Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
KONGRESS-BERICHT
Aufgrund neuer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Schmerzempfin- dung und Schmerzleitung zeichnen sich in der Schmerztherapie Ent- wicklungen mit zunehmender klini- scher Anwendung von neurophysio- logischen, anästhesiologischen und neurochirurgischen Alternativme- thoden zur systemisch-pharmakolo- gischen Schmerzbeeinflussung ab.
Für den großen Kreis der Schmerz- patienten kann von dieser Entwick- lung keinesfalls eine einfache oder einheitliche Behandlungsart erwar- tet werden.
Fortschritte sind nur schrittweise unter genauestmöglicher Analyse der individuellen Schmerzsituation und entsprechender Wahl der thera- peutischen Möglichkeiten zu errei- chen.
So werden in vielen Kliniken inter- disziplinär nach amerikanischem und schwedischem Muster sowie in Anlehnung an das Modell der von Frey in Mainz 1969 gegründeten Schmerzklinik entsprechende Be- handlungsstellen aufgebaut.
Auch in der Praxis werden neuere Methoden der Schmerzbekämpfung angewendet.
Das Symposion sollte diese Ent- wicklung und ihre Konsequenzen für Klinik und Praxis aufzeigen und dazu beitragen, entsprechende Pa- tienten kompetent beraten zu können.
Nach den heute gültigen Schmerz- theorien sind neben der systemisch- pharmakologischen Beeinflussung
prinzipiell vier Angriffspunkte möglich:
a) die Unterbrechung zentripetaler peripherer Nerven oder schmerzlei- tender Rückenmarksbahnen,
b) die Stimulation zentrifugaler Bah- nen des Rückenmarks,
c) die gezielte Stimulation endor- phinproduzierender Hirnareale, d) die Beeinflussung des sympathi- schen Nervensystems.
Neurochirurgisch können die ersten beiden Wege mit der Durchtrennung oder Koagulation peripherer Nerven beziehungsweise mit der Trennung schmerzleitender Rückenmarksfa- sern sowie mit der Elektrostimula- tion des Rückenmarks durch perku- tan eingeführte Sonden beschritten werden (Professor Dr. W. Winkel- müller, Neurochirurgische Klinik der Medizinischen Hochschule Hanno- ver). Neurochirurgische Behandlung zeichnet sich häufig durch hohe Ef- fektivität aus, ist jedoch wegen ihres definitiven Charakters im allgemei- nen die letzte Möglichkeit einer Schmerzbeeinflussung.
In der freien Praxis muß vor allem überlegt werden, welchem
„Schmerzpatienten" durch eine nichtmedikamentöse Behandlung sinnvoll geholfen werden kann. Frei- lich ist dies oft nur nach einem ent- sprechenden klinischen Konsil mög- lich. Doch lassen sich bei entspre- chender Erfahrung spezielle, akut auftretende, gutartige Schmerzzu- stände durch periphere Nerven- be- ziehungsweise Sympathikusblocka- den in der freien Praxis durchaus
erfolgreich behandeln (Dr. Folkert, Arzt für Allgemeinmedizin, Mainz).
Hierbei ist besonders die Bedeutung einer entsprechenden Schmerzthe- rapie durch krankengymnastische Maßnahmen hervorzuheben.
Große Bedeutung haben periphere Leitungsblockaden bei akuten und chronischen Schmerzzuständen, wenn die Schmerzen von einem de- finierten Nerven herrühren (Dr. Co- vic, Facharzt für Anästhesie, Kon- stanz). Die Blockaden müssen in Se- rien erfolgen und eventuell die Se- rien wiederholt werden.
Schmerzzustände, die nach heutiger Ansicht von der Affektion des sym- pathischen Nervensystems herrüh- ren, sprechen besonders auf Blok- kaden dieses Systems an (Professor Dr. Gerbershagen, Institut für Anäs- thesiologie der Universitätsklinik Mainz). Hierzu gehören vor allem Kausalgie und Phantomschmerz. So kann mehrmalige frühzeitige Sym- pathikusblockade einen Phantom- schmerz verhüten beziehungsweise endgültig beseitigen.
Als Resümee des Symposions kann festgestellt werden: Das Phänomen
„Schmerzen" muß zunehmend dif- ferenzierter betrachtet und entspre- chend unterschiedlicher behandelt werden. Für Klinik wie für Praxis er- geben sich hierdurch neue Aufga- ben. Die Schmerzbehandlung muß vielfach noch durch psychothera- peutische und physikalische Maß- nahmen unterstützt werden. Sie er- möglicht oder erleichtert diese Maß- nahme. Zumindest ein Teil der Schmerzpatienten wird durch ent- sprechend differenziertes Vorgehen besser und sinnvoller zu behandeln sein als durch systemische Medika- mentengabe. Insgesamt scheint sich die Schmerztherapie zur Zeit in ei- nem Stadium zu befinden, das Per- spektiven für weitere Entwicklungen eröffnet.
Professor Dr. med. Ina Pichlmayr Institut für Anästhesiologie der Medizinischen
Hochschule Hannover Karl-Wiechert-Allee 9 3000 Hannover 61
Schmerztherapie in Klinik und Praxis
Symposion der Medizinischen Hochschule Hannover,
Institut für Anästhesiologie (Direktor: Prof. Dr. Erich Kirchner), Bereich Oststadtkrankenhaus (Leiter: Prof. Dr. Ina Pichlmayr), am 6. Oktober 1979
3204 Heft 48 vom 29. November 1979