DER DEUTSCHEN MORGENLÄNDISCHEN GESELLSCHAFT
Von Hans Robert Roemer, Freiburg
Herr Präsident, Herr Senator, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehr¬
ten Damen und Herren!
Im Namen der Deutschen Morgeniändischen Gesellschaft, die den XXI. Deutschen
Orientahstentag nach Berhn einberufen hat, begrüße ich die hier versammelten
deutschen Orientahsten und ihre ausländischen Gäste.
Ich freue mich, den Senator für Wissenschaft und Forschung, Herrn Professor Dr.
Glotz, als Vertreter des Regierenden Bürgermeisters und des Senats von Berlin unter
uns zu sehen. Stellvertretend für die zahlreichen Behörden des Bundes und der Län¬
der, die auf unsere Einladung eingegangen sind, möchte ich die Kulturabteilung des
Auswärtigen Amtes nennen, die durch ihren Leiter, Herrn Ministerialdirektor Dr.
Kurt Müller, vertreten ist, für die wissenschaftlichen Körperschaften die Bayerische
Akademie der Wissenschaften, die Herr Professor Dr. Dr. Herbert Franke vertritt,
für die unseren Forschungsarbeiten so wichtigen Finanzierungsorganisationen nenne
ich die Stiftung Volkswagenwerk, für die ich deren Generalsekretär, Herrn Dr. Wal¬
ter Borst, begrüßen darf. Wir betrachten es als eine besondere Ehre, daß angesehene
wissenschafthche Einrichtungen mehrerer orientahscher Länder sich bei unserem
Orientahstentag vertreten lassen, nämÜch die Academie Arabe (Magma' al-luga al-
'arablya), Damaskus, durch Herrn Professor Dr. Shukri Faisal, das Institut d'Egypte
(al-Magma' al-llmi al-misri), Kairo, durch Herrn Professor Dr. Mohamed Mostafa,
die Universität 'Ain Shams, Kairo, und die Islamische Universität Omdurman (Su¬
dan), durch Herrn Professor Dr. Mustafa M. AI Shak'a, die Universite Mohammad
V, Rabat (Marokko), durch Herrn Professor Dr. Mohammed Hajji, die Punjabi Uni¬
versity, Patiala (Indien), durch Herrn Professor Dr. Avtar Singh, die Yarmük-Univer- sität, Irbid (Jordanien), durch Herrn Professor Dr. Mahmud Ghul, sowie die Univer¬
sität Tel Aviv durch Herrn Professor Dr. Haim Shaked.
Die deutschen Orientahsten haben es sich von jeher angelegen sein lassen, ihre
Kongresse aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Auch dieses Mal wird der Löwen¬
anteil der entstehenden Kosten aus den Beiträgen der Teilnehmer finanziert. Diese
ahein reichen aber für einen so großen Kongreß nicht aus, und so haben wir uns
wegen Beihilfen an die Berliner Regierung und die Deutsche Forschungsgemein¬
schaft gewandt, beide Male mit beachtlichem Erfolg, wofür wir herzlich danken.
Ein besonderes Wort des Dankes gilt dem Präsidenten der Freien Universität,
Herrn Professor Dr. Lämmert, der unseren Kongreß eingeladen hat, seine Veranstal¬
tungen in den Räumen seiner Universität abzuhalten.
Der diesjährige Orientahstentag bleibt, was die Zahl der Teilnehmer angeht, nicht
hinter seinen unmittelbaren Vorläufem von Erlangen und Freiburg zurück, auch
nicht hinsichthch der zu erwartenden wissenschaftlichen Mitteilungen. Nächst dem
hernach folgenden Festvortrag, für den wir Professor Rosenthal von der Yale-Uni¬
versität herzhch danken, dürfen wir sechs weitere Vorträge erwarten, die sich an den ganzen Kongreß, also nicht nur an einzelne Fachgruppen, richten, je einen afrika- nistischen, indologischen, islamwissenschaftUchen, anthropologisch-orientalistischen
sowie zwei öffentliche über das irdische Paradies - Landschaftsgestaltung in China sowie über die politische Rolle des Islam. Mehr als zweihundertfünfzig Referate ver¬
teilen sich auf vierzehn Fachgruppen. Machen sich allein in dieser Aufteilung Dif¬
ferenzierung und Spezialisierung der orientahstischen Fächer bemerkbar, noch
deuthcher werden sie in den besonderen Veranstaltungen der Sektionen „Indologie"
sowie ,, Kunst und Archäologie des Orients", in denjenigen des Arbeitskreises für
türkische Studien, der Ständigen Ägyptologen-Konferenz, in dem Symposium über
die Geschichte der religiösen Institutionen des Maghrib sowie in den beiden Kollo¬
quien für Nag'-Hammadi-Studien und Gatha-Forschung.
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Der Indologe Heinrich Lüders hat 1934 in der Schlußsitzung eines Orientahsten¬
tages erwähnt, man habe auf die Einrichtung von Sektionen oder Fachgruppen ver¬
zichten und so allen Teilnehmern die Gelegenheit geben können, sich auch über den
Fortgang der Studien in den Nachbardisziplinen zu informieren, eine Möghchkeit, von der heute keine Rede mehr sein könnte.
Im weiteren Verlauf seiner Ansprache hob Lüders hervor, in den nächsten fünfzig Jahren werde es sich zeigen, daß der Orient für Europa eine ganz andere Bedeutung
habe, als es zur damaligen Zeit noch vielfach habe scheinen können. Was für eine
Entwicklung Lüders vorschwebte, wissen wir nicht. Doch nun, da sich die von ihm
beschworenen fünfzig Jahre ihrem Ende zuneigen, hat sich die Bedeutung des Orients für Europa tatsächlich von Grund auf geändert. Nicht nur, daß die damals allmächti¬
gen Staaten des Westens unversehens sogar in wirtschafthche Abhängigkeit vom
Orient geraten sind, auch die damals in vielen Ländern Asiens und Afrikas obwaltende
Bereitschaft zur Übernahme abendländischer Vorstellungen von Staatswesen und
PoUtik, von technischer Zivihsation, ja sogar europäischer Geisteskultur gehören
beinahe schon der Vergangenheit an. Ganz andere Strömungen haben sich dort her¬
ausgebildet. Wir brauchen nur an das spektakuläre Wiederaufleben des Islams und
seinen Einfluß auf die politische Entwicklung im Orient und die Weltpohtik zu
denken. Ein Phänomen, das manche Kenner der Verhältnisse noch vor ein paar
Jahren für unmöglich gehalten hätten.
Dieser Wandel des Orients — und was wir vom Vorderen Orient sagten, gilt mu¬
tatis mutandis auch für andere Regionen Asiens und Afrikas — hat weitreichende
Konsequenzen. Sie erstrecken sich auch auf die Aufgaben der Orientahsten. Nicht
als ob sie die geistigen Wegbereiter pohtischer Tendenzen des Westens zu sein hätten, wie es etwa Edward Said seinen orientahstischen Kollegen in den Vereinigten Staaten,
in Großbritannien und Frankreich vorwirft. Ihnen obhegt es, das Wesen der neuen
Strömungen zu erkennen und seine geistesgeschichtlichen Voraussetzungen zu analy¬
sieren. Informationen darüber kann die Öffentlichkeit von ihnen verlangen under-
warten. Gerade letzthin hat sich gezeigt, daß sie es sich auch nicht leisten kann, dar¬
auf zu verzichten.
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Der Tour d'horizon am Firmament der Geisteswissenschaften, ein herkömmlicher
Bestandteil der Eröffnungsansprache unserer Orientahstentage, gilt Problemen der
orientalistischen Fächer, die in der jüngsten Vergangenheit akut geworden sind. Das Schicksal unseres wissenschaftlichen Nachwuchses, das uns schon seit einigen Jahren unter den Nägeln brennt, ist inzwischen noch schwieriger, noch fragwürdiger gewor¬
den. Die bei früheren Orientalistentagen geäußerten Sorgen haben sich als begründet erwiesen. Es gibt inzwischen habilitierte Orientalisten, die weder in den Fakultäten,
in denen sie die Venia legendi erworben haben, noch anderswo ein Auskommen
finden, weil die Zahl der entstehenden Vakanzen, von neu hinzukommenden Stellen
zu schweigen, aus bekannten Gründen zu gering ist. Zwar sind auch sie durch die
allgemeinen sozialen Sicherungen, deren Schutz Stellungsuchenden bei uns zugute
kommt, vor der ärgsten Not bewahrt, nicht aber vor der Sorge um ihre berufliche
Zukunft. Trotz des inzwischen funktionierenden Heisenberg-Stipendiums, einer an
sich dankbar begrüßten Übergangslösung, hat sich daran für manche der Betroffenen nichts geändert. Es sieht so aus, als sei die für Bewerber gezogene Altersgrenze zu
eng. Wenn die Altersgrenze, wie mir bekannt ist, auch großzi^ig gehandhabt wird,
so lassen sich durch die in Ausschreibungen genannten Zahlen doch manche Bewer¬
ber abschrecken. Orientahstische Habilitationen erfolgen wohl im Durchschnitt
später als diejenigen anderer Fächer, was mit den besonders schwierigen Sprachbar¬
rieren und unvermeidlich langen Orientaufenthalten zusammenhängen mag. Andere
Hilfsaktionen greifen einstweilen noch nicht, so etwa das Unterstützungsprogramm
des Hochschulverbandes, das zwar beschlossene Sache ist, dessen Durchführung aber
noch aussteht. Wieder andere sind wohl nicht hinreichend bekannt geworden, wie
das - übrigens nicht auf Habilitierte beschränkte - Überbrückungsprogramm für
aus dem Ausland heimkehrende Wissenschaftler, das die Deutsche Forschungsge¬
meinschaft verwaltet. Über Einrichtung und Verwendung von Zeitprofessuren bei
den Universitäten, die in den gesetzlichen Bestimmungen zwar vorgesehen, einstwei¬
len aber nur in Ausnahmefällen verfügbar sind, lassen sich im Augenblick noch keine
näheren Angaben machen. Vermutlich wird aber der Dispositionsspielraum der Uni¬
versitäten dabei nicht allzu weit reichen, weil bei der fachhchen Zuordnung mögh¬
cherweise die von den Länderparlamenten erlassenen Strukturpläne maßgebend
sein dürften.
Unterdes mehren sich die Stimmen über den nächstens zu erwartenden Rückgang
des Massenandrangs zu den Universitäten, gewöhnlich verbunden mit optimistischen
Prognosen für die sich dann auftuenden Möglichkeiten intensiverer Forschung, eine
Zuversicht dazu angetan, Professoren und Assistenten aufatmen zu lassen, die sich
in den orientalistischen ebenso wie in allen anderen Fächern durch die derzeitigen
Stundendeputate neben ihrer Pflicht zur Forschung eindeuüg überfordert fühlen.
Ob dann wirkhch herrliche Zeiten anbrechen? Skepsis ist am Platz. Denn mit fallen¬
den Studentenzahlen pflegen erfahrungsgemäß Personalrestriktionen Hand in Hand
ZU gehen. Auch dann werden die Bäume der orientahstischen Forschung wohl nicht in den Himmel wachsen.
Zudem trennt uns ja von jener Entwicklung noch ein ganzes Lustrum. Andere
Fragen liegen uns zur Zeit näher. Darunter solche, die nicht unmittelbar aus unseren Amtspflichten, sondern aus eher moralischen Postulaten herrühren. Etwa solche, die mit der großen Zahl von Türken zusammenhängen, die als Gastarbeiter zu uns gekom¬
men und längst unsere Mitbürger geworden sind. Die Orientahsten, wenigstens die
Turkologen und Islamisten unter ihnen, kann die immer lauter werdende Forderung
nach einem besseren Schulunterricht für türkische Kinder betreffen, insoweit näm¬
lich, als sie nur erfüllt werden kann, wenn genug deutsche Lehrkräfte mit türkischen
Sprachkenntnissen zur Verfügung stehen. Wenn auch schon an einzelnen Universi¬
täten entsprechende Lehrangebote für Lehrer und Lehrerstudenten gemacht wer¬
den, mit einer regelrechten Ausbildung hat es noch gute Weile. Es ergibt sich schon jetzt ein Tätigkeitsfeld für die betroffenen Orientahsten, in der Regel türkische
Sprachkurse und Landeskunde. Leider stehen immer noch die Ergebnisse einer dies-
bezüghchen Erhebung der Ständigen Konferenz der Kultusminister aus, die für ge¬
zielte Maßnahmen der Universitäten und zur Koordinierung der einzelnen Akrivi-
täten von Bedeutung wären. - In diesen Zusammenhang gehören auch Einzelfälle
von Schülern orientahscher, nicht nur türkischer, Herkunft, die von Oberschuläm¬
tern an einzelne Orientahsche Seminare herangetragen werden wegen Prüfungen in
deren Muttersprache, die sie als zweite Fremdsprache in Gymnasien neusprachlicher
Richtung bei den Abschlußprüfungen einbringen möchten. Im allgemeinen sehen
die Orientalisten in derartiger Amtshilfe, die ja nicht zu ihren Dienstobhegenheiten zählt, ein nobile officium.
Nun gibt es in der Orientalistik aber auch freundhchere Aspekte als die bisher
behandelten Nöte. Etwa die frohe Botschaft, daß der vor kurzem gestiftete Heinz-
Maier-Leibnitz-Preis in diesem Jahr - neben Toxikologie und Strömungsmechanik
— zum ersten Mal für ein orientalistisches Fach, für die Islam Wissenschaft, ausge¬
schrieben wird. Es ist ein Preis für junge Gelehrte, die sich durch eine hervorragende
wissenschaftliche Veröffenthchung ausgezeichnet haben. — Wir freuen uns auch
über die Tatsache, daß die beiden von der Stiftung Volkswagenwerk anfinanzierten Lehrstühle für Politik und Zeitgeschichte bzw. Volkswirtschaft des Vorderen Orients hier an der Freien Universität Berhn eingerichtet werden. Wie zu hören ist, sind die
Maßnahmen zu ihrer Besetzung bereits in einem vorgerückten Stadium angelangt.
Damit ist insofern ein Novum geschaffen, als das Postulat erfüllt wurde, orientbezo¬
gene Disziphnen auch in solchen Fakultäten anzusiedeln, in denen die herkömmh¬
chen orientahstischen Fächer nicht beheimatet sind. Hohe Erwartungen knüpfen
sich an die dadurch an der Freien Universität möghch gewordene Forschung zu Ge¬
genwartsproblemen des Vorderen Orients. Die seinerzeit bei Gelegenheit einer von
unserer Gesellschaft durchgeführten Erhebung von Orientahsten aller Fächer aus¬
gesprochene Forderung nach einem stärkeren Ausbau der gegenwartsbezogenen Dis¬
ziplinen hat aber auch sonst ein starkes Echo gehabt, auf das bei späterer Gelegen¬
heit noch zurückzukommen sein wird.
Hier sollte auch erwähnt werden, daß die zweibändige Denkschrift ^/e/«eFac/ier,
eine vom Hochschulverband im Auftrag des Ministeriums für Bildung und Wissen¬
schaft erarbeitete Struktur- und Funktionsanalyse, auf so rege Nachfrage gestoßen
ist, daß die erste Auflage seit Jahren vergriffen und im vergangenen Jahr durch eine
zweite Aufläge ersetzt worden ist. Wie erinnerhch, befinden sich unter den behan-
dehen „Kleinen Fächern" auch zwanzig orientahstische, also praktisch alle, die es an deutschen Universitäten gibt.
Das nämliche Bundesministerium ist im letzten Sommer von der Bundesregierung
damit beauftragt worden, die Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag bezüg¬
hch des Standes der gegenwartsbezogenen Orientforschung vorzubereiten. Dabei
wurde festgestellt, daß die bei uns auf diesem Gebiet geleistete Arbeit sich mit der¬
jenigen anderer Länder in qualitativer Hinsicht sehr wohl messen kann, daß aber
die Quantität der bestehenden Forschungseinrichtungen und der darin beschäftig¬
ten Fachleute weit hinter dem zurückbleibt, was es in vergleichbaren Ländern der
westhchen Welt gibt.
Wenn in der Eröffnungsansprache eines so weit gefächerten geisteswissenschaft-
hchen Kongresses wie des unsrigen ein Rechenschaftsbericht über die etwa seit dem
letzten Orientahstentag geleistete Forschung sich von selbst verbietet, so sind doch einige Angaben über die Eigenart eines Teiles dieser Arbeit möghch. Hierhergehört die Sicherstellung und Ersdiließung des Forschungsmaterials. In diesem Zusammen¬
hang ist das Verzeichnis der Orientalischen Handschriften Deutschlands zu nennen, ein Unternehmen, in dem seit dem Jahre 1957 diejenigen orientalischen Handschrif¬
ten erfaßt werden, die nach Erscheinen der vornehtnlich zwischen 1850 und 1910
erarbeiteten Kataloge erworben wurden. Es handelt sich um Bestände, die mehr als
70 000 Handschriften umfassen. An diesem Unternehmen sind Gelehrte fast aller
orientalistischen Arbeitsgebiete beteiligt. Mehr als achtzig Bände sind bisher als
Frucht dieses Projektes veröffentheht worden, und das Ende der Arbeit ist noch
nicht in Sicht. Eine vergleichbare Bereitstellung von Material, wenn auch in fachhcher
Hinsicht nicht ebenso vielseitig, leistet das Unternehmen zur Verfilmung von
Handschriften nepalesischer Samtnlungen, durch das seit Jahren Handschriften¬
schätze für die Indologen vefügbar gemacht werden, die in der Regel bis dahin nicht
einmal durch Kataloge erschlossen waren. Über Einzelheiten dieser beiden Arbeits¬
vorhaben wird am kommenden Mittwoch in der Allgemeinen Versammlung unserer
Gesellschaft berichtet werden. Ein Untemehtnen weniger weitgehenden Umfangs,
das ebenfalls in den Rahmen der Erschließung bisher unzugänglichen oder gar ge¬
fährdeten Kulturguts gehört, dient der Erfassung arabischer Handschriften maureta¬
nischer Sammlungen. Dabei handelt es sich um Tausende von Handschriften, meist
aus der Zeit vom 15. bis 19. Jahrhundert, die über historische, biographische und
rechthche Verhältnisse, vornehmlich beduinischer Stammesgemeinschaften, Aus¬
kunft geben.
Heutzutage ist ein auffallendes Kennzeichen der wissenschaftlichen Arbeit, auch der orientalistischen, eine starke Differenzierung und eine sich daraus ergebende
Speziahsierung. Ein Blick auf die Vita unserer Vorgänger vor hundert oder mehr
Jahren wäre geeignet, ob deren breiter geisfiger Horizonte Minderwertigkeitskom¬
plexe in uns zu erregen. Daß auch heute vielschichtige Probleme, weitgespannte Zu¬
sammenhänge wichtige Aufgaben darstellen können, vor denen der Spezialist kapi¬
tulieren müßte, ist unbestritten. Abhilfe verspricht das Postulat derinterdisziphnären
Zusammenarbeit. Der institutionelle Rahmen, in dem sie sich bei uns vollziehen
kann, ist der Sonderforschungsbereich, wie ihn vor längeren Jahren die Deutsche
Forschungsgemeinschaft ins Leben gerufen hat. Auch orientahstische Fächer sind an einer Reihe von Sonderforschungsbereichen beteiligt, mitunter sogar in erhebli¬
chem Umfang. Der Skepsis, mit der die interdisziphnäre Zusammenarbeit zunächst
zu rechnen hatte, mag nach Jahren der Erprobung eine positive Haltung gefolgt
sein. Jetzt liegen ja nachprüfbare Ergebnisse interdisziphnärer Arbeit vor. Ich greife
aus mehreren bestehenden den mir am besten bekannten Tübinger Atlas des Vor¬
deren Orients (TAVO, Sfb. 19) heraus. Er besteht seit mehr als zehn Jahren und
umfaßt auf der einen Seite Altorientahstik, Ägyptologie, alttestamentliche Wis¬
senschaft, Islamwissenschaft, Judaistik, die Wissenschaft vom Christhchen Orient
und Biblische Archäologie, auf der anderen Prähistorie, Geschichte, Geographie,
Geologie und Botanik. Zahlreiche Karten sind inzwischen pubhziert worden, dar¬
über hinaus eine ganze Anzahl vorbereitender oder begleitender Monographien. Ohne
die Beurteilung der Einzelleistungen zu präjudizieren, wird man sagen können, daß
dieses interdisziplinäre Arbeitsvorhaben geglückt ist, und zwar zum Vorteil der be¬
teiligten Fächer, auch der orientalistischen, denen es fruchtbare Impulse gebracht hat.
Ich erwähne die Tübinger Erfahrungen wegen der beispielhaften Bedeutung, die
sie für unsere Fächer haben könnten, zugleich aber auch aus einem akuten Anlaß.
Das Hochschulrahmengesctz und, von diesem ausgehend, die Universitäts- bzw.
Hochschulgesetze der Länder schreiben zwingend die Zusammenlegung fachhch ver¬
wandter Universitätseinrichtungen vor. Die entsprechenden administrativen Ma߬
nahmen werden zur Zeit von den Ministerien vorbereitet. Bei den Vorschlägen, zu
denen die Universitäten aufgefordert werden, könnte, was die orientalistischen Fächer angeht, zwischen denen untereinander ja auch interdisziplinäre Zusammenar¬
beit in Frage kommt, das Tübinger Beispiel Bedeutung haben. Allgemein gültige
Empfehlungen lassen sich wegen der von Fall zu Fall gegebenen Besonderheiten
nicht machen.
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Deutscher Orientalistentag in Berlin! Zusammenkünfte von Orientalisten sind
für Berlin keine Seltenheit, wurde doch hier schon 1881 der fünfte Internationale Orientalistenkongreß abgehalten zu einer Zeit, als die meisten orientalistisehen
Disziplinen soeben die Feuerprobe der kritischen Methode bestanden, andere da¬
gegen, wie etwa mein eigenes Fach, die Islamwissenschaft, sich gerade als selbstän¬
dige wissenschaftUche Arbeitsgebiete etablierten. Bereits der zweite Deutsche
Orientalistentag trat 1923 in Berlin zusammen.
Ich selbst hatte in meiner Studentenzeit Gelegenheit, Berlin als ein Zentrum der Orientalistik kennenzulernen, an dem so gut wie alle orientaUstischen Arbeitsgebiete
vertreten waren, in der Regel durch Fachleute ersten Ranges. In den dreißiger
Jahren und dann durch den Krieg ist diese blühende Orientalistik fast ganz zerstört
worden. Die Berliner Orientalisten können den Ehrentitel für sich in Anspruch
nehmen, mit unendlichen Mühen und unbeugsamer Zähigkeit den Stand früherer
Zeiten wiederhergestellt und in mancher Hinsicht sogar übertroffen zu haben. Das
gilt nicht nur für die UniversitätsorientaUstik, sondern auch für die großen Samm-
lungen wissenschaftlicher Literatur, von Handschriften, von Kunstwerken und an¬
deren Zeugnissen der Kulturen des Orients, deren Schätze in den hiesigen Biblio¬
theken und Museen verwahrt werden. Vorgänge und Entwicklungen, die zu diesen
Erfolgen führten, bilden ein faszinierendes Kapitel der deutschen Kulturgeschichte,
dem nachzugehen eine lohnende Aufgabe wäre, die hier allerdings nicht behandelt
werden kann.
Die deutschen Orientalisten freuen sich, im Kreis der ausländischen Gäste der
Veranstaltung mit ihren Berliner Kollegen an der Stätte ihres Wirkens zusammen¬
zutreffen und ihre Einrichtungen, von denen so viele wieder internationalen Ruf
erworben haben, kennenzulernen. Wir danken Ihnen für die Einladung nach Berlin
und Ihrem Organisationskomitee mit all seinen Helfern für die ganze Arbeit, die mit
Vorbereitung und Durchführung dieser Tagung verbunden ist.
Der XXI. Deutsche Orientahstentag ist eröffnet.
DIE KRISE DER ORIENTALISTIK
Von Franz Rosenthal, Yale
Es scheint mir bemerkenswert, wie sehr sich die praktischen Probleme der Wis¬
senschaft heutzutage in der ganzen Welt ähnhch sind. Wenn eine Universität in den
Vereinigten Staaten irgendwelche Reformen einführt oder auch nur in Aussicht
steht, werden zur selben Zeit überall in dem großen Land dieselben Reformen von
den meisten anderen Universitäten eingeführt oder jedenfalls erwogen. Und wenn
man mit KoUegen in anderen Teilen der Weh spricht, stellt es sich meist sehr bald
heraus, daß sie aUe den gleichen Schwierigkeiten gegenüberstehen und dieselben
Hoffnungen hegen. Selbst solch scheinbar bedeutende Unterschiede, wie der tradi¬
tionelle Privatcharakter der amerikanischen Universitäten gegenüber der vorwiegen¬
den Regierungsaufsicht über das Erziehungswesen in europäischen Ländern, spielen
ganz und gar nicht ein solch große Rolle, wie man es erwarten dürfte. Aus diesem
Grunde können meine Betrachtungen über die gegenwärtige Lage der Orientalitsik vieUeicht Ihr Interesse verdienen. Doch es ergibt sich daraus auch, daß alles, was ich zu sagen habe, Ihnen schon längst bekannt sein dürfte und sicherhch schon bei wei¬
tem besser und tiefer durchdacht und ausgedrückt worden ist, als ich es vermag.
Vor allem bitte ich Sie jedoch, meine Ausführungen nicht mit dem strengen Maßtabe
objektiver WissenschaftUchkeit zu beurteilen, sondern als die persönhchen Gedan¬
ken und Gefühle eines der Geringsten unter Ihnen hinnehmen zu wollen.
Es ist schwer für mich, ja ganz unmöghch, an dieser Stelle nicht fast fünfzig Jahre
zurückzudenken, als der Gymnasiast begann, sich ein Studiengebiet zu wählen, und
sich für die Orientahstik, verbunden mit der schon vertrauten klassischen Philologie, entschied.
Obgleich die Wichtigkeit anderer Wissenschaften mir immer durchaus klar gebhe¬
ben ist, habe ich meine Entscheidung nie bereut. Die Wahl der Berliner Universität war selbst für einen gebürtigen Berliner eine sehr glückliche. Besonders dankbar habe ich aber dem Geschick dafür zu sein, daß Hans Heinrich Schaeder mein Mentor
wurde. Es waren das die Jahre, in denen er auf dem Höhepunkt seines Lebens und
Schaffens stand. Seine großartige geistige Lebendigkeit und glühende Begeisterung
für alle Wissenschaft mußte auf jeden Studenten, der auch nur die geringste Bega¬
bung besaß, ansteckend wirken. Er war ständig bereit, selbst den Anfänger ernst zu
nehmen, auf dessen unreife Ideen einzugehen und sie mit Hilfe seines eigenen um¬
fassenden Wissens und Verständnisses wertvoll erscheinen zu lassen. Und bei all
seinem Interesse an den großen geschichthchen Zusammenhängen, wie er sie in sei¬
nem Werk dargestellt hat, war er doch stets der gewissenhafte Schulmeister beson¬
ders im Sprachunterricht, weil er sich dessen bewußt war, daß stete Übung und