Lothar Krappmann: Rollen
Sozialisation und soziale Rolle, allgemein
Sozialisation:
Vorgang durch den das Kind in die Rollen eingeführt wird, die es als erwachsenes Mitglied der Gruppe beherrschen muss
Soziale Rolle:
(1) Rollenspiel von mindestens zwei Personen verlangt gemeinsames Symbolsystem, um sich über die jeweiligen Intentionen zu verständigen
(2) Rollenpartner orientieren ihr Handeln an vorgegebenen Normen, die komplementäre Verhaltenserwartungen formulieren
(3) Individuen handeln nicht völlig rollenkonform. Norm und faktisches Verhalten sind unterschieden
(4) Sanktionen positiver und negativer Art sollen für rollenkonformes Verhalten sorgen (5) System interagierender Rollenpartner verlangt Gleichgewichtsbedingungen und muss
selbstregulativ wirken
Lothar Krappmann: Rollen
Konventionelles Modell des Rollenhandelns
1. Erfolgreiches Rollenhandeln ist bei großer Übereinstimmung von individuellen und normativen Rollenverständnis gegeben. – Unklarheiten werden als Belastung für das Individuum gesehen und Bedrohung der Integration des sozialen Systems gesehen 2. Optimaler Weise orientiert sich das Individuum an einer Rolle. Diskrepanzen
zwischen Rollen verlangen eine Entscheidung. – Das Individuum, das mit Rollen im Konflikt lebt, wird als gefährdet betrachtet
3. Erfolgreiches Rollenhandeln ist dann gegeben, wenn die Rollenpartner überein- stimmen. – Rollenkonflikte werden als Devianzgefahr, als Gefahr der Abweichung, verstanden, Differenzen bringen den Interaktionsprozess in Gefahr.
4. Optimal für Rollenhandeln ist es, wenn alle Antriebspotentiale des Individuums in gesellschaftlichen Normen aufgehen können. – Nicht integrierbare Antriebspotentiale stellen mögliche Störfaktoren dar.
5. Im besten Fall stimmen die Bedürfnisse im Prozess gegenseitiger Bedürfnisbefrie- digung überein. – Unvollständige Bedürfnisbefriedigung bringt den Interaktions- prozess in Gefahr.
6. Quasi „automatische“ Rollenerfüllung sichert die Stabilität sozialer Institutionen, wenn die Individuen zugleich glauben, aus eigenem Antrieb zu handeln.
Lothar Krappmann: Rollen
Gegen den konventionellen Rollenbegriff
Der konventionelle Rollenbegriff
(1) zielt auf die Erstellung von Rollenkonformität ab
(2) erklärt nur die vergesellschaftende Seite des Sozialisationsprozesses (3) ist nicht in der Lage, den Individuierungsprozess zu beschreiben, in
dem sich das Individuum den Normen gegenüber kritisch und verändernd verhält
(4) kann die Einmaligkeit des Individuums nur als zufällige Einmaligkeit der individuell gewählten Rollenkombination erklären
(5) kann mit Kreativität, Spontanität und Konflikt im Rollenhandeln nichts anfangen, geschweige denn damit produktiv umgehen (6) lässt somit die zentralen Ergebnisse von George Herbert Mead
sträflich unbeachtet
Lothar Krappmann: Rollen
Rollenkonzept des Interaktionismus
Sechs Postulate:
1) Rollennormen sollen nicht rigide definiert werden, sondern Spielraum für subjektive Interpretation lassen, damit
2) Rollenpartner nicht nur die aktuelle Rolle übernehmen können, sondern auch noch die Möglichkeit haben, ihre weiteren Rollen zu verdeutlichen, so dass
3) deutlich wird, dass mehr als ein vorläufiger, versuchshafter, nur zeitweilig gültiger Rollenkompromiss gar nicht erforderlich ist.
4) Eine Übereinstimmung von individuellen Bedürfnisdispositionen und institutionali- sierten Wertvorstellungen ist gar nicht erwünscht. Deshalb müssen ...
5) die Rollenpartner in der Lage sein, auf die verschiedenen Bedürfnisse anderer Partner einzugehen und unter der Bedingung nur teilweiser Übereinstimmung und
Befriedigung eigener Bedürfnisse weiter erfolgreich interagieren zu können
6) Nicht Institutionen, deren Mitglieder automatisch Normen erfüllen gelten als stabil sondern solche, die den Mitgliedern Platz lassen, sich selbst einzubringen und die Normen mitzugestalten
Nicht nur „role taking“ sondern auch „role making“
Lothar Krappmann: Identität
Zwei Dimensionen der Erwartungen an das Individuum
die bei seinen Selbstpräsentationen an das Individuum gestellt werden die sich eigentlich gegenseitig ausschließen
Vertikale Zeitdimension – personal identity Anspruch, so zu sein wie kein anderer
Biografische Dimension – lebensgeschichtliche Perspektive
Horizontale Zeitdimension – social identity Anspruch so zu sein wie alle anderen
Normenkonform
Balancieren zwischen widersprüchlichen Polen, Gewinn von Ich-Identität Einerseits: trotz erwarteter Einzigartigkeit sich nicht isolieren lassen
Anderseits: sich nicht so vereinnahmen lassen, dass eigene Bedürfnisse nicht mehr eingebracht werden können
D.h.: Verhalten „als ob“ man
einzigartig sei – „phantom uniqueness“
wie alle anderen sei – „phantom normalcy“
Lothar Krappmann: Identität
Weg zur Identität
„Via negativa“ – Weg der Differenzierung von – Quelle im Gegenteil role taking:
Zunächst negiert das Individuum, was es vorher war und übernimmt, was die anderen erwarten – dann
role making
Das Individuum negiert die Erwartungen der anderen, um deutlich zu machen, was es in dieser Situation berücksichtigt wissen will
Individualistisches Intermezzo des bürgerlichen Ich?
Lust am schillernden Rollenspiel – Verzweifelter Versuch, durch behauptete Einzigartigkeit dem Chaos Sinn zu geben?
Nein:
„Die interaktionistische Analyse weist vielmehr nach, dass die Behauptung von Ich-Identität ein strukturelles Erfordernis des Interaktionsprozesses ist und
nicht metaphysische Spekulation.“
Lothar Krappmann: Identität
Balancieren ! – An den Rändern droht der Abgrund !
Gefahren am Rand der Einzigartigkeit
So „stigmatisiert“ scheidet das Individuum aus dem Prozess der
Interaktion aus, weil es sozialen Erwartungen in keiner Weise entspricht
Gefahren am Rand vollkommenen Eingehens auf die vielen unterschiedlichen Anderen
So „verdinglicht“ – Objekt nicht Subjekt – muss es sich zerteilen und sein Überleben in solch antagonistischen – grundsätzlich widersprüch- lichen – Lebensverhältnissen durch schizophrenes Verhalten sichern So gesichtslos geworden – durch chamäleonhaftes Verhalten – , wird das Individuum für die Interaktionspartner suspekt/riskant/gefährlich
„Die Interaktion mit einem Partner, der über seine eigenen Erwartungen und Bedürfnisse sowie über seine Konflikte und Lösungsstrategien
nichts zu erkennen gibt, ist sehr riskant“
Lothar Krappmann: Identität
Balancieren muss nicht immer gelingen
Interaktionismus ist kein Harmoniekonzept
Wir sind alle glückliche Interaktionsbeteiligte. – „Alles wird gut.“
Unterscheidung ist sehr wohl möglich zwischen ...
Inkonsistenzen, die aus unterschiedlich gelebten individuellen Balanceakten herrühren, bzw.
antagonistischen Verhältnissen, die versuchen, das individuelle Balancieren zum eigenen Vorteil unmöglich zu machen
Gelingt jedoch Balance, existiert Handlungsfreiheit gegen die Verhältnisse, die dem
„Stigmatisierten“ und „Schizophrenen“ verwehrt bleibt.
Beispiele:
Parsons: „Sonderfall der Interaktion“ – „Fall höchster Repression“
„total institutions“ – Gefängnisse, Anstalten für Geisteskranke, Diktaturen
„Ohne eine Minimum an Distanz gegenüber den vorgeschriebenen Rolle zu zeigen (bzw. zeigen zu können, bricht) Interaktion zusammen“
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität
Genese des Rollenhandelns in familialer Interaktion
1. Beziehung: Mutter – Kind 2. Beziehung: Eltern – Kind
Kind
Mutter Vater
Familie Gesellschaft
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität
Genese des Rollenhandelns - Grundqualifikationen
Rollendistanz:
Familiale Interaktion verlangt von den Beteiligten (...), dass sie Erwartungen zwar übernehmen („role taking“), sie aber so bewusst verfügbar halten, dass sie
kritisch interpretierbar und nach eigenen Bedürfnissen veränderbar bleibt.
Eher kognitiv und begründend – näher an der Autoritätsverinnerlichung – Autorität der Eltern
Ambiguitätstoleranz:
Familiale Interaktion verlangt von den Beteiligten, dass sie widersprüchliche Erwartungen nicht unterdrücken, sie ertragen und so produktiv in die weitere Interaktion einbringen können.
Eher emotional – näher an der Geschlechtsrollenverinnerlichung – Zusammenl(i)eben der Eltern
Die Genese des Antriebs, die eigene Identität zu behaupten,
folgt (a) aus der ödipalen Krise, die mit einer generalisierten Vorbildverinnerlichung endet und
folgt (b) auch aus einer intrinsischen (durch die Sache hervorgerufenen)
Problemlösungsmotivation, die eigene Identität zu behaupten und sich an einem
eigenen Gütekriterium zu orientieren
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität
Genese speziellerer Fähigkeiten
Empathie
ist die Fähigkeit, die Erwartungen des Partners im Rollenhandeln innerlich vorweg zu nehmen (-> „role taking“)
steht im Wechselspiel bzw. korreliert mit
höherer Intelligenz, größerer emotionaler Stabilität, genauerer gedanklicher Unterscheidung sowie höherer Verfeinerung bzw. Differenzierung der Sprache
Z.B.: Gutes „role taking“ korreliert mit den konkret operationalen Fähigkeiten nach Piaget.
Emotionale Stabilität
ist Voraussetzung und Produkt der Fähigkeit, Abstimmungen zustande bringen zu können, die höchste gegenseitige Bedürfnisbefriedigung ermöglichen
Die so entstehende Sicherheit motiviert besonders dazu, sich auf das „Risiko“ der Interaktion einzulassen
Differenzierte Sprache und Begrifflichkeit („elaborierter Kode“)
ist Voraussetzung und Produkt eines flexiblen Rollenspiels bzw. eines balancierten Interaktionssystems, das hohe Analyse- und Interpretationsleistungen verlangt und gleichermaßen fördert
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität
Differenzierte Sprache und Begrifflichkeit
Analytischer Sprachgebrauch ermöglicht
differenzierte Erkenntnis von Systemproblemen – Wie funktioniert das System?
präzise Aussagefähigkeit im Blick auf die Funktionsfähigkeit von Systemen sowie den Kontext zweckrationalen Handelns – Was erfordert eine bessere Funktionsfähigkeit?
Reflexiver Sprachgebrauch ermöglicht
die Herausarbeitung, Erkenntnis und Vermittlung von persönlichen Sinngehalten, die bislang so noch gar nicht direkt kommunizierbar waren – Ach, so wäre es für dich zufriedenstellend – versuch, mich doch bitte einmal so zu verstehen!)
Beide Fähigkeiten
(Begriffe stammen von Jürgen Habermas.)ergänzen einander wie Rollendistanz (->analytisch) und Ambiguitätstoleranz (->reflexiv)
Der Grundcharakter der psychischen Fähigkeiten
in einem balancierendem Interaktionssystem ist ausgerichtet auf lernfähige Individuen,
die neue Situationen und Probleme aufnehmen und „umfunktionieren“ können
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität
Störfaktoren der Qualifikationsgenese
Qualität äußerer Existenzbedingungen – Gruppe (I)
mangelnde Finanzen und mangelnder Wohnraum
Verschwinden des Vaters im Beruf, Invalidität, Arbeitslosigkeit
pflegebedürftige Familienmitglieder wie Großeltern oder Geschwister u.ä.
Die Unmöglichkeit, befriedigende Beziehungen zu unterhalten, kann die Balance in Interaktion und die Ausbildung entsprechender Fähigkeiten unmöglich machen
Klarheit der Unterscheidung der Generationsrollen – Gruppe (II)
Eltern bestehen unnachsichtig auf Normen und Standards „zum Wohle“ der Kinder
Einfluss der Berufswelt über das Rollenspiel des Vaters, z.B.: Normkonformität wird in der Mittelschicht belohnt und vermeidet in der Unterschicht nur Sanktionen/Strafen bürokratische und unternehmerische Subkultur, letztere fördert mehr die Eigenständigkeit
Ein Elternteil lebt in symbiotischer Beziehung zum Kind als Ersatzobjekt für den Partner
Klarheit der Unterscheidung der Geschlechtsrollen - Gruppe (II)
Zusammenwirken der Eltern ermöglicht Erlernen und Erfahren von Interaktionsbalance, ist ein Elternteil durch Beruf u.ä. eher unbeteiligt, wird dieser Lernprozess erheblich gestört.
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Lothar Krappmann: Entwicklung von Identität