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ÖUNAID UND HALLAÖ'S IBLIS

Von Benedikt Reinert. Winterthur

Das 6. Kapitel des Kitäb at-Tawäsin von Halläg (st. 922) bildet einen

Markstein in der Entwicklung der muslimischen Satanologie und hat diese

direkt oder indirekt bis in unser Jahrhundert beeinflußt^.

Wie jede muslimische Satanologie basiert auch die des Halläg auf der

Erzählung vora Sturze Satans, die der Qur'än an sieben verschiedenen

Stellen bald kürzer, bald ausführlicher berichtet^ und die letztlich auf hag-

gadische, allenfalls christlich vermittelte Quellen zurückgekht'. Sie be¬

steht aus vier für unsere Untersuchung relevanten Motiven: (A) Als einzi¬

ger Engel trotzt Iblis Gottes Aufforderung, sich vor dem eben erschaffenen

Adam niederzuwerfen. (B) Aus Hochmut, (istikbär), heißt es, denn er fühlte

sich Adam überlegen, weil er aus Feuer, jener nur aus Erde erschaffen sei.

(C) Für die solchermaßen begründete Befehlsverweigerung wird er von

Gott verstoßen und verflucht (D) Um sich hierfür zu rächen, will er fürder-

hin die Menschen zur Sünde verführen.

Lange vor Halläg hat der dramatische Mythos die Muslime zu den ver¬

schiedensten Interpretationen, Umdeutungen und Neugestaltungen ange¬

regt. Als erste beschäftigte er die Theologen. Die Prädestinatianer fanden

im Iblis-Drama Anhaltspunkte für die Leugnung der Willensfreiheit. Schon

Hasan b. Muhammad b. al-Hanafiya (um 700) weist daraufhin, daß die von

Gott dem Satan verliehene Seelenstruktur diesen zwangsläufig zur Überhe¬

blichkeit (Motiv B) und in der Folge zur Bosheit (Motiv D) brachte". Später

vmrde das Problem unter dem Titel des Begriffpaares amr (Befehl) und

iräda (Willen) diskutiert': Gott befahl Iblis die Prosternation, wollte

' Eine wichtige Mittlerfurüition beim Nachwirken der Halläg'schen Satanologie

kommt Almiad Gazzäli (st. 1126) zu (vgl. H. Ritter: Das Meer der Seele. Leiden

1955, S. 540). Bemerkenswert ist vor allem die Kosmologie von Ahmad's Schüler

'Ainulqudäti Hamadäni (st. 1132), die aus der Halläg'schen Gegenüberstellung von Iblis und Muhammad entwickelt ist (vgl. Tamhidät, 10. a§l. Ed. 'Usairän. Teheran 1341 hä., S. 254 ff.). In der synkretistischen Satanologie Muhammad Iqbäls steht - wie ich A. Bausani's scharfsinniger Studie Satana nell' opera filosofico-poetica di

Mvhammad Iqbal. In: RSO 30 (1957), S. 55-102, entnehme - die Halläg-sche Rich¬

tung offenbar nicht mehr im Zentrum der Betrachtung.

^ In extenso behandelt von Edmund Beck: Iblis und Mensch, Satan und Adam.

In: Le Mus6on 89 (1976), S. 195-244. Die einzelnen Stellen sind - in der von Beck ermittelten chronologischen Reihenfolge: 38, 71-83; 15, 28-40; 17, 61; 18, 50; 7,

11-18; 20, 116; 2, 34.

' Vgl. Beck, 1.1. 211. Zur These des christlichen Einflusses H. Speyer: Die

biblischen Erzählungen im Qoran. Neudruck Hildesheim 1961, S. 54ff.

Vgl. J. VAN Ess: Anfänge muslimischer Theologie. Beirut 1977, S. 38ff.

' Einschlägiges Material dazu beiMASiONON: La Passion d'al-Hallaj. Paris 1922, S. 642 ff.; Ders.: Kitäb at-fawäsin. Paris 1913, S. 145 ff. Dankbar nehme ich hier

eine Anregung von Herrn van Ess auf der das Problem im Anschluß an mein Refe¬

rat zur Sprache brachte.

(2)

jedoch, daß er sie verweigere. Eine öa'far as-§ädiq (st. 765) zugeschrie¬

bene Folgerung besagt: Hätte Gott die Prosternation des Iblis gewollt, so

vmrde sich dieser vor Adam niedergeworfen haben'. Diese Lehre vertritt

dem Sirme nach auch Sahl at-Tustari (st. 896), einer der Lehrmeister des

Halläg'. Auf die qadaritische Gegenposition, wie sie etwa in der 'Amr b.

'Ubaid zugeschriebenen These „Gott befiehlt nur, was Er will"* vorliegt,

brauche ich hier nicht näher einzugehen; deim Halläg steht im Lager der

Prädestinatianer.

Unabhängig von den Theologen und in ganz anderer Weise griffen die

islamischen Gnostiker, die gulät, das qur'ärüsche Iblis-Drama auf. Ihre Art

der Betrachtung ist der des Qur'äns insofern verwandt, als sie den Fall des

Iblis zum integrierenden Bestandteil eines soteriologischen Mythos

machen. Das älteste authentische Zeugnis bilden die ursprünglichen Teile

des Ummu l-kitäb, die Heinz Halm in die Mitte des 8. Jahrhunderts

datiert'. Dort ist aus der qur'änischen Szene ein großangelegter Schöp¬

fungsmythos geworden, in dessen Verlauf sich Auflehnung und Sturz des

Iblis siebenmal wiederholen, um jeweils die Schaffung einer weiteren, tiefe¬

ren Himmelssphäre zu veranlassen und schließlich zum endgültigen Fall in

die sublunare Welt zu führen'". Jede der sieben Szenen ist mit einer der sie¬

ben Qur'änstellen belegt". Iblis trägt aber nicht seinen qur'änischen

Namen sondern seinen haggadischen „'AzäzÜ"'d Als Kontrahent fungiert

der kosmische Anthropos „Salmän al-qudra"'\ der Demiurg, in dem sich

Gott manifestiert'''. Letzteres bildet wohl auch den Grund auf die Aufforde¬

rung, sich vor Salmän niederzuwerfen, und 'Azäzil verweigert dies, weil er

den transzendenten Gott in dessen Salmän'scher Hypostase nicht wieder¬

erkennen will'^ m.a.W. weil er auf einem abstrakten, die göttliche Epi¬

phanie in der Schöpfung leugnenden tauhid beharrt.

Kulini: al-Käfi. U^ül. Ed. Gaffäri. Teheran 1380 hq., Bd. 1, S. 151.

' Zitat bei Abü Tähb al-Makki: Qät al-qulüb. Kairo 1932. Bd. 1, 189, 18-23.

Autor des Zitats ist nicht Ibn Sälim (Massignon: Passion, S. 626) sondern Sahl

(vgl. zu Makki's Ausdruck 'älimu-näG. Böwering: The Mystical Vision of Existence in Classical Islam. Berlin 1980. S. 26 f.).

* Vgl. Massignon: Passion, S. 625, 611'.

' Die islamische Gnosis. Zürich/München: Artemis 1982, S. 120. Als Textgrund¬

lage dient nach wie vor die Ausgabe W. Ivanow's. In: Der Islam 23 (1936), S. 1-

132.

Frage 6, 137-167. Übersetzung P. Filippani-Ronconi: Ummu'l-kitäb. Nea¬

pel 1966, S. 64-76; Halm: Gnosis, S. 160-170.

" In der Reihenflge 2, 34; 7, 11; 15,28; 17,61; 18, 50; 20, 116; 38, 71, also der Ordnung der Suren in der otmanischen Redaktion entsprechend.

'^ Vgl. hierzu H. Halm: Das Buch der Schatten II. In: Der Islam 58 (1981), S. 51, -4fi-.

" Zur Bedeutung Salmän's für die Schi'a und die gulät L. Massignon: Salmän Päk et les premices spirituelles de ITslam iranien. In: Opera minora. Ed. Moubarak.

Beirut 1963. Bd. 1, 443-83.

Die entsprechende Wendung in Ummu l-kitäb lautet: az hi^äb i Salmän ?uhür

kard (145, 154, 162).

" Explizit ausformuliert in UK 147; vgl. Halm: Buch der Schatten II, S. 48.

(3)

öunaid und Hallag's Iblis 185

Die dritte bedeutende Interpretationsrichtung unserer qur'änischen

Szene ist die sufische. Sie hat ihrem Wesen nach weder mit der spekulativ¬

theologischen noch mit der mjrthisch-gnostischen etwas zu tun, sondern

deutet die Haltung des Iblis im Sinne mystischer Zustands- und Erlebnis¬

formen. Der „sufische" Iblis fällt, weil er das Diktat seines inneren

Zustands nicht mit den äußeren Normen und Anforderungen in Einklang zu

bringen weiß. Er ist beispielsweise so ausschließlich mit Gott beschäftigt,

daß ihm die Beachtung eines andern und erst recht die Prosternation vor

ihm unmöglich wird". Treibende Kraft ist in diesem und ähnlich gelagerten

Deutungsfällen die Gottesliebe. Der älteste Beleg fällt noch in die vor-

sufische Zeit und geht möglicherweise auf jüdische Quellen zurück. Der fiir

die Überlieferung haggadischer Geschichten bekarmte Wahb b. Munab¬

bih (st. 732) berichtet von einem Gespräch zwischen Moses und Iblis, in

dem dieser sein Verhalten mit den Worten begründet: „Ich wollte nicht sein

wie du; denn ich machte mir anheischig. Ihn zu lieben. Er sagte zu dir: '(Du

wirst mich nicht sehen), aber schau auf den Berg. . .' (Qur. 7, 143), und du

hast hingeschaut!"". Zur Zeit des Halläg scheinen solche Deutungen des

Iblis'schen Verhaltens aueh den Bagdäder Sufis nicht unbekannt gewesen

zu sein'*.

Dies führt uns zur Frage, wie Halläg selbst das Iblis-Problem gesehen

hat. Im Prinzip lassen sich alle drei erwähnten Interpretationsrichtungen

in seiner Satanologie nachweisen. Dominant ist freilich die sufische. Sie

überstrahlt vor allem auch die gnostischen Ansätze. An solche läßt etwa

der Anfang der einschlägigen Stelle Tä-sin 6, 6-8 denken", deren sufische

Wendung uns noch beschäftigen wird: „(A) Unter den Himmelsbewohnern

gab es keinen Monotheisten wie Iblis, (B) damals, als er sich über die (gött¬

liche) Essenz täuschte (hina ulbisa 'alaihi l-'ain) . . .". Dies erinnert an den

gnostischen Ausgangspunkt, der uns in Ummu l-lcitäb begegnet war: Iblis

beharrt auf einem abstrakten tauhid, ohne die Epiphanie Gottes in Adam

erkennen zu wollen. Daß HaHäg der Gedanke einer derartigen Epiphanie

vertraut war, läßt sich aus gewissen Äußerungen deduzieren, die im

Zusammenhang mit seiner berühmten Formel ana l-Haqq stehen (s.u.).

Vielleicht darf man hier auch darauf hinweisen, daß sein intimer Freund

'Abdallah b. 'Atä' zu jenen gehörte, die den an die Engel ergangenen Pro-

sternationsbefehl damit begründeten, daß Adam als Bild des göttlichen

Glanzes erschaffen worden sei^°. Ob oder inwieweit jenen Sufis der gno-

" Zur Sache vgl. Reinebt: Die Lehre vom tawakkul. Berlin 1968, S. 66.

" Von Ritter: Meer, S. 640, unter Hinweis auf die mögliche jüdische Herkunft, zitiert.

Anfallig auf solche Betrachtungen soll nach Hu^iri {KaSf ul-mah^üb. Ed.

Zhukowski. Nachdruck Teheran 1336 h§., S. 163) sogar öunaid gewesen sein.

Auch sein Kollege Nüri hätte nach einer von 'Attär überlieferten Episode in Iblis

einen im Trennungsschmerz dahinschmelzenden Gottliebenden gesehen {Tadkirat

ul-auliyä'. Ed. Teheran 1336 hä. Bd. 2, S. 44).

" Als Textgrundlage des Kitäb at-Tawäsinhen\i\,zte ich die Ausgabe P. Nwiya's.

In: MUSJ 47 (1972), S. 191-215.

^° Vgl. hierzu Massignon: Tawästn, S. 171.

(4)

stische Hintergrund dieses Vorstellungskreises bewußt war, bleibt freilich

eine offene Frage. Hal'äg selbst ist zwar mit Vertretern der islamischen

Gnosis in Berührung gekommen und hat dann seiner Gewohnheit gemäß

versucht, sich der Terminologie seines Gesprächspartners anzupassen^', es

wäre jedoch verfehlt, hieraus auf eine nachhaltige Beeinflussung schließen

zu wollen. Selbst sein gelegentlicher Rückgriff auf den Iblis-Namen

'Azäzil" ist vielleicht eher indirekter haggadischer Überlieferung als direk¬

ter gnostisch-islamischer Vermittlung zu verdanken.

Was das theologische Problem anbetrifft, so scheint Halläg ursprünglich

davon ausgegangen zu sein, daß Iblis mit der Prosternation vor Adam

etwas zugemutet wurde, das er von seinem Wesen her gar nicht leisten

konnte. In einem von Baqli überlieferten Fragment, das noch vor dem Kiiäb

al-Tawäsin entstanden zu sein scheint, wirft Iblis Gott vor, daß Er ihm

etwas gebiete (das Verehren eines anderen), das Er ihm doch ausdrücklich

verboten habe". Im Tawäsinis,t Iblis allerdings zum reinen Determiiüsten

geworden. Er ist im Sahl'schen Sirme überzeugt, daß Gott seine Prosterna¬

tion nie wollte. Im amr erkennt er nur den Sinn einer „Prüfung", wovon

gleich noch die Rede sein soll^''. Den Vorwurf, mit seiner Befehlsverweige¬

rung eigenen Willen und eigene Wahl - gegenüber der göttlichen - bekun¬

det zu haben, weist er als absurd zurück" und äußert seinen Determinis¬

mus in der Überzeugung, daß er, unabhängig von der Ausführung oder Ver-

^' Vgl. Massignon: Passion, S. 71 f. Ich denke hier vor allem an die qarmati¬

schen Persönlichkeiten, mit denen Halläg zusammenkam. Kontakte mit der Bagda¬

der Muhammisa (vgl. Massignon: Recherches sur les ShiHtes extremistes ä Bagdad d

la fin du troisieme siecle de l'Hegire. In: Opera minora 1, S. 523-26) erscheinen mir angesichts der Tatsache, daß er von 'Ali b. al-Furät, einem ihrer führenden Mitglie¬

der, verfolgt wurde (Massignon: Passion, 8. 165), weniger wahrscheinlich. Zur

Frage, ob hinter dem Vorwurf qarmatischer Gesinnung mehr als nur eine politisch¬

soziale Verunglimpfung steckte, vgl. ib. 76; 732. Außenstehende mochten freüich aus gewissen Äußerungen des Halläg etwas wie den Anspruch göttlicher Epiphanie heraushören (vgl. ib. 253 ff.).

" In den drei Abschnitten 18, 26 und 30.

" Text: Massignon: fawdsin, Einl. Xll; Ders.: Essai sur les origines du lexique technique de la mystique musulmane Paris, 2. Aufl., 1954, 8. 413. Übersetzung:

Ders.: Passion 866 f

käna dälika btilä'an lä amran {faw. 14). Die Bemerkung ist schon deshalb von Bedeutung, weil sie zeigt, daß es hier nicht um die „sufische" Version des amr-iräda- Problems geht, die Halläg in dem von Baqli unter Qur'än 54,50 festgehaltenen Spruch formuliert: „amr ist Wesen der Einung, iräda Wesen des Wissens" (Massi¬

gnon: Essai 417). Diese Äußerung hat offensichtlich nichts mit dem Dilemma der

Theodizee zu tun, um das es im Falle des Iblis geht, sondern bezeichnet den Gegen¬

satz zwischen mystisch zu erfahrender und intellektuell erfaßbarer Erkenntnis (vgl.

Massignon: Tawästn, S. 145 f). Die Verschiedenheit der beiden Erkenntniformen und ihrer Inhalte sowie die Frage ihrer Priorität bildet ein Problem, das Halläg in

besonderer Weise beschäftigt hat (vgl. Massignon: Passion 56; 57; 59).

" Tawästn 28.

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öunaid und Hallag's Iblis 187

Weigerung des Prosternationsbefehls, ins Feuer (d. h. in die Gottesferne der

Hölle) zurückgehen mußte, weil dieses Element ja sein Ursprung sei^'.

Angesichts dieser deterministischen Resignation verliert das qur'äni-

sche Superbia-Motiv eigentlich seine Bedeutung als auslösendes Moment

des Dramas. Als integrierendes Element der qur'änischen Erzählung ließ

es sich freilich nicht ganz eliminieren sondern nur durch esoterische Inter¬

pretation entschärfen. Halläg erreicht dies auf verschiedene Weise. Ein¬

mal meint sein Iblis, daß die Elemente Feuer und Erde, aus denen er, bzw.

Adam erschaffen wurden, konträr seien und sich daher einer Harmonisie¬

rung durch Unterwerfung des einen unter den andern widersetzten". Auf

eine zweite, ganz anders geartete Begründung, werde ich gleich noch zu

sprechen kommen. Das eigentliche Argument des Iblis läßt das Faktum der

Hybris bestehen, unterlegt ihm aber einen neuen, für Halläg's Denkweise

signifikanten Sinn. Danach gründete sich das Überlegenheitsgefühl des

Iblis auf dessen uralten Dienst bei Gott und die hieraus erworbene unver¬

gleichliche Gotteskenntnis: „Wäre ich mit Dir auch nur einen Augenblick

zusammengewesen, so hätte ich Grund, mich groß und gewaltig zu fühlen.

Um wieviel mehr, nachdem ich mit Dir Äonen {adhär) verbracht habe! Wer

wäre gewaltiger und erhabener als ich, der ich Dich schon in der Urewig-

keit kannte? 'Ich bin besser als er'. Denn ich verfüge über die Anciennite im

Dienst, und es gibt in den beiden Seinsformen (al-kaunain) niemand, der

Dich besser kennte als ich!"^*. Den Hintergrund dieser Gedankenführung

bildet die Überzeugung, daß die Gotteskenntnis die eigentliche, essentielle

Konstante in der Persönlichkeit des Iblis ist. Sie bleibt unberührt von sei¬

ner Verfluchung, Verstoßung und äußeren Verwandlung vom Engel in

einen Teufel^'.

Damit liefert die ma'rija den Schlüssel zur sufischen Interpretation des

Dramas. Deren Ausgangspunkt und Hintergrund bildet, wie wir sahen, die

Gottesliebe. Das Liebesethos wiederum verlangt vom Liebenden (Iblis) die

vorbehaltlose Erfüllung aller Wünsche des Geliebten (Gott). Worin aber

besteht in unserem Fall der göttliche Wunsch? Exoterisch betrachtet ist es

die Prosternation, der formale Inhalt des amr. Als Gotteskenner freilich

versteht Iblis dessen eigentlichen, esoterischen Sinn, die iräda, d.h. die

Prosternationsverweigerung mit ihrer Konsequenz, der Verfluchung und

Verstoßung. Dank seiner ma'rifa findet Iblis den gemeinsamen Nenner von

amr und iräda, wie bereits angedeutet, in der „Prüfung" (ibtiWf°. Das

Ethos des Liebenden aber verlangt von ihm, daß er sich der Prüfung - in

der doppelten Bedeutung von „Versuchung" und „Heimsuchung" - seines

Geliebten stellt, mag sie noch so grausam und hart sein. Dadurch, daß Iblis

seine Verfluchung, Verstoßung und Schändung hinnimmt, qualifiziert er

sich als Gottliebender^'. Er genießt das ihm von Gott auferlegte Leiden,

2^ Ib. 11.

" Ib. 27.

2« Ib. 11.

" Ib. 14.

Ib. Vgl. auch Massignon: Tawdsin, S. 147.

^' Tawäsin 17; 27.

(6)

weil es vom Geliebten kommt^^. Der seit Ahmad Gazzäli (st. 1126) gele¬

gentlich erhobene Vorwurf einer göttlichen Machenschaft, einer determini¬

stischen List, der Iblis gar nicht entkommen konnte, ist Halläg noch

fremd^^. Der Iblis der Tawäsin entdeckt im Gegenteil, daß er gerade in sei¬

ner Erniedrigung und Verstoßenheit ein viel reineres Verhältnis zu Gott

gewonnen hat, als er es zuvor im glänzenden Status des höchsten Engels

besessen hatte^''.

Halläg ist in seiner mystischen Interpretation des Iblis-Dramas noch

einen Schritt weitergegangen. Er deutet an, daß die Prüfung auf dem Höhe¬

punkt der Iblis'schen Gotteserfahrung, in einer Art Einungserlebiüs

erfolgte. In Tawäsin 6,22 versucht er auf diese Weise zu einer weiteren

Umdeutung des Superbia-Motivs zu kommen: Wenn sich Subjekt und

Objekt der Gotteserfahrung in der Einung nicht mehr auseinanderhalten

lassen, gibt es auch niemand mehr, vor dem sich Iblis niederwerfen könnte;

denn als mystische Hypostase der Gottheit fühlt er sich allem Erschaffenen

- Adam inbegriffen - überlegen (= ana hairan minhu)^^ . Vom Faktum dieser

Interpretation ausgehend müssen wir uns fragen, ob nicht auch die bereits

erwähnte zentrale Schilderung des Dramas, Tawäsin 6, 6-8, den Verlauf

des Einungserlebiüsses in den qur'änischen Mythos hineinprojiziert. Die

Fortsetzung des „gnostischen" Anfangs lautet folgendermaßen: „. . .(C)

und (als) er sich bis in sein Innerstes Schauen und Blicken (auf etwas ande¬

res als Gott) versagte, (D) um seinen Gott in vollendeter Absolutheit {'alä t-

ta^rid) zu verehren. (E) Als er die Zweitlosigkeit {tafrid) erreichte, wurde

er verflucht, (F) und als er mehr wollte, verstoßen". Um unsere Frage

beantworten und den sufischen Gehalt dieser Äußerung präzisieren zu kön¬

nen, muß ich etwas weiter ausgreifen und einen Blick auf die Erörterung

werfen, die Halläg's Bagdader Lehrer öunaid dem Problem des Einungser¬

lebiüsses angedeihen ließ. Die überragende Bedeutung, die die von öunaid

in diesem Bereich entwickelte Mystologie fiir die damalige Sufik hatte,

dürfte keinem Zweifel unterliegen. Daß insbesondere Halläg direkt davon

abhängig war, hat bereits Massignon festgestellt^'.

öunaid hat dem Einungsproblem {tauhid) drei Schriften gewidmet. Zwei

davon, die ältere mit dem Titel/i l-Ulühiya^^ und die jüngere, das Kitäb al-

" So schon deutlich im Baqli-Fragment, wo sich Iblis gegenüber der fur seine

Befehlsverweigerung angedrohten Strafe nur vergewissert, ob ihn Gott bei ifuer

Durchführung ansehen werde (Zum Problem vgl. A. Gazzäli: Sawänih. Ed. Ritter.

Leipzig 1942, Abs. 20, § 2; Übersetz. R. Grämlich. Wiesbaden 1976, S. 33).

" Vgl. Ritter: Meer, S. 540; A. Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam.

Aalen 1979, S. 216. Das daselbst erwähnte Gazal von Sanä'i (st. 1135) wird auch Häqäni (st. 1199) zugeschrieben {Diwän. Ed. Saööädi. Teheran 1338 hä., S. 616).

Tawäsin 15.

" Ib. 22.

" Besonders Essai, S. 304 ff.

" Ich zitiere nach der Ausgabe Abdel-Kader: The Life, Personality and Writings

ofal-Junayd. London 1976, S. 44-46. Das handschriftliche Unikum, §ehid Ah Pa^a

1374, auf das sich die Ausgabe stützt, bietet einen weitgehend verdorbenen Text, um dessen Vorlage es einer Notiz des Kopisten zufolge nicht besser stand. Dasselbe

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öunaid und Halläg's Iblis 189

Mltäq (über den „Urbund") , sind für die Esoteroi geschrieben. Die dritte

Schrift, das Kitäb al-Fanä' (über die „Entwerdung")^', ist jünger, offenbar

für Sufi-Adepten verfaßt, hat jedenfalls die Form eines Frage- und Antwort¬

dialogs zwischen Jünger und Meister. Ihrem Wesen nach bildet sie eine

erweiterte Fassung des Kitäb al-Mitäq. Alle drei Werke sind inhaltlich

zweigeteilt. Sie behandeln zuerst den Entwerdungsprozeß bis zur Einung

und erörtern dann die Folgeerscheinungen, genauer gesagt, die Krise

{bald'), die sich aus und in der Entwerdung entwickelt. Die dabei beschrie¬

benen Erfahrungen sind der Substanz nach in allen drei Werken dieselben.

Die Erläuterung des bald' wird jedoch jedesmal ausführlicher. Umfaßt sie

in der ältesten Schrift nur wenige Zeilen, so nimmt sie in der jüngsten zwei

Drittel der ganzen Darlegung in Anspruch.

Kennzeichnend für die Schrift ß l- Ulühiya ist die rhetorische Intensität

des Stils, die sich etwa in der Steigerung der Aussage durch Häufung paral¬

leler Sätze und Satzglieder zeigr°. Doch wird andererseits auf eine tro¬

pische Ausdrucksweise verzichtet. Es fehlt auch jede direkte Bezugnahme

auf Qur'än oder Hadit. Beschrieben wird in erster Linie das Erlebnis der

übermächtigen Gewalt, mit der die Göttlichkeit den Geist des Mystikers

überfällt, unterwirft und in seiner Individualität auslöscht. Was immer das

Arabische an Ausdrücken gewaltsamer, überwältigender Begegnung zur

Verfügung hat, wird dabei sukzessive aufgeboten, um die erdrückende

Gewalt dieser Gotteserfahrung anzudeuten '. öunaid erlebt den qur'äni¬

schen Gott aber nicht nur in seiner unnahbaren Hoheit und Allmacht son¬

dern auch in seiner unberechenbaren Willkür. In der Entwerdung über¬

schüttet Er die Auserwählten zunächst mit Seiner Huld, läßt aber dann

plötzlich ihren Zustand umschlagen, entzieht ihnen die gewährte Wonne

und unterwirft sie damit einer Prüfung {ibtilä'), in der sie „vor Ihm zu Ihm

um Hilfe schreien . . ., während Er ihre Atemzüge ineinanderballt. .

gilt fiir die beiden anderen Schriften. Bis zum Auffinden weiterer Handschriften wird die Herstellung eines zuverlässigen Textes nur in beschränktem Maße möglich sein, zumal es an Paralleltexten und Zitaten weitgehend fehlt. Rekonstruieren läßt sich jedoch der Gedankengang, und diese Arbeit ermöglicht auch ein weitgehendes Textverständnis. Ihre Durchfuhrung im Einzelnen werde ich bei anderer Gelegen¬

heit vorlegen.

3* Ib. 40-43.

" Ib. 31-39.

Z.B. S. 44, 7ff., -4ff.

Z.B. S. 44, 7 ff. Von der Gewalt dieser Gotteserfahrung spricht auch öunaids Bagdader Kollege Harräz {Kitäb a?-Sifät. In: Rasä'il al-Harräz. Ed. Sämurrä'i.

Bagdäd 1967, S. 26, -5f).

''^ 1.1. 46, 7-9. Die Wendung ^ama'a anfäsa-humß anfäsi-him findet sich in der

Form hubisat anfäsu-hum fi anfäsi-him auch im Brief an den anonymen Sufi (Ed.

Abdel-Kader 4, -4). Es erscheint allerdings fraglich, ob nafas hier schon als Ter¬

minus technicus im Sinne einer verfeinerten Ausdrucksform des mystischen Nus zu

verstehen ist. Die an/ös-Theorie, an deren Entwicklung öunaid maßgeblich beteiligt war (vgl. dazu seine Dicta im Kitäb as-Sirr fi anfäs a^Süfiya. Ms. Kairo, Där al- kutub. Tasawwuf Nr. 287), scheint in Bagdad erst in der 2. Hälfte des 9. Jahrhun-

(8)

Ausfuhrlich beschreibt öunaid diesen grauenhaften Zustand im Brief an

einen nicht näher bezeichneten Sufi''^. In der Ulühiya faßt er sich jedoch

sehr liurz. Offensichtlich will er nicht näher auf das Problem eingehen. Ob

und wie es gelöst werden kann, bleibt offen. Die Schrift bricht mit der

Andeutung dieser qualvollen Erfahrung ab und schließt mit der lakoni¬

schen Bemerkung „dies ist etwas vom tauhid-Wißsen, auf das die Aus¬

erwählten i^afwa) anspielen". Es paßt zu diesem beklemmenden Ausgang,

daß in der ganzen Schrift weder von Gottesliebe noch von ma'rifa die Rede

ist.

Schon hier drängt sich ein Vergleich mit der zitierten Tawäsin-Stelle 6,

6-8, auf. Auch dort fehlt die Bezugnahme auf ma'rifa und Gottesliebe,

obwohl die beiden Qualitäten sonst das Wesen des Halläg'schen Iblis

bestimmen. Im Vordergrund steht der unerbittliche, schicksalhafte Verlauf

des Geschehens, der wie in der Ulühiya durch die göttliche Gewalt

bestimmt wird. Eine auffallende Parallelität zeigt sich aber auch in der Ter¬

minologie, öunaid stellt die zu schildernden Erfahrungen eingangs unter

das Motto ^urridat lahumu l-ulühiya, „sie erfuhren die Göttlichkeit in ihrer

Absolutheit" und kermzeichnet das Einungserlebnis selbst als lafarmdu l-

ulühiya, „Zweitloswerden der Göttlichkeit"'*'', was seine direkte Entspre¬

chung in den entscheidenden Termini tafrid (D) und tafrid (E) der Tawäsin-

Stelle hat. Dennoch war es nicht die Ulühiya, die das endgültige Iblis-Bild

des Halläg vorgeprägt haben könnte, sondern eher die zweite oder die

dritte Schrift des öunaid.

Dort eröffnen sich gegenüber dem ältesten Werk ganz neue Perspekti¬

ven. Das zugrundeliegende Erlebnismaterial ist zwar dasselbe geblieben,

es wird jedoch einer anderen Sicht und Interpretation unterworfen. Das

bahnbrechende Neue besteht in der Bezugnahme auf den „Urbund", von

dem in Qur'än 7,172 die Rede ist, und bei dem sich die noch nicht mit dem

Leib verbundenen Seelen zu Gottes Herrsein bekarmten. öunaid identifi¬

ziert ihren damaligen, präexistenten Zustand mit dem des Entwordenen''d

Die Seelen (arwäh) subsistierten in Gott, und zwar so, daß ihr Selbst aus¬

schließlich von Gott, rücht von ihnen selbst „empfunden" wurde'". Sie besa¬

ßen in diesem Sinne kein eigenes Sein, sondern bildeten ein inneres Gegen¬

über in Gott, das nur in Seinem urewigen Willen existierte"'. Das Frage-

derts, möglicherweise unter dem Einfluß Dü n-nün al-Mi^ri's (s.u.), aufgekommen

zu sein. Außerdem wird die Wendung an unserer Stelle noch ergänzt durch wa-

habasa aru)(üm-hum fi arwäiii-him, und arwäh als Plural zu rih ist kein §ufischer Ter¬

minus, hier offenbar im Sinne von „Aufatmen" oder „Ausatmen" gebraucht.

" 1.1 4, 7ff.

lb. 45, 6.

Mitäq 41, 3ff.; Fanä' 32, lOff.

""^ Sinnspiel mit der ursprünglichen Bedeutung von wugida, „gefunden, empfun¬

den werden" = „existieren". Wenn Gott in seiner Absolutheit logisches Subjekt von wugida ist, liegt eine andere Seinsqualität vor, als wenn das Ichbewußtsein diese

Funktion übernimmt. Ich werde bei anderer Gelegenheit ausführlich auf die

mystische Ontologie des Gunaid zurückkommen.

Mitäq 41, 1.

(9)

Gunaid und Halläg's Iblis 191

und Antwortspiel jener Qur'än-Stelle („Bin ich nicht euer Herr?" Sie spra¬

chen: „Doch, wir bezeugen es") hatte danach nur ein einziges Subjekt. Ahn¬

liches erfährt nun der Mystiker wieder in der Entwerdung. Auf solche

Weise gewinnt öunaid einerseits einen sufischen Deutungsinhalt jener

Qur'än-Stelle und kann andererseits die Entwerdung als Rückkehr der

Seele in ihren Urzustand vor der Verbindung mit dem Leib definieren"*. In

beiden Fällen, damals und jetzt, läge ein und dasselbe Zustandserlebnis

vor, das öunaid bald als „vollkommenstes" oder „woniügstes", bald als

„reines" Sein bezeichnet"'.

Das neue Element, das öunaid auf diese Weise in das System seiner

Mystologie eingeführt hat, ist letztlich die gnostische Idee vom Fall der

Seele, wobei die Entwerdung eine Art vorgezogener Erlösung, eine vor¬

übergehende Rückkehr in den Urzustand darstellt. In konsequenter Verfol¬

gung des Gedankens betrachtet öunaid die Wonne, die der Mystiker in der

Entwerdung empfindet, als Anamnese, als wiedererwachte Erinnerung an

jene ursprüngliche Wonne des vollkommensten Seins'". Es ist jedoch kaum

anzunehmen, daß er sich der gnostischen Herkunft seiner neuen Mystolo¬

gie bewußt war. Sein Bestreben ging jedenfalls dahin, ihr durch Bezug zum

Urbund-Vers ein rein islamisches Gesicht zu geben. Der eigentliche Fall

der Seele aus ihrem Urzustand, also das spezifisch gnostische Motiv, liegt

für ihn ohnehin an der Peripherie des Interesses. Es beschränkt sich auf die

Feststellung, daß Gott die Seelen, um sie als Menschen zu erschaffen, nach

ihrem Einungs- und Einheitserlebiüs individualisierte, „zerstreute", wie

öunaid sich - unter Anspielung auf das qur'änische durriya, „Nachkom¬

menschaft", abgeleitet von darra, „zerstreuen" - ausdrückt . Auf (indirek¬

ten) gnostischen Einfluß könnte jedoch der Umstand zurückgehen, daß das

Kitäb al-Mitäq - ganz im Gegensatz zur Ulühiya - die ma'rifa, die Gottes¬

kenntnis, zu einem Angelpunkt der ganzen Erörterung macht. Diejeiügen,

von deren Erfahrungen die Rede sein soll, sind die 'ärifün, jene, denen sich

Gott in der Urewigkeit zu erkeimen gab".

Es mag nicht unnütz sein, an dieser Stelle die Frage nach der möglichen

Quelle zu stellen, der öunaid die Anregung zu seiner neuen Mystologie ver¬

danken mochte. In der Tat war er nicht der erste islamische Mystiker, der

"•^ So auch in der <ai4»<^-Definition, die Sarräg: Jjuma'. Ed. Nicholson. Leiden/

London 1914, S. 29, 11, zitiert: iva-huwa an yar^i'a ähiru l-'abdi ilä auwali-hi fa- yakünu ka-mä käna qabla an yaküna.

"' atammu l-wu^üd: 41,-3; 32,-2; amta'u l-wu^üd: 34,-2; häli^ l-wu^üd: 43, 4;

35,-2 f

™ Dies muß der Sinn von Mitäq 42, 1 f sein. Die unmittelbare Absicht öunaids

scheint allerdings das Eliminieren von Mißinterpretationen theopathischer Äuße¬

rungen gewesen zu sein. Dies geht aus der amplifizierten Fassung des Passus im

Kitäh al-Fanä' (35,10fF.) hervor. Das verdorbene mlbsw't der Handschrift (58b, -8) ist vielleicht als mulbaaät zu lesen: inna-mä hiya mulbasätun 'alä l-arwähi . . . Dann kann man weiter fragen, ob vielleicht auch das hirm ulbisa 'alaihi l-'ain von Tawäsin 6,7 hiervon inspiriert war.

Mitäq 41,1 f

" Ib. 40,-1.

(10)

die Rückkehr in den Urzustand vor der Existenz als Ideal aufgestellt hat.

Bereits der Ägypter Dü n-nün (st. 860) bediente sich des Bildes, um damit

das letztmögliche Ziel des 'ärifs, des Gotteskenners, zu charakterisieren'-'.

Ihm fehlte es auch nicht an Gelegenheiten, in seiner Heimat mit Gnosis in

Berührung zu kommen. Vor allem aber ist es möglich, daß öunaid mit sei¬

nem großen ägyptischen Kollegen direkten oder indirekten Kontakt hatte.

Dü n-nün hat gegen Ende seines Lebens (um das Jahr 855) Bagdäd

besucht''' und wurde dabei von zahlreichen Sufis aufgesucht". Daß sich

öunaid unter ihnen befand, wird zwar nicht gesagt, doch muß er min¬

destens mittelbar Einiges von der Lehre des berühmten Gastes erfahren

haben. Jedenfalls zeigen sich im Kitäb al-Mitäq auch außerhalb unseres

„gnostischen" Motivs deutliche Spuren von Dü n-nüns Einfluß". Was die

beiden älteren Schriften anbetrifft, so weist ihr Stil sie ungefähr in die fünf¬

ziger Jahre des 9. Jahrhunderts". Es wäre somit grundsätzlich möglich,

daß die Ulühiya vor, das Kitäb al-Mitäq erst nach dem Auftritt Dü n-nüns

entstanden ist. In der erstgenannten Schrift ist in der Tat nichts vom

Geiste Dü n-nüns zu spüren. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß

öunaid darin die ekstatischen Erfahrungen schildert, die er bei seinem

Lehrer Sar! as-Saqati (st. 865) kennenlernte'*, während er im Kitäb al-

Mitäq ihre Deutungsmöglichkeit entwickelt, die ihm der Kontakt mit Dü n-

nün erschloß.

Wie bereits angedeutet, wendet sich öunaids Interesse schon im Kitäb

al-Mitäq und erst recht im Kitäb al-Fanä' den Problemen der Krise zu, die

sich an den Höhepunkt der Entwerdung anschließen kann. Da die Gründe

" Auf die entscheidende Stelle Kaläbädi: Ta'arruf. Ed. Arberry. Kairo 1934, S.

105, 6f hat R. Grämlich: Die sehiitischen Derwischorden Persiens 2. Wiesbaden

1976, S. 319, aufmerksam gemacht. Dü n-nün erwähnt den Urbund allerdings noch

nicht explizit. Möglicherweise hat erst öunaid diese naheliegende Konsequenz gezo¬

gen.

" Vgl. J. van Ess: Die Gedankenwelt des Härit al-Muhäsibi. Bonn 1961, S. 25.

" Hatäb al-Bagdädi: Ta'rih Bagdäd. Kairo 1931. Bd. 8, S. 396, 13 f

^' So stimmen die Begriffe und Ausdrücke, mit denen öunaid zu Beginn des

Kitäb al-Mitäq seine Auserwählten {.safwa) beschreibt, weitgehend mit den Formu¬

lierungen überein, die Dü n-nün zur Charakterisierung der Gottliebenden verwen¬

det. Vgl. etwa Mitäq 58a, 9ff./40,-7fr.: fa'ala a^säda-hum dunyä'iya wa-anväha-

hum nüräniya wa-auhäma-hum rühäniya wa-afhäma-hum 'arSiya wa-'uqüla-hum

hii^ubiyamit dem Zitat bei Abü Nu'aim: Hilyat cd-auliyä'. Kairo 1357. Bd. 9, S. 366, 4 f : fa-^ärat abdänu-hum dunyäwiya wa-arwähu-hum hu^ubiya wa- 'uqülu-hum samä- wiya. Vielleicht standen sich die beiden Texte ursprünglich, vor der beidseitigen Korruption der Überlieferung, noch näher.

" Auf eine nähere Begründung dieser Feststellung muß ich aus Raumgründen hier verzichten. Ich werde darauf in einer z. Z. in Vorbereitung befindlichen Studie über öunaid zurückkommen.

'* Ein Beispiel für eine Verzückung Sari's bringt Sarräg: Imma' 307, lOff. Der in solchen Dingen hervorragend unterrichtete Abü 'Abdarrahmän as-Sulami attestiert Sari, daß er in Bagdad als erster über tauhid gesprochen habe (Tabaqät a^-Süfiya.

Ed. Suraiba. Kairo 1953, 8. 48, 3 f ), womit in diesem Zusammerüiang nur die von

öunaid beschriebene mystische Erfahrung gemeint sein kann.

(11)

öunaid und Hallag's Iblis 193

für diese Schwerpunktverlagerung die hier behandelten Fragen nicht

direkt berühren, darf ich auf eine nähere Erörterung verzichten. Zwei

Dinge seien jedoch festgehalten. Einmal ist es der rein sufische Charakter,

der die öunaid'sche Behandlung dieses Themas auszeichnet. So fehlt

insonderheit jeglicher gnostische Einfluß, obwohl sich eine Bezugnahme

auf den Fall der Seele aus ihrem Urzustand geradezu aufdrängt. Zum

andern spielt die Gottesliebe in der ursprünglichen Sicht öunaids, wie sie

uns im Kitäb al-Mitäq entgegentritt, eine periphere Rolle". Erst im Kitäb

al-Fanä' - und auch dort nur in den nicht direkt auf dem älteren Werk

fußenden Partien — wird sie zu einem zentralen Motiv des geschilderten

Zustands'". Die nun zu skizzierende, im Kitäb al-Mitäq entwickelte Erleb¬

nisanalyse darf als Frucht reiner Bagdader Mystik, letztlich vielleicht Sari

as-Saqati'scher Prägung, gelten.

Was öunaid beschreibt, ist eine Art Zwischenzustand zwischen dem

vollkommensten Sein und dem wiederkehrenden normalen Bewußtseinszu¬

stand nach der Trance. Auf der einen Seite macht das Ichbewußtsein

Anstalten zurückzukehren - der Mystiker wird sich beispielsweise seiner

Entwerdung bewußt" -, auf der anderen Seite versucht er, den Zustand

des vollkommensten Seins zu halten und das Wiedererwachen des Bevraßt-

seins zu verhindern'^. Er tut dies wohlverstanden als Subjekt des vollkom¬

mensten Seins, also praktisch mit Hilfe der in ihm sich manifestierenden

göttlichen Krafb'^. Da andererseits Gott als eigentlicher Urheber und Lei¬

ter des rückläufigen Prozesses (Rückkehr des Ichbewußtseins) fungiert,

richtet sich der Verdrängungskampf des Mystiker de facto gegen Gott

selbst: Er kämpft gegen Gott kraft der ihm von Gott gewährten Wirklich¬

keitserfahrung, um die „Urnähe" zu Ihm zurückzugewinnen, öunaid hat

diesen paradoxen Vorgang im polaren Begriffspaar mutälaba und niumä-

na'a, „zu gewirmen und abzuhalten suchen", aufgefangen, beide Verben

wohlverstanden mit Gott als Objekt'". Während das Kitäb al-Mitäq mit

dieser verwirrend ungewöhnlichen Erörterung schließt, fühlt sich öunaid

im Kitäb al-Fa7iä' verpflichtet, seinem uneingeweihten Gegenüber das

Wesen jener Prüfung durch Hinweis auf die Haltung der Gottliebenden

verständlich zu machen, die in ihrer verzweifelten Gottsuche sich dem Lei¬

den bis zur Aufgabe des Lebens aussetzen, um schließlich Lust an der gott¬

gewollten Prüfung zu empfinden, abwartend, bis Er Seinen-Willen voll¬

streckt hat".

^' Sie beschränkt sich auf die Bezeichnung Gottes als mahbüb, „Geliebter", an einer Stelle (1.1. 42,5).

Vgl. besonders Fanä' 37,-4ff.

" Miläg 43,8ff.; Fawä'36,-4fr.

" Vgl. hierzu Mit. 43,-6ff.; Fan. 37, Iff.

" Fanä' 36, 11 ff

M. 43,-8 f; F. 36,11. Der Brief an den anonymen Sufi kennt diese Antithese noch nicht sondern arbeitet mit dem BegrilTspaar mustaslim/mutamäni' (1.1. 4,-7).

''^ Fanä' 37,-6ff. Phänomenologisch zeigen die hier beschriebenen Erscheinun¬

gen eine Ähnlichkeit mit dem, was die christlichen Mystiker als „dunkle Nacht der

Seele" bezeichnen (vgl. E. Underhill/Meyer-Franck-Benfey: Mystik. Mün-

(12)

Kehren wir nun wieder zu Halläg und seinem Iblis zurück. Mit der urewi¬

gen ma'rifa des Kitäb al-Mitäq und der Gottesliebe des Kitäb al-Fanä'

ergänzt sich das Bild, das den sufischen Aspekt des Halläg'schen Iblis aus¬

macht. Beide von Gottes Prüfimg heimgesuchten Geschöpfe, sowohl

öunaid's Mystiker als auch Halläg's Iblis, sehnen sich nach einem idealen

Urzustand zurück und finden schließlich Genuß am Leiden der Prüfung.

Was aber den öunaid'schen Zwischenzustand anbetrifft, so erkennen wir

das mutälaba/mumäna'a-Motvv wieder in Iblis' Schwanken zwischen sei¬

nem tauhid als Gottliebender und der Hybris seiner ma'rifa. Aber wenn wir

auch annehmen dürfen, daß das Bild, das Halläg vom Zustand seines Iblis

entwirft, wesentlich von den Erkenntnissen seiner Lehrjahre bei öunaid

(ab 877) geprägt wurde, so ist doch die mythische Figur, die er uns schlie߬

lich als Iblis vorstellt, seine ganz persönliche Schöpfung. In TawäsinQ, 20-

24, setzt er sein eigenes Schicksal in direkte Beziehung zu dem seines

Iblis''. Genausoweiüg wie sich dieser durch die angedrohte Strafe von sei¬

nem tauhid abbringen ließ, will Halläg vor dem Martyrium zurückschrek-

ken, das ihm seine Haltung einzubringen droht, und das ihm sein Geliebter

bestimmt hat". Gerade hier bricht auch wieder der gnostische Hintergrund

seiner Predigt durch: „Wenn ihr Ihn nicht erkennt, so erkennt Seine Spur,

und ich bin diese Spur, denn ich bin Gott (ana l-Haqq)]"^^ . Die berühmte

Wendung, die das Ende dieses Abschnitts markiert, kann als Äußerung des

öunaid'schen Zwischenzustands betrachtet werden: Das zurückkehrende

Ichbewußtsein identifiziert sich noch immer mit dem einzigen Subjekt des

Einungszustandes'*. Eine mystische Erfahrung wird hier gnostisch aus¬

gewertet. Die gnostische Idee, die öunaid mit seinem Urbund-Motiv auf¬

gegriffen hatte, und die er selbst im Dienste einer „orthodoxen" Mystik zu

entwickeln verstand, trug bei Halläg im Mythos des Iblis Früchte, die

öunaid sehr fern lagen, und die er vielleicht geahnt, aber gewiß rücht beab¬

sichtigt hat.

chen 1928, S. 494-,538). Zielsetzung und mystologische Analyse des Erlebnismate¬

rials sind bei öunaid jedoch so grundlegend anders, daß man daraus geradezu eine Fallstudie über den Unterscheid zwischen christlich-abendländischer und muslimi¬

scher Mystik machen könnte.

Massionon glaubt, daß der ganze Passus 20-25 nicht von Halläg selbst

stamme, sondern aus seiner Schule (Passion 935 ff.). Dies mag allenfalls für den Text selbst gelten, aber wohl kaum für seinen Inhalt. Handelt es sich doch um die rigo¬

rose Konsequenz des in diesem Kapitel vorgebrachten Gedankensguts. Jedenfalls paßt es zur Tatsache, daß Halläg sein Martyrium wollte und provozierte (vgl. Mas¬

signon: Akhbär al-Hallaj. 3. Ausgabe. Paris 1957. Text Nr. 50 und 52). Massignon

weist bei anderer Gelegenheit darauf hin, daß die Lust, sich vom Gegenstand der

Verehrung beschimpfen und verfluchen zu lassen, bereits bei einigen islamischen Gnostikern des 8. Jahrhunderts vorgebildet ist (Die Ursprünge und die Bedeutung des Gnostizismus im Islam. In: Opera minora 1, S. 509ff. Zur Sache selbst vgl. Ummu l- Kitäb 45 und 48).

" vgl. Massignon: Tawästn 173 ff.

Ich stelle diese Deutung hier zur Diskussion, obwohl ich mir bewußt bin, daß

die spätere sufische Tradition das ana l-Haqq anders verstanden hat (vgl. etwa

BaqU: Sarh i Sathiyät. Ed. Corbin. Teheran 1966, S. 78; 378; 406; 420; 437).

(13)

195

ZUR ANALYSE VON MODALAUSSAGEN BEI AVICENNA

UND AVERROES

Von Carl Ehrig-Eggert, Mainz

1. Bekanntlich verhandelt Aristoteles - im wesentlichen in der Hermeneu¬

tik und in den Ersten Analytiken - nicht nur apodiktische Urteile, z.B. von

der Form „Allen A kommt B zu", sondern er erweitert diese Urteile und die

entsprechenden Syllogismen auch um Modalfunktoren. Diese Modalfunk¬

toren verändern den Sinn des ursprünglichen Urteils, denn dieses lautet

nun z.B. „Allen A kommt möglicherweise B zu". Solche um einen Modal¬

funktor erweiterten Urteile nenne ich Modalaussagen.

Es ist hier natürlich nicht möglich, auf alle Fragen einzugehen, die sich

bei Avicenna und Averroes fiir die Interpretation dieses schwierigen und

weitgehend noch unerforschten Teils der aristotelische Logik ergeben - vor

allem nicht auf die Syllogismen, deren Prämissen und conclusio von sol¬

chen Modalaussagen gebildet werden. Zur Diskussion stellen möchte ich

hier lediglich von Aristoteles abweichende Interpretationen der Modal¬

funktoren Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, wie sie m. E. bei

Avicenna und Averroes vorliegen. Diese setzen zwar das von Aristoteles

gegebene Paradigma voraus, weichen aber doch im Einzelnen erheblich

von ihm ab.

Einschränkend sei bemerkt, daß ich nur auf eine schmale Textbasis

zurückgreife: Für Avicenna auf das Werk al-ISärät wa t-tanbihät^ und das

Kitäb al-Qiyäs aus dem Kitäb al-Sifä'^, für Averroes auf ein von Dunlop

publiziertes Quaesitum - eine mas'ala - über die Modalität von Aussagen".

2. Als Ausgangspunkt dient sinnvollerweise die Interpretation der Modal¬

funktoren durch Aristoteles selbst. Es kann heute als gesichert gelten, daß

bei ihm die sogenannte „statistische" Interpretation der Modalfunktoren

vorliegt. Diese Interpretation versteht Modalaussagen als Aussagen über

den Umfang des zeitlichen Vorliegens der einzelnen Urteile. Dies bedeutet

im Einzelnen: Als „notwendig" wird das bezeichnet, was immer der Fall ist,

als „möglich" das, was eintreten oder nicht eintreten kann, und als

„unmöglich" das, was nie der Fall ist. Auf diese Interpretation, die modale

Beziehungen als temporale deutet, ist vor allem von dem finnischen Philo¬

sophen HiNTiKKA hingewiesen worden".

Die hellenistischen Aristoteles-Kommentatoren kennen natürlich diese

Unterscheidungen. Eine hiervon abweichende Interpretation der Modal-

' Ibn Sinä: al-ISäräl wa t-tanbihät ma'a ^arh Na^ir al-Din al-Tüsi. 1. Ed. Sulai¬

män Dunyä. al-Qähira: Där-al-Ma'ärif bi-Mi§r 1971 (Dahä'ir al-'Arab. 22.).

' Ibn Sinä: al-Sifä\ al-Manliq 4: al-Qiyäs. Ed. IbrahIm Madkür, Sa'Id Zäyid.

al-Qähira 1384/1964.

^ Douglas Mobton Dunlop: Averroes on the Modality of Propositions. In: Isla¬

mic Studies 1 (1962), S. 23-34.

Vgl. z. B. Jaakko Hintikka: Time and Necessity. Studies in Aristotle's Theory oJ

Modality. Oxford: Oxford University Press 1973, S. 103, 171 ff.

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