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Archiv "2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-1,4-Dioxin (TCDD): Das Unglück von Seveso" (03.11.1977)

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2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-1,4-Dioxin (TCDD):

Das Unglück von Seveso

Wolfgang Forth

Am 10. Juli jährte sich das Unglück von Seveso, in dessen Verlauf TCDD, das bislang stärkste industrielle Gift, in die Atmosphäre ge- langte und einen bewohnten Landstrich verseuchte. Das Ausmaß des Unglücks ist bis heute noch nicht zu übersehen. Die Laien- und die Fachpresse haben sich in ungezählten Publikationen des Unglücks von Seveso angenommen. Hier soll der Arzt fachlich darüber infor- miert werden, was an toxikologischem Wissen über TCDD bekannt ist und wie es zu dem Zwischenfall von Seveso kam.

Am 10. Juli 1977 jährte sich das Un- glück von Seveso, in dessen Verlauf ein besiedeltes Gebiet in unmittelba- rer Nachbarschaft einer chemischen Fabrik mit 2,3,7,8-Tetrachlorodiben- zo-1,4-dioxin (TCDD) verseucht wurde. Die Analyse des Unglücks, die Verknüpfung unglücklicher Um- stände sowie der mögliche Anteil menschlichen Versagens an den Vorgängen, die zum Entweichen von TCDD aus dem Synthesereaktor für Trichlophenol geführt haben, wer- den Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung sein.

Es bleibt zu hoffen, daß dabei auch das behördliche Management des Unglücks einer kritischen Würdi- gung unterzogen wird. Soweit die Tatsachen heute schon zu überse- hen sind, können sie anderenorts nachgelesen werden (3, 4, 47, 56, 57)*).

Zweck dieses Beitrages ist es, die ärztlichen Leser über die toxikologi- schen Eigenschaften von TCDD, seine Gefahren für den Menschen und seine speziellen Auswirkungen in Seveso zu unterrichten.

1. Das Unglück und seine Folgen

Am Samstag, dem 10. Juli 1976, mit- tags um 12.30 Uhr, das heißt sieben Stunden nach Schichtende, entwich in der chemischen Fabrik ICMESA (Givaudan SA, Verbier) in Seveso ein heißer Dampf, der neben Äthylengly- kol Schwebestoffe wie ätzende Na- tronlauge und Trichlophenol sowie

2,3,7,8,-Tetrachlorodibenzo-1,4-Di- oxin (TCDD) enthielt, ziemlich die giftigste bislang bekannte nieder- molekulare Verbindung (Tabellen 1 und 2). Die Niederschlagswolke senkte sich auf ein besiedeltes Areal von rund 2000 ha; später stellte sich heraus, daß rund 370 ha mit insge- samt 1210 Einwohnern besonders betroffen sind (1). Bisher wurden mehr als 500 Personen, bei denen man Vergiftungserscheinungen an- nahm, behandelt (4); die genaue Zahl der tatsächlich mit TCDD in Be- rührung gekommenen Personen,

Die in Klammern stehenden Zahlen bezie- hen sich auf das Literaturverzeichnis des Sonderdrucks

2617

(2)

Seveso

vor allem derjenigen, die noch von dem lange persistierenden TCDD vergiftet werden können, läßt sich heute noch nicht absehen. Seveso liegt etwa 40 Kilometer nördlich von Mailand an der Straße nach Corno.

2. Chemie von TCDD

Die Chemie von TCDD und die der wichtigsten Verfahren, bei denen es entstehen kann, sind in Tabelle 1 dargestellt. Die wichtigsten physika- lischen und chemischen Eigen- schaften von TCDD sind in Tabelle 4 zusammengefaßt. TCDD ist in Was- ser außerordentlich schlecht löslich;

dagegen ist seine Löslichkeit in or- ganischen Lösungsmitteln im Ver- gleich zu derjenigen in Wasser be- achtlich hoch: in Benzol läßt sich beispielsweise fast 3 Millionen mal mehr TCDD lösen als in Wasser.

Trotz dieses beeindruckenden Ver- gleichs darf nicht darüber hinweg- gesehen werden, daß die Löslichkeit in Benzol, absolut betrachtet, sehr gering ist.

TCDD ist außerordentlich beständig; erst oberhalb von 800° C wird es thermisch zersetzt.

2.1. Die Ausbreitung von TCDD in Seveso

Der karthog raphischen Aufzeich- nung der Bodenanalyse (Abbildung 1) ist zu entnehmen, daß sich das Gemisch entsprechend der vorherr- schenden Windrichtung vornehm- lich nach Südsüdost in einem nur 200 bis 600 Meter breiten, aber meh- rere Kilometer langen Band über die an die Fabrik angrenzenden Wiesen und bewohnten Gebiete ausgebrei- tet hat. Entsprechend dem TCDD- Gehalt des Bodens werden drei Zo- nen unterschieden (1 ):

..,.. Zone A: Sie umfaßt in einer Länge von etwa 2,5 Kilometer ein Gebiet von 115 ha. Im Boden wurden Werte bis zu 5000 ~g/m2 festgestellt.

Die Bewohner dieser Zone wurden evakuiert, Pflanzen und Tiere in der Zone wurden, soweit man ihrer hab- haft werden konnte, vernichtet; wie

erwähnt, wurden diese Maßnahmen aber erst geraume Zeit nach dem Zwischenfall getroffen.

..,.. Zone B: sie umfaßt in einer Länge von etwa 5 Kilometer ein Ge- biet von 255 ha. Die TCDD-Gehalte wurden mit <50 ~g/m2 bestimmt.

Die Kinder, die in dieser Zone lebten, wurden tagsüber evakuiert. Auch in dieser Zone wurde alles lebende In- ventar zerstört.

..,.. Zone M: Um die beiden Zonen A und B wurden Bodenproben in ei- nem Gebiet von 1400 ha genommen.

Sie enthielten in der Regel < 5 ~g TCDD/m2.

2.2. Die emittierte TCDD-Menge Die Schätzung der emittierten TCDD-Menge wurde aus den Mes- sungen in den Bodenproben vorge- nommen. ln der Zone A sollen zwi- schen 2 und 3 Kilogramm TCDD nie- dergegangen sein; 80 Prozent davon nur etwa 500 Meter von der Fabrik entfernt. Für die Zone B werden nur noch rund 20 g TCDD veranschlagt.

3. Der analytische Nachweis von TCDD und verwandten Ver- bindungen

Die Analyse von Proben, die TCDD in so großen Mengen enthalten, wie sie in Seveso zu beobachten sind, ist kein besonderes Problem (5). Die Analytik gestaltet sich aber dort sehr schwierig, wo es um den Nachweis von TCDD in Mengen des sogenann- ten "minimum risk Ievei" geht, der für den Menschen gegenwärtig mit 1 pg/kg Gewicht und Tag angenom- men wird. Es sei ausdrücklich dar- auf hingewiesen, daß diese Zahl vorab eine Schätzung ist und noch keinerlei allgemeinverbindliche Be- deutung hat. Das bedeutet, daß TCDD in ng bis pg-Mengen (10-9 bis 10-12 g) in 1 g Probematerial sicher nachgewiesen werden muß. Die hierfür notwendigen Analysenerfah- rungen betreffen vor allem auch die Aufbereitung des unterschiedlichen Probenmaterials (Boden, Tierorga- ne, Pflanzen) und deren Extraktion

und Reinigung. Als Methode der Wahl wird gegenwärtig die Massen- spektrometrie (Fragmentometrie) in Kombination mit der Gaschromato- graphie betrachtet.

Schwierigkeiten bei der Identifika- tion der Analysenprodukte ergeben sich für den Erfahrenen aus der Tat- sache, daß auch andere chlorierte Kohlenwasserstoffe, zum Beispiel DDT und seine Abbauprodukte mit dem TCDD-Spektrum interferieren können. Für TCDD sind 22 Stel- lungsisomerien möglich, sechs da- von mit jeweils vier Chloratomen an jedem Benzolring. Andere Massen- äquivalente können durch die in Ta- belle 1 erwähnten Diphenyläther und Dibenzofurane entstehen. Ge- genwärtig besteht noch keine end- gültige Klarheit über die toxikologi- sche Bedeutung dieser Verbindun- gen, die bei der Herstellung vieler polychlorierter Phenole entstehen können (6).

Aus thermodynamischen Gründen entsteht jedoch bei der in Tabelle 1 skizzierten Reaktion bei der thermo- chemischen Zusetzung von Trichlor- phenol ganz überwiegend 2,3,7,8- Tetrachlorodibenzo-1 ,4-dioxin.

4. Toxizität von TCDD

Die bisher zugänglichen Daten be- sagen, daß Meerschweinchen offen- bar die empfindlichste Spezies sind (Tabelle 5). Eine mittlere Empfind- lichkeit gegenüber TCDD weisen Hühnchen, Ratten und Kaninchen auf. Hund und Maus scheinen ver- gleichsweise widerstandsfähiger zu sein. Diese Angaben sind vorläufig jedoch noch erratisch; deshalb ist die hier skizzierte Reihenfolge nur vorläufig.

Legt man die Dosen zugrunde, die an der jeweils empfindlichsten Spe- zies wirksam sind (Mol/kg Körper- gewicht), dann gehört TCDD mit zu den stärksten, gegenwärtig bekann-

ten, niedermolekularen Giften: es ist

8mal stärker wirksam als Tetrodoto- xin, 230mal stärker als Curare, 500mal stärker als Strychnin, 5000mal stärker als Diisopro-

(3)

CI Ö_I°Na0 CI I

\\T. exotherm

+ 2 Na CI 0

Prädioxine

X n

F. CI, Br n=1-4

0 o

)

X, X, X„ x n X„

Diphenyläther Dibenzofurane Dibenzodioxine

Äthylenglykol hergestellt (Tabelle 2). In der Mutterlauge wird ® in alkalischem Milieu mit Chloressigsäure

®

zu 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure ® (2,4,5-T), einem Herbizid, umgesetzt. In saurem Milieu verbinden sich zwei Moleküle

e

mit Formaldehyd

®

zu Hexachlorophen (), das als Bakterizid Bestandteil vieler handelsübli- cher Desodorantien ist.

ISI. Na.

N-CI saures alk.

Milieu ) Milieu

CI

CI CH 2

COO.

0 OCH2 C00a

+ Na CI

ci 0

TCDD C) entsteht bei der Herstel- lung von C) bei höheren Tempe- raturen (Tabelle 2). Der Feinme- chanismus, der dazu führt, daß die Reaktion außer Kontrolle ge- rät, ist in seinen Einzelheiten noch nicht endgültig aufgeklärt.

Die Bildung von TCDD ist die Di- merisierung von C) unter Abspal- tung von NaCI. Da C) eine Vorstu- fe für die mögliche Bildung von TCDD ist, wird es auch oft „Prä- dioxin" genannt. Die thermoche- mische Bildung von TCDD aus C kann mit einer Ausbeute von über 60 Prozent erfolgen.

Ci

cl 0

OH

Cl- 9.2

CI CI

OH s/ OH

CH2 H20+

CI C

CI CI

Dies war mit hoher Wahrscheinlichkeit der chemische Vorgang, der in Seveso, begünstigt durch den Reaktionstyp der Trichlorphenol-Herstellung (Hochtemperaturverfahren, vergleiche Tab. 2) und die Unterbre- chung der Kühlung, zur Bildung von TCDD geführt hat. Der Druckanstieg im Reaktionsbehälter, der schließ- lich die Berstscheibe durchbrach und den Austritt des giftigen Nebels in die Atmosphäre zur Folge hatte, ist leicht mit der Temperatursteigerung der der Kontrolle entglittenen Reaktion zu erklären. Die Umsetzung zu TCDD erfolgt überdies exotherm!

TCDD entsteht auch bei der Herstellung von 2,4,5-T; das nachgereinigte Produkt darf nach den in der Bundesrepublik gültigen Vorschriften höchstens 0,01 ppm ( = 10 ng/g) TCDD enthalten. Bei der Produktion von Hexachlorophen entsteht kein TCDD.

TCDD ist nicht das einzige Dioxin, das bei der Produktion von Trichlorphenol anfallen kann. Je nach dem Grad der Verunreinigung des Ausgangsproduktes und dem der Dechlorierung bei der alkalischen Hydrolyse können 1-8fach chlorierte Dioxine entstehen. Am giftigsten sind nach den bisherigen Untersuchungen die 4fach chlorierten Verbindungen. Daneben fallen polychlorierte einfache Diphenyläther und Dibenzofurane an (50, 51). Die gleichen Reaktionsmechanismen gelten auch für ähnliche mit anderen Halogenen (z. B. mit Brom oder Fluor) substituierte Verbindungen. Soweit heute bekannt ist, stehen die erwähnten TCDD-Analoga hinsichtlich ihrer Toxizität nicht oder nur wenig nach (52, 53).

Die toxischen polyhalogenierten Aryle, die bei der Synthese einer Vielzahl halogenierter Phenylde- rivate entstehen können, lassen sich wie nebenstehend gezeigt formulieren:

Strukturmerkmale: Bisher sind nur die Dibenzodioxine toxikologisch systematisch untersucht worden. Dabei ergab sich hinsichtlich der Giftigkeit der Halogensubstituenten folgende Reihe: F < Cl < Br. Voraussetzung für eine besonders starke Giftwirkung ist die Halogensubstitution des Dibenzodioxingerüstes in den Positio- nen 1, 2, 3 und 7. Wenigstens eine Position muß mit H besetzt sein. Als am giftigsten erwies sich bislang 2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-1,4-dioxin (13, 54).

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 44 vom 3. November 1977 2619

(4)

Verfahren Reaktionsbedingungen Bemerkungen

„druckloses" Hochtemperatur- verfahren

200° C) Äthylenglykol;

NaOH

Hochdruck-Verfahren im Autoklaven

(19,5 Atm. Überdruck, 157° C).

Methanol;

NaOH

1) Bei dem Verfahren, wie es von der Firma ICMESA benutzt wurde, wird NaOH vorgelegt und Tetrachlorbenzol auf einmal zugegeben.

Dadurch wird die Kontrolle des Reaktions- ablaufs, insbesondere die der Temperatur des Reaktionsgefäßes, erschwert.

2) In Anwesenheit von Schwermetallspuren kann es zur Kondensation der Monomeren zu Polyäthylenglykol kommen; diese Kondensa- tion ist exotherm und kann die Ursache für unerwünschte Temperatursteigerungen sein ( 3 ).

Reaktionsablauf wird über einen Temperatur- fühler und Regeleinrichtungen so gesteuert, daß die Temperatur konstant bleibt.

„Dow"-Chemicals

„Boehringer"-Verfahren

Seveso

pylfluorophosphat und 67 000mal stärker als Natriumcyanid (13). Die tödliche TCDD-Dosis für den Men- schen wurde auf < 5 mg/kg ge- schätzt (4).

4.1. Vergiftungsbild beim Menschen

Die in der Literatur verfügbaren Be- schreibungen des Vergiftungsbildes beim Menschen sind nicht ganz ein- deutig nur der Wirkung von TCDD zuzuordnen. Die Beobachtungen stammen von Vergiftungsfällen, die bei der industriellen Produktion auf- getreten sind (Tabelle 3). Es handelt sich dabei also in der Regel um Mischintoxikationen mit polychlo- rierten Phenolderivaten und TCDD, wobei sicherlich das letztere als das stärkste Gift der Mischung zu be- trachten ist. Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß das Ver- giftungsbild mit TCDD nicht charak-

teristisch ist. Ähnliche Vergiftungs- bilder sind aufgrund der Erfahrun- gen am Tier mit chlorierten Dibenzo- furanen und verschiedenen chlorier- ten Diphenylderivaten zu erwarten.

Die Substitution von Chlor durch an- dere Halogene, zum Beispiel Brom, ändert nichts am Vergiftungsbild (7 bis 9).

4.1.1. Subletale Wirkungen

TCDD wirkt nicht sofort nach der Einnahme; nach einer Latenz von fast 2 bis zu 8 Wochen, die bei allen bisher in die Untersuchungen einbe- zogenen Säugetieren beobachtet wurde, beginnen die Vergiftungs- symptome beim Menschen meist mit so uncharakteristischen Zeichen wie Gewichtsverlust, Appetitverlust bis zur Anorexie, Konjunktivitis, leichter Ermüdbarkeit bis zur Schlaflosig- keit, Erinnerungsschwäche und Ver- lust der Libido (7).

4.1.2. Chlorakne

Diese ursprünglich 1899 beschrie- bene und später nach einem sie aus- lösenden Agens (Perchlornaphtha- lin) Perna-Krankheit genannte (10) charakteristische, die Betroffenen manchmal bis zur Unkenntlichkeit entstellende Hautveränderung, tritt oft erst nach monatelanger Latenz, dann allerdings manchmal über Jahre anhaltend, auf (Abbildung 2).

Die Chlorakne beginnt im Gesicht hinter den Ohren, an Armen und Ge- schlechtsteilen. Später breitet sie sich über die gesamte Haut aus. Die Entstehung der Chlorakne ist nicht an den Kontakt der Haut mit TCDD geknüpft. Sie tritt nach den Erfah- rungen in der BASF vornehmlich nach inhalatorischer beziehungs- weise oraler Aufnahme des Giftes (10) auf. Im histologischen Bild er- scheinen die Ausführungsgänge der Talgdrüsen durch die gesteigerte Bildung verhornender Epithelien ge-

Tabelle 2: Technologie der 2,4,5-Trichlorphenolsynthese

Die Jahresproduktion von 2,4,5-T (Tabelle 1) wird in der Bundesrepublik mit 1500 Tonnen beziffert. Ein Viertel davon deckt den Inlandbedarf. Bei der produzierten Menge an 2,4.5-T müssen jährlich rund 8 kg TCDD anfallen. Die bei der Produktion von 2,4,5-T anfallende Mutterlauge enthält bis zu 5 ppm TODD; sie wird verdünnt und auf See bei 1100-1500°C verbrannt. Das „Dow"-Verfahren ist ökonomisch vorteilhafter, weil mit Äthylenglykol ohne Drucksteigerungen die für die Reaktion nötigen Temperaturen erreicht werden können.

Nach wiederholten Unfällen (Tabelle 3) wurde mittlerweile fast überall das gefahrenlosere „Boehringer"- Verfahren eingeführt (3).

(5)

Tabelle 3: Spektakuläre Zwischenfälle bei der 2,4,5-T-Produktion

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit: es gibt Hinweise auf weitere Zwischenfälle in Frankreich (45) und in der CSSR (46).

Jahr Ort Auswirkungen

1953 Ludwigshafen am Rhein (Bundesrepublik Deutsch- land) BASF

55 Betroffene; 1 Todesfall. 1968 Abbruch des Betrie- bes, Aufgabe der 2,4,5-T-Produktion. Dieser Zwischen- fall ist mit Epikrise mit am besten dokumentiert (10, 20).

1955 Hamburg

(Bundesrepublik Deutschland)

Boehringer, Ingelheim

Mehrere Fälle von Chlorakne. Umstellung auf „Boeh- ringer"-Verfahren. Anhand dieses Zwischenfalls wurde TCDD als auslösendes Agens erkannt (18).

Rund 30 Betroffene; 4 Todesfälle, deren Zusammen- hang mit TCDD allerdings nicht nachgewiesen wurde.

Die Anlage wurde 10 Jahre verschlossen, danach ab- getragen; der Schutt wurde im Meer versenkt (40).

1963 Amsterdam

(Niederlande) Philips-Duphar

„Häufung von Chlorakne". Übernahme des Boehrin- ger-Verfahrens (Dow Chemicals war der Lizenzgeber für nahezu alle 2,4,5-T-Produzenten nach dem 2. Welt- krieg) (41-44).

1964 Dow Chemicals

(USA)

1968 Bolsover

(England)

Coalite & Chemic.

Prod. Ltd.

79 Betroffene

1976 Produktion von 2,4,5-T eingestellt (zitiert nach 3, 4 und 42).

1973 Stickstoffwerke Linz (Österreich)

Mehrere Fälle von Chlorakne.

1975 Übernahme des Boehringer-Verfahrens (zitiert nach 3, 4).

1974 Uerdingen

(Bundesrepublik Deutschland) Bayer

Mehrere Fälle von Chlorakne (nach Reinigung und Wiederaufbau eine Destillationskolonne)

1976 Produktion vorläufig eingestellt (zitiert nach 3, 4).

wissermaßen verstopft. Den Nach- weis, daß TCDD die Chlorakne ver- ursacht, führten Kimmig und Schulz (49) nach dem Harnturnier Zwi- schenfall (Tabelle 3).

Auffallend ist, daß in Seveso vor al- lem Kinder von den Hauterscheinun- gen betroffen sind. Dabei muß noch offenbleiben, in welchem Umfang es sich dabei um die sofort aufgetrete- nen Hauterscheinungen vor allem durch Natronlauge und Äthylengly- col handelt und wie groß der Anteil der echten, nachgewiesenen Chlor- akne im Kreise der Betroffenen ist.

Unklar ist vorläufig, ob Kinder be- sonders empfindlich sind oder ob

durch ihr besonderes Biotop (Spiel- plätze, Sportgeräte, Schulen usw.) eine besondere Exposition vorliegt.

Gegenwärtig spricht man von 340 betroffenen Kindern (11). Die ge- naue Zahl läßt sich vorläufig noch nicht feststellen. Das ist einmal durch die lange Latenz zwischen Ex- position und Manifestation der Ver- giftungserscheinungen bedingt.

Zum anderen aber auch durch die Persistenz des Giftes, besonders in Gebäuden (10; vergleiche auch Ta- belle 3). In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß man bei den ersten Vergiftungen bei Mensch und Tier an eine übertragene, zum Bei- spiel virusbedingte Krankheit dachte

(48). Der Giftstoff ist in so kleinen Mengen wirksam, daß es bei der An- wendung im Tierversuch zu Ver- schleppungen von Käfig zu Käfig kam. Auch die Übertragung des Gif- tes, wahrscheinlich aus der Arbeits- kleidung, durch die unmittelbar Be- troffenen auf Familienangehörige ist vorgekommen (10).

Das Bild der Chlorakne ist beim Menschen bislang ohne eindeutige Parallele beim Tier. Beim Kaninchen gelingt es durch lokale TCDD-Appli- kation am Ohr eine der Chlorakne des Menschen ähnliche Reaktion zu erzeugen. Im histologischen Bild er- scheinen die betroffene Hautpartie

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 44 vom 3. November 1977 2621

(6)

Abbildung 1: Karte der TCDD-Analysen, die in der Zeit vom 20. Juli bis zum 6. August 1976 in der Umgebung der Firma ICMESA durch die Givaudan Research Company, Dubendorf-Schweiz vorgenommen wurden. Diese Daten widerlegen die oft aufgestellte Behauptung, daß der Hinweis auf die TCDD-Verseuchung des Gebietes um die Fabrik erst von außen erbracht werden mußte: Die Verantwortlichen der ICMESA wußten vom ersten Tag an um die Gefahr. die mit dem Ausbruch der giftigen Nebel am 10. Juli 1976 verbunden war. Die unmittelbar nach dem Unglück in der Umgebung vorgenommenen TCDD-Analysen wurden von den Behörden aus methodischen Gründen in Zweifel gezogen und mußten wiederholt werden.

Am 17. Juli 1976 wurden die behandelnden Ärzte der Region von der Firma ICMESA direkt davon unterrichtet, daß die ätzenden Niederschläge TCDD in noch unbekannter Menge enthalten (56). Die farbigen Punkte bezeichnen die Orte der Probenentnahmen und geben die ungefähren TCDD-Gehalte in lig/g Gras an: rot: 100; orange: 10-99; blau: 1-9; grün:

0,1-0,9: gelb: 0,09; intensiv gelb: unterhalb der Nachweisgrenze

(7)

Abbildung 2: Chlorakne bei einem Kind aus Seveso. Sie trat in typischer Weise erst einige Wochen nach der durch die ätzenden Inhaltsstoffe des giftigen Nebels verursachten akuten, unspezifischen Dermatitis auf

verdickt, die Epithelien proliferiert, ihr Keratingehalt vermehrt. Auffal- lend ist, daß die Zahl der Talgdrüsen im betroffenen Hautareal abgenom- men hat; zuweilen sind überhaupt keine Talgdrüsen zu sehen (12).

Auch beim Affen sind mittlerweile der Chlorakne des Menschen ähn- liche Hautreaktionen (Befall der Maibohmschen Drüsen) beobachtet worden (7).

4.1.3. ManifestatIonsstellen der Massenvergiftung bei der BASF, 1953

Die 42 Betroffenen (Tabelle 3) litten alle an einer Dermatitis; bei 21 blieb es nur dabei. Bei 14 Betroffenen stellten sich Störungen an inneren Organen ein: Bronchitiden und Pleuritis (1) wurden 7mal beobach- tet, Leberschäden 6mal, Konjunkti- vitis und Blepharitis 3mal, Gingivitis und Stomatitis 2mal, Myokarditis, Splenitis, Nephritis und Pankreatitis (tödlich) und Ulcus duodeni (jeweils 1mal). 7 der Betroffenen wiesen ne- ben der Dermatitis zentralnervöse Störungen auf, die von uncharakte- ristischen Symptomen wie Schmer- zen an den Extremitäten und im

Kopf bis zu Polyneuritis, Anosmie, Hörstörung und Enzephalomeningi- tis reichten. Bei einigen der Betrof- fenen wurde in der Folge eine er- höhte Infektanfälligkeit beobachtet, die zuweilen von einem verminder- ten Gammaglobulingehalt des Plas- mas begleitet wurde. Die Therapie mußte sich im wesentlichen auf symptomatische Maßnahmen be- schränken (20).

4.1.4. Porphyrie

TCDD und ähnliche Verbindungen sind außerordentlich stark wirksame Enzyminduktoren (13). Betroffen da- von sind vor allem das für den Arz- neistoffabbau wichtige System der Monooxygenasen (mischfunktionel- len Oxidasen) und der ALA-Synthe- tase (S-Amino-Laevu linsäure-Syn- thetase), deren gesteigerte Aktivität zur vermehrten Bildung von Uropor- phyrinogen und Uroporphyrin führt.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß nach Vergiftungen mit TCDD das klinische Bild der hepatischen Porphyrie mit den Zeichen der Por- phyria cutanea tarda beobachtet wurde. Der Effekt des TCDD auf die

ALA-Synthetase wird dabei mit der extrem langen Verweildauer des Gif- tes im Organismus erklärt.

4.1.5. Klinisch-chemische Befunde Entsprechend der Schädigung der Leber sind die Aktivitäten von SGOT und SGTT gesteigert; der Bilirubin- gehalt des Serums steigt an. Die Konzentration von Cholesterin im Serum ist lang anhaltend erhöht (7).

4.1.6. Letale Wirkungen

Als schicksalsbestimmendes Zielor- gan kann bei Menschen die Leber betrachtet werden. Über einen Ikte- rus entwickelt sich eine akute Leber- dystrophie mit nachfolgendem Le- berkoma. Histologisch bietet sich das Bild der zentrilobulären Verfet- tung.

Die zentralnervösen Erscheinungen der Vergiftungen mit TCDD sind vor allem präfinal ausgeprägt; sie werden vornehmlich als Desorien- tiertheit, Erregbarkeit, Erinnerungs- verlust bis zur Debilität beschrieben ( 7).

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 44 vom 3. November 1977 2623

(8)

Seveso

Bei einigen Tierspezies ist die Atro- phie lymphatischer Organe, insbe- sondere des Thymus, nach Vergif- tungen mit TCDD beschrieben wor- den. Die daraus abzuleitende De- pression bestimmter Immunreaktio- nen könnte eine Ursache für die ge- steigerte Empfindlichkeit gegenüber Infektionen sein.

4.2. Karzinogenität

Die Karzinogenität von TCDD bezie- hungsweise seine Wirkung als Ko- karzinogen ist wissenschaftlich noch umstritten (21). Es ist wahr- scheinlich, daß TCDD, wenigstens im Tierversuch, eine knotige hyper- blastische Reaktion der Leber verur- sacht. Langzeitbeobachtungen am Menschen müssen erst noch durch- geführt werden.

4.3. Teratogenität 4.3.1. Tierversuche

Die Teratogenität durch TCDD ist im Tierversuch vielfach erwiesen. Die Grenzdosis beträgt bei der Maus 30 4/kg Körpergewicht. An der glei- chen Spezies wurde in einer über drei Generationen reichenden Stu- die die Belastbarkeit mit TCDD ohne teratogene Wirkung mit 1 ng/kg und Tag ermittelt (21).

4.3.2. Teratogenität beim Menschen?

Entsprechend der Exposition von Feten in der besonders gefährlichen Phase der Organogenesis zwischen

dem 28. und 55. Tag nach der Emp- fängnis waren mögliche Mißbil- dungsgeburten zur Jahreswende 1976/77 zu erwarten. Bis Ende De- zember 1976 war noch keine Geburt eines mißgebildeten Säuglings ge- meldet. Im Januar und Februar 1977 wurde über die Geburt je eines leicht mißgebildeten Kindes berichtet (in- testinale beziehungsweise genitale Mißbildung). Der Geburtstermin der Kinder ist allerdings im Hinblick auf die erwähnte besonders gefährdete Differenzierungsperiode der Organ- entwicklung etwas spät. Nur bei ei- ner der beiden Mütter konnte die TCDD-Exposition einwandfrei nach- gewiesen werden; die andere lebte sogar in einem Gebiet, das offiziell als nicht kontaminiert betrachtet wurde (11).

Im Frühsommer 1977 gingen Berich- te über die weitere Geburt eines mißgebildeten Kindes durch die Presse. Der Zusammenhang zwi- schen der Giftaufnahme durch die Mutter im verseuchten Gebiet und der Mißbildung soll außer Zweifel stehen. Wissenschaftlich überprüfte Angaben zu diesem Fall stehen ge- genwärtig noch nicht zur Verfü- gung.

In diesem Zusammenhang ist an die Erfahrung mit der Herbizidmischung

„Agent Orange" (es enthält 50 Pro- zent 2,4,5-T, 50 Prozent 2,4-Dichlor- phenoxyessigsäure = 2,4 D) zu erin- nern, die im Vietnamkrieg zur Ent- laubung eingesetzt wurde (22-24).

Die damaligen Produkte von 2,4,5-T wiesen Verunreinigungen mit TCDD

auf, die wenigstens 1000mal höher waren, als sie heute in Deutschland zulässig sind (0,01 ppm). Mittlerwei- le ist es erwiesen, daß ebenfalls 2,4,5-T, wenn auch in sehr viel höhe- ren Dosen als TCDD, teratogen wirkt (25-27, 55).

Wenn man berücksichtigt, daß beim militärischen Einsatz von „Orange"

rund 30mal mehr als bei der damals noch zulässigen Anwendung in der Landwirtschaft von Flugzeugen aus versprüht wurde, dann verwundert es nicht, daß Berichte über eine Reihe von Todesfällen, insbesonde- re von Kindern, über Mißbildungen bei Tieren und bei Neugeborenen von Müttern aus den Entlaubungs- zonen existieren (23). Soweit sie die

Mißbildungen von Neugeborenen betreffen, sind sie von den offiziellen Stellen der USA bisher nicht als er- wiesen betrachtet worden; wohl deshalb, weil die bekannte Entwick- lung des Vietnamkrieges eine ein- wandfreie Nachprüfung aller Beob- achtungen verhindert hat (22, 23).

Eine Überschlagsrechnung besagt, daß ein Mensch in der Entlaubungs- zone in Vietnam die Chance hatte, allein mit dem Trinkwasser täglich 1 mg/kg Körpergewicht mit TCDD ver- unreinigtes „Orange" aufzunehmen (22, 23). Für die Haltung von Weide- vieh existierten Anweisungen, de- nenzufolge nach der — für friedliche Zwecke geringeren — Sprühung 3 bis 4 Monate das Weideland zu meiden sei (28). Mittlerweile wurden 2,4,5-T- haltige Herbizide zum Gebrauch auf Weideflächen und für zur Ernte be- stimmte Früchte ganz verboten.

4.4. Mutagenität

Die Bewertung der durch TCDD her- vorgerufenen Mutagenität bei Bak- terien, Drosophila und bestimmten Mäusestämmen ist gegenwärtig noch Gegenstand wissenschaftli- cher Kontroversen. Vorläufig herrscht die Meinung vor, daß die in unserem Lebensraum anzutreffen- den TCDD-Mengen keinen mutage- nen Effekt auf Säugetiere, insbeson- dere auch nicht auf den Menschen, haben (29).

Tabelle 4: Physikalische und chemische Eigenschaften von TCDD (nach 3)

Molekulargewicht: 322 Dalton

Schmelzpunkt: 303-305°C

Löslichkeit (g/I) in:

Benzol 0,57

Chloroform 0,38

Methanol 0,01

Wasser 2 x 10 -7

(9)

(Tage) Meerschweinchen

Kaninchen Ratte Hühnchen Rhesus-Affe Hund Maus

0,5 — 2 10 115 22 100

25 50

<70

>30 — <300 114 — 284

5-34 6-39 9-48 12 — 21 28 — 47 8-15 20 — 25

16, 19 zit. nach 7, 51 (10, 16, 18)

(16, 17) (14)

(19 zit. nach 7) (16)

(15, 19 zit. nach 7, 51)

4.5. Aufnahme, Verteilung und Stoffwechsel von TCDD Aufnahme und Verteilung von TCDD bei Mensch und Tier sind durch seine hohe Lipidlöslichkeit charak- terisiert. TCDD wird, oral gegeben, rasch und vollständig resorbiert. Im Organismus wird es vor allem im Fett und in der Leber angereichert.

Die Halbzeit des im Körper verblei- benden TCDD wurde bei Ratten mit 20-30 Tagen bestimmt (30).

Die Metabolisierung von TCDD im Organismus ist gering. Es ist bislang noch nicht gelungen, einen Metabo- liten zu isolieren oder zu identifizie- ren. Gleichwohl wird diskutiert, daß die toxische Wirkung von TCDD auf die Bildung eines Metaboliten, des eigentlichen Trägers der toxischen Wirkung zurückzuführen sei. Die Bildung von Metaboliten wurde aus dem 14C-Gehalt der Atemluft ge- schlossen, der nach Gabe von 14 C- markiertem TCDD gemessen wurde (31). Polare TCDD-Metaboliten (Konjugate?) sollen in geringem Umfang in der Leber gebildet wer- den (Lit. siehe bei 30).

4.6. Feinmechanismus der Wirkung Hinweise darauf, daß die Bildung ei- nes toxischen Metaboliten beim Feinmechanismus der TCDD-Wir- kung mit im Spiele ist, ergeben sich einmal aus der Latenz zwischen Ex- position und Manifestation der Wir- kung. Sie werden formal unterstützt durch die Beobachtung, daß bei Ein- zelzellen, die TCDD ausgesetzt wa- ren, keinerlei morphologische Ver- änderungen beobachtet werden konnten (32). Die Vermutung eines

toxischen Metaboliten gründet sich auch darauf, daß eine enge Korrela- tion zwischen Toxizität und der in- duktiven Wirkung von TCDD, hier vor allem auf das System der Mo- nooxygenasen, besteht (13). Unter der Annahme, daß eine gesteigerte Aktivität der Monooxygenasen eine gesteigerte Giftung von TCDD nach sich ziehen müßte, wurden Versu- che an Ratten durchgeführt, die mit Phenobarbital induziert worden wa- ren. Die Toxizität von TCDD war je- doch im Vergleich zu unbehandel- ten Tieren geringer (33). Das kann bedeuten, daß die Giftwirkung dem unveränderten TCDD zuzuschreiben ist oder daß die Bilanz der entste- henden reaktiven und der polaren Metaboliten effektiv zu einer Herab- setzung der akuten Toxizität führt.

Ähnlich, nämlich mit der induzieren- den Wirkung von Testosteron auf das System der Monooxygenasen, muß auch die Beobächtung inter- pretiert werden, daß weibliche Rat- ten doppelt so empfindlich gegen- über TCDD sind wie männliche Tiere (7). Testosteron-Gaben bei weibli- chen Tieren verringern die Empfind- lichkeit gegenüber TCDD; umge- kehrt steigt sie bei männlichen Tie- ren nach Kastration an (33).

4.7. Schicksal von TCDD in der Umwelt

Ähnlich langlebig wie im Organis- mus verhält sich TCDD auch in der Umwelt. Vom Laub der Bäume wird TCDD gewöhnlich durch den Regen abgewaschen und in den Boden ge- spült. Hält sich das Laub der Bäume jedoch im Winter am Stamm, wie hierzulande beispielsweise Eichen- laub, so kann es im Winter die

Quelle der TCDD-Aufnahme von Wildtieren sein, die trockenes Laub als Nahrung aufnehmen. Dieser Weg der TCDD-Aufnahme durch Rentiere ist im Norden Skandinaviens nach der Entlaubung ganzer von Schäd- lingen befallener Waldregionen be- obachtet worden (34).

In den Boden dringt TCDD infolge seiner physikalischen Eigenschaften nicht sehr tief ein. In Seveso lag TCDD zunächst nicht tiefer als 2 Zentimeter; später hat es der Regen weitertransportiert. Es ist jedoch auch dann nicht tiefer als 20 Zenti- meter eingedrungen. Die im Boden vorhandenen Huminsäuren sorgen als Protonendonatoren dafür, daß TCDD, gewissermaßen wie bei einer Chromatographie über geladene Austauscherharze, in den oberen Bodenschichten festgehalten wird.

Diese Eigenschaften sind die Ursa- che dafür, daß das TCDD-Präzipitat an der Bodenoberfläche erhalten bleibt und, vor allem mit dem Wind, weiterverbreitet werden kann. Es gibt nur wenige Bodenbakterien, die TCDD spalten können; dabei werden zunächst die Benzolringe aufgebro- chen und die so entstehenden ali- phatischen Verbindungen nachfol- gend vollständig abgebaut. Die Halbzeit des Verbleibens von TCDD im Boden wird mit länger als 0,5 Jahren angegeben (35); aus metho- dischen Gründen ist diese Zahl je- doch der Kritik unterworfen worden (36).

5. Möglichkeiten der Dekontamination

Die Möglichkeiten zur Dekontamina- tion von TCDD sind gering. Unter

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 44 vom 3. November 1977 2625

(10)

Seveso

Laboratoriumsbedingungen ist nachgewiesen worden, daß TCDD durch Bestrahlung mit UV-Strah- lung in Gegenwart von Protonendo- natoren zersetzt werden kann (37, 38, 47). Als Protonendonator und gleichzeitig als Lösemittel erschei- nen pflanzliche öle als besonders geeignet. Es muß aber berücksich- tigt werden, daß TCDD aus seinen im

Boden von Seveso möglicherweise noch vorhandenen Vorläufern, den sogenannten Prädioxinen, auch ge- bildet werden kann (34). Damit läuft die photolytische Dekontamination auf das quantitative Problem hinaus, wieviel TCDD sich bei der UV-Be- strahlung aus den Vorprodukten im Boden neu bildet. Für die Dekonta- mination unmittelbar nach dem Aus- bruch in Gegenwart noch größerer Mengen von Prädioxinen scheint die UV-Bestrahlung nicht so ohne wei- teres geeignet. Selbst wenn der Überschlag zwischen Neubildung von Dioxin und seiner Zersetzung heute, nachdem der größte Teil der Prädioxine verschwunden sein dürfte, zugunsten der Abnahme des TCDD-Gehaltes ausfällt: wie be- strahlt man ein derartig großes Ge- biet von fast 400 ha bis zu 20 Zenti- meter Bodentiefe? Es ist nicht ver- wunderlich, daß bislang von den Versuchen, TCDD in öl aufzuneh- men und anschließend photolytisch zu zerstören, noch keine Erfolgs- meldungen zu hören waren.

Auch die Dekontamination von TCDD-verseuchten Gebäuden ist bisher noch nicht befriedigend ge- lungen (3, 10). Bei den Zwischenfäl- len in Ludwigshafen und Amsterdam (Tabelle 3) mußten die Gebäude schließlich abgerissen werden, weil noch nach Jahren immer wieder neue Vergiftungen auftraten.

Eine andere Möglichkeit besteht in der Zerstörung von TCDD durch hohe Temperaturen, das heißt, durch Verbrennen. Auch hier stand wohl das technische Problem als schwer überwindbar im Wege; wie lassen sich so große Erdmengen auf Temperaturen über 1000° C erhit- zen? Bei tieferen Temperaturen, etwa dem Abflammen mit Flammen- werfern, stand zu befürchten, daß,

ähnlich wie bei der UV-Aktivierung, thermochemisch aus dem Aus- gangsmaterial neues TCDD entsteht.

Die Ausbeuten von neu entstande- nem TCDD sind hierbei übrigens et- was größer zu veranschlagen als bei der UV-Aktivierung chlorierter Phe- nole (34). In Seveso ist geplant, den Boden der besonders betroffenen Gebiete 25 bis 35 Zentimeter tief ab- zutragen und zu verbrennen. Diese Maßnahme — etwa 70 000 Tonnen Erde sind zu glühen — wird drei Jahre brauchen, ein weiteres Jahr wird für den Aufbau des Ofens ver- anschlagt; Kosten: rund 67 bis 75 Millionen DM (11).

Als weitere Möglichkeit zur Dekon- tamination der Erde in Seveso wurde der Einsatz geeigneter Bakte- rienstämme für den Abbau von TCDD erwogen (39). Als geeignete Bakterienstämme gefunden waren, mußte ihr Einsatz jedoch infolge der fortgeschrittenen Jahreszeit unter-

bleiben. Es ist zu hoffen, daß einige der skizzierten Maßnahmen in Seve- so im Feldversuch auch jetzt noch erprobt werden, um wenigstens Er- fahrungen für eine mögliche TCDD- Dekontamination anderenorts zu sammeln.

Als Resümee bleibt die traurige Feststellung, daß man in Seveso vor- läufig auf die Sonnenbestrahlung und die Selbstreinigung der Erde bei der Dekontamination von TCDD ver- trauen muß. Selbsthilfe ist wohl auch die einzige Möglichkeit für den befallenen Organismus, das Gift wieder zu eliminieren. Es ist fraglich, ob die theoretisch erwogene künst- liche Induktion so hoher Steigerung des TCDD-Abbaus praktisch hilf- reich sein kann, weil es fraglich ist, ob angesichts der lang anhaltenden Persistenz von TCDD, das als einer der stärksten bekannten Induktoren überhaupt zu betrachten ist, ei- ne weitere Steigerung der Induk- tion arzneistoffabbauender Enzyme überhaupt möglich ist.

7. Zusammenfassung

2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo-1,4-Di- oxin (TCDD) ist mit die giftigste, ge-

genwärtig bekannte niedermoleku- lare Verbindung. TCDD entsteht bei der industriellen Produktion von Trichlorphenol, das als Ausgangs- punkt für die Herstellung von Desin- fektionsmitteln und Herbiziden ver- wendet wird. Die TCDD-Mengen in den Endprodukten werden durch Reinigung auf < 0,01 ppm gebracht.

Vergiftungsfälle sind wiederholt in den Produktionsstätten auf der gan- zen Welt aufgetreten; die letzte Mas- senvergiftung, deren Ausmaß noch nicht abschließend beurteilt werden kann, trug sich im Juli 1976 in Seve- so zu.

TCDD ist ein Parenchymgift. Seine Wirkung setzt nach einer Latenz von mehreren Wochen bis Monaten ein.

Sie manifestiert sich nach uncharak- teristischen Zeichen wie Appetitlo- sigkeit, Gewichtsverlust, leichte Er- müdbarkeit usw. zunächst in einer außerordentlich lange persistieren- den, oft entstellenden Chlorakne.

Letale Dosen verursachen eine Le- bernekrose mit nachfolgender Dys- trophie und Leberkoma. Auffällige Vergiftungsfolgen sind außerdem die Atrophie der Nieren und der lym- phatischen Organe, insbesondere des Thymus. Die Folge davon ist oft eine Minderung der Infektabwehr des Organismus. Eine spezifische Therapie der Vergiftung mit TCDD existiert nicht.

Literatur

Das ausführliche Literaturverzeichnis wird im Sonderdruck erscheinen. Im Folgenden wer- den einige Veröffentlichungen genannt, die dem Interessenten zur Vertiefung seines Wis- sens dienen können. — (1) Report an Phenoxy Acids and their Dioxins. Mode of Action, Health Risks and Environmental Effects. The Royal Swedish Academy of Sciences 6.2.-10.2.1977

— (2) ICMESA, Verlag G. Mazzotta, Mailand (1976) — (3) Vahrenholt, F.: Seveso, Informatio- nen über eine Umweltkatastrophe, Materialien 8/76, Umweltbundesamt Berlin (1976)

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Wolfgang Forth

Ruhr-Universität Bochum Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie

Im Lottental Postfach 10 21 48

4630 Bochum-Querenberg

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