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Autismus und autistische Störungen

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Nervenarzt 2010 · 81:55–65 DOI 10.1007/s00115-009-2820-3 Online publiziert: 15. Juli 2009

© Springer Medizin Verlag 2009

E. Kumbier1 · G. Domes2 · B. Herpertz-Dahlmann3 · S.C. Herpertz1

1 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,   Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock

2 Psychologisches Institut, Klinische Psychologie und  Psychobiologie an der Universität Zürich

3 Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und   -psychotherapie, Universitätsklinikum Aachen, RWTH, Aachen

Autismus und

autistische Störungen

Historische Entwicklung und aktuelle Aspekte

Übersichten

Autismus und autistische Störungen sto­

ßen in den letzten Jahren zunehmend auf das Interesse der Neurowissenschaften und der Öffentlichkeit. Das Verständnis von Autismus hat sich seit seiner Erstbe­

schreibung vor fast 100 Jahren stets ge­

wandelt. Die fehlende bzw. eingeschränkte Interaktion des Betroffenen mit der sozi­

alen Umwelt kann als das zentrale Merk­

mal angesehen werden. Für das heutige Verständnis und den diagnostischen Pro­

zess kann ein Blick zurück hilfreich sein.

Eingebettet in den ideengeschichtlichen Kontext kann er dazu dienen, fließende Übergänge oder auch sprunghafte Verän­

derungen zu erkennen und zugleich das Konstante, Beständige zu verstehen. In der aktuellen Perspektive soll neben dif­

ferenzialdiagnostischen Überlegungen der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag die experimentelle psychopatho­

logische Forschung leisten kann, um das Verständnis des Krankheitsbildes zu ver­

tiefen.

Historische Aspekte

Zur Entstehung und Entwicklung  des Autismus-Begriffs1

Der Begriff Autismus ist eine Reduzie­

rung des Terminus Autoerotismus. Der

 Zur Entstehungs- und Ideengeschichte des  Begriffs Autismus s. [59].

englische Arzt, Sexualwissenschaftler und Schriftsteller Havelock Ellis verwendete das Wort Autoerotismus erstmals 1898 im Zusammenhang mit dem infantilen sexu­

ellen Verhalten [31]. Sigmund Freud über­

nahm den Begriff von Ellis. Er benutzte ihn bei der Beschreibung der infantilen Sexualität und definierte ihn durch die Beziehung des Triebes zu seinem Sexual­

objekt [37].

In Anlehnung an Freud prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler den Terminus Autismus. Er bevorzugte die­

se von ihm modifizierte Variante und dis­

tanzierte sich damit von der starken sexu­

ellen Färbung des Terminus Autoerotis­

mus. Das erste Mal erwähnte Bleuler den Begriff 1910 in seiner Arbeit zum schizo­

phrenen Negativismus [13]. Ein Jahr später ging er in seiner Monografie zur Schizo­

phrenie ausführlich auf das schizophrene Symptom Autismus ein [11]. Nach Bleu­

lers Verständnis charakterisiert Autismus das gestörte Verhältnis des Schizophrenen zur Wirklichkeit. Damit berücksichtigte er in seinem Konzept stärker als bislang die Wechselwirkungen zwischen dem Schizo­

phrenen und seiner Umwelt. In kritischer Auseinandersetzung mit der Psychoana­

lyse wollte er neue Erkenntnisse für die psychologischen Zusammenhänge der Schizophrenie gewinnen [11]. Dass Bleu­

lers Bestimmung des Begriffs Autismus keineswegs eindeutig war, verdeutlichen viele Arbeiten (vgl. etwa [6, 10]).

Im Laufe der Zeit wurde der Terminus in der deutschsprachigen Psychiatrie im Zusammenhang mit verschiedenen psy­

chischen Störungen verwendet, so etwa bei depressiven Erkrankungen in Form der starken Ich­Bezogenheit [57]. Andere Psychiater wie Bernhard Pauleikhoff sahen im Autismus ein besonderes Kennzeichen der hebephrenen Formen endogener Psy­

chosen, der in engem Zusammenhang mit der Kontaktstörung steht [67]. Karl Leon- hard stellte die Kontaktstörung zwischen Krankem und Umwelt besonders bei der von ihm beschriebenen autistischen He­

bephrenie in den Vordergrund [60]. Diese grenzte er als eine Form der Hebephrenie ab und zählte sie zu den systematischen Schizophrenien.

Autismus und Persönlichkeit Bleulers Schizophreniekonzept wurde in Deutschland vor allem von der Tübinger Psychiatrieschule angenommen. Zu die­

ser gehörte Ernst Kretschmer, der den Be­

griff Autismus im Zusammenhang mit den schizoiden Temperamenten aufgriff [58]. Schizoide sind demnach durch Kon­

taktscheu, Introvertiertheit und emotio­

nale Distanziertheit gekennzeichnet.

Nach Kretschmer würden gerade dieje­

nigen Schizoiden der Auffassung Bleulers von Autismus entsprechen, die als Son­

derlinge auffallen und die Kretschmer als

„ungesellig, still, zurückhaltend, ernsthaft

(2)

(humorlos)“ bezeichnete. Er fasste Autis­

mus u. a. als Überempfindlichkeit gegen­

über äußeren Reizen auf, weshalb die Be­

troffenen diese vermeiden, was sich dann auch in ihrem sozialen Verhalten wider­

spiegelt. Dieser Gedanke findet sich, wenn auch nicht unumstritten, in aktuellen Hy­

pothesen wieder und wird im Zusam­

menhang mit der Frage diskutiert, war­

um autistische Menschen in sozialen In­

teraktionen einen verminderten Augen­

kontakt zeigen.

Die russische Kinderpsychiaterin Grun- ja Efimovna Ssucharewa3 veröffentlich­

te 196 in Bezugnahme auf Kretschmers Schizoidie in deutscher Sprache ihre Ar­

beit „Die schizoiden Psychopathen im Kin- desalter“, in der sie sechs Jungen im Al­

ter von 10 1/ bis 13 Jahren vorstellte [95].

Viele der von ihr dargelegten Merkmale zeigen Gemeinsamkeiten mit der späteren Beschreibung des Asperger­Syndroms.

Neben verschiedenen anderen Auffällig­

keiten hob sie als gemeinsames Charak­

teristikum die „autistische Einstellung“

hervor:

„Alle Kinder … halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm nie- mals vollständig auf. … Die Neigung zur Einsamkeit … beobachtet man bei allen diesen Kindern von der frühen Kindheit an …“ ([95], S. 55)

Ssucharewa fand in allen ihren Fäl­

len Autismus als ein Grundmerkmal der

 Dalton et al. konnten kürzlich mit Hilfe der  funktionellen Magnetresonanztomographie zei- gen, dass bei Probanden mit frühkindlichem  Autismus bzw. Asperger-Syndrom die Dauer  der Betrachtung der Augenregion positiv mit  der Aktivierung der Amygdala assoziiert ist [24]. 

Die Autoren interpretieren dies im Sinne einer 

„Überempfindlichkeit“ gegenüber sozialen Rei- zen und sehen darin eine mögliche Ursache für  den häufig berichteten verminderten Augen- kontakt bei autistischen Menschen. Demnach  könnten autistische Menschen aufgrund eines  kognitiven Defizits mit sozialen Reizen nichts  anfangen und reagieren deshalb aversiv auf die- se Stimuli bzw. vermeiden sie. Diese Interpreta- tion erinnert an die erwähnte Überempfindlich- keit im Kretschmerschen Sinne.

 Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981),  beim Erscheinen der o. g. Arbeit als wissen- schaftliche Assistentin an der Psychoneurolo- gischen Kinderklinik in Moskau tätig, gehörte zu  den Begründern der Kinder- und Jugendpsychi- atrie in der UdSSR [73].

Schizoidie. Ihre Arbeit wurde internatio­

nal erst 1996 durch die Übersetzung von Sula Wolff ins Englische bekannt [96].

Auch bei Eugen Kahn fand der Begriff Autismus im Zusammenhang mit den so genannten abnormen Persönlichkeiten (Psychopathien) Verwendung. Er spielte unter Berücksichtigung der Ich­Umwelt­

Bezogenheit bei der Einteilung von Cha­

raktertypen eine wesentliche Rolle [51].

Ebenso verhält es sich bei Hans Binder, den die Auseinandersetzung mit dem schizoiden Autismus zur Unterschei­

dung eines primären, nicht weiter ableit­

baren, von einem sekundären Autismus, der Folge verschiedener psychischer Ver­

änderungen sei, veranlasste [10]. Interes­

santerweise unterschied Binder beim pri­

mären Autismus zwei Gruppen von „prä­

psychotischen Sonderlingen“. Bei der ei­

nen Gruppe finden sich schon in der Kindheit „psychisch auffällige“ Züge, oh­

ne dass diese näher benannt und der Be­

ginn näher eingegrenzt wird. In der ande­

ren Gruppe entwickeln sich die Auffällig­

keiten erst im späteren Leben bei vorher unauffälligen Menschen.

Binder berücksichtigte somit bereits den Entwicklungsaspekt, verfolgte diesen Gedanken aber nicht weiter. Er sah im Autismus ein erstes Symptom, das fast im­

mer die „Vorstufe“ eines Prozesses kenn­

zeichnet, der in die Schizophrenie führt.

Der schizoide Autismus zeige sich bei­

spielsweise zuerst darin, dass „die Fähig-

 Sula Wolff untersuchte auf der Grundlage  von klinischen Stichproben den Langzeitverlauf  von Kindern mit der Diagnose einer schizoiden  Persönlichkeitsstörung einschließlich Asper- ger-Syndrom und fand, dass selten ein Über- gang in eine schizophrene Erkrankung erfolgte. 

In der Nachuntersuchung im Erwachsenenal- ter erfüllten Dreiviertel der 32 Kinder die Kri- terien für eine schizotype Persönlichkeitsstö- rung. Bei zwei Kindern hatte sich eine Schizo- phrenie entwickelt [107]. Dieser geringe Anteil  ist aber trotzdem höher als in der Allgemeinbe- völkerung. Hingegen findet sich in Langzeitun- tersuchungen an Kindern mit frühkindlichem  Autismus im späteren Verlauf kein Übergang zur  Schizophrenie [72]. Zu der Differenzialdiagno- se des frühkindlichen Autismus gehört die sehr  früh und früh beginnende („very early“ und „ear- ly onset“) Form der Schizophrenie. Eine Untersu- chung der Vorfeldsymptomatik kindlicher Schi- zophrenien (UCLA-Studie) konnte zeigen, dass  bei den Kindern, bei denen sich im Kleinkindal- ter autistische Verhaltensweisen fanden, bereits  früh psychotische Symptome auftraten [75].

keit zu feinem Eingehen und verständnis- voller Rücksicht auf Nebenmenschen, zum Einfühlen affektiver Imponderabilien in den Beziehungen zur Mitwelt“ gestört ist ([10], S. 669).

Solche Beobachtungen finden sich heute im Konzept der gestörten „Theory of Mind“ wieder. Binder sprach auch von einer „Schwächung im instinktiven Anspre- chen … beim Verkehr mit der Umwelt …“

([10], S.669) und gebrauchte mit „instink­

tiv“ einen Begriff, der später auch von As­

perger in diesem Zusammenhang ver­

wendet wurde. Es waren Leo Kanner und Hans Asperger, die die Sichtweise auf den Autismus grundsätzlich erweiterten und den Grundstein für unser heutiges Bild dieser Störung legten.

Die Beschreibung des  Autismus durch Leo Kanner  und Hans Asperger

Heute verbinden wir den Begriff Autis­

mus vor allem mit den Autismus­Spek­

trum­Störungen, zu denen vor allem der frühkindliche Autismus (Kanner­Syn­

drom) und das Asperger­Syndrom zäh­

len. Diese Störungsbilder werden nach ih­

ren Erstbeschreibern Leo Kanner (189–

1981) und Hans Asperger (1906–1980) be­

nannt. Sowohl Kanner als auch Asper­

ger berichteten über Kinder, die unfähig waren, normale affektive Beziehungen zu Menschen einzugehen. Beide stellten, anscheinend5 unabhängig voneinander, u. a. Besonderheiten in der Kommunika­

tion und Schwierigkeiten in der sozialen Anpassung heraus. Und beide verwen­

deten den Begriff autistisch und unter­

schieden das von ihnen bezeichnete Stö­

rungsbild von der (kindlichen) Schizo­

phrenie. Damit wechselte der Autismus­

begriff von der Erwachsenenpsychiatrie

 Schirmer hat darauf hingewiesen, dass der  Österreicher Kanner möglicherweise Kennt- nis von Aspergers Vortrag (s. unten) hatte, der  1938 in der Wiener Klinischen Wochenschrift  veröffentlicht wurde und in dem Asperger den  Begriff des „autistischen Psychopathen“ prägte  [89]. Diese Annahme wird dadurch gestützt, das  Kanner in seiner ersten Arbeit zu diesem The- ma 1943 angab, dass ihm seit 1938 (!) Kinder  aufgefallen sind [52], deren einzigartige Verhal- tensauffälligkeiten er ein Jahr später als früh- kindlichen Autismus („early infantile autism“)  bezeichnete [53].

(3)

in die sich gerade etablierende Kinder­

psychiatrie. Zwar wurde Autismus im Be­

reich der Kinder­ und Jugendpsychiatrie schon zuvor verwendet, so beispielsweise von August Homburger6 in seinem Lehr­

buch „Psychopathologie des Kindesalters“, aber nur im Zusammenhang mit der Schi­

zophrenie im Kindesalter [9].

Ist es nun Zufall, dass Kanner und As­

perger den Begriff autistisch bzw. Autis­

mus verwenden? Die gebürtigen Öster­

reicher waren mit der deutschsprachigen Psychopathologie vertraut, kannten Bleu­

lers Schizophreniekonzept, und zumin­

dest Asperger nahm in seiner Arbeit na­

mentlich Bezug auf Bleuler und den schi­

zophrenen Autismus. Bevor näher auf die Arbeiten von Kanner und Asperger eingegangen wird, sollen einige biogra­

fische Anmerkungen ihre Verbindung zur deutschsprachigen Psychiatrie ver­

deutlichen.

Hans Asperger, ein Pionier der euro­

päischen Kinder­ und Jugendpsychiatrie (vgl. zu biografischen Angaben [9, 1]), arbeitete überwiegend in Wien. Dort war er zeitweise an der Psychiatrischen Klinik bei Otto Pötzl tätig. Zudem hospitierte er an der Psychiatrischen und Nervenklinik in Leipzig bei Paul Schröder7 [1]. Asper­

ger beschäftigte sich vorwiegend mit der Entwicklung bzw. Fehlentwicklung von Kindern und verstand sich gleicherma­

ßen als Arzt und Heilpädagoge, der ihn zum „Brückenbauer zwischen Natur­

und Geisteswissenschaft“ werden ließ ([9], S. ). Asperger habilitierte sich 193 an der Wiener Universitäts­Kinderklinik bei Franz Hamburger mit seiner Arbeit

 Zu Leben und Werk von August Homburger  (1873–1930), der als a. o. Professor der Psychia- trie und Leiter der Poliklinik der psychiatrischen  Universitätsklinik in Heidelberg tätig war, vgl. 

[64]. Nissen hat ausgeführt, dass autistisches  Verhalten bereits im 19. und zu Beginn des 20. 

Jahrhunderts vereinzelt bei Kindern beobach- tet und beschrieben worden ist, so in den Lehr- büchern von Herrmann Emminghaus (1887)  und August Homburger (1926), ohne allerdings  dafür den Begriff als solchen zu verwenden.

 Paul Schröder (1873–1941) war seit 1925  ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Uni- versität Leipzig. Sein Arbeitsschwerpunkt lag im  Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er  war ab 1937 erster Präsident der Internationalen  Gesellschaft für Kinderpsychiatrie [98]. Schröder  eröffnete 1926 in Leipzig eine „Beobachtungs- abteilung für jugendliche Psychopathen“ [92].

Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2010 · 81:55–65   DOI 10.1007/s00115-009-2820-3

© Springer Medizin Verlag 2009

E. Kumbier · G. Domes · B. Herpertz-Dahlmann · S.C. Herpertz

Autismus und autistische Störungen.

Historische Entwicklung und aktuelle Aspekte

Zusammenfassung

Der Begriff Autismus hat sich seit seiner Ent- stehung stetig gewandelt. Im historischen  Rückblick zeigt sich, dass er zunächst sowohl  in der Erwachsenen- als auch der Kinder- psychiatrie als schizophrenes Symptom auf- gefasst wurde. Im Laufe der Zeit vollzog sich  ein Wandel, sodass Autismus als Störungsbild  innerhalb der Kinderpsychiatrie eine eigen- ständige Entwicklung nahm. Dank Leo Kan- ner und Hans Asperger erhielt es seine heu- tige Bedeutung. Aktuell wird Autismus im  Zusammenhang mit den autistischen Stö- rungen zu den tief greifenden Entwicklungs- störungen gezählt und findet aufgrund der  hohen Stabilität im Verlauf auch wieder ver- stärkt in der Erwachsenenpsychiatrie Beach- tung. Zum besseren Verständnis dieser Ent- wicklung wird der Weg von der Entstehung  einschließlich der Rezeption durch Kanner 

und Asperger nachgezeichnet. Auf der Suche  nach zentralen Merkmalen finden sich beim  Autismus Einschränkungen in der sozialen  Kommunikation und Interaktion, die durch  zugrunde liegende Defizite der sozialen Ko- gnition erklärt werden. Diese Einschrän- kungen in der sozialen Kognition können als  das zentrale Charakteristikum von Autismus  verstanden werden, das sich seit Beginn der  Beschreibung dieses Phänomens als Kons- tante findet. So wird auch der Frage nachge- gangen, welchen Beitrag die experimentelle  psychopathologische Forschung für ein ver- tieftes Verständnis des Krankheitsbildes leis- ten kann.

Schlüsselwörter

Autismus · Autistische Störungen · Psychia- triegeschichte · Kanner · Asperger

Autism and autistic disorders. Historical and current aspects

Summary

Since its first use in medical literature the  meaning of the term autism has constant- ly changed. An historical overview indicates  that in both adult and child psychiatry au- tism was first used to refer to a symptom of  schizophrenia. Later on the use of the term in  child psychiatry took a different independent  course, which led to present-day conceptual- ization of autism, mainly due to the work of  Leo Kanner and Hans Asperger. Currently au- tism and autistic disorders are regarded as  severe developmental disorders and, due to  their stable nature, have gained considerable  attention in adult psychiatry. In order to bet- ter understand this development, the path  from onset to reception is traced via Kanner 

and Asperger. In the search for central char- acteristics of autism, one finds restrictions in  social communication and interaction, which  can be explained by fundamental deficits in  social cognition. These restrictions in social  cognition can be considered the central char- acteristic of autism – one which has been a  constant since the phenomenon was first de- scribed. Our historical review considers to  what extent experimental psychopatholog- ical research can deepen our understanding  of the disorder.

Keywords

Autism · Autistic disorders · History of psychi- atry · Kanner · Asperger

(4)

über „Die autistischen Psychopathen“, die im folgenden Jahr im deutschsprachigen Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank- heiten veröffentlicht wurde [5]. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging er in seinem Lehrbuch „Heilpädagogik“ erneut auf die „Autistischen Psychopathen“8 ein.

Diesmal nahm er auch Bezug auf Kanner:

„Weitgehende Übereinstimmung mit un- serer Beschreibung, ja sogar denselben Na- men (nämlich das Wort ‚autistisch‘) haben wir dagegen bei Leo Kanner in Amerika ge- funden“ ([3], S. 191).9

Leo Kanner lebte seit 1906 in Berlin10 und wanderte 19 in die USA aus (vgl.

zu biografischen Angaben [63, 85, 91]). Er lernte die Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet während seines Studiums in Berlin kennen und wurde sogar von Karl Bonhoeffer in diesem Fach geprüft [63].

Ab 198 arbeitete er in Baltimore (Ma­

ryland) bei Adolf Meyer11 an der Psychi­

atrischen Klinik (Henry Phipps Psychia­

tric Clinic)1 der Johns­Hopkins­Univer­

 Zur Geschichte des Begriffs Psychopathie  in der Psychiatrie vgl. [42] und zur Psychopathie  und Schizoidie, insbesondere zur Wandlung des  Psychopathie-Begriffs und seiner Anwendung  auf das Kinder-und Jugendalter s. [71, 101]. 

Remschmidt und Kamp-Becker haben kürzlich  einen Überblick zur Geschichte des Asperger- Syndroms gegeben und den Weg von der Psy- chopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstö- rung nachgezeichnet. Sie sind dabei auch auf  die historischen Einteilungsversuche von Psy- chopathien und auf die Interpretationen des  Psychopathie-Begriffs eingegangen [73].

 Asperger hat sich später näher mit Kanners 

„early infantile autism“ auseinandergesetzt und  festgestellt, dass zwar viele Gemeinsamkeiten  bestünden, dennoch beide Krankheitsbilder  deutlich voneinander getrennt werden müss- ten, vgl. [2].

10   Kanners Jahre in Berlin von 1906 bis 1924,  seine frühe wissenschaftliche Tätigkeit an der  Charité und den Weg bis zur Übersiedlung in die  USA hat Neumärker anhand von Originaldoku- menten und der unveröffentlichten Autobiogra- fie aufgearbeitet [63].

11   Adolf Meyer (1866–1950) ging 1892 von  Zürich in die USA. Er beeinflusste die amerika- nische Psychiatrie maßgeblich, indem er das  Klassifikationssystem Emil Kraepelins einführte. 

Meyer war von 1910 bis 1941 an der Johns-Hop- kins-University tätig, wo er Leo Kanner kennen- lernte und förderte.

12   1913 sprach Bleuler am Johns-Hopkins- Hospital in Baltimore über Autismus [88]. Seine  Theorie zum schizophrenen Negativismus wur- de bereits ein Jahr zuvor in englischer Sprache  veröffentlicht [12].

sität und leitete die kinderpsychiatrische Abteilung. Kanner gilt als Vater der ame­

rikanischen Kinder­ und Jugendpsychia­

trie. 1935 erschien erstmals sein wegwei­

sendes Lehrbuch „Child Psychiatry“ und ab 1971 war er Mitherausgeber der Zeit­

schrift „Journal of Autism and Childhood Schizophrenia“ (ab 1979 „Journal of Autism and Developmental Disorders“). 193 und 19 veröffentlichte er seine Arbeiten zum frühkindlichen Autismus [5, 53].

Die genannten Arbeiten von Kanner und Asperger seien kurz vorgestellt. As­

perger veröffentlichte 19 seine Habi­

litationsschrift „Die autistischen Psycho- pathen im Kindesalter“ [5], die häufig als seine erste Arbeit zu diesem Thema zitiert wird. Er führte aber die Bezeichnung „Au­

tistische Psychopathen“ bereits 193813 ein []. Hier schilderte er die Fälle eines 10­

und eines 7 1/­jährigen Jungen, die er als

„verschroben“ und „sonderlinghaft“ be­

zeichnete, die in ihrer Beziehung zu ande­

ren Menschen eingeengt und vorwiegend auf sich selbst beschränkt waren. Erst 19 beschrieb er dann vier Jungen im Alter zwischen 7 und 11 Jahren, die alle seit ih­

rer frühen Kindheit verschiedene charak­

teristische Auffälligkeiten hatten [5]. Er grenzte das „autistische Verhalten im Kin­

desalter“ von der Schizophrenie wie auch deren Vorstadien ab. Asperger sah dar­

in eher eine Extremvariante der männ­

lichen Intelligenz und des männlichen Charakters und damit den Ausdruck ei­

ner Diskrepanz zwischen Intelligenz und Gefühlsleben bei diesen Jungen.1 Seiner Schrift stellte er Folgendes voran:

„In der Fülle der Erscheinungen des Lebens,

…, die mit verschwimmenden Grenzen in einander übergehen, sucht der denkende Mensch dadurch einen festen Standpunkt,

13   Hans Asperger hat den Begriff erstmalig  am 3. Oktober 1938 in einem Fortbildungsvor- trag verwendet und auch in den folgenden Jah- ren wiederholt in Vorträgen der Wiener Medi- zinischen Gesellschaft, Deutschen Gesellschaft  für Kinderheilkunde und Wiener Gesellschaft für  Heilpädagogik gebraucht [44, 89].

14   Interessanterweise wird diese Hypothe- se aktuell wieder im Rahmen der „Extreme male  brain“-Theorie des Autismus diskutiert. Diese  postuliert, dass autistische Störungen Ausdruck  einer extremen Ausprägung funktioneller und  struktureller Merkmale des männlichen Gehirns  sind [7].

daß er den einzelnen Erscheinungen einen Namen gibt ….“ ([5], S. 76)

Asperger diskutierte zunächst die Möglichkeiten, menschliches Verhalten einzuordnen und erörterte die charak­

terologischen und typologischen Ord­

nungsprinzipien von E. Kretschmer15, E. Jaensch, C.G. Jung, K. Schneider und P. Schröder. Er selbst bevorzugte in An­

lehnung an Ludwig Klages die Erfassung und Beschreibung der Ausdruckserschei­

nungen eines Menschen, da dieser Weg zum Wesen eines Individuums führe und von Vornherein auf ein gegebenes System verzichtet. Asperger ging bei den eigenen Fällen von einem einheitlichen Typus aus, bei dem sich übereinstimmend wesent­

liche Einzelheiten wiederfinden. Trotz al­

ler individueller Besonderheiten spricht, so Asperger, auch die Konstanz für einen einheitlichen Typus, d. h. das Wesent­

liche (die Kontaktstörung, die Einengung der Beziehungen zur Umwelt) bleibt das ganze Leben hindurch bestehen. Asperger wies auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen den „Autistischen Psychopathen“ und Kretschmers Beschreibung (s. oben), vor allem aber dem „introvertierten Denk­

typus“ von Jung hin. Nach Asperger sei

„doch ‚Introversion‘16 nichts anderes als eine Einengung auf das eigene Selbst (Au­

tismus), eine Einschränkung der Bezie­

hungen zur Umwelt“ ([5], S. 136). Asper­

ger erklärte dann auch, wie er Namen und Begriff entwickelt hatte:

„In dem Bemühen, jene Grundstörung zu finden und begrifflich zu fassen, von der aus die Persönlichkeit dieser Gruppe abar- tiger Kinder durchorganisiert erscheint, ha- ben wir die Bezeichnung ‚Autistische Psy- chopathen‘ gewählt. Der Name leitet sich von dem Begriff des Autismus her, jener bei Schizophrenen in extremer Weise aus-

15   Sula Wolff fragt in dem erwähnten Aufsatz  über Ssucharewas Publikation von 1926, warum  Asperger, der die Arbeiten Kretschmers berück- sichtigt, nicht auch auf die von Ssucharewa ein- gegangen ist [96].

16   Von C.G. Jung eingeführter Begriff, der den  Rückzug der Libido auf die eigene innere Welt  des Subjekts bezeichnet [77]. Jung beschrieb  1921 in seiner Typeneinteilung (Introversion vs. 

Extraversion) die Introvertierten als zurückge- zogene, vorsichtige Menschen, die Schwierig- keiten mit der Anpassung an die äußere Welt  haben.

(5)

geprägten Grundstörung17. Der Ausdruck – unseres Erachtens eine der großartigsten sprachlichen und begrifflichen Schöpfungen auf dem Gebiet medizinischer Namensge- bung – stammt von Bleuler.“ ([5], S. 8)

Leo Kanner beschrieb Ende 19318 un­

ter dem Titel „Autistic disturbances of affec- tive contact“ [5] Auffälligkeiten bei Kin­

dern, die er ein Jahr später als frühkind­

lichen Autismus („early infantile autism“) bezeichnete [53]. Er berichtete von 11 Kin­

dern im Alter von bis 11 Jahren (8 Jungen und 3 Mädchen), 19 waren es insgesamt 0 (16 Jungen und Mädchen), mit cha­

rakteristischen Auffälligkeiten, die er präg­

nant mit den Worten „children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life“ ([5], S. ) umriss. Schließlich ver­

anlassten Kanner seine Beobachtungen zu der Feststellung: „These characteristics form a unique ‚syndrome’, not heretofore reported...“ ([5], S. ). Und er wies dar­

auf hin, dass sich diese Kinder nicht wie schizophrene Kinder oder Erwachsene aus einer bereits bestehenden Beziehung zurückziehen, sondern: „There is from the start an extreme autistic aloneness...“

([5], S. ). Zwar erinnert, so Kanner, die Kombination aus extremem Autis­

mus, Zwanghaftigkeit, Stereotypie und Echolalie an schizophrene Phänomene19, doch trotz dieser bemerkenswerten Ähn­

lichkeiten gebe es Unterschiede zur Schi­

zophrenie in der Kindheit. Im Gegensatz zur Schizophrenie ziehen sich die Kinder nicht aus einer Welt zurück, deren Teil sie waren und mit der sie in Verbindung stan­

den, sondern sie versuchen sich behutsam in eine Welt vorzutasten, in der sie von Be­

ginn an völlig Fremde gewesen sind. Das Hauptmerkmal ist das autistische In­sich­

17   Bleuler zählte den Autismus in seinem Schi- zophreniekonzept zu den Grundsymptomen  und im Weiteren zu den sekundären Symp- tomen (vgl. auch [59]).

18   Kanner verwendete in seiner ersten Arbeit  1943 ausschließlich das Adjektiv autistisch und  erst in seiner Arbeit von 1944 das Substantiv  Autismus.

19   Auf die z. T. erhebliche phänomenologische  Überlappung von Katatonie und Autismus, die  in der klinischen Beurteilung, aber auch in der  Forschung bisher wenig berücksichtigt wird,  haben Neumärker et al. unter verschiedenen,  auch historischen Aspekten hingewiesen [26].

gekehrt­Sein („autistic aloneness“0), das der Störung den Namen gibt.

In vielen Aspekten ähneln die Be­

schreibungen denen Aspergers, beide nah­

men in ihren ersten Arbeiten jedoch kei­

nen Bezug aufeinander. Die von Kanner beschriebenen Kinder schienen schwerer betroffen, d. h. stärker in ihrer Welt gefan­

gen und geistig retardiert zu sein. Viele der betroffenen Kinder beobachtete er zusammen mit seinem Mitarbeiter Leo Eisenberg über mehrere Jahrzehnte [5].

Kanner erklärte den frühkindlichen Au­

tismus unter dem Einfluss psychodyna­

mischer Theorien zunächst mit der emo­

tionalen Vernachlässigung durch die El­

tern. Später rückte er ihn vorübergehend in die Nähe der kindlichen Schizophrenie, bis vergleichende Untersuchungen klare Unterschiede zwischen beiden Störungen feststellten [56].

Die Rezeption von Kanners  und Aspergers Arbeiten und  die Weiterentwicklung

Die Publikationen von Asperger (19) und Kanner (193, 19) wurden unter­

schiedlich rezipiert, da sie in einer Zeit erschienen, in der der wissenschaftliche Austausch aufgrund der politischen Um­

stände nur sehr begrenzt möglich war. Es verwundert deshalb kaum, dass Aspergers Arbeit außerhalb der deutschsprachigen Gebiete nicht beachtet wurde. Kanners Publikation gewann hingegen schnell an Einfluss und schon bald etablierte sich der von ihm beschriebene „Autismus“ als eine anerkannte Diagnose. Da seine Arbeit in englischer Sprache erschienen war, wurde sie international wahrgenommen, sodass sich auch die Forschungsbemühungen zu­

nächst auf den frühkindlichen Autismus konzentrierten. Erst der Aufsatz von Lor- na Wing (1981) machte Aspergers Schrift von 19 international bekannt [10], und Uta Frith übersetzte 1991 seine Original­

arbeit ins Englische [1]. In den folgenden Jahren nahm das Interesse der Fachwelt an der Störung enorm zu.

20   „Aloneness“ wird auch mit Alleinsein oder  Einsamkeit übersetzt, den Verfassern erscheint  aber im beschriebenen Zusammenhang die  Bezeichnung „In-sich-gekehrt-Sein“ treffender,  da sie den autistischen Zustand besser charakte- risiert.

Die Forschungsarbeiten von Wing ha­

ben erheblich zum besseren Verständnis von Autismus und insbesondere des As­

perger­Syndroms1 beigetragen, für wel­

ches sie detaillierte Kriterien ausarbeite­

te. Das wachsende Interesse und die Aus­

weitung des Konzeptes auf die Autismus­

Spektrum­Störungen führten dazu, dass zunehmend mehr Kinder und Erwach­

sene als Autisten diagnostiziert werden.

Das hat wahrscheinlich mit dazu beigetra­

gen, dass die Prävalenzangaben für Autis­

mus von etwa vier bis fünf pro 10.000 in den 1980er Jahren auf jetzt etwa sechs pro 1000 angestiegen sind (vgl. hierzu insbe­

sondere die Übersichtsarbeiten zu epide­

miologischen Untersuchungen des Autis­

mus von Fombonne [3, 33]). Die höheren Prävalenzangaben führten zu der Frage, ob die Häufigkeit autistischer Störungen in der Bevölkerung tatsächlich zugenom­

men hat oder ob ein Artefakt vorliegt (vgl. auch [0, 68]). Poustka und Mitar­

beiter haben darauf hingewiesen, dass ei­

ne abschließende Beantwortung der Frage nicht möglich ist, da die älteren und neu­

en Studien methodisch nicht miteinander verglichen werden können. Das liegt u. a.

daran, dass unterschiedliche diagnosti­

sche Kriterien und Instrumente verwen­

det wurden und einige Studien auf Schät­

zungen mittels klinischer Stichproben be­

ruhen und nicht auf repräsentativen Po­

pulationen [68].

Hinsichtlich der Rezeption und wei­

teren Entwicklung von Kanners und As­

pergers Autismusverständnis soll u. a.

auf den holländischen Kinderpsychiater

21   Lorna Wing änderte auch die Bezeichnung  von „Autistische Psychopathen“ in Asperger- Syndrom, da der Begriff „Psychopathie“ heute  missverstanden werden könnte [104].

22   Hippler und Klicpera wiesen darauf hin,  dass Asperger 1944 keine quantitativ-deskrip- tive Darstellung „seines“ Syndroms vornahm. 

Die Autoren untersuchten deshalb 181 Kran- kenunterlagen von Kindern mit der Diagno- se „Autistische Psychopathie“ und mit Zügen  derselben, die zwischen 1950 und 1986 von  Asperger und seinen Mitarbeitern diagnosti- ziert worden waren [48]. Sie verglichen u. a. 

die von Asperger beschriebenen Merkmale mit  den heutigen ICD-10-Diagnosekriterien für das  Asperger-Syndrom und fanden nur eine teilwei- se Übereinstimmung. Deshalb fordern sie u. a. 

eine Überarbeitung der diagnostischen Krite- rien, auch und insbesondere im Hinblick auf die  Unterscheidung vom Kanner-Autismus.

(6)

Dirk Arnold van Krevelen verwiesen wer­

den, der sich schon frühzeitig und als ei­

ner der ersten in Europa mit dem Autis­

mus beschäftigte. Er verglich Kanners und Aspergers Beschreibungen und sah dar­

in zwei verschiedene nosologische Syn­

drome [100]. Auf die lange Zeit geführ­

te Diskussion, ob und inwieweit sich die­

se tatsächlich voneinander unterschei­

den, soll an dieser Stelle nicht eingegan­

gen werden (vgl. hierzu auch [79]). Bereits Anfang der 1970er Jahre wies Gerhardt Nissen aufgrund der mittlerweile groß­

en Anzahl von Arbeiten über autistische Syndrome im Kindesalter auf die „babylo­

nische Sprachverwirrung“ hin, die bei der diagnostischen und nosologischen Zu­

ordnung bestünde [65]. Die Forschungs­

bemühungen und konzeptuellen Verän­

derungen seit ihren Erstbeschreibungen bis in die heutige Zeit hat Wolff umfas­

send dargestellt [106].

Im Folgenden sollen einige Meilenstei­

ne der Autismusforschung genannt wer­

den, ohne dass dabei der Anspruch auf ei­

ne vollständige Darstellung erhoben wird.

Neben van Krevelen waren es vor allem die Untersuchungen über den Verlauf der infantilen Psychosen von Michael Rut- ter in den 1960er Jahren, die zum besse­

ren Verständnis des frühkindlichen Autis­

mus führten. Rutter grenzte den frühkind­

lichen Autismus von der Schizophrenie ab und sprach sich gegen die primäre Verur­

sachung durch psychogene Faktoren aus, wobei er die Rolle biologischer Faktoren in der Genese hervorhob (vgl. zusammen­

fassend in [80]). Ebenso bedeutend waren die Untersuchungen von Israel Kolvin, die den frühkindlichen Autismus und die Schizophrenie in der Kindheit hinsicht­

lich verschiedener Merkmale wie Beginn, Phänomenologie, Familienanamnese u. a.

verglichen [56]. Uta Frith und Francesca Happé kommt das Verdienst zu, insbeson­

dere die neuropsychologischen Defizite beim Autismus beschrieben zu haben [39, 6]. Ein weiterer Meilenstein war die Un­

tersuchung von Simon Baron-Cohen et al., die erstmals bei autistischen Kindern eine Störung der „Theory of Mind“ (s. unten) nachweisen konnten [8]. Wing [105] und Gillberg [30, 1] erweiterten das Wissen um solche Aspekte wie den Verlauf und die Häufigkeit autistischer Störungen und

halfen, diagnostische Kriterien für das As­

perger­Syndrom zu formulieren.

Michael Rutter und Eric Schopler ha­

ben sich intensiv mit dem Problem be­

schäftigt, wie die tiefgreifenden Entwick­

lungsstörungen voneinander abzugrenzen sind und wie sie klassifiziert werden kön­

nen [8]. Dabei sprachen sie sich für eine Erweiterung der diagnostischen Kriterien aus, die über eine reine Verhaltensbeur­

teilung hinausgeht und neben der Symp­

tomatik auch die Ätiologie und den Ver­

lauf berücksichtigt. Sie hoben diesbezüg­

lich die Vorteile eines multiaxialen An­

satzes hervor. Des Weiteren forderten sie für das Asperger­Syndrom eine separate diagnostische Kategorie innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.

Schließlich ist es Rutter und anderen zu verdanken, dass spezifische Diagnoseins­

trumente wie der „Social Communication Questionnaire“ (SCQ, [8]), die „Autism Diagnostic Observation Scale – Generic“

(ADOS­G, [6]) und das „Autism Dia­

gnostic Interview­Revised“ (ADI­R, [83]) entwickelt wurden.3

In Deutschland ist es vor allem der Frankfurter Arbeitsgruppe um Fritz Poust- ka zu verdanken, dass diese Instrumen­

te mittlerweile auch in deutscher Spra­

che vorliegen [1, 15, 16]. Erst aufgrund der Anwendung solcher standardisier­

ter Instrumente war es in der Folge mög­

lich, vergleichbare epidemiologische Un­

tersuchungen durchzuführen. Solche aus­

gedehnten epidemiologischen Feldunter­

suchungen führten dann auch dazu, dass das Asperger­Syndrom 1991 bzw. 199 in die Klassifikationssysteme ICD­10 bzw.

DSM­IV als eigenständige diagnostische Kategorie aufgenommen wurde [79].

Aktuelle Aspekte

Diagnostische und differenzial- diagnostische Aspekte

Heute zählen die autistischen Störungen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstö­

rungen, d. h. der Entwicklungsaspekt steht im Vordergrund. Im Wesentlichen unter­

23   Die Kombination der genannten standar- disierten Verfahren hat sich heute bei der Dia- gnostik und vor allem im Forschungsbereich als 

„goldener Standard“ durchgesetzt [16].

scheidet man innerhalb der so genannten Autismus­Spektrum­Störungen

F den frühkindlichen Autismus, F das Asperger­Syndrom und F den atypischen Autismus.

Mit dem auch häufig verwendeten Begriff

„High­Functioning­Autismus“ werden Menschen mit frühkindlichem Autismus bezeichnet, die nicht geistig behindert sind oder wenigstens eine durchschnitt­

liche Intelligenz aufweisen. Trotz einer zunächst verzögerten Sprachentwicklung verfügen diese Betroffenen über meist gu­

te verbale Fähigkeiten (vgl. [68, 7]). Trotz der Vielzahl von Symptomen, einem wei­

ten Spektrum an klinischen Manifestatio­

nen und der großen Variationsbreite von Ausprägungsgraden finden sich bei allen Menschen mit einer autistischen Störung die Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation als ge­

meinsames Charakteristikum. Diese Pro­

bleme führen zu einer erheblichen Kon­

taktstörung. Die Auffälligkeiten zeigen sich bereits in der frühen Kindheit, müs­

sen konsistent und stringent während der gesamten Entwicklung zu finden sein, und sie bleiben in der Regel auch im Er­

wachsenenalter erhalten [50].

Das „Sonderbare“, „Eigenwillige“, teils „Bizarre“ im Verhalten von autisti­

schen Menschen erfordert in einigen Fäl­

len die differenzialdiagnostische Abgren­

zung zur Schizophrenie oder zur schizo­

typen Störung im Erwachsenenalter. An­

ders als bei den schizophrenen treten bei autistischen Menschen in der Regel kei­

ne formalen Denkstörungen, psycho­

tischen Symptome oder Halluzinationen auf. Bei den Schizophrenien fehlen cha­

rakteristische Symptome des Asperger­

Syndroms wie z. B. die Spezialinteressen oder sprachliche Besonderheiten. Zudem unterscheidet sich Autismus von Schizo­

phrenie dadurch, dass der Störungsbe­

ginn immer in der frühen Kindheit liegt.

Der Verlauf autistischer Störungen ist in­

dividuell oft sehr variabel und hängt vor allem von den intellektuellen und sprach­

lichen Fähigkeiten ab, wenngleich die ty­

pischen Kernsymptome auch im Erwach­

senenalter persistieren [50]. Im Gegensatz zur Schizophrenie verbessern sich im Er­

wachsenenalter eher die Fähigkeiten im Sozialverhalten und der Alltagskompe­

(7)

tenz. Auch wenn Leonhard den Begriff

„autistisch“ in Verbindung mit der Heb­

ephrenie verwendet hat (s. oben), so ist mittlerweile unbestritten, dass zwischen den autistischen Störungen und dem heb­

ephrenen Subtyp der Schizophrenie kein Zusammenhang besteht.

Ebenso ist die Abgrenzung gegenüber den Persönlichkeitsstörungen notwendig, so etwa die Unterscheidung des Asperger­

Syndroms von der schizotypen Störung (ICD­10) bzw. der schizotypen Persön­

lichkeitsstörung (DSM­IV). Die schizo­

type Störung beschreibt am ehesten einen Übergangsbereich zwischen Persönlich­

keitsauffälligkeiten und schizophrenen Erkrankungen. Menschen mit einer schi­

zotypischen Störung erscheinen als Son­

derlinge, wirken oft eigenartig, sind sozial ängstlich und leben häufig isoliert. Es fin­

den sich bei den Betroffenen meist offen­

sichtliche Probleme im zwischenmensch­

lichen Bereich, die an das Asperger­Syn­

drom erinnern, wobei beim letzteren pa­

ranoide Vorstellungen und Beziehungs­

ideen oder magische Denkinhalte in der Regel nicht vorhanden sind [7]. Außer­

dem verfügen Menschen mit einer schizo­

typischen Persönlichkeitsstörung im Un­

terschied zu Menschen mit autistischen Störungen durchaus über Fähigkeiten im Sinne einer Theory of Mind, die al­

lerdings meist auf (sensitiv­paranoiden) Fehlannahmen beruhen [8]. Das trifft auch für die schizoide Persönlichkeitsstö­

rung zu, die ebenfalls in die differenzial­

diagnostischen Überlegungen einbezogen werden muss, denn auch diese Menschen zeigen häufig eine übermäßige Vorliebe für einzelgängerische Beschäftigungen und sind durch Phantasie und Introspek­

tion beansprucht. Dazu sind sie in der Regel kühl und distanziert im zwischen­

menschlichen Kontakt, verfügen über ei­

ne eingeschränkte emotionale Erlebnis­

und Ausdrucksfähigkeit und zeigen oft ein scheues, sonderliches Verhalten, das an autistisches erinnert [7].

Im Zusammenhang mit diesen dif­

ferenzialdiagnostischen Betrachtungen muss jedoch berücksichtigt werden, dass verschiedene psychische Störungen als ko­

24   Zur Geschichte der Konzepte der schizoiden  und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen  vgl. [86].

morbide Störungen vorliegen können. Da­

bei sollte grundsätzlich versucht werden zu unterscheiden, ob die für den Autismus typischen Verhaltensweisen vielleicht nur verstärkt auftreten oder ob zusätzlich eine psychische Begleiterkrankung vorliegt. Zu den häufigen komorbiden Störungen des Asperger­Syndroms gehören die Zwangs­

störung, das Tourette­Syndrom, die Auf­

merksamkeitsdefizit­/Hyperaktivitätsstö­

rung und affektive Störungen. Im frühen Erwachsenenalter sind dabei vor allem de­

pressive Störungen relevant. Außerdem ist das Risiko für Menschen mit einer Autis­

mus­Spektrum­Störung erhöht, an einer Schizophrenie oder an einer anderen psy­

chotischen Störung einschließlich schizo­

affektiven und schizophreniformen Stö­

rungen zu erkranken. In einer Untersu­

chung von Stahlberg et al. anhand einer klinischen Stichprobe erfüllten 7,8% der Erwachsenen mit einer Autismus­Spek­

trum­Störung zusätzlich die diagnosti­

schen Kriterien nach DSM­IV für eine schizophrene oder andere psychotische Störung [97]. Für Betroffene mit einem Asperger­Syndrom besteht prinzipiell ein geringfügig erhöhtes Risiko, zusätzlich an einer Schizophrenie zu erkranken. In der genannten Studie von Stahlberg und Mitarbeitern waren bei % der Erwach­

senen mit Asperger­Syndrom gleichzeitig die Kriterien für eine Schizophrenie und bei 10% für eine andere psychotische Stö­

rung erfüllt.

Im Zusammenhang mit dem Gesagten erscheint es deshalb sinnvoll, in größeren Abständen Verlaufsuntersuchungen vor­

zunehmen, um die Ausprägung autismus­

spezifischer Verhaltensweisen und ihre Auswirkungen auf die Alltagskompetenz beurteilen und mögliche psychiatrische Begleiterkrankungen rechtzeitig erfassen und ggf. behandeln zu können.

Ssucharewa hat bereits 196 den Beginn der Symptomatik in der frühen Kindheit und die fehlende Progredienz beschrie­

ben und den Entwicklungsaspekt und das Fehlen eines schubförmigen Verlaufs als differenzialdiagnostisches Kriterium ge­

genüber der Schizophrenie hervorgeho­

ben [95]. Der Blick in die Vergangenheit kann noch weitere, für die Diagnostik wertvolle Erkenntnisse bringen. Asper­

ger schrieb 19 bezüglich der differenzi­

aldiagnostischen Abgrenzung zum schi­

zophrenen Autismus: „Endlich und vor allem ist der komplexe, nicht weiter rück­

führbare und zu präzisierende Gesamt­

eindruck ganz anders, ob man vor einem Schizophrenen oder vor einem solchen Kinde steht…“ ([5], S. 95). Und einige Jah­

re später präzisierte er:

„Dieser ungemein bezeichnende Eindruck, der dem Erfahrenen und mit einem gu- ten Blick Begabten unverwechselbar ist, daß man vor der Persönlichkeit des Geis- teskranken wie vor einer unübersteigbaren Mauer steht, …, das eben fehlt auch bei den schwerst verschrobenen Autistischen Psy- chopathen.“ ([3], S. 18).

Asperger fand zwar Merkmale des schizophrenen Autismus auch bei dem von ihm beschriebenen „Typus psycho­

pathischer Persönlichkeiten“, aber es fehl­

ten die Charakteristika der schizophrenen Erkrankungen wie der prozesshafte Ver­

lauf, der typische Beginn mit psycho­

tischen Symptomen (erst 195 erwähnte er bei seinen differenzialdiagnostischen Er­

wägungen die hebephrenen Formen, die sich davon unterscheiden) und der fort­

schreitende Persönlichkeitsabbau.

Die Hauptgründe für eine unsichere Beurteilung können deshalb in unzu­

reichenden anamnestischen Informati­

onen zur frühkindlichen Entwicklung liegen. Aber auch fehlende psychopatho­

logische Kenntnis und geringe Erfahrung im klinisch­psychiatrischen Bereich kann zur einseitigen Gewichtung bestimm­

ter Symptome und somit zur diagnosti­

schen Fehleinschätzung führen. Das un­

reflektierte, ausschließliche Anwenden diagnostischer Klassifikationssysteme wie der ICD­10 oder dem DSM­IV reicht nicht aus und kann eine fundierte Explo­

ration, die eine Befragung von engen Be­

zugspersonen und möglichst eine Ver­

haltensbeobachtung im Alltag beinhaltet, keinesfalls ersetzen. Gerade für die dif­

ferenzialdiagnostische Abgrenzung sind deshalb fundierte psychopathologische Kenntnisse erforderlich.

Bemerkenswert ist in diesem Zusam­

menhang, dass das klinische Expertenur­

teil im Langzeitverlauf immer noch die höchste Validität und Stabilität besitzt [61]. Solange verlässliche biologische (ob­

jektive) Marker fehlen, die auf die Diagno­

se Autismus hinweisen, bleibt die subjek­

tive Dimension der Diagnose bedeutend.

(8)

Im Zusammenhang mit der Diagnostik ist es außerdem wichtig zu betonen, dass Au­

tismus keine kategoriale, abgrenzbare Er­

krankung ist. Vielmehr ist der Übergang vom Kernautismus zur Autismus­Spek­

trum­Störung oder zum atypischen Au­

tismus und zum Vorkommen einzelner autistischer Züge bei einem Individuum fließend.

Rühl et al. haben kürzlich darauf hin­

gewiesen, dass seit der Einführung der separaten Diagnose „Asperger­Syndrom“

in die Klassifikationssysteme ICD­10 bzw.

DSM­IV eine kontroverse Diskussion um die Frage geführt wird, ob es sich beim

„Frühkindlichen Autismus“ um ein ein­

deutig abgrenzbares Störungsbild han­

delt oder ob es sich vom Asperger­Syn­

drom lediglich durch den Schweregrad unterscheidet [79]. Die Autoren seh­

en auch aufgrund eigener Befunde, dass der frühkindliche Autismus und das As­

perger­Syndrom „Eckpunkte“ auf einem Schweregradkontinuum sind. Deshalb kommen sie zu dem Schluss, dass die kate­

goriale Diagnostik autistischer Störungen im Sinne eines dimensionalen (multiaxi­

alen) Ansatzes modifiziert werden müss­

te. Das in der Kinder­ und Jugendpsych­

iatrie verwendete multiaxiale Klassifika­

tionsschema entspräche einem solchen Vorgehen, denn es erlaubt die Beschrei­

bung einer Störung auf mehreren Ebenen (insgesamt sechs Achsen). Zusätzlich ha­

ben sich heute für die Diagnostik autis­

tischer Störungen die bereits genannten Verfahren wie die Diagnostische Beob­

achtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) und das revidierte Autismus Di­

agnostische Interview (ADI­R) etabliert, die eine unentbehrliche Hilfe für die Un­

tersuchung sind [16].

Die Suche nach den Ursachen  für das Phänomen Autismus und  die Rolle der experimentellen  psychopathologischen Forschung In den letzten Jahren finden sich immer wieder Hinweise für eine biologische Pa­

thogenese der Autismus­Spektrum­Stö­

rungen. So zeigen sich schon in der frü­

hen Kindheit Anzeichen für eine Entwick­

lungsstörung des Gehirns []. Dabei spie­

len genetische Ursachen eine wesentliche Rolle. Es finden sich einerseits monogene

Erkrankungen (Fragiles­X­Syndrom, tu­

beröse Hirnsklerose, Phenylketonurie, Smith­Lemli­Opitz­Syndrom) und zy­

togenetische Veränderungen bei autisti­

schen Störungen (Duplikation von Chro­

mosom 15q11­13, Deletionen von Chromo­

somen q37, 7q31 und q13.3). Die mo­

lekulargenetischen Untersuchungen an Zwillingen und Familien von Betroffenen weisen aber darauf hin, dass eine Vielzahl von Genen an der Entstehung von Autis­

mus beteiligt sein dürfte [35, 36, 3, 87, 99].

In den vergangenen Jahren konnten dies­

bezüglich zahlreiche Genorte identifiziert werden, die auf verschiedenen Chromo­

somen lokalisiert sind. In Kopplungsstu­

dien zeigten sich Kandidatenregionen auf den Chromosomenabschnitten q1­33, 3q5­7, 3p5, 6q1­1, 7q, 7q31­36 und 17q11­1. Eine Metaanalyse konnte ins­

besondere die Region 7q­3 bestätigen und beschrieb zwei weitere Genorte auf Chromosom 10p1­q11.1 und 17p11.­q1 [35, 36]. In Assoziationsstudien wurden die entsprechenden Kandidatengene auf den Chromosomen , 3, 7, 15 und 17 sowie auf dem Chromosom X untersucht. Dabei scheinen insbesondere Gene relevant zu sein, die die Entwicklung von Neuronen und Synapsen beeinflussen.

Dabei ist die grundsätzliche Frage, ob es sich bei den Autismus­Spektrum­Stö­

rungen um eine ätiologisch/pathogene­

tisch identische Gruppe handelt, noch nicht abschließend geklärt. Allerdings spricht vieles dafür, insbesondere das Vorkommen von frühkindlichem Autis­

mus mit Intelligenzminderung und des breiteren Autismus­Spektrums in ein­

und derselben Familie (breiter Phänotyp des Autismus). In diesem Zusammenhang sind die folgenden möglichen Mechanis­

men denkbar:

1. Bei der Gruppe von Betroffenen mit frühkindlichem Autismus findet sich eine stärkere genetische Belastung als in der Gruppe mit einem Asperger­

Syndrom („higher vs. lesser dose of genetic liability“).

. Zwei oder mehr Risikofaktoren sum­

mieren sich und bedingen bei ent­

sprechender Disposition zusätzlich zu der autistischen Kernsymptomatik die Intelligenzminderung („Two­hit­

Hypothese“, [81]).

In Untersuchungen zur Neuroanatomie fanden sich bei autistischen Menschen strukturelle Abweichungen in verschie­

denen Hirnregionen. Diese Ergebnisse be­

ruhen in der Regel auf Post­mortem­Un­

tersuchungen oder auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren. Sie zeigen ei­

ne allgemeine Vergrößerung des Hirnvo­

lumens, vor allem des Frontal­ und Tem­

porallappens und der zerebellären Hemis­

phären [17, 0, 66, 90]. Derzeit wird zu­

dem die unzureichende Vernetzung ver­

schiedener zerebraler Areale diskutiert.

Aktuelle Untersuchungen lassen vermu­

ten, dass das beschleunigte Hirnwachs­

tum im ersten Lebensjahr mit anschlie­

ßender verzögerter Ausreifung eine Ur­

sache für die verminderte Konnektivität des frontalen Kortex mit anderen Hirnre­

gionen sein könnte [3, 70].

Um zu einem vertieften Verständnis von Autismus­Spektrum­Störungen zu gelangen, spielt in gegenwärtigen Unter­

suchungen das Konzept der sozialen Ko­

gnition eine bedeutende Rolle, das mittels experimenteller psychopathologischer Methoden detailliert untersucht wird und mit der funktionellen Bildgebung auch in seinen neuronalen Grundlagen verstan­

den werden kann. Die soziale Kognition umfasst Aspekte der Gesichtserkennung, der Empathie, der Emotionswahrneh­

mung und des Erschließens mentaler Zu­

stände (Theory of Mind).5 Die gegensei­

tige Interaktion mit der sozialen Umwelt erfordert nicht nur die Berücksichtigung eigener Ziele, Absichten und Wünsche,

25   Ursprünglich stammt der Begriff aus der  Verhaltensforschung an Primaten [69]. Von  Baron-Cohen und Kollegen wurde 1985 erst- mals ein Defizit bzgl. der „Theory of mind“ bei  autistischen Kindern beschrieben [8] und später  durch Chris und Uta Frith näher spezifiziert [38]. 

Zum Begriff und zur historischen Entwicklung  der Theory of Mind vgl. auch [34]. Bereits Asper- ger hat 1938 eine schwere Störung des „instink- tiven Verstehens“ angenommen [4]. Er meinte  damit die Schwierigkeit der Kinder, den „Ton der  Worte“, die „Mimik und Gestik“ anderer zu ver- stehen und adäquat zu reagieren, woraus eine  Störung des Verständnisses für die Situation  und der sozialen Beziehungen zu anderen Men- schen resultiert. 1944 wies er in seiner Arbeit  über die „Autistischen Psychopathen“ darauf  hin, dass diese nur ein unzureichendes Gefühl  für den Respekt anderen Personen gegenüber  haben, das er ein „Defekt im Verständnis für die  andere Person“ nannte ([5] S. 125).

(9)

sondern auch die der anderen. Eine not­

wendige Voraussetzung ist die Fähigkeit, Interaktionspartnern solche mentalen Zu­

stände zuschreiben zu können, denn sie ermöglicht ein sozial adäquates Interagie­

ren und Reagieren. Ist aber diese Fähigkeit eingeschränkt, kann es zu sozialen Proble­

men im Alltag kommen.

Zahlreiche Untersuchungen zur Emo­

tionswahrnehmung und zur Theory of Mind zeigen diesbezüglich deutliche Ein­

schränkungen sowohl bei Menschen mit frühkindlichem Autismus als auch mit Asperger­Syndrom [7]. Die neuronalen Grundlagen der beschriebenen sozialen Defizite sind aktuell Gegenstand auf ver­

schiedenen Betrachtungsebenen neuro­

wissenschaftlicher Forschung, vor allem der funktionellen Bildgebung (vgl. [18, 9]). Eine Übersicht über funktionelle Bildgebungsstudien zu Autismus und so­

zialer Kognition haben unlängst Domes et al. gegeben [7]. Demnach sind funktio­

nelle Veränderungen im Bereich des fu­

siformen Gyrus und der Amygdala mit Defiziten in der Erkennung mimischer Emotionen assoziiert, und funktionelle Veränderungen im medialen präfronta­

len Kortex finden sich bei beeinträchtig­

ter Theory of Mind.

Kürzlich wurde auch eine Störung des Spiegelneuronensystems als Ursache der sozialen Defizite bei autistischen Stö­

rungen angenommen [10, 103]. Diese Gruppe von Neuronen u. a. im inferioren frontalen Kortex (Pars opercularis) und im prämotorischen Kortex ist bei gesun­

den Probanden aktiv, wenn Handlungen imitiert werden, aber auch wenn mi­

misches Verhalten beobachtet wird [76].

Es wird daher vermutet, dass das Spiegel­

neuronensystem an der Emotionserken­

nung und dem Erschließen von Hand­

lungsabsichten beteiligt ist.

Neuere Untersuchungen zeigen ver­

minderte Volumina im inferioren fron­

talen Kortex bei autistischen Menschen [5]. Außerdem fand sich bei Menschen mit Autismus eine verminderte neuronale Aktivität in diesem Areal beim Imitieren und Betrachten von mimischen Emoti­

onen [5]. Obwohl bislang hinsichtlich der Störungsspezifität der beeinträchtigten Spiegelneuronenfunktion wenig bekannt ist, könnte eine frühe Störung in diesem neuronalen Netzwerk die Schwierigkeiten

autistischer Menschen erklären, die men­

talen Zustände anderer zu erschließen bzw. mimische Emotionen zu erkennen.

Defizite in der Emotionserkennung und Theory of Mind könnten somit prinzipi­

ell als das Ergebnis einer gestörten neuro­

nalen Entwicklung begriffen werden, die durch genetische und Umweltfaktoren be­

dingt sind [93].

Wenn sich auch einige Gemeinsam­

keiten in der neurobiologischen Befund­

lage zwischen autistischen und anderen psychischen Störungen finden, die auf ähnliche Besonderheiten in sozial­kogni­

tiven Fähigkeiten hinweisen, so gibt es ebenso große Unterschiede, und es stellt sich die Frage nach der Spezifität der be­

richteten Untersuchungsbefunde. Sowohl auf Verhaltensebene als auch auf neuro­

naler Ebene wurden Veränderungen der Emotionswahrnehmung auch bei ver­

schiedenen anderen psychiatrischen Er­

krankungen beschrieben, neben dem Au­

tismus, auch bei der Schizophrenie [9], bei affektiven Störungen im Erwachse­

nen­ [78] und Kindesalter [19] und bei Demenzen [55]. Man kann davon ausge­

hen, dass erhebliche Überschneidungen zwischen den neurofunktionellen Verän­

derungen bei verschiedenen psychischen Störungen vorliegen. Somit muss noch die Frage beantwortet werden, welche neuro­

funktionellen Veränderungen spezifisch für autistische Menschen sind. Die Wei­

terentwicklung der neuronalen Modelle und der experimentellen Paradigmen ver­

mag eine solche Spezifizierung zukünftig ermöglichen.

Bei der Suche nach den zentralen Merk­

malen finden sich beim Autismus die er­

wähnten sozialen Einschränkungen, die wahrscheinlich durch zugrunde liegen­

de Defizite der sozialen Kognition erklärt werden können. Die Unfähigkeit, zur Um­

welt und den Mitmenschen in Beziehung zu treten und soziale Rollen zu überneh­

men, besitzt einen zentralen Stellenwert, auch und vor allem in der heutigen Kon­

zeption der autistischen Störungen. Da­

bei sind die Voraussetzungen für eine so­

ziale Interaktion nicht (Autismus als Ent­

wicklungsstörung) oder nicht mehr (z. B.

bei schizophrenen Erkrankungen) gege­

ben. Somit könnten die Einschränkungen in der sozialen Kognition als kleinster ge­

meinsamer Nenner von Autismus, egal ob

als Symptom, Syndrom oder Krankheits­

entität definiert, verstanden werden, die sich seit Beginn der Beschreibung dieses Phänomens als Konstante findet.

Korrespondenzadresse

Dr. E. Kumbier

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psycho- therapie, Zentrum für Nervenheilkunde der   Universität Rostock

Gehlsheimer Str. 20, 18147 Rostock ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor  gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

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Heilpädagogik. Springer, Wien New York, S 177–

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  3.  Asperger H (1952) Autistische Psychopathen. In: 

Heilpädagogik. Springer, Wien, S 166–1912   4.  Asperger H (1938) Das psychisch abnorme Kind. 

Wien Klin Wochenschr 49:1314–1317   5.  Asperger H (1944) Die „Autistischen Psycho-

pathen“ im Kindesalter. Archiv für Psychiatrie und  Nervenkrankheiten 117:76–136

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  9.  Berger H (1976) Professor Dr. Hans Asperger zum  70. Geburtstag. Pädiatr Pädol 11:1–4

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Autism Diagnostic Interview-Revised (ADI-R): a  study of dimensional versus categorical classifica- tion of autistic disorders. Z Kinder Jugendpsychiatr  Psychother 29:221–229

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Referenzen

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