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Archiv "Inklusive Bildung: Noch ein weiter Weg" (20.06.2014)

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A 1152 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 111

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Heft 25

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20. Juni 2014

INKLUSIVE BILDUNG

Noch ein weiter Weg

Damit Inklusion behinderter Kinder an Regelschulen gelingen kann, bedarf es guter Konzepte, Vorbilder und Erfahrungen.

S

eit 2009 gilt in Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinde- rungen. Sie ist der neue Rechtsrah- men für die Behindertenpolitik in Deutschland, in dem unter anderem das Recht auf inklusive Bildung festgeschrieben ist. Es besagt bei- spielsweise, dass Behinderte und nichtbehinderte Menschen ein Recht darauf haben, gemeinsam zu lernen, und dass Kinder und Ju- gendliche mit Behinderungen das Recht auf Zugang zu einer ortsna- hen Regelschule haben. Mit inklu- siver Bildung soll erreicht werden, dass Vorurteile, Berührungsängste und Ausgrenzung von Behinderten abgebaut werden. Im Rahmen so- zialer Inklusion sollen gesellschaft- liche Strukturen so gestaltet wer- den, dass sie der menschlichen Vielfalt gerecht werden. Ein an De- fiziten orientiertes Denken soll überwunden werden, stattdessen sollen Menschen mit Behinderun- gen stärker wertgeschätzt, gefördert und respektiert werden.

Die UN-Konvention etablierte die staatliche Verpflichtung, schritt- weise ein inklusives Bildungssys-

tem aufzubauen und zu erhalten, weil davon ausgegangen wird, dass das Recht auf Bildung nur in einem inklusiven System gewährleistet werden kann. Aus diesem Grund stehen die deutsche Bildungspolitik und vor allem die Bundesländer zur Zeit vor großen Herausforderun- gen. Denn insbesondere behinderte Kinder, die zuvor in Sonder- und Förderschulen gingen, haben nun das einklagbare Recht auf Regelbe- schulung. Allerdings sind noch längst nicht alle Schulträger und Schulen darauf eingestellt, die der- zeit circa 0,5 Millionen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbe- darf entsprechend zu unterrichten.

Deutschland hinkt hinterher Die Bundesländer setzen die UN- Konvention momentan unter- schiedlich um. So haben beispiels- weise Bremen und Hamburg die Förderschulen und Spezialeinrich- tungen für bestimmte Störungen ab- geschafft. Andere Bundesländer zeigen gewisse Widerstände oder schlagen Sonderwege ein. Es gibt immer wieder Unstimmigkeiten zwischen Kommunen und Ländern,

wer die Kosten für die Inklusion zu tragen hat.

Auch unter Lehrern, Eltern, Poli- tikern und Wissenschaftlern ist man sich uneins. Die Befürworter tragen vor, dass inklusive Bildung ein weltweiter Trend sei, der in anderen Ländern wesentlich weiter fortge- schritten sei. Deutschland hinke in dieser Angelegenheit hinterher und verausgabe sich in ideologischen Grabenkämpfen, statt die Chance zu ergreifen, das eigene Bildungs- system zügig an aktuelle Gegeben- heiten anzupassen. Dabei lägen die Vorteile inklusiver Bildung auf der Hand, denn sie erlaube es, gegen- seitige Akzeptanz zu fördern. Die Gegner argumentieren, dass viele Eltern behinderter Kinder sich der Illusion hingäben, ihre Kinder wür- den vom Besuch einer Regelschule ausschließlich profitieren. Sie igno- rierten bekannte Probleme wie Überforderung, Enttäuschung und Ausgrenzung und schätzten die etablierten Förderangebote zu ge- ring. Die Gegner weisen außerdem darauf hin, dass eine unsachgemäße und überstürzte Integration behin- derter Schüler in den Regelunter- richt dazu führe, dass normal und hochbegabte Kinder zu wenig ge- fördert würden. Dadurch werde der Unmut der Elternschaft geweckt und deren Befürchtung bestärkt, dass das Leistungsniveau sinke.

Außerdem seien viele Lehrer in Re- gelschulen nicht hinreichend ausge- bildet, um Klassen mit behinderten und nichtbehinderten Schülern adä- quat zu unterrichten.

Sowohl für die Pro- als auch für die Kontraargumente zur inklusiven Bildung finden sich wissenschaftli- che Belege. Zur Zeit wird viel über einzelne Schulen berichtet, in de- nen einerseits die inklusive Bildung misslingt, etwa weil die Beteiligten nicht genügend vorbereitet wurden und weil es an strukturellen und fi- nanziellen Voraussetzungen man- gelt, andererseits aber auch gelingt, weil hohes Engagement, Erfahrun- gen und vielfältige Unterstützung (wie zum Beispiel durch Förderleh- rer sowie zusätzliche Räumlichkei- ten und Hilfsmittel) vorhanden sind. Auch wenn solche Berichte oft nur auf den Einzelfall bezogen

Foto: dpa

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sind, können sie dazu beitragen, Antworten darauf zu geben, welche Faktoren für inklusive Bildung unab- dingbar sind und welche Hindernisse im deutschen Bil- dungssystem noch überwunden werden müssen. Wenig hilfreich sind hingegen so manche emotional geführten Debatten in den Medien zum Thema Inklusion, weil sie oft stark polarisieren und die Beteiligten gegeneinander aufbringen, anstatt Fakten und Lösungen zu präsentie- ren und an gemeinsamen Wegen zu arbeiten. Als Bei- spiel sei der Fall des elfjährigen Henri mit Downsyn- drom erwähnt, dessen Eltern ihn aufs Gymnasium schi- cken wollen, obwohl klar ist, dass er die Buchstaben kaum beherrscht und das Abitur nicht schaffen wird.

Sie begründeten dies damit, dass er nur im Gymnasium bei seinen Freunden aus der Grundschule bleiben kön- ne. Fälle wie dieser zogen viel Aufmerksamkeit auf sich und führten in jüngster Vergangenheit dazu, dass sich in der Bevölkerung verschiedene Lager bildeten, die sich entweder mit Menschen mit Behinderungen und den Angehörigen solidarisierten oder die kein Ver- ständnis für deren Rechte und Wünsche aufbrachten.

Toleranz üben und Chancen erkennen

Damit Inklusion gelingen kann, bedarf es guter Kon- zepte, Vorbilder und Erfahrungen, wie sie von Schulso- zialarbeitern, Pädagogen und Bildungsforschern be- schrieben werden. Es bedarf Schulen, die sich für die Inklusion öffnen und professionell beraten lassen, und einer Lehrerschaft, die sich auf die neue Situation ein- stellt und gezielt fortbildet. Von den Eltern nichtbehin- derter Kinder wäre zu erhoffen, dass sie sich in Tole- ranz üben und die Chancen erkennen, die die Inklusion bietet, während Eltern behinderter Kinder maßvoll vom Schulwahlrecht Gebrauch machen und in erster Linie den Bedürfnissen ihrer Kinder und weniger ihren eige- nen Ansprüchen und Wunschvorstellungen gerecht werden sollten. Es bedarf außerdem erfahrener Berater im Umfeld von betroffenen Familien, die genau prüfen, welche Behinderungen vorliegen, welche Schulen ent- sprechende Angebote unterbreiten können und wie die Inklusion im Schulalltag konkret aussieht. Von den Po- litikern ist zu erwarten, dass sie berücksichtigen, dass es beim Thema Inklusion zwar auch um die Kosten, aber noch viel mehr um grundlegende gesellschaftliche Werte geht. Und von den Medien ist zu fordern, dass sie sich zurückhalten und nur in einer Weise informieren, die niemandem Schaden zufügt.

Wie die Diskussion um die Inklusion zeigt, ist das Bildungssystem zur Zeit sehr im Umbruch und wird noch viele Herausforderungen bewältigen müssen, be- vor tatsächlich von flächendeckender inklusiver Bil- dung in Deutschland gesprochen werden kann. Bis da- hin gilt es, für jedes Kind mit Behinderung eine maß- geschneiderte Lösung zu finden.

Dr. phil. Marion Sonnenmoser

LITERATUR

1. Kroworsch S: Inklusion im deutschen Schulsystem. Freiburg: Lam- bertus 2014.

2. Reich K: Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Weinheim: Beltz 2012.

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