wird, soll der Inhalt dieses Abschnitts kurz referiert werden:

Erkenntnis beginnt mit einer Vielzahl sinnlicher Wahrnehmungen. Die ist aber noch kein Spezifikum des Menschen, da auch Tiere wahrnehmen können, häu- fig sogar genauer als der Mensch. Das Erinnerungsvermögen besteht darin, dass es einzelne Erinnerung bewahren und vergleichen kann. Wenn dann ein Allgemeines in der Seele stehen bleibt – also etwa der Mensch, nicht ein be- stimmter Mensch Kallias –, an das wir uns erinnern können, liegt ein Allge- meinbegriff vor (wörtlich „kommt zum Stehen“, στάντος). Mit einer wachsen- den Zahl von Erinnerungen und allgemeiner Begriffe werden erst Unterschiede (διαφοραί) erkennbar, d.h. Vergleiche möglich. Eine strukturierte Vielzahl sol- cher Erinnerungen an einen Gegenstand nennt man Erfahrung (ἐμπειρία), die wiederum in Verbindung mit den Allgemeinbegriffen die Prinzipienerkenntnis ermöglicht. Prinzipien, die sich auf das Seiende beziehen, sind nach Aristoteles vorrangig Gegenstand von Wissenschaft (ἐπιστήμη); solche die sich auf das Werdende beziehen, Gegenstand von Kunst und Handwerk (τέχνη).93 Da man gemäß Aristoteles für die (auf Sinneswahrnehmung oder Erinnerung basieren- de) Meinung und die beweisende Argumentation (λογισμός) einen Irrtum nie endgültig ausschließen kann, ist die höchste Gewissheit nur in der Wissen- schaft (ἐπιστήμη) und der Einsicht (νοῦς) zu finden.94 Als Grund dafür gibt er an, dass diese höhere Genauigkeit besitzen als jene, was als Basis der Sicher- heit von Wissen erforderlich ist. Für die Erkenntnis der ersten Prinzipien ist dann jedoch nicht mehr die Wissenschaft zuständig, da die Prinzipien ihre Vor- aussetzung bilden und von ihr nur verwendet werden. Der Erwerb der Prinzipi- en ist eine Angelegenheit der direkten Einsicht, nicht der Herleitung, also eine

90 Vgl. Met. 982a19 ff.

91 Vgl. Met. 982a12 ff. Die Vermittelbarkeit von Wissen ist für Aristoteles ein notwendiges Kriterium für dessen Wahrheit.

92 Vgl. An. Post. 99b15 ff.

93 Vgl. An. Post. 100a8 f.

94 Vgl. An. Post. 100b5 ff.

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