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Sehen, lesen, schreiben, sitzen: die Konstruktion des Schulkindes durch die Statistik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert

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Academic year: 2022

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(1)Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2019. Sehen, lesen, schreiben, sitzen: die Konstruktion ”des Schulkindes‘ durch die Statistik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert Boser, Lukas ; Hofmann, Michèle. Abstract: Dieser Beitrag nimmt Bezug auf die These, dass Statistik nicht einfach ein Abbild der ”Wirklichkeit” ist, sondern dass sie stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat. Er zeigt auf, wie ”das Schulkind” im Zusammenhang mit der Schule und den Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich definierter, generischer Begriff konzeptualisiert wurde und welche Rolle die Statistik dabei spielte.. Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-183885 Book Section Published Version Originally published at: Boser, Lukas; Hofmann, Michèle (2019). Sehen, lesen, schreiben, sitzen: die Konstruktion ”des Schulkindes‘ durch die Statistik in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. In: Haas, Stefan; Schneider, Michael C; Bilo, Nicolas. Die Zählung der Welt: Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 137-151..

(2) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 136. Christina Rothen / Thomas Ruoss. Eine Möglichkeit der Redimensionierung, wie im Berner Fall gezeigt, besteht in einer Personalisierung von Information und Aufsicht – und damit im Ersatz statistischen Wissens durch alternative Wissensformen. So scheinen in paternalistisch geprägten politischen Kontexten kontinuierlich statistische Repräsentationen eine schwächer ausgeprägte Resonanz erfahren zu haben, als in Kontexten mit durchgehend direkt-demokratisch gewählten Laienbehörden. Der Berner Fall zeigt, dass die unpersönliche Kommunikationstechnologie der Quantifizierung und Formalisierung angesichts einer paternalistischen und damit über persönliche Kontakte funktionierenden Kommunikationskultur kaum vertrauensstiftend wirkend konnte. Entsprechend hat sich die statistische Datenproduktion auch nicht zu einem wirkmächtigen Instrument innerhalb der Machtkonstellationen der Berner Schulverwaltung entwickelt. Bei der Analyse der Dynamik amtlicher Statistik zeigt sich, dass sowohl Momente der Expansion als auch Momente der Redimensionierung in gegenseitiger Abhängigkeit gedacht werden müssen, so dass die anfangs postulierte anhaltende Anziehungskraft statistischer Datenproduktion zumindest relativiert werden muss. Trotz der hier entwickelten Thesen bleiben die Bedingungen unter denen regelmäßig erhobenes und publiziertes statistisches Wissen wieder abnimmt, seine kommunikative Funktion einbüßt oder sich andere Wissensformen als vertrauensstiftender erweisen ein Desiderat, welches es mitunter durch historische Analysen sowohl empirisch als auch theoretisch zu bearbeiten gilt.. Franz Steiner Verlag.

(3) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. SEHEN, LESEN, SITZEN, SCHREIBEN DIE KONSTRUKTION ‚DES SCHULKINDES‘ DURCH DIE STATISTIK IN DER SCHWEIZ IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT Lukas Boser / Michèle Hofmann. Dieser Beitrag nimmt Bezug auf die These, dass Statistik nicht einfach ein Abbild der ‚Wirklichkeit‘ ist, sondern dass sie stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat. Er zeigt auf, wie ‚das Schulkind‘ im Zusammenhang mit der Schule und den Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich definierter, generischer Begriff konzeptualisiert wurde und welche Rolle die Statistik dabei spielte. This paper refers to the thesis that statistics is not merely a reflection of ‚reality‘ but has a reality-constituting potential too. The paper shows how ‚the schoolchild‘ was conceptualized through statistics – in connection with school-related activities such as seeing, reading, sitting, and writing – as a scientifically defined, generic notion in the second half of the 19th and the beginning of the 20th century. In der Schweiz, einem kleinen Land mit damals weniger als drei Millionen Einwohnern, besuchten im ausgehenden 19. Jahrhundert fast 500 000 Kinder die Primarschule.1 Die große, unübersichtliche und heterogene Masse an Schulkindern – eine Folge des Bevölkerungswachstums und der allmählichen Durchsetzung der Schulpflicht – wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zunehmend als eine Problematik wahrgenommen, die statistisch erfasst und verwaltet werden musste. Diese Wahrnehmung kam nicht von ungefähr. Im Laufe des 19. Jahrhunderts durchlief die Schule als Institution einen fundamentalen Wandel. Die Dorf- oder Stadtschulen, die an lokalen Bildungsbedürfnissen ausgerichtet gewesen und die durch die Gemeinde organisiert und vom Pfarrer kontrolliert worden waren, wurden zusehends in staatliche Schulsysteme integriert. Mittels der Einführung einheitlicher Strukturen (u.a. Jahrgangsklassen), allgemeinverbindlicher Regelungen (u.a. Vorgaben zu Klassengrößen, Unterrichtszeiten) und standardisierter Curricula (Lehrpläne) wurde in der Schweiz, wie in vielen anderen europäischen Staaten auch, eine Zentralisierung des Schulwesens angestrebt. Im Ancien Régime waren Schule und. 1. Vgl. bsp. Personalverhältnisse, in: Jahrbuch des Unterrichtswesens in der Schweiz 1 (1887), S. 143–151, hier S. 143.. Franz Steiner Verlag.

(4) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 138. Lukas Boser / Michèle Hofmann. Unterricht auf der Grundlage von lokalem Wissen und örtlichen Bedürfnissen organisiert worden. Eltern, Lehrer und Pfarrer kannten ihr Dorf oder ihren Stadtteil und die Bedürfnisse der Bewohner und Bewohnerinnen. Aufgrund dieses Wissens vermochten sie abzuschätzen, wie viel Unterricht als sinnvoll angesehen werden konnte und was die Kinder in diesem Unterricht lernen sollten. Mit voranschreitender Integration der Dorf- und Stadtschulen in ein staatliches Schulwesen verlor dieses lokale Wissen an Bedeutung. Um eine staatlich organisierte Volksschule effektiv gestalten und verwalten zu können, musste diese in neuer Form sicht-, versteh- und handhabbar oder, um einen Begriff des Anthropologen James Scott zu verwenden, „lesbar“ gemacht werden.2 Die alten, lokalen Bedingungen und Bedürfnisse konnten in einem staatlichen Schulsystem nicht länger als Ordnungskriterien dienen. Dies galt insbesondere für die Population der Schülerinnen und Schüler. „Society must be remade before it can be the object of quantification. Categories of people and things must be defined; measures must be made interchangeable”,3 schreibt der Wissenschaftshistoriker Theodore Porter – und genau dies traf auch auf die Schule, auf die Schulkinder zu. Man begann, die Kinder mit Hilfe von Statistiken respektive Zahlenwerten zu gruppieren. Ordnungskriterien, wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Bildbarkeit oder Gesundheit, wurden neu eingeführt oder unter anderen Blickwinkeln betrachtet. Bezugnehmend auf die These, dass Statistik nicht einfach ein Abbild der ‚Wirklichkeit‘ ist, sondern dass sie stets auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter hat, wollen wir in diesem Beitrag der folgenden Frage nachgehen. Wie wurde ‚das Schulkind‘ im Zusammenhang mit der Schule – d.h. der Umgebung, in der ein Kind überhaupt erst zum ‚Schulkind‘ wird – sowie im Zusammenhang mit dem Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben – d.h. den Haupttätigkeiten von Schulkindern – in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts als wissenschaftlich definierter, generischer Begriff konzeptualisiert und welche Rolle spielte die Statistik dabei? Es wäre jedoch historisch nicht korrekt zu behaupten, die neuartige ‚Lesbarmachung‘ der Schule und der Schulkinder wäre einem generellen Plan gefolgt. Das Gegenteil ist der Fall. Sie war die Folge von vielen einzelnen mehr oder weniger zusammenhängenden Vorgängen, die erst in der historischen Rückschau als ein Prozess erscheinen respektive sich als ein Prozess rekonstruieren lassen. Einige dieser Vorgänge wollen wir im Folgenden etwas genauer betrachten.. 2 3. James C. Scott: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven 1998, S. 339f. Theodore M. Porter: Objectivity as Standardization. The Rhetoric of Impersonality in Measurement, Statistics, and Cost-Benefit Analysis, in: Allan Megill (Hg.): Rethinking Objectivity, Durham/London 1994, S. 197–237, hier S. 201.. Franz Steiner Verlag.

(5) Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 139. Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. DAS SCHULKIND Die Vorstellungen vom ‚Kind‘ im Allgemeinen werden in der Pädagogik bis heute stark durch Idealvorstellungen geprägt.4 Einflussreich waren dabei beispielsweise Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) mit seinem Erziehungsroman Emile (1762),5 Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) mit seinen Schriften Lienhard und Gertrud (1781)6 und Wie Gertrud ihre Kinder lehrt (1801)7 oder Ellen Key (1849– 1926) mit ihrem Buch Das Jahrhundert des Kindes (1900/1902)8. Ungeachtet des unzweifelhaft großen Einflusses, den diese und ähnlich Werke im Laufe der vergangenen 250 Jahre hatten, sind die heute vorherrschenden Bilder ‚des Schulkindes‘ – die nicht minder ideal respektive idealisierend sind – zu großen Teilen ein Resultat des wirklichkeitskonstituierenden Charakters von wissenschaftlichen Erhebungen und der Interpretation der durch sie gewonnenen Daten. Diese These ließe sich leicht an unzähligen psychologischen und soziologischen Studien und Metastudien belegen, auf die sich heute sowohl die Pädagogik als auch die Bildungspolitik stützen. Wir wollen in diesem Beitrag zeigen, dass es im 19. und 20. Jahrhundert neben Psychologie und Soziologie noch mindestens ein weiteres Feld gab, in welchem ‚das Schulkind‘ mittels empirischer, statistischer Verfahren konstruiert wurde – die Medizin. Der Begriff ‚Schulkind‘ bezeichnet schlicht ein Kind, „das die schule [sic] besucht“,9 wie bereits im Grimm‘schen Wörterbuch nachzulesen ist. Im Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Adelung (1732–1806) aus dem Jahr 1811 ist der Begriff ‚Schulkind‘ noch etwas genauer definiert und zwar insofern, als es sich dabei um ein Kind handle, welches „eine niedrige Schule“ besuche.10 Das Schulkind wurde, so lässt sich aus diesen Wörterbucheinträgen schließen, hauptsächlich über das Merkmal definiert, dass es zur Schule ging. Das ‚Zur-Schule-gehen‘ unterschied das Schulkind von anderen Kindern, die dies nicht taten. Auf den ersten Blick ist dies heute nicht viel anders. Der Duden beschreibt den Begriff in seiner Online-Ausgabe wie folgt: „Kind, das die Schule besucht.“11 Trotz dieser Konstanz in den Wörterbucheinträgen wollen wir zeigen, wie sich die Vorstellung davon, was ein ‚Schulkind‘ sei, und gleichzeitig auch das Verständnis davon, was die Schule sei und was in ihr geschehe, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderten. Diese Veränderungen in der Wahrnehmung ‚des Schulkindes‘ und seiner schulischen Umgebung geschahen auf 4. Vgl. dazu Christa Berg: Kind/Kindheit, in: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik, Weinheim/Basel 2004, S. 497–517, insb. S. 506–510. 5 Jean-Jacques Rousseau: Emile ou De l’éducation, Amsterdam 1762. 6 Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud, Berlin/Leipzig 1781. 7 Ders.: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, Zürich/Bern 1801. 8 Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1902. Die schwedische Originalausgabe erschien 1900. 9 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9, Leipzig 1899, Sp. 1953. 10 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der deutschen Mundart, Bd. 3, Wien 1811, Sp. 1680. 11 http://www.duden.de (aufgerufen am 3.7.2016).. Franz Steiner Verlag.

(6) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 140. Lukas Boser / Michèle Hofmann. der Grundlage davon, dass das, was das Kind in der Schule tat, wissenschaftlich untersucht und vermessen wurde. Dabei spielte die Statistik eine bedeutende Rolle. Neben biologischen Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Größe waren es v.a. die Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben,12 die die Kriterien ausmachten, nach welchen die Kinder statistisch erfasst wurden. Gleichzeitig mit der Definition dieser Kriterien wurden auch Versuche unternommen, aus den gewonnenen Daten Normen und Grenzwerte abzuleiten, welche für die Einteilung der Kinder in Gruppen oder den Ausschluss aus denselben beigezogen werden konnten. DAS INTERESSE DER WISSENSCHAFT AM SCHULKIND Im Zuge der Hygienebewegung und angespornt durch einen beunruhigenden Verdacht wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die Volksschule als wissenschaftliches Untersuchungsfeld entdeckt. Der Verdacht, der eine rege Forschungstätigkeit unter Medizinern auslöste, bestand darin, dass langjähriger Schulbesuch schädlich für die Gesundheit der Kinder sei, dass der Besuch der Schule verschiedene ‚Schulkrankheiten‘ verursache. Hätte sich dieser Verdacht erhärtet, dann wäre dies sowohl für die Kinder als auch für die europäischen Nationalstaaten ein großes Problem gewesen. Erstere hätten durch den Schulbesuch ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt, Letztere wären für das Kranksein ihrer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich gemacht worden, denn durch die Einführung und Durchsetzung des obligatorischen Schulbesuchs hatten die Kinder gar keine andere Wahl, als zur Schule zu gehen. Besorgniserregend war für die Staaten auch der Befund, dass die ‚Schulkrankheiten‘ im Fall der Knaben später eine Dienstuntauglichkeit im Militär zur Folge hätten.13 Stimmte also der Verdacht der Hygieniker, dass die Schule die Kinder krank mache, so bedeutete dies, dass der Staat sein Wehrpotential schwächte, indem er die zukünftigen Soldaten in die Schule zwang. Dies führte zu einer paradoxen Situation. Einerseits hatte man aus den europäischen Kriegen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts (Revolutionskriege in Frankreich, Deutscher Krieg, Deutsch-Französischer Krieg) den Schluss gezogen, dass die Wehrkraft der Nationen direkt von der Schulbildung der jungen Männer abhing.14 Andererseits. 12 Selbstverständlich sind damit nicht alle Tätigkeiten aufgelistet, welche den Schulbesuch charakterisieren. Insbesondere das Lernen gehört auch dazu. Aus Platzgründen beschäftigen wir uns in diesem Beitrag jedoch nicht mit der statistischen Auswertung von Schülerinnen- und Schülerleistungen. 13 Vgl. Michèle Hofmann: Waffen im Kampf gegen Krankheiten. Transfer medizinischen Wissens zwischen Militär und Schule um 1900, in: Lukas Boser/Patrick Bühler/Michèle Hofmann/Philippe Müller (Hg.): Pulverdampf und Kreidestaub. Beiträge zum Verhältnis zwischen Militär und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Bern 2016, S. 193–219. 14 Vgl. Karl Fisch: Ohne Drill keine Erziehung, in: Schweizerische Monatsschrift für Offiziere aller Waffen 13 (1901), S. 1–20; S.n.: Militär und Schule, in: Schweizerische Lehrerzeitung 12 (1867), S. 76. Für die Schweiz vgl. auch Lukas Boser: Militärkarrieren von ‚Bildungsexperten‘ zwischen 1875 und 1914, in: Boser u.a., Pulverdampf und Kreidestaub, S. 143–163.. Franz Steiner Verlag.

(7) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 141. bestand nun die Befürchtung, genau diese Wehrkraft durch den Schulbesuch zu schwächen. Vor diesem Hintergrund fingen verschiedene Ärzte an, in breit angelegten Untersuchungen eine große Zahl von statistischen Daten zu sammeln und auszuwerten.15 Dabei wurden insbesondere zwei potentiell gesundheitsschädigende Folgen des Schulbesuchs in den Fokus genommen: Myopie (Kurzsichtigkeit) und Skoliose (seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule).16 Ärzte wie Hermann Cohn (1838–1906) in Breslau oder Adolphe Combe (1859–1917) in Lausanne untersuchten tausende von Schulkindern und erhärteten auf der Grundlage ihrer Daten die These, dass die Kinder mit fortschreitendem Alter und entsprechend höherer Klassenstufe zunehmend zu Kurzsichtigkeit und Skoliose neigten.17 Wissenschaftlich haltbare Aussagen zu dieser These konnten allerdings nur gemacht werden, wenn gleichzeitig auch Normalwerte für das Sehen und die Körperhaltung bestimmt wurden. Die Vermessung der Kinder und die statistische Auswertung der Daten dienten einem dreifachen Zweck. Erstens konnten so Normwerte festgelegt werden, d.h. es wurde definiert, was als gesund galt. Zweitens konnten mittels dieser Untersuchungen Abweichungen von der definierten Norm bestimmt werden, es konnte beispielsweise festgestellt werden, ob und in welchem Ausmaß die Schulkinder kurzsichtig oder skoliotisch waren. Hatte man die Normen bestimmt und die Abweichungen davon erkannt, dann konnte man sich, drittens, auf die Suche nach den Ursachen für die Abweichungen machen. Das ‚normale‘ und ‚anormale‘ Sehen und die ‚normale‘ und ‚anormale‘ Körperhaltung wurden erforscht, um mögliche Ursachen für Abweichungen von der Norm ausmachen und solche verhindern zu können.18. 15 Kritische Analysen der Verwendung von Statistiken im Bereich der Medizin hat in letzter Zeit v.a. Theodore Porter vorgelegt. Vgl. z.B. Theodore M. Porter: Funny Numbers, in: Culture Unbound 4 (2012), S. 585–598. 16 Vgl. Susanne Hahn: Die Schulhygiene zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, sozialer Verantwortung und „vaterländischem Dienst“. Das Beispiel der Myopie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Medizinhistorisches Journal 29 (1994), S. 23–38; Marcel Suter: Haltung und Bewegung, in: Beatrix Mesmer (Hg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper in der schweizerischen Populärpresse 1850– 1900, Zürich 1997, S. 177–197, insb. S. 189–194; Monika Imboden: Die Schule macht gesund. Die Anfänge des schulärztlichen Dienstes der Stadt Zürich und die Macht hygienischer Wissensdispositive in der Volksschule 1860–1900, Zürich 2003, insb. S. 141–151; Michèle Hofmann: Ärztliche Macht und ihr Einfluss auf den Schulalltag in der Schweiz im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Paedagogica Historica. International Journal of the History of Education 51 (2015), S. 88–103. 17 Vgl. Hermann Cohn: Untersuchung der Augen von 10 060 Schulkindern. Eine ätiologische Studie, Leipzig 1867; Ders.: Die Sehleistung von 50 000 Breslauer Schulkindern, nebst Anleitung zu ähnlichen Untersuchungen für Aerzte und Lehrer, Breslau 1899; Adolphe Combe/Charles Scholder/Auguste Weith: Les Déviations de la colonne vertébrale dans les écoles de Lausanne, Zürich 1901. 18 Vgl. Michèle Hofmann: Gesundheitswissen in der Schule. Schulhygiene in der deutschsprachigen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2016.. Franz Steiner Verlag.

(8) 142. Lukas Boser / Michèle Hofmann. Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. SEHEN IM SCHULISCHEN KONTEXT Die Sehschärfe stellt eine wissenschaftlich definierte Norm, d.h. eine messbare und auf einer Zahlenskala verzeichenbare Größe dar. Dieser Wert, Visus genannt, wird ermittelt als eine Relation von der Distanz zum Anschauungsobjekt und der Größe desselben. Normalität erscheint hier als klar definierter Zahlenwert. Für die ‚Normsehkraft‘ wurde der Wert 1 festgelegt. Als einer der Ersten bestimmte der Holländer Herman Snellen (1834–1908) diesen Wert in den 1860er Jahren.19 Getestet wurde das Sehvermögen anhand von Tafeln. Snellen selbst verwendete für seine Sehprobentafeln zuerst abstrakte Zeichen, wechselte aber bald zu Buchstaben, die in der Folge auf die heute noch bekannten sogenannten E-Haken reduziert wurden. Die Verwendung von abstrakten Zeichen respektive Buchstaben macht deutlich, dass die Sehschärfe v.a. im Zusammenhang mit dem Lesen ermittelt wurde. Heute sind wir mit diesem Verfahren derart vertraut, dass es uns alternativlos erscheint. Tatsächlich könnte man auch untersuchen, aus welcher Distanz ein Mensch Schafe auf einem Feld zählen kann oder aus welcher Distanz er die Zeit auf einer Taschenuhr ablesen kann. Auch daraus hätte sich der Visus errechnen lassen. Die Augenärzte wählten jedoch das Lesen als maßgebendes Kriterium für das Sehen.20 Sehprobentafeln mit E-Haken entwickelte auch der Berner Professor für Augenheilkunde Ernst Pflüger (1846–1903).21 Seine Tafeln, die bei der Untersuchung von Schulkindern zum Einsatz kamen, sollten aus einer Distanz von zehn Metern betrachtet werden. Diese Entfernung entsprach, in einem größeren Schulzimmer, ungefähr dem Abstand aus den hinteren Bankreihen zur Wandtafel. Es ist durchaus bemerkenswert, dass Pflüger gerade diese Distanz wählte, hätte doch der Visus aus einer beliebigen Entfernung ermittelt werden können. Ausgestattet mit Skalen, Normwerten und Sehprobentafeln machten sich Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts daran, die Sehkraft der Schulkinder zu untersuchen, immer mit dem Ziel, den Verdacht, die Schule führe zu Kurzsichtigkeit, entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Große Bekanntheit erlangte eine Studie, die der Breslauer Augenarzt Hermann Cohn in den Jahren 1865/66 durchführte.22 Wie Cohn selbst festhielt, war er nicht der Erste, der Augenuntersuchungen an Schulkindern vornahm. Er verwies auf Studien, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts in anderen europäischen Ländern durchgeführt worden waren.23 Bei keiner 19 Der Wert 1 bedeutete, dass ein Mensch aus einer Distanz von 20 Pariser Fuß (6.48 Meter) ein Zeichen mit einer Höhe und Breite von 4,2 Pariser Linien (9.47 Millimeter) erkennen konnte (vgl. H[erman] Snellen: Probebuchstaben zur Bestimmung der Sehschärfe, Utrecht 1862, S. 4). Nach der Umstellung auf das metrische System wurden die Snellenschen Sehprobentafeln den neuen Maßeinheiten angepasst. 20 Von einigen Ärzten wurden die Untersuchungen genau deswegen kritisiert. Vgl. H[einrich] Hintermann: Sehstörungen und Augenkrankheiten. Vortrag von Dr. A[dolf] Steiger, Augenarzt, Zürich, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 13 (1915), S. 117–122, 150–155. 21 Vgl. Sehproben für die Primarschüler [Sehprobentafel nach Prof. Ernst Pflüger], o.O. [1900]. 22 Vgl. Cohn, Untersuchung. 23 Vgl. ebd., S. 1–15.. Franz Steiner Verlag.

(9) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 143. dieser Untersuchungen sei aber „eine für die Auffindung von Gesetzen hinreichend große Zahl von Schülern mit den Dank den Fortschritten der neueren Augenheilkunde möglichen Hilfsmitteln exact auf die Schärfe ihres Sehvermögens von Aerzten geprüft worden“.24 Cohn untersuchte – unter Mitarbeit von Lehrpersonen – die Augen von über 10 000 Schülerinnen und Schülern. Erst seine eigene Studie, so argumentierte Cohn, mache sich das ‚Gesetz der großen Zahl‘ – wie er es selbst nannte – zu Nutze.25 Cohn teilte die Kinder gemäß des Grades ihrer Kurzsichtigkeit in sechs Kategorien ein.26 Diese verschiedenen Kategorien setzte er in Relation zum Alter der Probandinnen und Probanden, zur Schulstufe respektive -form und zu ihrem Geschlecht. Die Auswertung der Daten ließ ihn zum Schluss kommen, dass mit fortschreitendem Alter und entsprechend höherer Klassenstufe (von der Elementarschule bis zum Gymnasium) mehr Schülerinnen und Schüler kurzsichtig seien und auch der Grad der Kurzsichtigkeit zunehme.27 Cohns Kollege Emil Emmert (1844– 1911), Dozent für Augenheilkunde an der Universität Bern, publizierte 1876 die Resultate von Augenuntersuchungen, die er an über 2000 Schulkindern in den Schweizer Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg durchgeführt hatte.28 Bevor er seine eigenen Ergebnisse darlegte, listete er 26 internationale und nationale Studien auf, in denen insgesamt über 50 000 Schulkinder und Studenten untersucht worden waren. 1886 zählte der Berner Professor Ernst Pflüger gar über 100 Studien mit nun deutlich mehr als 100 000 Versuchspersonen.29 Diese Untersuchungen stützten Cohns Schlussfolgerung, dass die Kinder häufiger an Kurzsichtigkeit litten, je länger sie die Schule besuchten, oder anders formuliert: dass der Schulbesuch sich schädigend auf ihre Gesundheit auswirke. Diese Feststellung war im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Lehrmeinung, sie blieb jedoch nicht unwidersprochen.30 Der französische Augenarzt und Politiker Louis Émile Javal (1839–1907) wies 1905 darauf hin, dass zwar die kurzsichtigen Schulkinder im 24 Ebd., S. 15. 25 „[F]ür die Statistik sind hohe Zahlen erforderlich, wenn Gesetze reslutiren [sic] sollen.“ Ebd., S. 7. 26 Vgl. ebd., S. 28f., 42. Cohn hielt fest, dass seine Unterteilung in verschiedene Grade der Kurzsichtigkeit „ganz willkürlich“ sei, ebd., S. 42. 27 Vgl. ebd., S. 42–60, insb. S. 53, 57. Eine „Zunahme des durchschnittlichen Grades der Myopie“ von „Klasse zu Klasse“ konstatierte Cohn für beide Geschlechter (Ebd., S. 57). Weitere geschlechtsspezifische Aussagen ließ das Datenmaterial nicht zu, da die Stichprobe deutlich weniger Mädchen als Knaben enthielt. Vgl. ebd., S. 49–51, insb. S. 51. 28 Vgl. Emil Emmert: Ueber funktionelle Störungen des menschlichen Auges im Allgemeinen sowie speziell nach Schuluntersuchungen in den Kantonen Bern, Solothurn und Neuenburg nebst der Hilfsmittel dagegen, Bern 1876. 29 Vgl. Ernst Pflüger: Kurzsichtigkeit und Erziehung. Academische Festrede zur Feier des Stiftungsfestes der Universität Bern am 20. November 1886, Wiesbaden 1887, S. 4. 30 Im Laufe der Zeit begann sich die Ansicht darüber, dass der Grund für Kurzsichtigkeit in der Schule zu finden sei, generell zu ändern. Als ‚neue‘ Ursache der Kurzsichtigkeit – und auch der Skoliose – geriet ab den 1920er Jahren besonders die erbliche Vorbelastung der Kinder in den Fokus der Schulhygieniker (vgl. bsp. W[illi] v[on] Gonzenbach: Die Aufgabe der Hygiene gegenüber dem Kinde im Schulalter, in: Schweizerische Zeitschrift für Gesundheitspflege 7 (1927), S. 467–478). Die durch Gregor Mendel (1822–1884) begründete und vor dem Ersten Weltkrieg wiederentdeckte Vererbungslehre erfuhr in den 1920er Jahren nicht zuletzt deshalb. Franz Steiner Verlag.

(10) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 144. Lukas Boser / Michèle Hofmann. Verhältnis zu den ‚Normalsichtigen‘ zunähmen, nicht aber in absoluten Zahlen.31 Javal führt dies v.a. darauf zurück, dass viele ‚normalsichtige‘ Kinder die Schule vorzeitig verlassen würden, um in der Landwirtschaft, im Gewerbe und in der Industrie zu arbeiten, während die kurzsichtigen Kinder länger in der Schule verbleiben würden, sei es, weil sie grundsätzlich gelehriger seien (généralement studieux) oder weil ihre Eltern sie als ungeeignet für das Erwerbsleben erachteten.32 „En réalité“, schrieb Javal, „la myopie n’apparaît pas bien souvent avant l’âge de dix à douze ans, et c’est par un trompe-l’œil de statistique qu’on a été conduit à dire qu’elle se produit avec une fréquence croissante pendant toute la durée des études.“33 Die Augenuntersuchungen an zehntausenden von Schulkindern hatten zur Folge, dass ‚schlechtes‘ Sehen nicht mehr primär durch die subjektive Wahrnehmung bestimmt wurde, sondern durch eine wissenschaftlich definierte Norm. Diese Norm gab im 20. Jahrhundert auch den Rahmen vor für Maßnahmen (u.a. Sonderklassen), von denen die Schulkinder – sofern ihre Sehkraft als ‚anormal‘ beurteilt wurde – betroffen waren. SITZEN IN DER SCHULE Nebst dem Sehen interessierten sich die Wissenschaftler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts v.a. für das Kind, das in der Schule sitzt und schreibt. So banal dies scheinen mag, aber zu den Tätigkeiten, die das Kind in der Schule mit Abstand am längsten verrichtet, zählen Sitzen und Schreiben. Der Zürcher Arzt Hans Conrad Fahrner (1822–1872) rechnete Mitte der 1860er Jahre aus, dass allein in der Primarschule, „welche sämmtliche [sic] Kinder laut Gesetz durchmachen müssen“, mindestens 2000 Stunden sitzend und zugleich in einer „fatalen Schreibstellung“ zugebracht würden.34 Im langen Sitzen und insbesondere in der fehlerhaften Sitzhaltung der Schülerinnen und Schüler vermuteten die Ärzte zentrale Ursachen für die Wirbelsäulenverkrümmung, die wie die Kurzsichtigkeit als ‚Schulkrankheit‘ galt und in wissenschaftlichen Studien untersucht wurde. Fahrner veröffentlichte. 31 32 33 34. große Beachtung, da sie eine zentrale Grundlage rassenhygienischer Theorien darstellte, die in jener Zeit von breiten Bevölkerungsteilen rezipiert und akzeptiert wurden, vgl. Jürgen Reulecke: Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik, in: Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen, 1880–1933, Wuppertal 1998, S. 197–210. Émile Javal: Physiologie de la lecture et de l’écriture, Paris 1905, S. 188: „C’est la proportion et non pas le nombre des myopes qui va en augmentant.“ Ebd., S. 188. „In Wirklichkeit taucht die Myopie selten vor dem zehnten bis zwölften Lebensjahr auf, und es ist bloß eine statistische Täuschung, die einen dazu führte zu glauben, sie trete mit zunehmender Schuldauer häufiger auf.“ (Ebd., S. 188 – eigene Übersetzung) H[ans] C[onrad] Fahrner: Das Kind und der Schultisch. Die schlechte Haltung der Kinder beim Schreiben und ihre Folgen, sowie die Mittel, derselben in Schule und Haus abzuhelfen, Zürich 1865, S. 2f.. Franz Steiner Verlag.

(11) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 145. 1865 unter dem Titel Das Kind und der Schultisch eine Forschungsarbeit zur Skoliose, die große Beachtung fand und breit rezipiert wurde.35 Er hatte Schülerinnen und Schüler untersucht und vermessen, während sie schrieben, und war zum Ergebnis gelangt, dass viele Kinder permanent eine schlechte Körperhaltung einnähmen, was zu Wirbelsäulenverkrümmungen führe. Der Lausanner Schularzt Adolphe Combe nahm gemeinsam mit zwei Berufskollegen eine Untersuchung an mehr als 2300 Schulkindern vor und stellte dabei eine frappante Zunahme der ‚Totalskoliosen‘ im Verlauf der Schulzeit fest.36 Während Combe und seine Kollegen auch im Fall der Skoliose mittels großer Probandengruppen nach statistischen Gesetzmäßigkeiten suchten, begnügten sich andere Wissenschaftler bedingt durch aufwändige Versuchsanordnungen mit einer verhältnismäßig geringen Anzahl Testpersonen, wie das Beispiel des Berner Orthopäden Felix Schenk (1850–1900) zeigt. Schenk konstruierte zur wissenschaftlichen Untersuchung der Wirbelsäule und der Sitzrespektive Schreibhaltung von Schulkindern in den 1880er Jahren eigens Messinstrumente.37 Einerseits einen sogenannten Thoracographen, bei diesem handelte es sich um einen „Konturzeichnungsapparat, der […] die Aufnahme einer beliebigen Anzahl von Punkten am Körper des Lebenden, somit auch die Messung von Rückgratsverkrümmungen“ gestattete.38 Andererseits entwarf Schenk einen „Tisch […] zur Untersuchung der Schreibhaltung eines Schulkindes“ und „die dazu nothwendigen kleineren Hülfsinstrumente“.39 Mittels seiner Gerätschaften war Schenk in der Lage, die Rücken der Kinder und ihre Körperhaltung beim Schreiben exakt zu vermessen. Er wollte herausfinden, ob es „eine habituelle Schreibhaltung gebe, d.h. ob ein Kind beim Schreiben allemal gleich sitze, oder ob es nicht bald diese, bald jene Stellung einnehme“, und falls sich eine solche Haltung „als das Gewöhnliche herausstellen sollte“, ob „ein causaler Zusammenhang zwischen Schreibstellung und Skoliose nachweisbar sei“.40 Schenk vermass an den Körpern von 200 Schulkindern verschiedene Abstände und Winkel, die sich aus ihrer Schreibhaltung ergaben, etwa den Abstand der Ellenbogen vom Körper oder die „Größe des Winkels, den der schreibende rechte Vorderarm […] mit den Grundstrichen der Schrift bildet“.41 Diese Werte hielt er für jedes Kind in „mathematischer Form auf einem Blatt“ fest, sie lieferten „Anhaltspunkte genug, um das Charakteristische einer Schreibhaltung sofort daraus zu erkennen“.42 Anschließend zeichnete Schenk mit 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. L[ouis] Henchoz: Rapport sur la 2me assemblée générale annuelle de la société suisse d’hygiène scolaire, à Lausanne, samedi 13 et dimanche 14 juillet 1901, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 2 (1901), S. 127–168, hier S. 132; Combe/ Scholder/Weith: Les Déviations. 37 Vgl. Felix Schenk: Zur Aetiologie der Skoliose. Vortrag gehalten in der chirurgischen Section der 58. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Strassburg i./E., Berlin 1885. 38 Wilhelm Schulthess: Dr. med. Felix Schenk, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1 (1900), S. 217–221, hier S. 218. 39 Schenk, Zur Aetiologie, S. 5. 40 Ebd., S. 4. 41 Ebd., S. 5. 42 Ebd., S. 6.. Franz Steiner Verlag.

(12) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 146. Lukas Boser / Michèle Hofmann. Hilfe seines Thoracographen ein Bild der Wirbelsäule des Kindes. Dieses Bild, das Aufschluss darüber gab, ob das Kind an einer Skoliose litt, verglich er mit den Messwerten zur Schreibhaltung. Wie Fahrner, Combe und andere Ärzte kam auch Schenk zum Ergebnis, dass viele Kinder an Wirbelsäulenverkrümmung litten bedingt durch eine ‚habituell‘ falsche Sitzhaltung. Aufgrund seiner Messinstrumente und der statistischen Auswertung der erhobenen Daten war er zudem in der Lage, wissenschaftlich fundiert zu bestimmen, was eine schlechte Haltung sei. Als „Haltungsfehler, die zu Verkrümmungen zu führen pflegen“, identifizierte Schenk: erstens eine seitliche Verschiebung des Oberkörpers nach links, mit entsprechender linksseitiger Biegung, zweitens eine Drehung des Oberkörpers nach links, mit entsprechender rechtsseitiger Biegung und drittens eine starke Entfernung der Ellenbogen vom Körper beim aufrechten Sitzen.43 Zugleich wurde der Gegenstand, den Schenk vermass, durch die statistische Erhebung überhaupt erst konstruiert. Erst die Auswertung der Gesamtheit seiner Messwerte ergab die Vorstellung davon, was eine fehlerhafte Körperhaltung sei. Diese fehlerhafte Körperhaltung wurde von den Ärzten auch als ‚Schulsitzen‘ bezeichnet.44 Sie diente als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Vielzahl von neuen Schulbanksystemen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.45 LESEN UND SCHREIBEN Im Zusammenhang mit den ‚Schulkrankheiten‘ Kurzsichtigkeit und Wirbelsäulenverkrümmung schenkten die Wissenschaftler auch den durch die Schule vermittelten Kulturtechniken des Lesens und Schreibens ihre Aufmerksamkeit.46 Lesen und Schreiben standen im Verdacht, mitverantwortlich zu sein für die zunehmende Kurzsichtigkeit und die Skoliosen bei den Schulkindern. Wie die Untersuchung der Kurzsichtigkeit und der Skoliose war auch die Erforschung des Lesens und Schreibens ein internationales Unterfangen, an welchem sich Wissenschaftler aus Europa und Übersee beteiligten. Die Fragen, welche die Forscher beschäftigten, waren v.a. die, wie sehr das Lesen und das Schreiben die Augen- sowie die Hand-, Arm- und Rückenmuskulatur beanspruchten und dementsprechend ermüdeten und wie sich die muskuläre Belastung reduzieren ließe.. 43 Schenk, Zur Aetiologie, S. 14. 44 Vgl. bsp. Adolf Lorenz: Die heutige Schulbankfrage. Vorschläge zur Reform des hygienischen Schulsitzens, Wien 1888; Wilhelm Ost: Die Frage der Schulhygiene in der Stadt Bern. Im Auftrage der städtischen Polizeidirektion in Bern zusammengestellt nach den Verhandlungen der hiefür gebildeten Sektionen, Bern 1889. 45 Vgl. Hofmann, Ärztliche Macht, S. 97–99. 46 Zum Lesen vgl. bsp. auch Christian Kassung: Buchstabe, Wort, Schrift. Der Blick des Lesens, in: Christian Kassung/Thomas Macho (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation, München 2013, S. 287–306; zum Schreiben vgl. bsp. J[akob] Gysin: Die Schriftverhältnisse der Schulen des Kantons Basel-Stadt, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 17 (1916), S. 192–268.. Franz Steiner Verlag.

(13) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 147. In Bezug auf das Lesen wurde v.a. erforscht, wie stark verschiedene Druckschriften respektive Schriftgrößen die Augen beanspruchten. Ein erster Faktor, der als Maßstab für die Untersuchung des Lesens diente, war die Anzahl der Augenbewegungen, welche das Lesen eines Textes verursachte. Entgegen der subjektiven Wahrnehmung ist das Lesen eines Textes nicht mit einer kontinuierlichen Augenbewegung von links nach rechts verbunden. Das Auge bewegt sich vielmehr mit schnellen ruckartigen Bewegungen, Sakkaden (saccades) genannt. Diese Sakkaden zu messen, erwies sich als besonders schwierig. Das menschliche Auge ist ein sehr empfindliches Organ, was die Anwendung von sogenannten Selbstschreibe-Apparaten, wie etwa dem oben erwähnten Thoracographen, der zur Vermessung von Skoliosen zum Einsatz kam, erheblich erschwerte. Dennoch wurden entsprechende Versuche unternommen. Der Amerikaner Edward Burke Huey (1870–1913) entwickelte einen Apparat, der direkt auf das Auge der Probanden appliziert wurde – allerdings musste das Auge zuerst mit etwas Holocain oder Kokain unempfindlich gemacht werden.47 Die Manipulationen, die Huey an den Augen seiner Probanden vornahm, waren beträchtlich, und es war deshalb zweifelhaft, ob seine Resultate wirklich die Augenbewegungen beim ‚normalen‘ Lesen wiedergaben. Eine andere Möglichkeit, die Sakkaden zu zählen, bestand darin, den Probanden beim Lesen zuzusehen.48 Am exaktesten erwies sich eine Methode, bei der die Muskelbewegungen der Augen akustisch gemessen wurden. Die Bewegungen der Augenmuskeln verursachen ein Geräusch, das mittels einer ausgeklügelten Gerätschaft hörbar gemacht werden konnte.49 Der zweite Faktor, der als Maßstab für die Untersuchung des Lesens diente, war die Zeit, die das Lesen eines bestimmten Textes beanspruchte. Zur Messung der Lesezeit respektive -geschwindigkeit wurde oft ein Tachistograph oder Tachistoskop genannter Apparat verwendet. Dieses Gerät präsentierte den Probanden eine Anzahl Buchstaben oder Wörter für eine sehr kurze Zeit. Anhand der Anzahl der Buchstaben oder Wörter, die in dieser Zeit gelesen werden konnten, ließ sich die Leseleistung respektive die Lesegeschwindigkeit ableiten. Mithilfe des Tachistographs wurde beispielsweise der Beweis erbracht, dass die Zeit, die eine Person benötigt, um ein bestimmtes Wort zu lesen, viel kürzer ist als die Zeit, die dieselbe Person benötigt, um die einzelnen Buchstaben dieses Wortes zu lesen.50 Während in den frankophonen und anglophonen Staaten die Untersuchung der Lesegeschwindigkeit und der Augenbewegungen v.a. darauf ausgerichtet war, herauszufinden, wie Lesetexte beschaffen sein mussten (d.h. Größe der Lettern, Zeilenabstand, Druckqualität, verwendetes Papier etc.),51 um ein möglichst optimales Leseergebnis zu ermöglichen, drehten sich die Diskussionen im deutschsprachigen Raum vorrangig darum, welche Schrift – die gotische (Fraktur) oder die lateinische 47 48 49 50. Edmund Burke Huey: The Psychology and Pedagogy of Reading, New York 1908, S. 25. Javal, Physiologie, S. 129. Ebd.; vgl. dazu auch Kassung, Buchstabe. Vgl. Arthur Wreschner: Das psychologische Experiment im Dienste der Sprachforschung, in: Schweizerische Lehrerzeitung 53 (1908), S. 132f. 51 Vgl. bsp. Javal, Physiologie, S. 197–233; H[ermann] Cohn/R[obert] Rübencamp: Wie sollen Bücher und Zeitungen gedruckt werden? Braunschweig 1903.. Franz Steiner Verlag.

(14) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 148. Lukas Boser / Michèle Hofmann. (Antiqua) – leichter zu lesen sei.52 Die Auswertung der Resultate einer an der Universität Kiel unternommenen Studie ergab beispielsweise, dass das Lesen einer Zeile eines in Fraktur gedruckten Buches durchschnittlich fünf Sakkaden verursache. Dieselbe Zeile in Antiqua gedruckt dagegen verursache sieben Sakkaden. Auf ein Buch von 100 Seiten hochgerechnet, habe der lateinische Druck 7000 zusätzliche Augenbewegungen zur Folge, was zu einer erheblich stärkeren Ermüdung des Auges führe, stellten die Autoren der Studie fest.53 Andere Untersuchungen, beispielsweise diejenige des Zürchers Oskar Messmer (1878–1950), kamen zu gegenteiligen Resultaten. Messmers Probanden, die unterschiedlichen Alters waren, mussten inhaltsgleiche Texte, die einmal in Antiqua und einmal in Fraktur gedruckt waren, vorwärts und rückwärts lesen. Dabei stellte Messmer fest, dass nicht der Druck in Fraktur, sondern derjenige in Antiqua tendenziell schneller gelesen werde.54 Die sich widersprechenden Resultate dieser Studien nährten schließlich den Verdacht, dass die Probanden diejenige Schrift besser lesen konnten, mit der sie vertrauter waren – und das war in vielen Fällen diejenige Schrift, die sie in der Schule zuerst gelernt hatten respektive der im Unterricht mehr Zeit gewidmet worden war.55 Wie das Lesen war auch das Schreiben ein vielbeachteter Untersuchungsgegenstand. Neben der Schreib- respektive der Sitzhaltung wurden in diesem Zusammenhang v.a. die Lage des Heftes auf dem Pult, der Winkel der Schrift (Schrägoder Steilschrift) und im deutschsprachigen Raum – analog zur Frage der Druckschrift – die Handschrift, Rundschrift (Antiqua) oder Spitzschrift (deutsche Kurrent), untersucht.56 Bei diesen Untersuchungen ging es insbesondere um die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler am besten Sitzen und Schreiben würden, damit ihnen aus dieser Tätigkeit keine gesundheitlichen Schäden (Kurzsichtigkeit und Skoliose) erwachsen würden. Als ein Beispiel unter vielen sei hier eine Studie des Mitbegründers des Orthopädischen Instituts in Zürich, Wilhelm Schulthess (1855– 1917), angeführt. Schulthess hatte in den 1890er Jahren in Zürich eine Untersuchung mit Schulkindern durchgeführt, um herauszufinden, „in welcher Art die Schrift auf die Körperhaltung einwirkt“.57 Als „wesentliche Punkte“ hatte er „die 52 Vgl. E[mil] Villiger: Schule und Antiqua, in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 16 (1915), S. 56–62. 53 D.: Das pädagogische Ausland. Schulnachrichten. Deutsche oder lateinische Schrift, in: Schweizerische Lehrerzeitung 60 (1915), S. 256. 54 Oskar Messmer: Zur Psychologie des Lesens bei Kindern und Erwachsenen, Leipzig 1903, S. 87. 55 In Messmers Untersuchung lässt sich dies auch erkennen. Seine jungen Probanden, die in der Schule die Antiqua gelernt hatten, lasen diese Schrift schneller. Ältere Probanden, die besser mit der Fraktur vertraut waren, lasen diese leichter. Messmer selbst wies diesem Befund allerdings keine große Bedeutung zu (vgl. Messmer: Zur Psychologie, S. 86f.). 56 Vgl. bsp. Silvia Hartmann: Fraktur oder Antiqua. Der Schriftstreit von 1881 bis 1941, Frankfurt a.M. 1998; F[riedrich] Erismann: Über Heftlage und Schriftrichtung, in: Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 8 (1907), S. 229–258; Karl Führer: Über Heftlage und Schriftrichtung, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 49–54. 57 Henchoz, Rapport, S. 158.. Franz Steiner Verlag.

(15) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 149. Heftdrehung, die Verschiebung des Heftes nach der Seite und die mehr oder weniger damit im Zusammenhange stehende Richtung der Grundstriche ins Auge gefasst“ und „die Drehungen des Kopfes und die Drehungen des Rumpfes im Verhältnis zur Verschiebung des Heftes“ auf dem Pult analysiert.58 Dabei war er zum Ergebnis gelangt, „dass die Steilschrift eine weitaus bessere Körperhaltung gestatte als die Schrägschrift“.59 Während der Diskurs um das ‚normale‘ Sehen, das ‚richtige‘ Sitzen und das ‚müheloseste‘ Lesen von Ärzten bestimmt wurde, meldeten sich in der Frage des ‚richtigen‘ Schreibens auch Lehrpersonen zu Wort. Johann Jacob Grob, Lehrer und Schulbankerfinder aus Erlenbach bei Zürich, beteiligte sich beispielsweise mehrfach an dieser Debatte. Er publizierte u.a. 1903 in den Blättern für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz einen Artikel mit dem Titel Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, in dem er sich zur Skoliose und Kurzsichtigkeit im Zusammenhang mit dem Schreiben in der Schule äußerte.60 Allerdings sah sich der Zürcher Augenarzt Emil Ritzmann (1847–1930) umgehend dazu genötigt, den Beitrag von Grob zu berichtigen.61 Im Gegensatz zu den Lehrpersonen, die ihre Aussagen meist auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen im Unterricht abstützten und deren Experimente – sofern sie überhaupt solche anstellten – wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügen konnten, waren die Ärzte darauf bedacht ihre Erkenntnisse aus der Analyse von experimentell erhobenen Daten zu gewinnen. Die Fragen nach dem ‚mühelosen‘ Lesen und dem ‚richtigen‘ Schreiben offenbarten aber auch die Grenzen des ärztlich-wissenschaftlichen Einflusses auf die Schule. Damit wurden gleichzeitig die Grenzen der Erfassbarkeit ‚des Schulkindes‘ durch die Statistik deutlich. Insbesondere in Deutschland und in der Schweiz zeigt sich dies an der ‚Schriftfrage‘, also an der Frage, ob die Antiqua oder die Fraktur als ‚Schulschrift‘ verwendet werden sollte.62 Diese Frage, mit der sich viele Wissenschaftler, Lehrpersonen und Laien beschäftigten und die sie nicht zuletzt mit 58 Ebd. 59 Ebd., S. 164. 60 Vgl. J[ohann Jacob] Grob: Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 85–94. 61 Vgl. E[mil] Ritzmann: Über Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit. Beitrag zur Richtigstellung des Aufsatzes von J[ohann Jacob] Grob, Lehrer, Erlenbach, in: Schweizerische Blätter für Schulgesundheitspflege und Kinderschutz 1 (1903), S. 97–101. 62 Zu dieser Thematik vgl. bsp. Peter Bain/Paul Shaw (Hg.): Blackletter. Type and National Identity, New York 1998; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000; Jürgen F. Schopp: Typographische Schrift als Mittel nationaler Identifikation, in: Eckhard Höfer/ Hartmut Schröder/Roland Wittmann (Hg.): Valami más. Beiträge des Finnisch-Ungarischen Kultursemiotischen Symposiums ‚Zeichenhafte Aspekte der Veränderung‘, Frankfurt a.M. 2002, S. 95–126; Jürgen Spitzmüller: Floating ideologies. Metamorphoses of graphic „Germanness“, in: Alexandra Jaffe/Jannis Androutsopoulos/Mark Sebba/Sally Johnson (Hg.): Orthography as Social Action. Scripts, Spelling, Identity and Power, Boston 2012, S. 255–288; Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur-Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung, Wiesbaden 1999. 62 Vgl. Spitzmüller, Floating ideologies, S. 268.. Franz Steiner Verlag.

(16) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. 150. Lukas Boser / Michèle Hofmann. Hilfe der Statistik zu beantworten suchten, war schlussendlich eine politische. „Beibehaltung nationaler Eigenart haben die einen im Auge, während den anderen der Zusammenschluss der Völker im Vordergrund steht“, so fasste ein unbekannter Autor in der Schweizerischen Lehrerzeitung die Problematik 1913 zusammen.63 Und auch der Gründer des Genfer Instituts Jean-Jacques Rousseau und bekannte Vertreter der experimentellen Pädagogik, Edouard Claparède (1873–1940), gestand 1915 ein, dass die ‚Schriftfrage‘ nach einer politischen Entscheidung verlangte, die er auch gleich mitlieferte: „Il serait très important, au point de vue national, que la Suisse renonce définitivement à l’écriture gothique, et adopte pour toute sa production littéraire, et pour ses journaux, l’écriture latine.“64 FAZIT Am Ende des 20. Jahrhunderts, das in Anlehnung an Ellen Keys berühmtes gleichnamiges Buch als ‚Jahrhundert des Kindes‘ gilt, „scheint das gesellschaftliche Projekt ‚Kindheit‘ nahezu abgeschlossen und das pädagogische Konstrukt ‚Kind‘ bis ins letzte Detail wissenschaftlich extensiv vermessen zu sein“,65 schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Christa Berg im Beitrag Kind im Historischen Wörterbuch der Pädagogik. Wir haben zu zeigen versucht, dass zumindest in Bezug auf das Schulkind, diese Vermessungen ihren Gegenstand nicht nur beschrieben, sondern auch hervorbrachten respektive formten. Alain Desrosières hält in seinem Buch Die Politik der großen Zahlen fest, das Ziel der Statistik bestehe darin, „die Vielfalt der Situationen zu reduzieren und deren zusammenfassende Beschreibung zu liefern“.66 Dabei können auch Strukturen, Charakteristiken, Muster und Eigenschaften sichtbar werden, die am Einzelfall nicht zu erkennen gewesen wären. Die Statistik liefert aber nicht ‚nur‘ ein (vereinfachtes) Abbild oder eine Erklärung der Dinge, wie sie ‚wirklich‘ sind, sie hat auch einen wirklichkeitskonstituierenden Charakter. Durch die statistische Auswertung zehntausender Messwerte, die durch die Untersuchung von Schulkindern gewonnen worden waren, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass die Schule dafür verantwortlich sei, dass die Kinder ihre Sehkraft einbüßten und krumme Rücken bekämen. Bemerkenswert ist dabei, dass die Schule als Verursacherin und nicht bloß als Ort des Auftretens der Krankheiten angesehen wurde. Obwohl es durchaus auch Stimmen gab, die andere. 63 N.: Antiqua oder Fraktur? In: Schweizerische Lehrerzeitung 58 (1913), S. 74f. 64 „Aus nationalen Gründen wäre es sehr wichtig, dass die Schweiz definitiv auf die gotische Schrift verzichten und für die Produktion von Literatur und Zeitschriften einzig die lateinische Schrift verwenden würde.“ (Edouard Claparède zit. nach Schule und Antiqua [Referate anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 1915 in Bad Schinznach], in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 16 (1915), S. 44–91, hier S. 68 – eigene Übersetzung) 65 Berg, Kind/Kindheit, S. 497. 66 Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin/Heidelberg/New York 2005, S. 15.. Franz Steiner Verlag.

(17) Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr. Sehen, Lesen, Sitzen, Schreiben. 151. Gründe für Myopie und Skoliose vermuteten oder die an der Aussagekraft respektive der gängigen Interpretation der Statistiken zweifelten, gingen die meisten Ärzten von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen Schulbesuch und dem Auftreten von Krankheiten aus, der genauer untersucht werden sollte, was weitere und noch detailliertere Untersuchungen an den Schulkindern erforderte. Als vermeintliche Ursachen der durch die Statistiken ‚sichtbar‘ gemachten ‚Schulkrankheiten‘ Myopie und Skoliose rückten die Tätigkeiten Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben in den Fokus der ärztlichen Forschungstätigkeit. Die in diesem Beitrag vorgestellten Ärzte sammelten eine große Zahl an Daten, die die Vorstellung davon, was ein ‚Schulkind‘ sei, veränderten. Durch die statistische Auswertung zehntausender Einzeluntersuchungen respektive zehntausender einzelner Zahlenwerte entstand ein überindividuelles Bild ‚des Schulkindes‘, das sieht, liest, sitzt und schreibt. Sehen, Lesen, Sitzen und Schreiben sind Tätigkeiten, die Kinder in der Schule – in mehr oder weniger großem zeitlichen Umfang – schon immer ausgeführt haben. Neu war nun, dass diese Tätigkeiten potentiell gefährlich waren, und zwar in der Schule. Der Begriff der ‚Schulkrankheit‘ bringt dies auf den Punkt. Myopie war nicht einfach eine ‚Lesekrankheit‘ und Skoliose nicht einfach eine ‚Sitzkrankheit‘, sondern es handelte sich dabei um ‚Schulkrankheiten‘. Bedroht von diesen Krankheiten war ‚das Schulkind‘, die Bedrohung ging von der Schule aus. In diesem Zusammenhang entstand ein neues Bild des Schulkindes. Dieses Bild speiste sich aus wissenschaftlich abgestützten Definitionen, was gutes oder schlechtes Sehen, ‚richtiges‘ oder ‚falsches‘ Sitzen und angestrengtes oder müheloses Lesen und Schreiben sei und es bildete die Grundlage zur Neugestaltung der Schule. So wurden etwa Schulbänke entwickelt, die eine ‚korrekte‘ Körperhaltung ermöglichen sollten, oder die Druckqualität der Schulbücher wurde verbessert, was die Augen der Kinder schonen sollte. Theodore Porter hat gezeigt, wie ertragreich die Erforschung des ‚Irrenwesens‘ im Zusammenhang mit einer Kulturgeschichte der Statistik ist.67 Wir sind der Meinung, dass die Schule (verstanden als Gesamtheit von Kindern, Lehrpersonen, Unterrichtsmaterialien, Schulgebäuden etc.) ein ebenso ergiebiges Untersuchungsfeld ist.. 67 Vgl. Porter, Funny Numbers.. Franz Steiner Verlag.

(18) Franz Steiner Verlag. Lizenziert für Fachhochschule Nordwestschweiz Muttenz am 05.02.2020 um 22:24 Uhr.

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