Nervenarzt 2010 · 81:55–65 DOI 10.1007/s00115-009-2820-3 Online publiziert: 15. Juli 2009
© Springer Medizin Verlag 2009
E. Kumbier1 · G. Domes2 · B. Herpertz-Dahlmann3 · S.C. Herpertz1
1 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock
2 Psychologisches Institut, Klinische Psychologie und Psychobiologie an der Universität Zürich
3 Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum Aachen, RWTH, Aachen
Autismus und
autistische Störungen
Historische Entwicklung und aktuelle Aspekte
Übersichten
Autismus und autistische Störungen sto
ßen in den letzten Jahren zunehmend auf das Interesse der Neurowissenschaften und der Öffentlichkeit. Das Verständnis von Autismus hat sich seit seiner Erstbe
schreibung vor fast 100 Jahren stets ge
wandelt. Die fehlende bzw. eingeschränkte Interaktion des Betroffenen mit der sozi
alen Umwelt kann als das zentrale Merk
mal angesehen werden. Für das heutige Verständnis und den diagnostischen Pro
zess kann ein Blick zurück hilfreich sein.
Eingebettet in den ideengeschichtlichen Kontext kann er dazu dienen, fließende Übergänge oder auch sprunghafte Verän
derungen zu erkennen und zugleich das Konstante, Beständige zu verstehen. In der aktuellen Perspektive soll neben dif
ferenzialdiagnostischen Überlegungen der Frage nachgegangen werden, welchen Beitrag die experimentelle psychopatho
logische Forschung leisten kann, um das Verständnis des Krankheitsbildes zu ver
tiefen.
Historische Aspekte
Zur Entstehung und Entwicklung des Autismus-Begriffs1
Der Begriff Autismus ist eine Reduzie
rung des Terminus Autoerotismus. Der
1 Zur Entstehungs- und Ideengeschichte des Begriffs Autismus s. [59].
englische Arzt, Sexualwissenschaftler und Schriftsteller Havelock Ellis verwendete das Wort Autoerotismus erstmals 1898 im Zusammenhang mit dem infantilen sexu
ellen Verhalten [31]. Sigmund Freud über
nahm den Begriff von Ellis. Er benutzte ihn bei der Beschreibung der infantilen Sexualität und definierte ihn durch die Beziehung des Triebes zu seinem Sexual
objekt [37].
In Anlehnung an Freud prägte der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler den Terminus Autismus. Er bevorzugte die
se von ihm modifizierte Variante und dis
tanzierte sich damit von der starken sexu
ellen Färbung des Terminus Autoerotis
mus. Das erste Mal erwähnte Bleuler den Begriff 1910 in seiner Arbeit zum schizo
phrenen Negativismus [13]. Ein Jahr später ging er in seiner Monografie zur Schizo
phrenie ausführlich auf das schizophrene Symptom Autismus ein [11]. Nach Bleu
lers Verständnis charakterisiert Autismus das gestörte Verhältnis des Schizophrenen zur Wirklichkeit. Damit berücksichtigte er in seinem Konzept stärker als bislang die Wechselwirkungen zwischen dem Schizo
phrenen und seiner Umwelt. In kritischer Auseinandersetzung mit der Psychoana
lyse wollte er neue Erkenntnisse für die psychologischen Zusammenhänge der Schizophrenie gewinnen [11]. Dass Bleu
lers Bestimmung des Begriffs Autismus keineswegs eindeutig war, verdeutlichen viele Arbeiten (vgl. etwa [6, 10]).
Im Laufe der Zeit wurde der Terminus in der deutschsprachigen Psychiatrie im Zusammenhang mit verschiedenen psy
chischen Störungen verwendet, so etwa bei depressiven Erkrankungen in Form der starken IchBezogenheit [57]. Andere Psychiater wie Bernhard Pauleikhoff sahen im Autismus ein besonderes Kennzeichen der hebephrenen Formen endogener Psy
chosen, der in engem Zusammenhang mit der Kontaktstörung steht [67]. Karl Leon- hard stellte die Kontaktstörung zwischen Krankem und Umwelt besonders bei der von ihm beschriebenen autistischen He
bephrenie in den Vordergrund [60]. Diese grenzte er als eine Form der Hebephrenie ab und zählte sie zu den systematischen Schizophrenien.
Autismus und Persönlichkeit Bleulers Schizophreniekonzept wurde in Deutschland vor allem von der Tübinger Psychiatrieschule angenommen. Zu die
ser gehörte Ernst Kretschmer, der den Be
griff Autismus im Zusammenhang mit den schizoiden Temperamenten aufgriff [58]. Schizoide sind demnach durch Kon
taktscheu, Introvertiertheit und emotio
nale Distanziertheit gekennzeichnet.
Nach Kretschmer würden gerade dieje
nigen Schizoiden der Auffassung Bleulers von Autismus entsprechen, die als Son
derlinge auffallen und die Kretschmer als
„ungesellig, still, zurückhaltend, ernsthaft
(humorlos)“ bezeichnete. Er fasste Autis
mus u. a. als Überempfindlichkeit gegen
über äußeren Reizen auf, weshalb die Be
troffenen diese vermeiden, was sich dann auch in ihrem sozialen Verhalten wider
spiegelt. Dieser Gedanke findet sich, wenn auch nicht unumstritten, in aktuellen Hy
pothesen wieder und wird im Zusam
menhang mit der Frage diskutiert, war
um autistische Menschen in sozialen In
teraktionen einen verminderten Augen
kontakt zeigen.
Die russische Kinderpsychiaterin Grun- ja Efimovna Ssucharewa3 veröffentlich
te 196 in Bezugnahme auf Kretschmers Schizoidie in deutscher Sprache ihre Ar
beit „Die schizoiden Psychopathen im Kin- desalter“, in der sie sechs Jungen im Al
ter von 10 1/ bis 13 Jahren vorstellte [95].
Viele der von ihr dargelegten Merkmale zeigen Gemeinsamkeiten mit der späteren Beschreibung des AspergerSyndroms.
Neben verschiedenen anderen Auffällig
keiten hob sie als gemeinsames Charak
teristikum die „autistische Einstellung“
hervor:
„Alle Kinder … halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm nie- mals vollständig auf. … Die Neigung zur Einsamkeit … beobachtet man bei allen diesen Kindern von der frühen Kindheit an …“ ([95], S. 55)
Ssucharewa fand in allen ihren Fäl
len Autismus als ein Grundmerkmal der
2 Dalton et al. konnten kürzlich mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie zei- gen, dass bei Probanden mit frühkindlichem Autismus bzw. Asperger-Syndrom die Dauer der Betrachtung der Augenregion positiv mit der Aktivierung der Amygdala assoziiert ist [24].
Die Autoren interpretieren dies im Sinne einer
„Überempfindlichkeit“ gegenüber sozialen Rei- zen und sehen darin eine mögliche Ursache für den häufig berichteten verminderten Augen- kontakt bei autistischen Menschen. Demnach könnten autistische Menschen aufgrund eines kognitiven Defizits mit sozialen Reizen nichts anfangen und reagieren deshalb aversiv auf die- se Stimuli bzw. vermeiden sie. Diese Interpreta- tion erinnert an die erwähnte Überempfindlich- keit im Kretschmerschen Sinne.
3 Grunja Efimovna Ssucharewa (1891–1981), beim Erscheinen der o. g. Arbeit als wissen- schaftliche Assistentin an der Psychoneurolo- gischen Kinderklinik in Moskau tätig, gehörte zu den Begründern der Kinder- und Jugendpsychi- atrie in der UdSSR [73].
Schizoidie. Ihre Arbeit wurde internatio
nal erst 1996 durch die Übersetzung von Sula Wolff ins Englische bekannt [96].
Auch bei Eugen Kahn fand der Begriff Autismus im Zusammenhang mit den so genannten abnormen Persönlichkeiten (Psychopathien) Verwendung. Er spielte unter Berücksichtigung der IchUmwelt
Bezogenheit bei der Einteilung von Cha
raktertypen eine wesentliche Rolle [51].
Ebenso verhält es sich bei Hans Binder, den die Auseinandersetzung mit dem schizoiden Autismus zur Unterschei
dung eines primären, nicht weiter ableit
baren, von einem sekundären Autismus, der Folge verschiedener psychischer Ver
änderungen sei, veranlasste [10]. Interes
santerweise unterschied Binder beim pri
mären Autismus zwei Gruppen von „prä
psychotischen Sonderlingen“. Bei der ei
nen Gruppe finden sich schon in der Kindheit „psychisch auffällige“ Züge, oh
ne dass diese näher benannt und der Be
ginn näher eingegrenzt wird. In der ande
ren Gruppe entwickeln sich die Auffällig
keiten erst im späteren Leben bei vorher unauffälligen Menschen.
Binder berücksichtigte somit bereits den Entwicklungsaspekt, verfolgte diesen Gedanken aber nicht weiter. Er sah im Autismus ein erstes Symptom, das fast im
mer die „Vorstufe“ eines Prozesses kenn
zeichnet, der in die Schizophrenie führt.
Der schizoide Autismus zeige sich bei
spielsweise zuerst darin, dass „die Fähig-
4 Sula Wolff untersuchte auf der Grundlage von klinischen Stichproben den Langzeitverlauf von Kindern mit der Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung einschließlich Asper- ger-Syndrom und fand, dass selten ein Über- gang in eine schizophrene Erkrankung erfolgte.
In der Nachuntersuchung im Erwachsenenal- ter erfüllten Dreiviertel der 32 Kinder die Kri- terien für eine schizotype Persönlichkeitsstö- rung. Bei zwei Kindern hatte sich eine Schizo- phrenie entwickelt [107]. Dieser geringe Anteil ist aber trotzdem höher als in der Allgemeinbe- völkerung. Hingegen findet sich in Langzeitun- tersuchungen an Kindern mit frühkindlichem Autismus im späteren Verlauf kein Übergang zur Schizophrenie [72]. Zu der Differenzialdiagno- se des frühkindlichen Autismus gehört die sehr früh und früh beginnende („very early“ und „ear- ly onset“) Form der Schizophrenie. Eine Untersu- chung der Vorfeldsymptomatik kindlicher Schi- zophrenien (UCLA-Studie) konnte zeigen, dass bei den Kindern, bei denen sich im Kleinkindal- ter autistische Verhaltensweisen fanden, bereits früh psychotische Symptome auftraten [75].
keit zu feinem Eingehen und verständnis- voller Rücksicht auf Nebenmenschen, zum Einfühlen affektiver Imponderabilien in den Beziehungen zur Mitwelt“ gestört ist ([10], S. 669).
Solche Beobachtungen finden sich heute im Konzept der gestörten „Theory of Mind“ wieder. Binder sprach auch von einer „Schwächung im instinktiven Anspre- chen … beim Verkehr mit der Umwelt …“
([10], S.669) und gebrauchte mit „instink
tiv“ einen Begriff, der später auch von As
perger in diesem Zusammenhang ver
wendet wurde. Es waren Leo Kanner und Hans Asperger, die die Sichtweise auf den Autismus grundsätzlich erweiterten und den Grundstein für unser heutiges Bild dieser Störung legten.
Die Beschreibung des Autismus durch Leo Kanner und Hans Asperger
Heute verbinden wir den Begriff Autis
mus vor allem mit den AutismusSpek
trumStörungen, zu denen vor allem der frühkindliche Autismus (KannerSyn
drom) und das AspergerSyndrom zäh
len. Diese Störungsbilder werden nach ih
ren Erstbeschreibern Leo Kanner (189–
1981) und Hans Asperger (1906–1980) be
nannt. Sowohl Kanner als auch Asper
ger berichteten über Kinder, die unfähig waren, normale affektive Beziehungen zu Menschen einzugehen. Beide stellten, anscheinend5 unabhängig voneinander, u. a. Besonderheiten in der Kommunika
tion und Schwierigkeiten in der sozialen Anpassung heraus. Und beide verwen
deten den Begriff autistisch und unter
schieden das von ihnen bezeichnete Stö
rungsbild von der (kindlichen) Schizo
phrenie. Damit wechselte der Autismus
begriff von der Erwachsenenpsychiatrie
5 Schirmer hat darauf hingewiesen, dass der Österreicher Kanner möglicherweise Kennt- nis von Aspergers Vortrag (s. unten) hatte, der 1938 in der Wiener Klinischen Wochenschrift veröffentlicht wurde und in dem Asperger den Begriff des „autistischen Psychopathen“ prägte [89]. Diese Annahme wird dadurch gestützt, das Kanner in seiner ersten Arbeit zu diesem The- ma 1943 angab, dass ihm seit 1938 (!) Kinder aufgefallen sind [52], deren einzigartige Verhal- tensauffälligkeiten er ein Jahr später als früh- kindlichen Autismus („early infantile autism“) bezeichnete [53].
in die sich gerade etablierende Kinder
psychiatrie. Zwar wurde Autismus im Be
reich der Kinder und Jugendpsychiatrie schon zuvor verwendet, so beispielsweise von August Homburger6 in seinem Lehr
buch „Psychopathologie des Kindesalters“, aber nur im Zusammenhang mit der Schi
zophrenie im Kindesalter [9].
Ist es nun Zufall, dass Kanner und As
perger den Begriff autistisch bzw. Autis
mus verwenden? Die gebürtigen Öster
reicher waren mit der deutschsprachigen Psychopathologie vertraut, kannten Bleu
lers Schizophreniekonzept, und zumin
dest Asperger nahm in seiner Arbeit na
mentlich Bezug auf Bleuler und den schi
zophrenen Autismus. Bevor näher auf die Arbeiten von Kanner und Asperger eingegangen wird, sollen einige biogra
fische Anmerkungen ihre Verbindung zur deutschsprachigen Psychiatrie ver
deutlichen.
Hans Asperger, ein Pionier der euro
päischen Kinder und Jugendpsychiatrie (vgl. zu biografischen Angaben [9, 1]), arbeitete überwiegend in Wien. Dort war er zeitweise an der Psychiatrischen Klinik bei Otto Pötzl tätig. Zudem hospitierte er an der Psychiatrischen und Nervenklinik in Leipzig bei Paul Schröder7 [1]. Asper
ger beschäftigte sich vorwiegend mit der Entwicklung bzw. Fehlentwicklung von Kindern und verstand sich gleicherma
ßen als Arzt und Heilpädagoge, der ihn zum „Brückenbauer zwischen Natur
und Geisteswissenschaft“ werden ließ ([9], S. ). Asperger habilitierte sich 193 an der Wiener UniversitätsKinderklinik bei Franz Hamburger mit seiner Arbeit
6 Zu Leben und Werk von August Homburger (1873–1930), der als a. o. Professor der Psychia- trie und Leiter der Poliklinik der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig war, vgl.
[64]. Nissen hat ausgeführt, dass autistisches Verhalten bereits im 19. und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts vereinzelt bei Kindern beobach- tet und beschrieben worden ist, so in den Lehr- büchern von Herrmann Emminghaus (1887) und August Homburger (1926), ohne allerdings dafür den Begriff als solchen zu verwenden.
7 Paul Schröder (1873–1941) war seit 1925 ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Uni- versität Leipzig. Sein Arbeitsschwerpunkt lag im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er war ab 1937 erster Präsident der Internationalen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie [98]. Schröder eröffnete 1926 in Leipzig eine „Beobachtungs- abteilung für jugendliche Psychopathen“ [92].
Zusammenfassung · Summary
Nervenarzt 2010 · 81:55–65 DOI 10.1007/s00115-009-2820-3
© Springer Medizin Verlag 2009
E. Kumbier · G. Domes · B. Herpertz-Dahlmann · S.C. Herpertz
Autismus und autistische Störungen.
Historische Entwicklung und aktuelle Aspekte
Zusammenfassung
Der Begriff Autismus hat sich seit seiner Ent- stehung stetig gewandelt. Im historischen Rückblick zeigt sich, dass er zunächst sowohl in der Erwachsenen- als auch der Kinder- psychiatrie als schizophrenes Symptom auf- gefasst wurde. Im Laufe der Zeit vollzog sich ein Wandel, sodass Autismus als Störungsbild innerhalb der Kinderpsychiatrie eine eigen- ständige Entwicklung nahm. Dank Leo Kan- ner und Hans Asperger erhielt es seine heu- tige Bedeutung. Aktuell wird Autismus im Zusammenhang mit den autistischen Stö- rungen zu den tief greifenden Entwicklungs- störungen gezählt und findet aufgrund der hohen Stabilität im Verlauf auch wieder ver- stärkt in der Erwachsenenpsychiatrie Beach- tung. Zum besseren Verständnis dieser Ent- wicklung wird der Weg von der Entstehung einschließlich der Rezeption durch Kanner
und Asperger nachgezeichnet. Auf der Suche nach zentralen Merkmalen finden sich beim Autismus Einschränkungen in der sozialen Kommunikation und Interaktion, die durch zugrunde liegende Defizite der sozialen Ko- gnition erklärt werden. Diese Einschrän- kungen in der sozialen Kognition können als das zentrale Charakteristikum von Autismus verstanden werden, das sich seit Beginn der Beschreibung dieses Phänomens als Kons- tante findet. So wird auch der Frage nachge- gangen, welchen Beitrag die experimentelle psychopathologische Forschung für ein ver- tieftes Verständnis des Krankheitsbildes leis- ten kann.
Schlüsselwörter
Autismus · Autistische Störungen · Psychia- triegeschichte · Kanner · Asperger
Autism and autistic disorders. Historical and current aspects
Summary
Since its first use in medical literature the meaning of the term autism has constant- ly changed. An historical overview indicates that in both adult and child psychiatry au- tism was first used to refer to a symptom of schizophrenia. Later on the use of the term in child psychiatry took a different independent course, which led to present-day conceptual- ization of autism, mainly due to the work of Leo Kanner and Hans Asperger. Currently au- tism and autistic disorders are regarded as severe developmental disorders and, due to their stable nature, have gained considerable attention in adult psychiatry. In order to bet- ter understand this development, the path from onset to reception is traced via Kanner
and Asperger. In the search for central char- acteristics of autism, one finds restrictions in social communication and interaction, which can be explained by fundamental deficits in social cognition. These restrictions in social cognition can be considered the central char- acteristic of autism – one which has been a constant since the phenomenon was first de- scribed. Our historical review considers to what extent experimental psychopatholog- ical research can deepen our understanding of the disorder.
Keywords
Autism · Autistic disorders · History of psychi- atry · Kanner · Asperger
über „Die autistischen Psychopathen“, die im folgenden Jahr im deutschsprachigen Archiv für Psychiatrie und Nervenkrank- heiten veröffentlicht wurde [5]. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging er in seinem Lehrbuch „Heilpädagogik“ erneut auf die „Autistischen Psychopathen“8 ein.
Diesmal nahm er auch Bezug auf Kanner:
„Weitgehende Übereinstimmung mit un- serer Beschreibung, ja sogar denselben Na- men (nämlich das Wort ‚autistisch‘) haben wir dagegen bei Leo Kanner in Amerika ge- funden“ ([3], S. 191).9
Leo Kanner lebte seit 1906 in Berlin10 und wanderte 19 in die USA aus (vgl.
zu biografischen Angaben [63, 85, 91]). Er lernte die Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet während seines Studiums in Berlin kennen und wurde sogar von Karl Bonhoeffer in diesem Fach geprüft [63].
Ab 198 arbeitete er in Baltimore (Ma
ryland) bei Adolf Meyer11 an der Psychi
atrischen Klinik (Henry Phipps Psychia
tric Clinic)1 der JohnsHopkinsUniver
8 Zur Geschichte des Begriffs Psychopathie in der Psychiatrie vgl. [42] und zur Psychopathie und Schizoidie, insbesondere zur Wandlung des Psychopathie-Begriffs und seiner Anwendung auf das Kinder-und Jugendalter s. [71, 101].
Remschmidt und Kamp-Becker haben kürzlich einen Überblick zur Geschichte des Asperger- Syndroms gegeben und den Weg von der Psy- chopathie zur tiefgreifenden Entwicklungsstö- rung nachgezeichnet. Sie sind dabei auch auf die historischen Einteilungsversuche von Psy- chopathien und auf die Interpretationen des Psychopathie-Begriffs eingegangen [73].
9 Asperger hat sich später näher mit Kanners
„early infantile autism“ auseinandergesetzt und festgestellt, dass zwar viele Gemeinsamkeiten bestünden, dennoch beide Krankheitsbilder deutlich voneinander getrennt werden müss- ten, vgl. [2].
10 Kanners Jahre in Berlin von 1906 bis 1924, seine frühe wissenschaftliche Tätigkeit an der Charité und den Weg bis zur Übersiedlung in die USA hat Neumärker anhand von Originaldoku- menten und der unveröffentlichten Autobiogra- fie aufgearbeitet [63].
11 Adolf Meyer (1866–1950) ging 1892 von Zürich in die USA. Er beeinflusste die amerika- nische Psychiatrie maßgeblich, indem er das Klassifikationssystem Emil Kraepelins einführte.
Meyer war von 1910 bis 1941 an der Johns-Hop- kins-University tätig, wo er Leo Kanner kennen- lernte und förderte.
12 1913 sprach Bleuler am Johns-Hopkins- Hospital in Baltimore über Autismus [88]. Seine Theorie zum schizophrenen Negativismus wur- de bereits ein Jahr zuvor in englischer Sprache veröffentlicht [12].
sität und leitete die kinderpsychiatrische Abteilung. Kanner gilt als Vater der ame
rikanischen Kinder und Jugendpsychia
trie. 1935 erschien erstmals sein wegwei
sendes Lehrbuch „Child Psychiatry“ und ab 1971 war er Mitherausgeber der Zeit
schrift „Journal of Autism and Childhood Schizophrenia“ (ab 1979 „Journal of Autism and Developmental Disorders“). 193 und 19 veröffentlichte er seine Arbeiten zum frühkindlichen Autismus [5, 53].
Die genannten Arbeiten von Kanner und Asperger seien kurz vorgestellt. As
perger veröffentlichte 19 seine Habi
litationsschrift „Die autistischen Psycho- pathen im Kindesalter“ [5], die häufig als seine erste Arbeit zu diesem Thema zitiert wird. Er führte aber die Bezeichnung „Au
tistische Psychopathen“ bereits 193813 ein []. Hier schilderte er die Fälle eines 10
und eines 7 1/jährigen Jungen, die er als
„verschroben“ und „sonderlinghaft“ be
zeichnete, die in ihrer Beziehung zu ande
ren Menschen eingeengt und vorwiegend auf sich selbst beschränkt waren. Erst 19 beschrieb er dann vier Jungen im Alter zwischen 7 und 11 Jahren, die alle seit ih
rer frühen Kindheit verschiedene charak
teristische Auffälligkeiten hatten [5]. Er grenzte das „autistische Verhalten im Kin
desalter“ von der Schizophrenie wie auch deren Vorstadien ab. Asperger sah dar
in eher eine Extremvariante der männ
lichen Intelligenz und des männlichen Charakters und damit den Ausdruck ei
ner Diskrepanz zwischen Intelligenz und Gefühlsleben bei diesen Jungen.1 Seiner Schrift stellte er Folgendes voran:
„In der Fülle der Erscheinungen des Lebens,
…, die mit verschwimmenden Grenzen in einander übergehen, sucht der denkende Mensch dadurch einen festen Standpunkt,
13 Hans Asperger hat den Begriff erstmalig am 3. Oktober 1938 in einem Fortbildungsvor- trag verwendet und auch in den folgenden Jah- ren wiederholt in Vorträgen der Wiener Medi- zinischen Gesellschaft, Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Wiener Gesellschaft für Heilpädagogik gebraucht [44, 89].
14 Interessanterweise wird diese Hypothe- se aktuell wieder im Rahmen der „Extreme male brain“-Theorie des Autismus diskutiert. Diese postuliert, dass autistische Störungen Ausdruck einer extremen Ausprägung funktioneller und struktureller Merkmale des männlichen Gehirns sind [7].
daß er den einzelnen Erscheinungen einen Namen gibt ….“ ([5], S. 76)
Asperger diskutierte zunächst die Möglichkeiten, menschliches Verhalten einzuordnen und erörterte die charak
terologischen und typologischen Ord
nungsprinzipien von E. Kretschmer15, E. Jaensch, C.G. Jung, K. Schneider und P. Schröder. Er selbst bevorzugte in An
lehnung an Ludwig Klages die Erfassung und Beschreibung der Ausdruckserschei
nungen eines Menschen, da dieser Weg zum Wesen eines Individuums führe und von Vornherein auf ein gegebenes System verzichtet. Asperger ging bei den eigenen Fällen von einem einheitlichen Typus aus, bei dem sich übereinstimmend wesent
liche Einzelheiten wiederfinden. Trotz al
ler individueller Besonderheiten spricht, so Asperger, auch die Konstanz für einen einheitlichen Typus, d. h. das Wesent
liche (die Kontaktstörung, die Einengung der Beziehungen zur Umwelt) bleibt das ganze Leben hindurch bestehen. Asperger wies auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen den „Autistischen Psychopathen“ und Kretschmers Beschreibung (s. oben), vor allem aber dem „introvertierten Denk
typus“ von Jung hin. Nach Asperger sei
„doch ‚Introversion‘16 nichts anderes als eine Einengung auf das eigene Selbst (Au
tismus), eine Einschränkung der Bezie
hungen zur Umwelt“ ([5], S. 136). Asper
ger erklärte dann auch, wie er Namen und Begriff entwickelt hatte:
„In dem Bemühen, jene Grundstörung zu finden und begrifflich zu fassen, von der aus die Persönlichkeit dieser Gruppe abar- tiger Kinder durchorganisiert erscheint, ha- ben wir die Bezeichnung ‚Autistische Psy- chopathen‘ gewählt. Der Name leitet sich von dem Begriff des Autismus her, jener bei Schizophrenen in extremer Weise aus-
15 Sula Wolff fragt in dem erwähnten Aufsatz über Ssucharewas Publikation von 1926, warum Asperger, der die Arbeiten Kretschmers berück- sichtigt, nicht auch auf die von Ssucharewa ein- gegangen ist [96].
16 Von C.G. Jung eingeführter Begriff, der den Rückzug der Libido auf die eigene innere Welt des Subjekts bezeichnet [77]. Jung beschrieb 1921 in seiner Typeneinteilung (Introversion vs.
Extraversion) die Introvertierten als zurückge- zogene, vorsichtige Menschen, die Schwierig- keiten mit der Anpassung an die äußere Welt haben.
geprägten Grundstörung17. Der Ausdruck – unseres Erachtens eine der großartigsten sprachlichen und begrifflichen Schöpfungen auf dem Gebiet medizinischer Namensge- bung – stammt von Bleuler.“ ([5], S. 8)
Leo Kanner beschrieb Ende 19318 un
ter dem Titel „Autistic disturbances of affec- tive contact“ [5] Auffälligkeiten bei Kin
dern, die er ein Jahr später als frühkind
lichen Autismus („early infantile autism“) bezeichnete [53]. Er berichtete von 11 Kin
dern im Alter von bis 11 Jahren (8 Jungen und 3 Mädchen), 19 waren es insgesamt 0 (16 Jungen und Mädchen), mit cha
rakteristischen Auffälligkeiten, die er präg
nant mit den Worten „children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life“ ([5], S. ) umriss. Schließlich ver
anlassten Kanner seine Beobachtungen zu der Feststellung: „These characteristics form a unique ‚syndrome’, not heretofore reported...“ ([5], S. ). Und er wies dar
auf hin, dass sich diese Kinder nicht wie schizophrene Kinder oder Erwachsene aus einer bereits bestehenden Beziehung zurückziehen, sondern: „There is from the start an extreme autistic aloneness...“
([5], S. ). Zwar erinnert, so Kanner, die Kombination aus extremem Autis
mus, Zwanghaftigkeit, Stereotypie und Echolalie an schizophrene Phänomene19, doch trotz dieser bemerkenswerten Ähn
lichkeiten gebe es Unterschiede zur Schi
zophrenie in der Kindheit. Im Gegensatz zur Schizophrenie ziehen sich die Kinder nicht aus einer Welt zurück, deren Teil sie waren und mit der sie in Verbindung stan
den, sondern sie versuchen sich behutsam in eine Welt vorzutasten, in der sie von Be
ginn an völlig Fremde gewesen sind. Das Hauptmerkmal ist das autistische Insich
17 Bleuler zählte den Autismus in seinem Schi- zophreniekonzept zu den Grundsymptomen und im Weiteren zu den sekundären Symp- tomen (vgl. auch [59]).
18 Kanner verwendete in seiner ersten Arbeit 1943 ausschließlich das Adjektiv autistisch und erst in seiner Arbeit von 1944 das Substantiv Autismus.
19 Auf die z. T. erhebliche phänomenologische Überlappung von Katatonie und Autismus, die in der klinischen Beurteilung, aber auch in der Forschung bisher wenig berücksichtigt wird, haben Neumärker et al. unter verschiedenen, auch historischen Aspekten hingewiesen [26].
gekehrtSein („autistic aloneness“0), das der Störung den Namen gibt.
In vielen Aspekten ähneln die Be
schreibungen denen Aspergers, beide nah
men in ihren ersten Arbeiten jedoch kei
nen Bezug aufeinander. Die von Kanner beschriebenen Kinder schienen schwerer betroffen, d. h. stärker in ihrer Welt gefan
gen und geistig retardiert zu sein. Viele der betroffenen Kinder beobachtete er zusammen mit seinem Mitarbeiter Leo Eisenberg über mehrere Jahrzehnte [5].
Kanner erklärte den frühkindlichen Au
tismus unter dem Einfluss psychodyna
mischer Theorien zunächst mit der emo
tionalen Vernachlässigung durch die El
tern. Später rückte er ihn vorübergehend in die Nähe der kindlichen Schizophrenie, bis vergleichende Untersuchungen klare Unterschiede zwischen beiden Störungen feststellten [56].
Die Rezeption von Kanners und Aspergers Arbeiten und die Weiterentwicklung
Die Publikationen von Asperger (19) und Kanner (193, 19) wurden unter
schiedlich rezipiert, da sie in einer Zeit erschienen, in der der wissenschaftliche Austausch aufgrund der politischen Um
stände nur sehr begrenzt möglich war. Es verwundert deshalb kaum, dass Aspergers Arbeit außerhalb der deutschsprachigen Gebiete nicht beachtet wurde. Kanners Publikation gewann hingegen schnell an Einfluss und schon bald etablierte sich der von ihm beschriebene „Autismus“ als eine anerkannte Diagnose. Da seine Arbeit in englischer Sprache erschienen war, wurde sie international wahrgenommen, sodass sich auch die Forschungsbemühungen zu
nächst auf den frühkindlichen Autismus konzentrierten. Erst der Aufsatz von Lor- na Wing (1981) machte Aspergers Schrift von 19 international bekannt [10], und Uta Frith übersetzte 1991 seine Original
arbeit ins Englische [1]. In den folgenden Jahren nahm das Interesse der Fachwelt an der Störung enorm zu.
20 „Aloneness“ wird auch mit Alleinsein oder Einsamkeit übersetzt, den Verfassern erscheint aber im beschriebenen Zusammenhang die Bezeichnung „In-sich-gekehrt-Sein“ treffender, da sie den autistischen Zustand besser charakte- risiert.
Die Forschungsarbeiten von Wing ha
ben erheblich zum besseren Verständnis von Autismus und insbesondere des As
pergerSyndroms1 beigetragen, für wel
ches sie detaillierte Kriterien ausarbeite
te. Das wachsende Interesse und die Aus
weitung des Konzeptes auf die Autismus
SpektrumStörungen führten dazu, dass zunehmend mehr Kinder und Erwach
sene als Autisten diagnostiziert werden.
Das hat wahrscheinlich mit dazu beigetra
gen, dass die Prävalenzangaben für Autis
mus von etwa vier bis fünf pro 10.000 in den 1980er Jahren auf jetzt etwa sechs pro 1000 angestiegen sind (vgl. hierzu insbe
sondere die Übersichtsarbeiten zu epide
miologischen Untersuchungen des Autis
mus von Fombonne [3, 33]). Die höheren Prävalenzangaben führten zu der Frage, ob die Häufigkeit autistischer Störungen in der Bevölkerung tatsächlich zugenom
men hat oder ob ein Artefakt vorliegt (vgl. auch [0, 68]). Poustka und Mitar
beiter haben darauf hingewiesen, dass ei
ne abschließende Beantwortung der Frage nicht möglich ist, da die älteren und neu
en Studien methodisch nicht miteinander verglichen werden können. Das liegt u. a.
daran, dass unterschiedliche diagnosti
sche Kriterien und Instrumente verwen
det wurden und einige Studien auf Schät
zungen mittels klinischer Stichproben be
ruhen und nicht auf repräsentativen Po
pulationen [68].
Hinsichtlich der Rezeption und wei
teren Entwicklung von Kanners und As
pergers Autismusverständnis soll u. a.
auf den holländischen Kinderpsychiater
21 Lorna Wing änderte auch die Bezeichnung von „Autistische Psychopathen“ in Asperger- Syndrom, da der Begriff „Psychopathie“ heute missverstanden werden könnte [104].
22 Hippler und Klicpera wiesen darauf hin, dass Asperger 1944 keine quantitativ-deskrip- tive Darstellung „seines“ Syndroms vornahm.
Die Autoren untersuchten deshalb 181 Kran- kenunterlagen von Kindern mit der Diagno- se „Autistische Psychopathie“ und mit Zügen derselben, die zwischen 1950 und 1986 von Asperger und seinen Mitarbeitern diagnosti- ziert worden waren [48]. Sie verglichen u. a.
die von Asperger beschriebenen Merkmale mit den heutigen ICD-10-Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom und fanden nur eine teilwei- se Übereinstimmung. Deshalb fordern sie u. a.
eine Überarbeitung der diagnostischen Krite- rien, auch und insbesondere im Hinblick auf die Unterscheidung vom Kanner-Autismus.
Dirk Arnold van Krevelen verwiesen wer
den, der sich schon frühzeitig und als ei
ner der ersten in Europa mit dem Autis
mus beschäftigte. Er verglich Kanners und Aspergers Beschreibungen und sah dar
in zwei verschiedene nosologische Syn
drome [100]. Auf die lange Zeit geführ
te Diskussion, ob und inwieweit sich die
se tatsächlich voneinander unterschei
den, soll an dieser Stelle nicht eingegan
gen werden (vgl. hierzu auch [79]). Bereits Anfang der 1970er Jahre wies Gerhardt Nissen aufgrund der mittlerweile groß
en Anzahl von Arbeiten über autistische Syndrome im Kindesalter auf die „babylo
nische Sprachverwirrung“ hin, die bei der diagnostischen und nosologischen Zu
ordnung bestünde [65]. Die Forschungs
bemühungen und konzeptuellen Verän
derungen seit ihren Erstbeschreibungen bis in die heutige Zeit hat Wolff umfas
send dargestellt [106].
Im Folgenden sollen einige Meilenstei
ne der Autismusforschung genannt wer
den, ohne dass dabei der Anspruch auf ei
ne vollständige Darstellung erhoben wird.
Neben van Krevelen waren es vor allem die Untersuchungen über den Verlauf der infantilen Psychosen von Michael Rut- ter in den 1960er Jahren, die zum besse
ren Verständnis des frühkindlichen Autis
mus führten. Rutter grenzte den frühkind
lichen Autismus von der Schizophrenie ab und sprach sich gegen die primäre Verur
sachung durch psychogene Faktoren aus, wobei er die Rolle biologischer Faktoren in der Genese hervorhob (vgl. zusammen
fassend in [80]). Ebenso bedeutend waren die Untersuchungen von Israel Kolvin, die den frühkindlichen Autismus und die Schizophrenie in der Kindheit hinsicht
lich verschiedener Merkmale wie Beginn, Phänomenologie, Familienanamnese u. a.
verglichen [56]. Uta Frith und Francesca Happé kommt das Verdienst zu, insbeson
dere die neuropsychologischen Defizite beim Autismus beschrieben zu haben [39, 6]. Ein weiterer Meilenstein war die Un
tersuchung von Simon Baron-Cohen et al., die erstmals bei autistischen Kindern eine Störung der „Theory of Mind“ (s. unten) nachweisen konnten [8]. Wing [105] und Gillberg [30, 1] erweiterten das Wissen um solche Aspekte wie den Verlauf und die Häufigkeit autistischer Störungen und
halfen, diagnostische Kriterien für das As
pergerSyndrom zu formulieren.
Michael Rutter und Eric Schopler ha
ben sich intensiv mit dem Problem be
schäftigt, wie die tiefgreifenden Entwick
lungsstörungen voneinander abzugrenzen sind und wie sie klassifiziert werden kön
nen [8]. Dabei sprachen sie sich für eine Erweiterung der diagnostischen Kriterien aus, die über eine reine Verhaltensbeur
teilung hinausgeht und neben der Symp
tomatik auch die Ätiologie und den Ver
lauf berücksichtigt. Sie hoben diesbezüg
lich die Vorteile eines multiaxialen An
satzes hervor. Des Weiteren forderten sie für das AspergerSyndrom eine separate diagnostische Kategorie innerhalb der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.
Schließlich ist es Rutter und anderen zu verdanken, dass spezifische Diagnoseins
trumente wie der „Social Communication Questionnaire“ (SCQ, [8]), die „Autism Diagnostic Observation Scale – Generic“
(ADOSG, [6]) und das „Autism Dia
gnostic InterviewRevised“ (ADIR, [83]) entwickelt wurden.3
In Deutschland ist es vor allem der Frankfurter Arbeitsgruppe um Fritz Poust- ka zu verdanken, dass diese Instrumen
te mittlerweile auch in deutscher Spra
che vorliegen [1, 15, 16]. Erst aufgrund der Anwendung solcher standardisier
ter Instrumente war es in der Folge mög
lich, vergleichbare epidemiologische Un
tersuchungen durchzuführen. Solche aus
gedehnten epidemiologischen Feldunter
suchungen führten dann auch dazu, dass das AspergerSyndrom 1991 bzw. 199 in die Klassifikationssysteme ICD10 bzw.
DSMIV als eigenständige diagnostische Kategorie aufgenommen wurde [79].
Aktuelle Aspekte
Diagnostische und differenzial- diagnostische Aspekte
Heute zählen die autistischen Störungen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstö
rungen, d. h. der Entwicklungsaspekt steht im Vordergrund. Im Wesentlichen unter
23 Die Kombination der genannten standar- disierten Verfahren hat sich heute bei der Dia- gnostik und vor allem im Forschungsbereich als
„goldener Standard“ durchgesetzt [16].
scheidet man innerhalb der so genannten AutismusSpektrumStörungen
F den frühkindlichen Autismus, F das AspergerSyndrom und F den atypischen Autismus.
Mit dem auch häufig verwendeten Begriff
„HighFunctioningAutismus“ werden Menschen mit frühkindlichem Autismus bezeichnet, die nicht geistig behindert sind oder wenigstens eine durchschnitt
liche Intelligenz aufweisen. Trotz einer zunächst verzögerten Sprachentwicklung verfügen diese Betroffenen über meist gu
te verbale Fähigkeiten (vgl. [68, 7]). Trotz der Vielzahl von Symptomen, einem wei
ten Spektrum an klinischen Manifestatio
nen und der großen Variationsbreite von Ausprägungsgraden finden sich bei allen Menschen mit einer autistischen Störung die Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation als ge
meinsames Charakteristikum. Diese Pro
bleme führen zu einer erheblichen Kon
taktstörung. Die Auffälligkeiten zeigen sich bereits in der frühen Kindheit, müs
sen konsistent und stringent während der gesamten Entwicklung zu finden sein, und sie bleiben in der Regel auch im Er
wachsenenalter erhalten [50].
Das „Sonderbare“, „Eigenwillige“, teils „Bizarre“ im Verhalten von autisti
schen Menschen erfordert in einigen Fäl
len die differenzialdiagnostische Abgren
zung zur Schizophrenie oder zur schizo
typen Störung im Erwachsenenalter. An
ders als bei den schizophrenen treten bei autistischen Menschen in der Regel kei
ne formalen Denkstörungen, psycho
tischen Symptome oder Halluzinationen auf. Bei den Schizophrenien fehlen cha
rakteristische Symptome des Asperger
Syndroms wie z. B. die Spezialinteressen oder sprachliche Besonderheiten. Zudem unterscheidet sich Autismus von Schizo
phrenie dadurch, dass der Störungsbe
ginn immer in der frühen Kindheit liegt.
Der Verlauf autistischer Störungen ist in
dividuell oft sehr variabel und hängt vor allem von den intellektuellen und sprach
lichen Fähigkeiten ab, wenngleich die ty
pischen Kernsymptome auch im Erwach
senenalter persistieren [50]. Im Gegensatz zur Schizophrenie verbessern sich im Er
wachsenenalter eher die Fähigkeiten im Sozialverhalten und der Alltagskompe
tenz. Auch wenn Leonhard den Begriff
„autistisch“ in Verbindung mit der Heb
ephrenie verwendet hat (s. oben), so ist mittlerweile unbestritten, dass zwischen den autistischen Störungen und dem heb
ephrenen Subtyp der Schizophrenie kein Zusammenhang besteht.
Ebenso ist die Abgrenzung gegenüber den Persönlichkeitsstörungen notwendig, so etwa die Unterscheidung des Asperger
Syndroms von der schizotypen Störung (ICD10) bzw. der schizotypen Persön
lichkeitsstörung (DSMIV). Die schizo
type Störung beschreibt am ehesten einen Übergangsbereich zwischen Persönlich
keitsauffälligkeiten und schizophrenen Erkrankungen. Menschen mit einer schi
zotypischen Störung erscheinen als Son
derlinge, wirken oft eigenartig, sind sozial ängstlich und leben häufig isoliert. Es fin
den sich bei den Betroffenen meist offen
sichtliche Probleme im zwischenmensch
lichen Bereich, die an das AspergerSyn
drom erinnern, wobei beim letzteren pa
ranoide Vorstellungen und Beziehungs
ideen oder magische Denkinhalte in der Regel nicht vorhanden sind [7]. Außer
dem verfügen Menschen mit einer schizo
typischen Persönlichkeitsstörung im Un
terschied zu Menschen mit autistischen Störungen durchaus über Fähigkeiten im Sinne einer Theory of Mind, die al
lerdings meist auf (sensitivparanoiden) Fehlannahmen beruhen [8]. Das trifft auch für die schizoide Persönlichkeitsstö
rung zu, die ebenfalls in die differenzial
diagnostischen Überlegungen einbezogen werden muss, denn auch diese Menschen zeigen häufig eine übermäßige Vorliebe für einzelgängerische Beschäftigungen und sind durch Phantasie und Introspek
tion beansprucht. Dazu sind sie in der Regel kühl und distanziert im zwischen
menschlichen Kontakt, verfügen über ei
ne eingeschränkte emotionale Erlebnis
und Ausdrucksfähigkeit und zeigen oft ein scheues, sonderliches Verhalten, das an autistisches erinnert [7].
Im Zusammenhang mit diesen dif
ferenzialdiagnostischen Betrachtungen muss jedoch berücksichtigt werden, dass verschiedene psychische Störungen als ko
24 Zur Geschichte der Konzepte der schizoiden und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen vgl. [86].
morbide Störungen vorliegen können. Da
bei sollte grundsätzlich versucht werden zu unterscheiden, ob die für den Autismus typischen Verhaltensweisen vielleicht nur verstärkt auftreten oder ob zusätzlich eine psychische Begleiterkrankung vorliegt. Zu den häufigen komorbiden Störungen des AspergerSyndroms gehören die Zwangs
störung, das TouretteSyndrom, die Auf
merksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstö
rung und affektive Störungen. Im frühen Erwachsenenalter sind dabei vor allem de
pressive Störungen relevant. Außerdem ist das Risiko für Menschen mit einer Autis
musSpektrumStörung erhöht, an einer Schizophrenie oder an einer anderen psy
chotischen Störung einschließlich schizo
affektiven und schizophreniformen Stö
rungen zu erkranken. In einer Untersu
chung von Stahlberg et al. anhand einer klinischen Stichprobe erfüllten 7,8% der Erwachsenen mit einer AutismusSpek
trumStörung zusätzlich die diagnosti
schen Kriterien nach DSMIV für eine schizophrene oder andere psychotische Störung [97]. Für Betroffene mit einem AspergerSyndrom besteht prinzipiell ein geringfügig erhöhtes Risiko, zusätzlich an einer Schizophrenie zu erkranken. In der genannten Studie von Stahlberg und Mitarbeitern waren bei % der Erwach
senen mit AspergerSyndrom gleichzeitig die Kriterien für eine Schizophrenie und bei 10% für eine andere psychotische Stö
rung erfüllt.
Im Zusammenhang mit dem Gesagten erscheint es deshalb sinnvoll, in größeren Abständen Verlaufsuntersuchungen vor
zunehmen, um die Ausprägung autismus
spezifischer Verhaltensweisen und ihre Auswirkungen auf die Alltagskompetenz beurteilen und mögliche psychiatrische Begleiterkrankungen rechtzeitig erfassen und ggf. behandeln zu können.
Ssucharewa hat bereits 196 den Beginn der Symptomatik in der frühen Kindheit und die fehlende Progredienz beschrie
ben und den Entwicklungsaspekt und das Fehlen eines schubförmigen Verlaufs als differenzialdiagnostisches Kriterium ge
genüber der Schizophrenie hervorgeho
ben [95]. Der Blick in die Vergangenheit kann noch weitere, für die Diagnostik wertvolle Erkenntnisse bringen. Asper
ger schrieb 19 bezüglich der differenzi
aldiagnostischen Abgrenzung zum schi
zophrenen Autismus: „Endlich und vor allem ist der komplexe, nicht weiter rück
führbare und zu präzisierende Gesamt
eindruck ganz anders, ob man vor einem Schizophrenen oder vor einem solchen Kinde steht…“ ([5], S. 95). Und einige Jah
re später präzisierte er:
„Dieser ungemein bezeichnende Eindruck, der dem Erfahrenen und mit einem gu- ten Blick Begabten unverwechselbar ist, daß man vor der Persönlichkeit des Geis- teskranken wie vor einer unübersteigbaren Mauer steht, …, das eben fehlt auch bei den schwerst verschrobenen Autistischen Psy- chopathen.“ ([3], S. 18).
Asperger fand zwar Merkmale des schizophrenen Autismus auch bei dem von ihm beschriebenen „Typus psycho
pathischer Persönlichkeiten“, aber es fehl
ten die Charakteristika der schizophrenen Erkrankungen wie der prozesshafte Ver
lauf, der typische Beginn mit psycho
tischen Symptomen (erst 195 erwähnte er bei seinen differenzialdiagnostischen Er
wägungen die hebephrenen Formen, die sich davon unterscheiden) und der fort
schreitende Persönlichkeitsabbau.
Die Hauptgründe für eine unsichere Beurteilung können deshalb in unzu
reichenden anamnestischen Informati
onen zur frühkindlichen Entwicklung liegen. Aber auch fehlende psychopatho
logische Kenntnis und geringe Erfahrung im klinischpsychiatrischen Bereich kann zur einseitigen Gewichtung bestimm
ter Symptome und somit zur diagnosti
schen Fehleinschätzung führen. Das un
reflektierte, ausschließliche Anwenden diagnostischer Klassifikationssysteme wie der ICD10 oder dem DSMIV reicht nicht aus und kann eine fundierte Explo
ration, die eine Befragung von engen Be
zugspersonen und möglichst eine Ver
haltensbeobachtung im Alltag beinhaltet, keinesfalls ersetzen. Gerade für die dif
ferenzialdiagnostische Abgrenzung sind deshalb fundierte psychopathologische Kenntnisse erforderlich.
Bemerkenswert ist in diesem Zusam
menhang, dass das klinische Expertenur
teil im Langzeitverlauf immer noch die höchste Validität und Stabilität besitzt [61]. Solange verlässliche biologische (ob
jektive) Marker fehlen, die auf die Diagno
se Autismus hinweisen, bleibt die subjek
tive Dimension der Diagnose bedeutend.
Im Zusammenhang mit der Diagnostik ist es außerdem wichtig zu betonen, dass Au
tismus keine kategoriale, abgrenzbare Er
krankung ist. Vielmehr ist der Übergang vom Kernautismus zur AutismusSpek
trumStörung oder zum atypischen Au
tismus und zum Vorkommen einzelner autistischer Züge bei einem Individuum fließend.
Rühl et al. haben kürzlich darauf hin
gewiesen, dass seit der Einführung der separaten Diagnose „AspergerSyndrom“
in die Klassifikationssysteme ICD10 bzw.
DSMIV eine kontroverse Diskussion um die Frage geführt wird, ob es sich beim
„Frühkindlichen Autismus“ um ein ein
deutig abgrenzbares Störungsbild han
delt oder ob es sich vom AspergerSyn
drom lediglich durch den Schweregrad unterscheidet [79]. Die Autoren seh
en auch aufgrund eigener Befunde, dass der frühkindliche Autismus und das As
pergerSyndrom „Eckpunkte“ auf einem Schweregradkontinuum sind. Deshalb kommen sie zu dem Schluss, dass die kate
goriale Diagnostik autistischer Störungen im Sinne eines dimensionalen (multiaxi
alen) Ansatzes modifiziert werden müss
te. Das in der Kinder und Jugendpsych
iatrie verwendete multiaxiale Klassifika
tionsschema entspräche einem solchen Vorgehen, denn es erlaubt die Beschrei
bung einer Störung auf mehreren Ebenen (insgesamt sechs Achsen). Zusätzlich ha
ben sich heute für die Diagnostik autis
tischer Störungen die bereits genannten Verfahren wie die Diagnostische Beob
achtungsskala für Autistische Störungen (ADOS) und das revidierte Autismus Di
agnostische Interview (ADIR) etabliert, die eine unentbehrliche Hilfe für die Un
tersuchung sind [16].
Die Suche nach den Ursachen für das Phänomen Autismus und die Rolle der experimentellen psychopathologischen Forschung In den letzten Jahren finden sich immer wieder Hinweise für eine biologische Pa
thogenese der AutismusSpektrumStö
rungen. So zeigen sich schon in der frü
hen Kindheit Anzeichen für eine Entwick
lungsstörung des Gehirns []. Dabei spie
len genetische Ursachen eine wesentliche Rolle. Es finden sich einerseits monogene
Erkrankungen (FragilesXSyndrom, tu
beröse Hirnsklerose, Phenylketonurie, SmithLemliOpitzSyndrom) und zy
togenetische Veränderungen bei autisti
schen Störungen (Duplikation von Chro
mosom 15q1113, Deletionen von Chromo
somen q37, 7q31 und q13.3). Die mo
lekulargenetischen Untersuchungen an Zwillingen und Familien von Betroffenen weisen aber darauf hin, dass eine Vielzahl von Genen an der Entstehung von Autis
mus beteiligt sein dürfte [35, 36, 3, 87, 99].
In den vergangenen Jahren konnten dies
bezüglich zahlreiche Genorte identifiziert werden, die auf verschiedenen Chromo
somen lokalisiert sind. In Kopplungsstu
dien zeigten sich Kandidatenregionen auf den Chromosomenabschnitten q133, 3q57, 3p5, 6q11, 7q, 7q3136 und 17q111. Eine Metaanalyse konnte ins
besondere die Region 7q3 bestätigen und beschrieb zwei weitere Genorte auf Chromosom 10p1q11.1 und 17p11.q1 [35, 36]. In Assoziationsstudien wurden die entsprechenden Kandidatengene auf den Chromosomen , 3, 7, 15 und 17 sowie auf dem Chromosom X untersucht. Dabei scheinen insbesondere Gene relevant zu sein, die die Entwicklung von Neuronen und Synapsen beeinflussen.
Dabei ist die grundsätzliche Frage, ob es sich bei den AutismusSpektrumStö
rungen um eine ätiologisch/pathogene
tisch identische Gruppe handelt, noch nicht abschließend geklärt. Allerdings spricht vieles dafür, insbesondere das Vorkommen von frühkindlichem Autis
mus mit Intelligenzminderung und des breiteren AutismusSpektrums in ein
und derselben Familie (breiter Phänotyp des Autismus). In diesem Zusammenhang sind die folgenden möglichen Mechanis
men denkbar:
1. Bei der Gruppe von Betroffenen mit frühkindlichem Autismus findet sich eine stärkere genetische Belastung als in der Gruppe mit einem Asperger
Syndrom („higher vs. lesser dose of genetic liability“).
. Zwei oder mehr Risikofaktoren sum
mieren sich und bedingen bei ent
sprechender Disposition zusätzlich zu der autistischen Kernsymptomatik die Intelligenzminderung („Twohit
Hypothese“, [81]).
In Untersuchungen zur Neuroanatomie fanden sich bei autistischen Menschen strukturelle Abweichungen in verschie
denen Hirnregionen. Diese Ergebnisse be
ruhen in der Regel auf PostmortemUn
tersuchungen oder auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren. Sie zeigen ei
ne allgemeine Vergrößerung des Hirnvo
lumens, vor allem des Frontal und Tem
porallappens und der zerebellären Hemis
phären [17, 0, 66, 90]. Derzeit wird zu
dem die unzureichende Vernetzung ver
schiedener zerebraler Areale diskutiert.
Aktuelle Untersuchungen lassen vermu
ten, dass das beschleunigte Hirnwachs
tum im ersten Lebensjahr mit anschlie
ßender verzögerter Ausreifung eine Ur
sache für die verminderte Konnektivität des frontalen Kortex mit anderen Hirnre
gionen sein könnte [3, 70].
Um zu einem vertieften Verständnis von AutismusSpektrumStörungen zu gelangen, spielt in gegenwärtigen Unter
suchungen das Konzept der sozialen Ko
gnition eine bedeutende Rolle, das mittels experimenteller psychopathologischer Methoden detailliert untersucht wird und mit der funktionellen Bildgebung auch in seinen neuronalen Grundlagen verstan
den werden kann. Die soziale Kognition umfasst Aspekte der Gesichtserkennung, der Empathie, der Emotionswahrneh
mung und des Erschließens mentaler Zu
stände (Theory of Mind).5 Die gegensei
tige Interaktion mit der sozialen Umwelt erfordert nicht nur die Berücksichtigung eigener Ziele, Absichten und Wünsche,
25 Ursprünglich stammt der Begriff aus der Verhaltensforschung an Primaten [69]. Von Baron-Cohen und Kollegen wurde 1985 erst- mals ein Defizit bzgl. der „Theory of mind“ bei autistischen Kindern beschrieben [8] und später durch Chris und Uta Frith näher spezifiziert [38].
Zum Begriff und zur historischen Entwicklung der Theory of Mind vgl. auch [34]. Bereits Asper- ger hat 1938 eine schwere Störung des „instink- tiven Verstehens“ angenommen [4]. Er meinte damit die Schwierigkeit der Kinder, den „Ton der Worte“, die „Mimik und Gestik“ anderer zu ver- stehen und adäquat zu reagieren, woraus eine Störung des Verständnisses für die Situation und der sozialen Beziehungen zu anderen Men- schen resultiert. 1944 wies er in seiner Arbeit über die „Autistischen Psychopathen“ darauf hin, dass diese nur ein unzureichendes Gefühl für den Respekt anderen Personen gegenüber haben, das er ein „Defekt im Verständnis für die andere Person“ nannte ([5] S. 125).
sondern auch die der anderen. Eine not
wendige Voraussetzung ist die Fähigkeit, Interaktionspartnern solche mentalen Zu
stände zuschreiben zu können, denn sie ermöglicht ein sozial adäquates Interagie
ren und Reagieren. Ist aber diese Fähigkeit eingeschränkt, kann es zu sozialen Proble
men im Alltag kommen.
Zahlreiche Untersuchungen zur Emo
tionswahrnehmung und zur Theory of Mind zeigen diesbezüglich deutliche Ein
schränkungen sowohl bei Menschen mit frühkindlichem Autismus als auch mit AspergerSyndrom [7]. Die neuronalen Grundlagen der beschriebenen sozialen Defizite sind aktuell Gegenstand auf ver
schiedenen Betrachtungsebenen neuro
wissenschaftlicher Forschung, vor allem der funktionellen Bildgebung (vgl. [18, 9]). Eine Übersicht über funktionelle Bildgebungsstudien zu Autismus und so
zialer Kognition haben unlängst Domes et al. gegeben [7]. Demnach sind funktio
nelle Veränderungen im Bereich des fu
siformen Gyrus und der Amygdala mit Defiziten in der Erkennung mimischer Emotionen assoziiert, und funktionelle Veränderungen im medialen präfronta
len Kortex finden sich bei beeinträchtig
ter Theory of Mind.
Kürzlich wurde auch eine Störung des Spiegelneuronensystems als Ursache der sozialen Defizite bei autistischen Stö
rungen angenommen [10, 103]. Diese Gruppe von Neuronen u. a. im inferioren frontalen Kortex (Pars opercularis) und im prämotorischen Kortex ist bei gesun
den Probanden aktiv, wenn Handlungen imitiert werden, aber auch wenn mi
misches Verhalten beobachtet wird [76].
Es wird daher vermutet, dass das Spiegel
neuronensystem an der Emotionserken
nung und dem Erschließen von Hand
lungsabsichten beteiligt ist.
Neuere Untersuchungen zeigen ver
minderte Volumina im inferioren fron
talen Kortex bei autistischen Menschen [5]. Außerdem fand sich bei Menschen mit Autismus eine verminderte neuronale Aktivität in diesem Areal beim Imitieren und Betrachten von mimischen Emoti
onen [5]. Obwohl bislang hinsichtlich der Störungsspezifität der beeinträchtigten Spiegelneuronenfunktion wenig bekannt ist, könnte eine frühe Störung in diesem neuronalen Netzwerk die Schwierigkeiten
autistischer Menschen erklären, die men
talen Zustände anderer zu erschließen bzw. mimische Emotionen zu erkennen.
Defizite in der Emotionserkennung und Theory of Mind könnten somit prinzipi
ell als das Ergebnis einer gestörten neuro
nalen Entwicklung begriffen werden, die durch genetische und Umweltfaktoren be
dingt sind [93].
Wenn sich auch einige Gemeinsam
keiten in der neurobiologischen Befund
lage zwischen autistischen und anderen psychischen Störungen finden, die auf ähnliche Besonderheiten in sozialkogni
tiven Fähigkeiten hinweisen, so gibt es ebenso große Unterschiede, und es stellt sich die Frage nach der Spezifität der be
richteten Untersuchungsbefunde. Sowohl auf Verhaltensebene als auch auf neuro
naler Ebene wurden Veränderungen der Emotionswahrnehmung auch bei ver
schiedenen anderen psychiatrischen Er
krankungen beschrieben, neben dem Au
tismus, auch bei der Schizophrenie [9], bei affektiven Störungen im Erwachse
nen [78] und Kindesalter [19] und bei Demenzen [55]. Man kann davon ausge
hen, dass erhebliche Überschneidungen zwischen den neurofunktionellen Verän
derungen bei verschiedenen psychischen Störungen vorliegen. Somit muss noch die Frage beantwortet werden, welche neuro
funktionellen Veränderungen spezifisch für autistische Menschen sind. Die Wei
terentwicklung der neuronalen Modelle und der experimentellen Paradigmen ver
mag eine solche Spezifizierung zukünftig ermöglichen.
Bei der Suche nach den zentralen Merk
malen finden sich beim Autismus die er
wähnten sozialen Einschränkungen, die wahrscheinlich durch zugrunde liegen
de Defizite der sozialen Kognition erklärt werden können. Die Unfähigkeit, zur Um
welt und den Mitmenschen in Beziehung zu treten und soziale Rollen zu überneh
men, besitzt einen zentralen Stellenwert, auch und vor allem in der heutigen Kon
zeption der autistischen Störungen. Da
bei sind die Voraussetzungen für eine so
ziale Interaktion nicht (Autismus als Ent
wicklungsstörung) oder nicht mehr (z. B.
bei schizophrenen Erkrankungen) gege
ben. Somit könnten die Einschränkungen in der sozialen Kognition als kleinster ge
meinsamer Nenner von Autismus, egal ob
als Symptom, Syndrom oder Krankheits
entität definiert, verstanden werden, die sich seit Beginn der Beschreibung dieses Phänomens als Konstante findet.
Korrespondenzadresse
Dr. E. Kumbier
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psycho- therapie, Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock
Gehlsheimer Str. 20, 18147 Rostock ekkehardt.kumbier@medizin.uni-rostock.de Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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