• Keine Ergebnisse gefunden

Bei der grammatischen Beschreibung des Deutschen wird die morphologische KategorieRespektbisher nur selten ins Spiel gebracht

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Bei der grammatischen Beschreibung des Deutschen wird die morphologische KategorieRespektbisher nur selten ins Spiel gebracht"

Copied!
16
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Horst J. Simon: Für eine grammatische Kategorie „Respekt“ im Deut- schen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepro- nomina. Tübingen: Niemeyer 2003 (Linguistische Arbeiten, 474).

236 Seiten.

Martin Haase Tempus, Modus, Aspekt und Person gehören unbestritten zu den zentra- len Kategorien der Verbalmorphologie, im Nominalbereich spielen Ka- sus, Genus und Numerus eine wichtige Rolle. Für exotische Sprachen wie das Japanische wird gelegentlich auch die KategorieRespektins Feld geführt, und zwar sowohl im Nominalbereich (Nominalpräfixe, Prono- mina) wie im Verbalbereich. Bei der grammatischen Beschreibung des Deutschen wird die morphologische KategorieRespektbisher nur selten ins Spiel gebracht. Umso verdienstvoller ist die von Horst Simon vorge- legte Studie zu diesem Thema.

Ausgehend von Forschungen zur Anrede (§ 1) und zu den grammati- schen Kategorien (§ 2) kommt der Verfasser auf das Verhältnis von Höf- lichkeit und Respekt (§ 3) zu sprechen. Hier geht es vor allem um prag- matische Ansätze, weniger um die Frage der Grammatikalisierung, also der Entstehung einer morphologischen Kategorie aus Ausdrucksmitteln der Pragmatik. Die historische Entwicklung wird im Kapitel zur „Dia- chronie der deutschen Anredepronomina“ (§ 4) behandelt ⫺zumindest für das Deutsche. Das Kapitel hat den Vorzug, auf etwa vierzig Seiten die Diachronie übersichtlich zusammenzufassen. Den Höhepunkt des Buches stellt das fünfte Kapitel dar, in dem die Respektgrammatik des Deutschen und des Westmittelbairischen dargestellt wird, deren Mutter- sprachler der Autor ist. Schließlich werden theoretische Konsequenzen erörtert (§ 6) und die Studie mit einem Fazit (§ 7) abgeschlossen. Die Arbeit komplettiert eine umfangreiche Bibliografie, die leider nur wenige Schriften aus der Zeit nach 2000 enthält.

Auf den ersten Blick scheint es sich um eine rein germanistische Arbeit zu handeln, jedoch geht Horst Simon über die Germanistik hinaus, in- dem er immer wieder Sprachmaterial aus anderen Sprachen diskutiert,

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 27 (2008), 147162 0721-9067/2008/0270147

DOI 10.1515/ZFSW.2008.007Walter de Gruyter

(2)

das er der relevanten Literatur entnommen hat. Gerade der Sprachver- gleich eröffnet eine typologische Perspektive, die dem Thema sehr zu Gute kommt. Besonders die Verbindung von Sprachvergleich, diachro- ner und synchroner Perspektive ermöglicht eine umfassende Behandlung des Problembereichs.

Die wichtigste Leistung des Buches ist zweifellos, dass es die Kategorie Respektin der Grammatikschreibung des Deutschen fest etabliert. Man wird in Zukunft nicht umhin können, für das Deutsche von vornherein von einer solchen Kategorie auszugehen. Dabei erstaunt es

allerdings, dass Horst Simon in seinem Kapitel über grammatische Kategorien in Einzelabschnitten nacheinander nur nominale Kategorien abhandelt, obwohl er später immer wieder auch auf den Verbalbereich zu sprechen kommt und hier vor allem auffällige Kongruenzverhältnisse anspricht. Besonders die Auseinandersetzung mit dem Mittelbairischen zeigt zudem, dass es sich auf jeden Fall auch um eine verbale Kategorie handelt, wie ja auch in Studien zu anderen Sprachen festgestellt wurde.

Für die Diskussion um morphosyntaktische Kategorien ist das von Horst Simon vorgeschlagene Konzept der „parasitären Kategorien“ rele- vant (6.2). Hierbei handelt es sich um Kategorien, die andere Kategorien zu ihrer Enkodierung verwenden. So wird Respekt im Standarddeut- schen mit Mitteln der Pluralbildung und Pronominalformen der dritten Person Plural enkodiert. Es darf in diesem Zusammenhang jedoch nicht vergessen werden, dass Kategorien Erfindungen von Linguisten sind, um Sprachen zu beschreiben. Es ist daher davon auszugehen, dass abhängig davon, welches Kategoriensystem der Linguist zu Grunde legt, Formen in unterschiedlichen Kategorien eine Rolle spielen können. Es gilt daher, Kriterien zu entwickeln, um zu entscheiden, welche Kategorien wesent- lich sind und welche parasitär (Markiertheitsgrad, Zahl der Oppositio- nen und Merkmale usw.). Das Caveat mindert allerdings nicht die Nütz- lichkeit des von Horst Simon eingebrachten Konzepts. So kann tentativ für das Japanische (im Gegensatz zum Deutschen) angenommen werden, dass Respektkategorien hier als wesentlich anzusehen sind und im Be- reich der Possession Respektformen parasitär verwendet werden.

Problematisch ist das Konzept der Exaptation (6.3), das aus der Evo- lutionsbiologie auf die Diachronie der Sprache übertragen wird: Formale Mittel, die eigentlich zur Enkodierung von Person und Numerus dienen, werden plötzlich zur Höflichkeitsmarkierung verwendet, so wie das Ge- fieder im Tierreich zunächst der Speicherung von Körperwärme dient, und später das Fliegen ermöglicht. Das Problem dieses Ansatz besteht in der Teleologie: Personen- und Numerusmarkierung scheinen prädi- sponiert zu sein, sich zu Respektformen zu entwickeln. Es ist fraglich, ob es sich hier um ein brauchbares Sprachwandelmodell handelt, da

(3)

Sprachveränderung nur im Nachhinein als zielgerichtet angesehen wer- den kann.

Die Diskussion des Westmittelbairischen ist besonders interessant. Da- bei schöpft der Verfasser aus sekundären Quellen (Ludwig MerklesBairi- sche Grammatik.München 1996), aus (schriftlich vorliegenden) Primär- quellen und aus eigener muttersprachlicher Introspektion. Eine solche Vorgehensweise ist zwar in der Germanistik durchaus etabliert, dafür aber gerade im Zusammenhang mit Respekt problematisch, weil Res- pektmarkierungen möglicherweise eine Folge von Sprachkontakt dar- stellen: In einer klassischen Dialektkonstellation haben wir es für ge- wöhnlich mit einer Diglossiesituation zu tun, in der der Dialekt vor allem für die Binnenkommunikation innerhalb einer lokalen Sprachgemein- schaft verwendet wird. Es stellt sich die Frage, inwieweit für die Binnen- kommunikation, die ja vor allem im familiären Kontext stattfindet, über- haupt Höflichkeitsformen zur Anwendung kommen. Sobald Formen mit hohem Respektwert verwendet werden, befinden sich die Gesprächspart- ner wahrscheinlich nicht mehr in der Domäne der Binnenkommunika- tion, sondern sprechen mehr oder weniger eine regionale Ausgleichsva- rietät. Dessen ungeachtet ist das Dialektmaterial besonders im Rahmen des Grammatikalisierungsmodells von besonderem Interesse.

Insgesamt ist Horst Simons Buch, das zugleich seine Dissertation ist, sehr anregend und sowohl für diachron und systemlinguistisch arbeit- ende Germanisten und Dialektologen wie für typologisch orientierte Sprachwissenschaftler von großem Interesse. Zukünftige Grammatiken des Deutschen werden Höflichkeitsformen durchaus als grammatische Kategorie auffassen. Die „theoretischen Konsequenzen“ der Untersu- chung sind für die Diskussion über die Grundlagen grammatischer Kate- goriebildung einschlägig und leisten einen lesenswerten, wenn auch kont- roversen Beitrag zur Sprachwandeldiskussion.

Martin Haase Bamberg (martin.haase@split.uni-bamberg.de)

Michele Prandi: The Building Blocks of Meaning. Ideas for a Philosophi- cal Grammar. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins 2004 (Human Cognitive Processing, 13). XVIII⫹520 Seiten.

VerenaHaser

“The building blocks of meaning” is an attempt to uncover the principles underlying what the author calls the ideation, i. e., the emergence, of complex meanings. How can a complex of expressions have significance

(4)

is the overarching question that runs like a thread through Prandi’s work. Prandi combines philosophical reflection and linguistic analysis in a way that is both illuminating and challenging. His point of departure is the idea that both functionalism and formalism offer profound insights into the nature of human language and the emergence of meaning. How- ever, both approaches are argued to suffer from a common shortcoming:

“the presupposition that one⫺and only one⫺factor governs the ide- ation of complex meanings” (p. x).

According to Prandi, formalists claim that the emergence of complex meaning is dependent on and due to linguistic forms⫺i. e., it is only by way of language (more specifically, grammatical structure) that we can form complex concepts: “linguistic forms are responsible for the con- struction of complex meanings” (p. xi). Functionalists, on the other hand, espouse the view that complex meanings correspond to and derive from arrays of concepts. On the functionalist position, expressions are merely a convenient means of conveying conceptual structures which exist independently of language. Interestingly, in recent years, construc- tion grammarians of a functionalist bent have come round to a position which is reminiscent of the formalist view as presented by Prandi: Ac- cording to scholars such as Goldberg (1995), linguistic constructions are form-meaning combinations, and syntactic schemata are associated with particular meanings and can actually impose a particular meaning on the elements they contain.

The main thrust of Prandi’s book is to undermine the presupposition he identifies as underlying both functionalist and formalist approaches.

According to Prandi, complex meanings gain significance as a result of the interplay between linguistic form and conceptual structure. This opens up the possibility of a typology of possible ways in which this interaction can take place. The fact that both factors combine to enable the emergence of meaning is difficult to confirm as long as one’s focus is restricted to run-of-the-mill expressions. Prandi therefore illustrates his basic idea with the help of what he calls “conflictual complex mean- ings”, i. e. meanings that are interpreted in discourse as tropes. Conflic- tual expressions present cases where the two factors do not work in harmony with each other. For example, in an expression likeThey sleep the mountains’ peaks, we can recognise a conflict in virtue of the fact that the syntactic structure imposes an alien mould on the connected concepts. As Prandi notes, “[t]he formal possibility of conflictual com- plex meanings shows beyond any doubt that linguistic forms have the strength to impose a formal mould on concepts. This […] does not imply that the mould is imposed on a shapeless conceptual purport. On the

(5)

contrary, the conflict is in itself proof that concepts are independently organised in complex and consistent networks” (p. xii).

It is not possible to do justice to the breadth and depth of Prandi’s work. The following observations can only provide a brief outline of its basic structure. Prandi’s book falls into three parts. The first part elabo- rates the role of coding and inferencing for the emergence of complex meanings. A distinction is made between relational and punctual coding, the former being defined as follows: “Relational coding depends on the presence of an independent network of grammatical relations. In the presence of relational coding, a given phrase ⫺ for instance, a noun phrase⫺encodes a given role⫺for instance, the agent ⫺not in isola- tion, but as a term of a grammatical relation⫺typically, as subject or object” (pp. 61⫺62). Punctual coding, on the other hand, “operates out- side the network of grammatical relations. In the presence of punctual coding, a given expression is connected to a given role not as a term of a grammatical relation but in isolation” (p. 62).

The second part is devoted to conceptual structures that play a role in inferencing, notably cognitive models and consistency criteria (⫽criteria specifying what consistent concepts are). It is important to note that inferencing here is not necessarily a pragmatic device (conversational implicature); when it interacts with coding in the ideation of complex meanings it is anchored in a long-lasting ‘grammar of concepts’.

The third part explores the ways in which conceptual and grammatical structure interact in both consistent ⫺ simple sentences, interclausal linkage⫺and inconsistent complex meanings. This part contains impor- tant observations, among other things, on tropes such as metaphor and metonymy.

Close scrutiny of this challenging book will pay rich dividends, since the work is full of subtle and original insights into the nature of lan- guage, far too complex to summarize in a short review. For example, the book contains intriguing observations on figures of speech, the semantic- pragmatics distinction, the nature of communication, and many other areas of special interest to linguists and philosophers. This review is therefore hoped to provide an invitation for readers to follow Prandi on his detailed and insightful investigation into the roots of meaning.

Verena Haser Freiburg (verena.haser@anglistik.uni-freiburg.de)

Literatur

Goldberg, Adele E. (1995). Constructions: A Construction Grammar Approach to Argu- ment Structure. Chicago: The University of Chicago Press.

(6)

Siegfried Kanngießer: Alternativräume der Sprachdynamik. Versuch über die Determination der grammatischen Kontingenz. Hrsg. von Utz Maas, zusammengestellt und ediert von Andreas Bulk. Göttingen: Universitäts- verlag Osnabrück bei V&R Unipress 2006. 369 Seiten.

TrudelMeisenburg Der 2004 nach schwerer Krankheit verstorbene Osnabrücker Sprachwis- senschaftler Siegfried Kanngießer hat sein letztes großes Werk nicht mehr selbst abschließen können. Freunde und Kollegen haben das nun für ihn getan und aus den nachgelassenen Manuskripten das vorliegende Buch zusammengestellt, das der Fachwelt an dieser Stelle kurz präsen- tiert werden soll. Das Vorwort hat Kanngießers nächster Kollege Utz Maas verfasst, der auch als Herausgeber des von der Universität Osna- brück und der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Unter- nehmens fungiert; die Zusammenstellung der Texte und die eigentliche Editionsarbeit hat der Kanngießer-Schüler Andreas Bulk besorgt; Uwe Mönnich hat nicht nur die Edition beratend unterstützt, sondern auch das Nachwort beigetragen, für das er seine 2005 im Rahmen der Osna- brücker Gedenkveranstaltung für Siegfried Kanngießer vorgetragenen Anmerkungen zu dessen Theorie der Sprachdynamik ausgearbeitet hat.

Der Titel des Bandes, Alternativräume der Sprachdynamik, geht auf den Titel des gewichtigsten nachgelassenen Manuskripts zurück, das in mehreren Versionen vorliegt und von der lebenslangen Auseinanderset- zung des Autors mit Fragen der Universalgrammatik zeugt. Zentral ist dabei der Ansatz zur theoretischen Integration von Struktur- und Erfah- rungswissen (bzw. Kompetenz und Performanz), durch deren Interaktion Variation und Wandel bestimmt werden ⫺ Sprachdynamik also, die Kanngießer stringent und einheitlich im Rahmen des Prinzipien- und Parameter-Modells zu modellieren sucht, um so die (Alternativ-)Räume möglicher Strukturbildungen zu erfassen. Im Streben nach größtmög- licher Reduktion hatte er⫺hierbei seinen wissenschaftlichen Vorbildern Wittgenstein (Tractatus, 1921) und Chomsky (Syntactic Structures, 1957) folgend⫺den als Summe seines Lebenswerks konzipierten Text zuletzt auf wenig mehr als 100 Seiten zusammengestrichen; doch wird man Her- ausgeber und Bearbeitern dankbar sein, dass sie der Publikation eine ältere, ausführlichere und daher zugänglichere Version zugrunde gelegt haben, die durch weitere nachgelassene Manuskripte ergänzt wurde. So ist ein umfangreiches Buch entstanden, das nach einer einführenden Skizze der Prinzipien- und Parameter- oder (P&P)-Theorie (Kap. 1) die entsprechend diesem Ansatz theoretisch zu postulierende Sprachkon- stanzder faktisch beobachtbaren Sprachkontingenzund damit Variation und Wandel gegenüberstellt (Kap. 2). In Kapitel 3 („UG-Deformation

(7)

und UG-Reformation“) diskutiert Kanngießer die bislang zur Lösung dieses Dilemmas eingebrachten Vorschläge, bevor er in den Kapiteln 4 und 5 seinen eigenen Entwurf vorstellt, der auf der Kombination von Parametern mit nicht-universellen Filtern beruht. Letztere strukturieren die Übergänge zwischen einzelnen Sprachzuständen, was exemplarisch anhand der Herausbildung der Verbzweitstellung im Germanischen dar- gelegt wird. Kapitel 6, „Schaltungsdetermination der Grammatizitätsdy- namik“, gilt schließlich den Faktoren, die den Sprachwandel begrenzen.

Während diese Kapitel die wichtigsten Ergebnisse aus Kanngießers langjährigen Bemühungen um eine angemessene Erklärung des Sprach- wandels zusammenfassen und somit einen guten Einblick in seine Ideen- und Theoriewelt vermitteln, ist der letzte Teil des Manuskripts, die ei- gentliche Formalisierung der Theorie, wegen seines eher fragmentari- schen Charakters nicht in die Buchpublikation aufgenommen worden.

Nebst einer Vielzahl weiterer Texte Kanngießers ist er jedoch unter http://elib.ub.uni-osnabrueck.de/publications/ELibD137_Kanngiesser.pdf abrufbar. Ein vollständiges Verzeichnis der elektronisch zugänglichen Dokumente und Schriften schließt den sorgfältig edierten Band ab, der zu kritischer Würdigung und fruchtbarer Diskussion des vorgestellten Nachlasses anregen möchte.

Trudel Meisenburg Osnabrück (tmeisenb@uos.de)

Henrik Henriksson: Aspektualität ohne Aspekt? Progressivität und Imper- fektivität im Deutschen und Schwedischen.Stockholm: Almqvist & Wik- sell 2006 (Lunder Germanistische Forschungen, 68). 159 Seiten.

BjˆrnRothstein Henrikssons Dissertation behandelt die Frage, ob Aspektualität auch ohne Aspekt möglich ist. Sprachlicher Untersuchungsgegenstand sind das Deutsche und das Schwedische, die in der Regel zu den aspektlosen Sprachen gezählt werden.

Aspektualität wird als grundlegende, inhaltlich-begriffliche ⫺ oder konzeptuelle ⫺ kognitiv verankerte Kategorie verstanden, die zeitlich perspektivierend ist. Im verbalen Bereich bestehen prinzipiell zwei Mög- lichkeiten, Aspektualität zu realisieren. Lexikalisch kann Aspektualität beispielsweise durch die Aktionsart eines Verbs oder grammatisch durch morphologische Markierungen am Verb, durch Aspekt, ausgedrückt werden. Der Arbeit zugrunde gelegt ist ein kognitiver Beschreibungsan- satz, der die Versprachlichung der kognitiven Kategorie Aspektuali-

(8)

tät durch verschiedene sprachliche Phänomene erlaubt. Die mit Aspektualität verbundenen konzeptuellen Inhalte werden auf zwei Ebe- nen etabliert und als „Situationstypen“ (Aktionsart) und als „Blickwin- kel“ (viewpoint nach Smith 1997) bezeichnet. Die inhärente zeitliche Struktur einer Situation stellt die erste Art dar, die Möglichkeit, Situatio- nen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, die zweite. Außerhalb des verbalen Bereichs können etwa Adverbien Aspektualität ausdrücken.

Aspektualität ist somit auch kompositional herstellbar.

Nach dieser theoretischen Fundierung spielt Henriksson die Frage nach der Aspektualität ohne Aspekt an einer Zusammenschau verschie- dener sprachlicher Phänomene des Deutschen und des Schwedischen durch. Für den Bereich der Tempora kommt Henriksson zum Schluss, dass mit ihnen kein Aspekt vorliegt und ihre aspektuelle Information relativ unspezifiziert ist.

Zu den weiteren aspektverdächtigen Konstruktionen des Deutschen und des Schwedischen zählt Henriksson etwa die am-Fügung (sie war am lesen), die Bildungen mit dabei (sie war dabei zu lesen) sowie die Pseudokoordinationen (hon sitter och läser (sie sitzt und liest ⫺ sie ist am lesen) und das ha˚lla pa˚-Gefüge (hon ha˚ller pa˚ att läsasie ist am lesen). Ihnen ist gemeinsam, dass sie Progressivität, allerdings in unter- schiedlichem Grammatikalisierungsgrad, ausdrücken. Henriksson ord- net diese Progressivmarkierer nicht unter Aspekt ein, obwohl sie auf den ersten Blick durchaus mit seiner Aspektdefinition vereinbar sind. Als Grund für diesen Ausschluss gibt er die noch nicht abgeschlossene Grammatikalisierung der Konstruktionen an. In Sprachen mit Progres- sivmarkierern, aber ohne vollgrammatikalisierte Progressivformen zeigt sich nach Henriksson (S. 104) der geringere Grammatikalitätsgrad am deutlichsten darin, dass die Wahl zwischen Progressivität und Nicht-Pro- gressivität nicht obligatorisch ist. Im Deutschen wie im Schwedischen muss nicht auf progressivverdächtige Konstruktionen zurückgegriffen werden, um Progressivität auszudrücken. Da in diesen Fällen progressive Informationen vermittelt werden, ohne auf die Kategorie Aspekt zurück- zugreifen, kann Henriksson die eingangs gestellte Frage vorsichtig mit

„Ja“ beantworten (S. 154). Aspektualität kann also ohne Aspekt ausge- drückt werden. Dennoch wäre eine etwas differenziertere Darstellung der Grammatikalisierung in diesem Zusammenhang wünschenswert gewe- sen. So werden häufig die schwedischensitter och läser-Konstruktionen als vollgrammatikalisiert eingestuft (etwa bei Dahl 1995, vgl. jedoch van Pottelberge 2007 zu einer anderen Auffassung). Da der Status dieser schwedischen Konstruktionen als vollgrammatikalisierte Kategorien für Henrikssons Argumentation entscheidend ist, wäre hierzu eine ausführ- lichere Diskussion notwendig gewesen.

(9)

Henrikssons Arbeit ist klar strukturiert und die Thesen werden leicht nachvollziehbar dargestellt. Darüber hinaus bietet sie gute empirische Beobachtungen. Aspektinteressierten sei die Arbeit zur Lektüre emp- fohlen.

Björn Rothstein Tübingen (bjoern.rothstein@uni-tuebingen.de)

Literatur

Dahl, Östen (1995). The tense system of Swedish. InTense Systems in the European Langua- ges II, Rolf Thieroff (ed.), 5968. Tübingen: Niemeyer.

Smith, Carlotta (1997).The Parameter of Aspect.Dordrecht: Kluwer.

van Pottelberge, Jeroem (2007). Defining grammatical constructions as a linguistic sign:

the case of periphrastic progressives in the Germanic languages.Folia Linguistica41:

99134.

Max Boeters: Die Geschichte der deutschen halb-Zahlwörter. Untersu- chungen zur Neubesetzung eines lexikalischen Feldes und zur Univerbie- rung syntaktischer Gruppen.Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006 (Germanistische Bibliothek, 27). 130 Seiten.

ThomasStolz Dieser schmale Band könnte unverdientermaßen übersehen werden, weil er sich dem ersten Anschein nach einem ziemlich randständigen Themen- gebiet widmet. Allerdings stellt sich bei der Lektüre dieser Arbeit bald heraus, dass Boeters’ kleine Abhandlung für all diejenigen interessant ist, die sich aus allgemein-linguistischer Sicht mit Fragen des Sprachwan- dels, der Grammatikalisierung und nicht zuletzt der Numeralia beschäf- tigen. Für mich als bekennenden Nicht-Germanisten war es zudem äußerst aufschlussreich zu sehen, dass die Geschichte des deutschen Nu- meralsystems eigentlich noch ungeschrieben ist und Boeters Beitrag praktisch eines der wenigen wirklich systematisch aufgebauten Kapitel der diachronischen Beschreibung der deutschen Numeralia darstellt. Des Weiteren war ich verblüfft, wie oft der Autor sich genötigt sah, die gewis- sermaßen klassischen Texteditionen der älteren Germanistik und auch die entsprechenden Handbücher des Faches zu korrigieren. Man erkennt daran leicht, dass die sog.halb-Zahlwörter im germanistischen Kontext kaum im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben.

Unter dem Begriffhalb-Zahlwörter versteht Boeters die Ausdrücke für die numerischen Werte 1,5 / 2,5 / 3,5 usw. Meines Wissens ist auch in der

(10)

ansonsten reichhaltigen allgemein-linguistischen Literatur zu den Nume- ralia über die Eigenschaften und die Geschichte solcher Ausdrücke nichts Substanzielles gesagt worden. Boeters Arbeit ist damit gleich in zweierlei Hinsicht eine Pionierleistung, da sie ein neues Forschungsfeld nicht nur für die Germanistik, sondern auch für die Allgemeine Sprach- wissenschaft eröffnet.

Das Hauptanliegen des Autors ist es, mittels einer detaillierten und philologisch exakten Überprüfung deutschsprachiger Originalquellen seit althochdeutscher Zeit bis zum 20. Jahrhundert den Prozess sichtbar und nachvollziehbar zu machen, in dessen Verlauf Ausdrücke vom Typ dritthalb(für 2,5) durch den heute üblichen Typuszweieinhalbverdrängt werden. Die empirische Untersuchung nimmt dabei den allergrößten Teil des Gesamttextes ein (S. 31⫺119). Boeters gelingt es zu zeigen, dass die beiden genannten Ausdruckstypen über lange Zeit in der deutschen Sprachgeschichte nebeneinander existierten, wobei der Typ dritthalb in der Frühphase deutlich überwog. Seine Verdrängung aus einzelnen Posi- tionen seines ursprünglichen Paradigmas und aus verschiedenen Text- genres stellt der Autor minutiös dar. Es ist ganz augenfällig, dass der schrittweise Ersatz vondritthalbdurchzweieinhalbbei den höheren Zahl- werten begann und sich nach und nach auf die niedrigeren ausdehnte, sodass heute nur noch der ebenfalls im Schwinden begriffene Ausdruck anderthalb(nebeneineinhalb) im System verblieben ist.

Anmerken muss man, dass Boeters bibliographisch und terminolo- gisch sehr stark den germanistischen Traditionen verhaftet bleibt. So fin- det sich praktisch keine einzige moderne allgemeinsprachwissenschaft- liche Studie zu Numeralia in der von ihm konsultierten Literatur. Die wesentlichen Begrifflichkeiten für seine Darstellung schöpft Boeters aus germanistischen Arbeiten aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts.

Er will auch offenkundig sprachwandeltheoretische Aussagen machen, bezieht sich dabei aber auf keine der heutzutage gängigen einschlägigen Arbeiten z. B. aus dem Bereich der Grammatikalisierung. Dessen unge- achtet sind seine Ausführungen eben genau für diese Bereiche sehr wert- voll und können wegen ihrer leichten Lesbarkeit auch ohne weiteres in die allgemeinsprachwissenschaftliche Diskussion „übersetzt“ werden.

Das abschließende Kapitel trägt den Titel „Ergebnisübersicht“

(S. 121⫺128). Hier werden zuvor im Text dargestellte Einsichten noch- mals wiederholt, zum Teil sogar mit fast gleicher Wortwahl. Hier hätte der Autor eventuell auf den allgemeinen Wert seiner Untersuchung und ihrer Ergebnisse stärker eingehen sollen.

Thomas Stolz Bremen (stolz@uni-bremen.de)

(11)

Nikolaus P. Himmelmann & Eva F. Schultze-Berndt (eds.): Secondary Predication and Adverbial Modification. The Typology of Depictives.

Oxford: Oxford University Press 2005. XXV⫹448 Seiten.

ThomasStolz Sekundäre Prädikate sind in jüngster Zeit zu einem gerade auch im funk- tional-typologischen Zusammenhang verstärkt diskutierten Gegenstand aufgestiegen. Die beiden Bandherausgeber haben dieser in ihren („mo- dernen“) Anfängen in die Siebziger Jahre zurück reichenden Diskussion durch ihren gemeinsamen Artikel in Linguistic Typology (Schultze- Berndt & Himmelmann 2004) noch zusätzlichen Schwung verliehen.

Dieser vielzitierte Aufsatz beruht auf einem Positionspapier, das die Autoren bereits 2001 anlässlich einer thematisch einschlägigen Tagung an der Ruhr-Universität Bochum präsentierten. Aus den Vorträgen auf dieser Tagung sind ⫺ mit einer Ausnahme ⫺ auch alle Beiträge zum vorliegenden Sammelband entstanden. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn sich als roter Faden durch sämtliche Aufsätze die Bezugnahme auf das erwähnte Positionspapier bzw. seine später publizierte Fassung zieht.

In gewisser Weise lässt sich auch die gemeinsam verfasste ausführliche Einleitung der beiden Herausgeber (S. 1⫺68) als Fortsetzung ihres 2004 erschienenen Aufsatzes verstehen. Hier wird ein Raster von Fragestellun- gen entwickelt, das u. a. dazu dienen soll, partizipantenbezogene Ad- junkte von situationsbezogenen Adjunkten („adverbial modification“) unterscheiden zu können. Dass die Unterscheidung der beiden Phäno- mene nicht in jedem Fall eindeutig gelingt, wird von den Herausgebern und verschiedentlich auch von Autoren einzelner Fallstudien durchaus eingeräumt. Ob dieser Umstand rechtfertigt, von einem Kontinuum zwi- schen den beiden Adjunktklassen auszugehen, müsste noch im Detail überprüft werden. Das Gerüst von diskussionswürdigen Themen, das Himmelmann und Schultze-Berndt in ihrer Einleitung darlegen, gibt in nicht ganz strikter Form auch den nachfolgenden Beiträgen ihre Struk- tur vor. Die Autoren der Fallstudien sind darum bemüht, Antworten zumindest auf eine Auswahl der Fragen zu geben, die in der Einleitung gestellt werden.

Die insgesamt elf Fallstudien decken eine beachtliche Reihe von Spra- chen ab, unter denen solche aus Australien, Afrika und dem Kaukasus- gebiet mehrmals vertreten sind. Die sonst recht verbreitete Schlagseitig- keit der Datenbasis zugunsten von SAE-Sprachen wie Deutsch und Eng- lisch trifft auf keinen Fall zu. Eine nach allen Regeln der Typologie aus- gewogene und flächendeckende Empirie wird jedoch auch nicht erreicht, war aber wahrscheinlich gar nicht das Ziel des Sammelbandes. Allerdings schlagenvan der Auwera & Malchukov (S. 393⫺421) im abschließenden

(12)

Beitrag eine semantische Karte für Depiktive vor. Die Autoren räumen jedoch ein, dass ihre Vorschläge auf einer eingeschränkten empirischen Grundlage basieren und daher ergänzender Daten bedürften, um revi- diert werden zu können.

Mit gelegentlich 40 Druckseiten sind die Beiträge lang genug, um ins Detail gehen zu können. Inwiefern die Ausführlichkeit in jedem Fall sachdienlich ist, sei dahingestellt. In jedem Beitrag erfährt der Leser sehr viel Neues über besser und weniger gut bekannte Sprachen. Da sekun- däre Prädikate traditionell nicht zum Kanon der in deskriptiven Gram- matiken abzuhandelnden Phänomene gehören, enthält der Sammelband immer wieder auch wirklich brandneue Information. So berichtetBucheli Berger(S. 141⫺172) über die Herausbildung eines Depiktivmarkers aus einem ehemaligen Kongruenzmorphem in Varietäten des Schweizerdeut- schen (was bisher eher in der Dialektologie „bekannt“ war). Enfields Studie zum Laotischen (S. 379⫺382) ist besonders interessant, weil in ihr gezeigt wird, dass die Unterscheidbarkeit von primären und sekundären Prädikaten keineswegs immer eindeutig ist. Ein Bindeglied zwischen der genannten schweizerdeutschen Evidenz und den Problemen, die sich aus der Analyse des Laotischen ergeben, bildet Amekas Aufsatz zum Ewe (S. 355⫺378): Hier weist eine serialisierende Sprache sehr wohl nominale sekundäre Prädikate auf (was zuvor bestritten wurde) und belegt zudem die Herausbildung eines speziellen Morphems zur Markierung von se- kundären Prädikaten. Da das klitische⫽i im Ewe aber multifunktional ist und zu seinen Aufgaben auch die Adverbialisierung gehört, ergibt sich eine strukturelle Konstellation, bei der sich partizipantenbezogene und situationsbezogene sekundäre Prädikate weitgehend gleich verhalten.

Aus Raumgründen kann ich nicht mehr auf die übrigen Beiträge ein- gehen, zu denen sich doch ziemlich ausführliche Inhaltsangaben auf den Seiten IX⫺XIV des Sammelbandes finden. Das Buch ist ein Gewinn für die typologische Sprachforschung und erweitert unser Wissen über sekundäre Prädikate in erheblichem Maße. Es ist wünschenswert, dass in Zukunft die empirische Basis verbreitert wird, damit verlässliche Aus- sagen über das möglich werden, was eventuell universell an der sekundä- ren Prädikation ist. Ich empfehle diesen Sammelband allen Typologen und Syntaktikern zur Lektüre.

Thomas Stolz Bremen (stolz@uni-bremen.de)

Literatur

Schultze-Berndt, Eva & Nikolaus P. Himmelmann, (2004). Depictive secondary predicates in crosslinguistic perspective.Linguistic Typology8: 59131.

(13)

Claudine Moulin & Damaris Nübling (Hgg.): Perspektiven einer linguisti- schen Luxemburgistik. Studien zur Diachronie und Synchronie. Heidel- berg: Universitätsverlag Winter 2006 (Germanistische Bibliothek, 25).

V⫹356 Seiten.

ThomasStolz Die im Entstehen begriffene neue philologische Disziplin Luxemburgi- stik hat mit der Gründung der Universite´ du Luxembourg und der dorti- gen Einrichtung eines luxemburgistisch ausgerichteten Lehrstuhls für Linguistik in jüngster Zeit erhebliche infrastrukturelle Fortschritte ge- macht. Die Konturen des Faches selber müssen allerdings noch näher bestimmt werden.

Der sprachwissenschaftlichen Seite der Luxemburgistik widmet sich der vorliegende Sammelband. Er ist jedoch weder eine Einführung in das neue Gebiet noch ein Handbuch der Luxemburgistik, sondern, wie im knappen Vorwort vermerkt, die Dokumentation des Workshops „Lu- xemburgisch in Synchronie und Diachronie“, der 2001 während der 34.

Jahrestagung der SLE in Leuven abgehalten wurde. Die damaligen Bei- träge sind noch um zusätzliche Aufsätze auf Einladung ergänzt worden.

Es liegt in der Natur von Tagungsbänden, dass sie thematisch divers ausfallen. Der Leser bekommt dementsprechend nur einen Einblick in ganz bestimmte Facetten der Luxemburgistik. Die Bandbreite der Bei- träge reicht von soziolinguistischen Fragestellungen über solche der Pho- nologie und Morphologie hin zu syntaktischen und lexikologischen Pro- blemen. Sprachsoziologie sowie diachrone Dokumentation und moderne literarische Produktion auf Luxemburgisch sind ebenfalls mit eigenen Beiträgen in diesem Sammelband vertreten.

Im Rahmen einer Kurzbesprechung kann ich naturgemäß nicht auf alle interessanten Aspekte eingehen, will aber auf zwei wichtige Gesichts- punkte etwas näher eingehen. Für eine neu entstehende Nationalphilolo- gie ist es unabdingbar, die eigene Domäne durch Abgrenzung speziell gegenüber Nachbardisziplinen deutlich zu markieren. Ob dies dadurch gewährleistet wird, dass ganz allgemein moselfränkische Dialektologie mit bestenfalls marginalen Verweisen auf das Luxemburgische behandelt werden (siehe die Beiträge vonGirnthundDrenda) sei dahingestellt. Das Luxemburgische muss als von der Germanistik halbwegs autonomes ge- nuines Forschungsgebiet der Linguistik erkannt werden, wie dies etwa in den sehr lesenswerten Beiträgen vonGilleszur Phonologie,Nübling &

Dammezur Morphologie,Nüblingzur Grammatikalisierung undGlaser zur Syntax vorbildlich erfolgt. Die Luxemburgistik benötigt dringlich den Anschluss an die allgemeinlinguistische (und nicht nur germanisti-

(14)

sche) Diskussion, damit das Luxemburgische selbst als gleichberechtigte Objektsprache in die laufenden Forschungen eingehen kann. In diesem Sinne ist davon abzuraten, rein autoreferenzielle Beiträge mit terminolo- gischen Sonderlösungen zu sehr in den Vordergrund zu stellen (siehe den Beitrag vonSchanen).

Zu den interessanten Einsichten, die der Sammelband bietet, gehört Gilles’ Widerlegung der These, das Luxemburgische sei ein Beispiel für Koineisierung. Der Autor zeigt überzeugend, dass wir es vielmehr mit Dialektausgleich zu tun haben. In Nüblings Beitrag zur luxemburgischen Passiv-Periphrase wird eine auffällige typologische Idiosynkrasie des Lu- xemburgischen hervorgehoben, nämlich die Grammatikalisierung desge- ben-Verbs zum Passivauxiliar. Das Luxemburgische hat also der Lingui- stik noch einige Schätze zu bieten, die allerdings erst gehoben werden müssen.

In vielen der Beiträge ist deutlich zu erkennen, dass die Luxemburgi- stik auch empirisch noch in den frühesten Anfängen steckt. Allenthalben wird darauf hingewiesen, dass es an einschlägigen Vorarbeiten mangelt und praktisch zu jedwedem linguistischen Themengebiet gearbeitet wer- den muss. Eines der am häufigsten erwähnten Phänomene in diesem Sammelband ist die so genannte Eifler Regel, mit der die Realisierung bzw. Nicht-Realisierung von wortauslautendem -netikettiert wird. Wäh- rend Gilles mit Mitteln der nicht-linearen Phonologie diese philologische Regel linguistisch adäquat formalisiert und feststellt, dass wir es mitn- Tilgung unter bestimmten Kontextbedingungen zu tun haben (S. 57), sagtGirnth(S. 69), dass die Regeln-Realisierung durch einen bestimmten Folgekontext erfasst. Hier besteht also durchaus eine vielleicht unge- wollte „Meinungsvielfalt“, die symptomatisch für die Anfangsphase des neuen Faches sein könnte. Ich wünsche der Luxemburgistik für die Zu- kunft gutes Gelingen.

Thomas Stolz Bremen (stolz@uni-bremen.de)

Eva Gugenberger & Mechthild Blumberg (Hgg.): Vielsprachiges Europa.

Zur Situation der regionalen Sprachen von der iberischen Halbinsel bis zum Kaukasus. Frankfurt am Main: Lang 2003 (Österreichisches Deutsch⫺Sprache der Gegenwart, 2). 235 Seiten.

StefanTrˆster-Mutz Der Band ist eine Sammlung von zehn Beiträgen einer Vortragsreihe an der Universität Bremen und richtet sich nicht nur an eine sprachwissen-

(15)

schaftliche Leserschaft, sondern auch an interessierte Laien. Nach einer Einführung durch die Herausgeberinnen folgt ein Beitrag zu Mehrspra- chigkeit und Minderheiten in Europa vonPeter Hans Nelde, in dem er Mehrsprachigkeit und Sprachpolitik in Europa erörtert und bildungspo- litische Modelle für Minderheitensprachen vorstellt. Die weiteren Bei- träge befassen sich entweder mit den Gegebenheiten in einzelnen Län- dern (Frankreich, Italien, Spanien) und Regionen (Kaukasus) oder neh- men Sprachen (Baskisch, Portugiesisch) und Sprachfamilien (Nordger- manische Kleinsprachen, slavische Sprachen) als Ausgangspunkt. Den Abschluss bildet ein Beitrag vonRudolf Muhrzu plurizentrischen Spra- chen Europas⫺Sprachen, die mehrere nationale Varietäten ausgebildet haben. Er erläutert Konzepte wieSprache,Dialektundnationale Varietät und gruppiert verschiedene Sprachen Europas nach unterschiedlichen Kriterien, z. B. Sprachen mit Haupt- und Nebenvarietät, Sprachen, deren Varietäten nur in Europa vorkommen oder auch außerhalb. Am Beispiel des Deutschen wird das Konzept nochmals angewandt und veranschau- licht.

Die geographisch ausgerichteten Beiträge werden von Peter Cichon mit der Vorstellung der Sprachenvielfalt Frankreichs eröffnet. Am Bei- spiel des Okzitanischen werden die Auswirkungen der Sprachenpolitik in Frankreich illustriert. Abschließend zeigt Cichon die Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Eva Gugenbergerdemonstriert, dass Spanien seit 1975 ein Mehrsprachigkeits- konzept sehr gut umsetzt und weist am Beispiel des Baskischen, Galizi- schen und Katalanischen auf dennoch bestehende Probleme hin.Robert Tanzmeister erläutert mit seinem Beitrag zu Italien eine teilweise sehr gute Umsetzung von Autonomie besonders im Bildungswesen und disku- tiert am Beispiel des Piemontesischen die Problematik der Sprache-Dia- lekt-Abgrenzung und die oftmals politischen Entscheidungen, die diese Unterscheidung bedingen. Am Ende des Bandes erklärtWinfried Böder, dass „am Kaukasus […] noch lang nicht Schluss [ist]“ und zeigt, dass am Rande Europas viele Sprachen mit teilweise sehr kleinen Sprecherzahlen ihre Position behaupten müssen, und wie moderne Bildungswünsche und Traditionen zu aktiver Mehrsprachigkeit führen.

Martin Haase beschreibt die Situation des Baskischen und bringt als einer der wenigen Beiträger auch die sprachlichen Besonderheiten illu- strierende Beispiele. Mechthild Blumberg stellt Portugiesisch als ver- kannte Weltsprache vor, erläutert kurz die Sprachgeschichte und wirft auch einen Blick auf die außereuropäischen Varietäten des Portugiesi- schen.Christer Lindqvistzeigt in einem philologisch sehr umfangreichen Beitrag, dass Island, die Färöer und Norwegen mit unterschiedlichen Konzepten Standardsprachen schufen, um sich von einer dänischen Vor- macht zu lösen, wobei in Norwegen letztlich zwei Schriftsprachen ent-

(16)

standen. Gerd Hentschel behandelt neben den bekannteren slawischen Sprachen noch einige weniger bekannte und weist am Beispiel des Serbo- kroatischen darauf hin, dass politische Veränderungen auch sprachliche Veränderungen mit sich führen, die linguistisch nicht zwingend notwen- dig wären.

Die Beiträge sind in Umfang und Gestaltung sehr heterogen. Der Schwerpunkt liegt auf soziolinguistischen Darstellungen mit besonderer Berücksichtigung der Sprachpolitik. Viele Artikel bieten auch sprachge- schichtliche Hintergründe. Sprachliche Merkmale werden nur in gerin- gem Umfang vorgestellt. Die Ausrichtung der Beiträge auf weniger be- kannte Sprachen macht jedoch den gesamten Band sehr informativ. Le- ser, die Wert auf eine einheitliche Darstellungsweise legen, um beispiels- weise schnell etwas nachschlagen zu können, könnten allerdings ent- täuscht sein. Die Ausrichtung auch auf nicht-wissenschaftliches Publikum stört indes nicht, besonders Studierende können durch die Bei- träge einen guten Überblick über Sprachen abseits ihres gewählten Fa- ches erhalten.

Stefan Tröster-Mutz Bremen (stefan.troester-mutz@uni-bremen.de)

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Kategorientheorie stellt Beziehungen zwischen Objekten statt etwaiger innerer Struktur in

Damit wird signalisiert, dass es genau diese sechs Verben und nicht noch mehr sind, die sich so verhalten (s. auch Abschnitt 10.2.7).. Es gilt, dass der Kern der Verbalflexion

Eine weitere Generalisierung bezüglich des Unterschieds zwischen Wortbil- dung und Flexion mittels Affixen betrifft die Anwendungsfähigkeit der Prozesse auf die Wörter in einer

Mit we- nigen (schwer begründbaren) Ausnahmen hat die Argumentation über die Häu- figkeit zu erfolgen. Dabei ist Häufigkeit allerdings nicht gleich Häufigkeit, wie jetzt gezeigt

ends die Tätigkeiten des Denkens bestehen durchgängig in der Vorstellung oder Behauptung von Verhältnissen zwischen einer mehr oder minder ausgedehnten Vielheit

Während aber das Merkmal [+ belebt] für ein Nomen vorwiegend nur dann vorliegt, wenn das betreffende Nomen außersprachlich eine belebte Entität be- zeichnet, gilt dies nicht

Partner zu aterminativen Verben mit dem Präfix po- ist im Russischen vollproduktiv, dasselbe gilt auch für alle Fälle, in denen aus einer terminativen Bedeutung per

Tätigkeitsbericht des Landesbeauftragten für den Datenschutz Nach dem Datenschutzgesetz erstattet der Landesbeauftragte dem Landtag alle zwei Jahre einen Tätigkeitsbericht..