Zusammenfassung
Zur Untersuchung der Prozessintensivierung einer anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien wurden zwei experimentelle Aufbauten errichtet. Die Ergeb-nisse der Experimente, die in einem halbkontinuierlichen Rührkesselreaktor durchgeführt wurden, waren notwendig die Standardbedingungen zu definie-ren und um eine Rezeptur zur Produktion eines Polybutadiens mit einer Mol-masse von 4500 g/mol, einem Vinylgehalt von etwa 75% und einer Polydisper-sität kleiner als 1.1 zu erstellen. Die Übertragung der anionischen Polymerisa-tion in einen Kapillarreaktor führte zu Polybutadienen mit den geforderten Spezifikationen. Die Mikroreaktionstechnik erlaubt es, die Polymerisation in einem neuen Prozessfenster mit Reaktionstemperaturen über 70°C und Drü-cken über 15 bar durchzuführen. Die vorliegende Arbeit zeigt anhand Experi-menten, numerischer Modellierung und dem Vergleich idealer Reaktormo-delle, dass die fluiddynamischen Eigenschaften den minimal erzielbaren PDI auf 1.04 begrenzen. Zudem wurden die Rahmenbedingungen, wie isotherme Reaktionsführung oder eine vollständige Initiierungsphase durch Simulatio-nen belegt. Zur Bestimmung des Potenzials der Prozessintensivierung wurden die Raum-Zeit-Ausbeuten der beiden Prozesse verglichen. Die Übertragung in einen kontinuierlich betriebenen Flussreaktor und der Einsatz der Mikroreak-tionstechnik führen zu einer Intensivierung um etwa den Faktor 100. Im Rah-men des CoPIRIDE-Projekts (unterstützt durch die EU, FP7) flossen die Ergeb-nisse dieser Arbeit in den Aufbau einer Produktionsstätte im Standard-Contai-ner-Format mit ein.
Prozessintensivierung einer
anionischen Polymerisation
von 1,3-Butadien in einem
Kapillarreaktor
A
B
M
T
WA
B
D isse rtat io n IT C S. Schu lz e Pro zes si n te ns iv ie ru n g e ine r a ni o ni sche n Pol ym e ri sa ti o n vo n 1 ,3 -B u ta dien in e ine m Ka p ill arr ea ktorVon der Fakultät 3: Chemie der Universität Stuttgart
zur Erlangung der Würde eines Doktors der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.) genehmigte Abhandlung
Vorgelegt von Diplom-Chemiker Simon Frank Schulze geboren in Vaihingen an der Enz
Tag der mündlichen Prüfung: 20. April 2017
Institut für Technische Chemie der Universität Stuttgart Erscheinungsjahr: 2017
Prozessintensivierung einer anionischen
Polymerisation von 1,3-Butadien in einem
Kapillarreaktor
Von der Fakultät 3: Chemie der Universität Stuttgart zur Erlangung der Würde eines
Doktors der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.) genehmigte Abhandlung
Vorgelegt von
Diplom-Chemiker Simon Frank Schulze
geboren am 30. September 1982 in Vaihingen an der Enz
Hauptberichter: Prof. Dr.-Ing. Elias Klemm
Mitberichter: Prof. Dr. rer. nat. Michael R. Buchmeiser Tag der mündlichen Prüfung: 20. April 2017
Institut für Technische Chemie der Universität Stuttgart Erscheinungsjahr: 2017
4
Meinem Sonnenschein Luisa.
Meinem lieben kleinen Maximilian.
Meiner Familie.
Meinem Vater
5
„Du willst den Menschen nützen, doch du stehst ihnen nicht einmal im Weg -
wie soll sich dein Genie entfalten, wenn du nach Brot und Wasser strebst?“
6
Danke
Zuerst danke ich meinem geduldigen und hilfsbereiten Prof. Dr.-Ing. Elias Klemm herzlichst für die Er-möglichung und Betreuung dieser anspruchsvollen und themenübergreifenden Arbeit.
Herrn Prof. Dr. Michael Buchmeiser für die Zusage als Zweitprüfer und Frau Prof. Dr. Cosima Stuben-rauch für die Zusage zum Verteidigungsbeisitz.
Weiter danke ich den Mitarbeitern vom Projektpartner der Evonik Industries AG Dr. Jürgen Lang, Dr. Julien Couet, Dr. Markus Schwarz, Dr. Frank Stenger sowie Dr. Ali Hartwig für die Unterstützung und die gute Zusammenarbeit.
Ein spezieller Dank geht an die Kollegen der TU Eindhoven, Prof. Volker Hessel, Bruno Cortese, und Dr. Mart de Croon für die numerischen Modellierungen und Ergebnisse, auf der Teil dieser Arbeit basiert. Den Forschungspraktikanten Dominik Bloos und Bettina Hack danke ich für begleitende Teilarbeiten. Dankeschön auch an die Projektpartner des Fraunhofer ICT-IMM Dr. Patrick Löb und Dr.-Ing. Ulrich Krtschil für die Bereitstellung der Mikromischer und des Schlitzreaktors, sowie den IMM-Mitarbeitern, insbesondere Christine Schmadel-Beck, für die Koordination des CoPIRIDE-Projekts.
Innerhalb der Universität Stuttgart danke ich zudem dem Mitarbeiter Dong Ren Wang des Instituts für Polymerchemie und Prof. Dr. Buchmeiser für die Unterstützung der GPC-Messungen der anfangs Her-gestellten Polystyrole und den Mitarbeitern des Instituts für Organische Chemie für die Aufnahmen zahlreicher NMR-Sprektren.
Am Institut für technische Chemie bedanke ich mich bei meinem Kollegen Matthias Rupp für die Un-terstützung bei den MatLab-gestützten Modellierungen der Reaktoren und allgemein bei allen Mitdok-toranden Christian Lieder, Thomas Lange, Gregor Näfe , Matthias Aimer, Andrea Inan, Sandra Weber, Christof Gessner, Thomas Montsch, Michael Dyballa, Robin Otterstätter, Tobias Holl, Andreas Haas und Philip Eversfield für fruchtbare Diskussionen, prima Stimmung und gute Zusammenarbeit. Weiter danke ich den anderen Mitarbeitern des ITC Elisa Favaro, Prof. Yvonne Traa, Prof. Michael Hunger, Heike Fingerle, Ingo Nägele und Christoph Ringwald für ihren Einsatz. Kurzes Gedenken an Dieser Stelle an Ute Albrecht.
Insbesondere danke ich meinen Eltern und meinen Geschwistern für die ständige Unterstützung in den Tubulenzen der letzten Jahre. Papa: Dir ein besonderes Dankeschön für die finanzielle Ermöglichung des Studiums. Du warst ein ganz besonderer Mensch, den ich immer im Herzen trage. Danke Dir und danke Mama, dass ihr immer für mich da seid und mich immer bestärkt in allem was gut und richtig ist.
Meinen beiden Kindern Luisa und Maximilian, die mir die notwendige Energie gegeben haben, widme ich diese Arbeit. Euer Papa liebt euch.
7
Erklärung über die Eigenständigkeit der Dissertation
Ich versichere, dass ich die vorliegende Arbeit mit dem Titel
„Prozessintensivierung einer anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien in einem Kapillarreaktor“
selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe; aus fremden Quellen entnommene Passagen und Gedanken sind als solche kenntlich gemacht.
Declaration of Authorship
I hereby certify that the dissertation entitled
“Process intensification of an anionic polymerization of 1,3-Butediene in a capillary reactor”
is entirely my own work except where otherwise indicated. Passages and ideas from other sources have been clearly indicated.
Name/Name: _______________________________
Unterschrift/Signed: ________________________________
I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ... I Abkürzungs- und Symbolverzeichnis ... V Abkürzungen ... V Lateinische Symbole ... VI Griechische Symbole ... VII Indices ... VIII
1 Einleitung ... 1
2 Zusammenfassung ... 3
2.1 Abstract ... 4
3 Stand des Wissens ... 5
3.1 Das Projekt CoPIRIDE ... 5
3.1.1 Allgemeines ... 5
3.1.2 Containertechnologie ... 6
3.1.3 Das Zielmolekül ... 7
3.2 Chemische Aspekte der anionischen Polymerisation ... 8
3.2.1 Allgemeines ... 8
3.2.2 Die Komponenten des Reaktionssystems ... 9
3.2.2.1 Monomere ... 9
3.2.2.2 Starter ... 11
3.2.2.3 Liganden und Modifier ... 13
3.2.2.4 Lösungsmittel ... 13
3.2.3 Mechanistische Betrachtungen ... 14
3.2.3.1 Pre-Initiation ... 14
3.2.3.2 Initiation (Startreaktion) ... 14
3.2.3.3 Propagation (Kettenwachstum) ... 15
3.2.3.4 Terminierung (Abbruchreaktion, Endfunktionalisierung) ... 16
3.2.4 Regioselektivitätssteuerung ... 17 3.2.4.1 1,2- vs. 1,4-Insertion ... 17 3.2.4.2 cis-/trans-Selektivität ... 21 3.3 Reaktionstechnische Aspekte ... 22 3.3.1 Mikroreaktionstechnik ... 22 3.3.2 Neue Prozessfenster ... 23
II
3.3.3 Polymerisationen in Mikrostrukturreaktoren ... 24
3.3.4 Anionische Polymerisation in Mikrostrukturreaktoren ... 24
3.4 Modellierung ... 26
3.4.1 Definierung der Kinetiken und Reaktionsordnungen der Einzelreaktionen ... 26
3.4.1.1 Initiation ... 26
3.4.1.2 Propagation ... 27
3.4.1.3 Abbruchreaktion ... 29
3.4.2 Reaktormodellierung ... 30
3.4.2.1 Stoffbilanzen ... 31
3.4.2.2 Auswertung der kinetischen Messungen ... 34
3.4.2.3 Energiebilanzen ... 35
3.4.3 Polydispersität ... 39
3.4.3.1 Definition und Berechnung des Polydispersitätsindex (PDI) ... 39
4 Experimentalteil ... 43
4.1 Eingesetzte Chemikalien ... 43
4.2 Experimentelle Aufbauten ... 44
4.2.1 Aufbau der Anlage mit halbkontinuierlichem Rührkessel ... 44
4.2.1.1 Versorgungseinheit ... 45
4.2.1.2 Reaktor ... 45
4.2.2 Aufbau der Anlage mit Kapillarreaktor ... 47
4.2.2.1 Dosiereinheit und Kapillarreaktor ... 47
4.2.2.2 Aufbau des Schlitzreaktors ... 50
4.3 Analytik ... 51
4.3.1 Gelpermeationschromatographie im Größenausschlussverfahren (GPC/SEC) ... 51
4.3.2 Kernspinresonanz-Spektroskopie (1H-NMR) ... 54
4.3.3 Headspace-Gaschromatographie (GC) ... 55
4.3.4 Karl-Fischer-Coulometrie ... 57
4.4 Experimente in der halbkontinuierlichen Versuchsanlage ... 59
4.4.1 Versuchsvorbereitung ... 59
4.4.2 Validierungsmessungen ... 59
4.4.3 Standardbedingungen für die Polymerisation im Rührkessel ... 60
4.4.4 Aufarbeitung ... 60
4.4.5 Messungen zur Untersuchung der Stabilität und Reinheit ... 60
4.4.6 Kinetische Messungen ... 60
III
4.5.1 Befüllung der Vorratsbehälter ... 62
4.5.2 Standardbedingung für die Mischercharakterisierung ... 62
4.5.3 Standardprozedur anionische Polymerisation ... 62
4.5.4 Aufarbeitung ... 63
5 Ergebnisse und Diskussion ... 64
5.1 Vorversuche... 64
5.1.1 Halbkontinuierlicher Rührkessel ... 64
5.1.1.1 Stabilität des Polybutadienylanions ... 64
5.1.1.2 Validierung und Skalierbarkeit ... 65
5.1.1.3 Reproduktionsmessungen ... 66
5.1.1.4 Wärmeabfuhrleistung des Rührkesselreaktors ... 67
5.1.2 Mikrotechnik ... 69
5.1.2.1 Wahl der Mischeinheit ... 69
5.1.2.2 Mischercharakteristik ... 69
5.1.2.3 Stabilität des Initiators ... 73
5.2 Spezifikation 1: Vinylgehalt ... 75
5.2.1 Halbkontinuierlicher Rührkessel ... 75
5.2.2 Mikrotechnik ... 77
5.2.3 Fazit zum Vinylgehalt ... 78
5.3 Spezifikation 2: Polydispersitätsindex ... 79
5.3.1 Halbkontinuierlicher Rührkessel ... 79
5.3.1.1 Einfluss der Rührerdrehzahl ... 79
5.3.2 Mikrotechnik ... 80
5.3.2.1 Einfluss des Drucks ... 81
5.3.2.2 Einfluss der Temperatur ... 82
5.3.2.3 Einfluss der Reaktorgeometrie ... 83
5.3.2.3.1 Variation des Innendurchmessers der Kapillare ... 83
5.3.2.3.2 Schlitzreaktor ... 85
5.3.2.4 Einfluss der Verweilzeit ... 85
5.3.2.5 Einfluss der Mischertemperatur ... 87
5.3.2.6 Einfluss der Flussrate ... 89
5.3.2.7 PFR -Modell ... 91
5.3.2.8 LFR-Modell ... 93
5.3.2.9 CFD-Modell ... 94
IV
5.3.3 Fazit zur Produktqualität ... 100
5.4 Prozessintensivierung ... 101
5.4.1 Halbkontinuierlicher Rührkessel ... 101
5.4.1.1 Kinetik ... 101
5.4.1.2 Festlegung des isothermen Messbereichs ... 102
5.4.1.3 Orientierende Simulationsrechnungen ... 102
5.4.1.4 Einfluss der Temperatur auf die Propagationsgeschwindigkeit ... 104
5.4.1.5 Thermische Prozessbeurteilung nach Semenov ... 106
5.4.1.6 Einfluss der Lösungsmittelpolarität und des L/I-Verhältnisses ... 108
5.4.1.6.1 Unpolares Lösungsmittel n-Heptan versus schwach polares Lösungsmittel Cyclohexan ... 108
5.4.1.6.2 Beimengung an polarem Co-Lösungsmittel bzw. Ligand THF zu Cyclohexan ... 110
5.4.2 Mikrotechnik ... 111
5.4.2.1 Untersuchung der Reaktionstemperatur und der Wärmeabfuhrleistung ... 111
5.4.2.2 Reaktionskinetik ... 113
5.4.3 Vergleich der Prozesse – Intensivierung ... 120
5.4.3.1 RZA: Halbkontinuierlicher Rührkesselreaktor ... 121
5.4.3.2 RZA: Kapillarreaktor... 121
5.4.4 Fazit zur Prozessintensivierung (PI) ... 122
6 Appendix ... 123
6.1 Versuche im halbkontinuierlichen Rührkesselreaktor ... 123
6.2 Versuche im kontinuierlich betriebenen Strömungsrohr ... 125
6.3 MatLab Quellcodes ... 127
Simulation zur Entwicklung des PDI im idealen Strömungsrohr PFR ... 127
Simulation zur Entwicklung des PDI im LFR ohne radiale Diffusion ... 129
6.4 GPC-SEC Kalibrierkurve ... 132
V
Abkürzungs- und Symbolverzeichnis
Abkürzungen
Abkürzung Beschreibung
ATRP Atom Transfer Radical Polymerisation Bd 1,3-Butadien
BPR Rückstauventil (Backpressure Regulator) Bu n-Butan
BuLi (n-)Butyllithium
CFD PC-gestützte Fluiddynamikberechnung (Computational Fluid Dynamics) CHx Cyclohexan
CPMM Raupenstrukturmischer (Caterpillar Micro Mixer) FID Flammenionisationsdetektor (GC)
GC Gaschromatographie
GHS Global harmonisiertes System (zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien) GPC/SEC Gelpermeationschromatogaphie/Größenausschlussverfahren (Size Excluding
Chro-matography)
HPLC Hochdruck Flüssigphasenchromatographie (High Pressure Liquid Chromatography) HSAB Pearson-Konzept: harte und weiche Säuren und Basen (Hard and Soft Acids and Bases)
I Initiator
IMM Institut für Mikromechanik Mainz GmbH (heute Fraunhofer ICT-IMM) K Kation
LAP Lebende anionische Polymerisation
LFR ideales Strömungsrohr mit laminarer Strömung (Laminar Flow Reactor)
M Monomer
Met (Alkali-)Metall
MFC Massenstromregler (Mass Flow Controller) MI Migrative Insertion
MSR Mikrostrukturierter Reaktor nHp n-Heptan
NMR Kernspinresonanz (Nuclear Magnetic Resonance) -Spektroskopie
P Polymer
PD Poisson-Verteilung (Poisson-Distribution) PDI Polydispersitätsindex
PFR ideales Strömungsrohr mit Pfropfenströmung (Piston Flow Reactor) PI Prozessintensivierung
R Organylrest
RI Brechungsindex (Refraction Index) -Detektor SIMM Interdigitalmischer (Slit Interdigital Micro Mixer)
STR Rührkesselreaktor (Stirred Tank Reactor)
SBR halbkontinuierlicher Rührkesselreaktor (Semi-Batch Reactor) THF Tetrahydrofuran
TMEDA Teramethylethylendiamin
VI
Lateinische Symbole
Symbol Einheit Beschreibung
A m² (Ober-)Fläche
c mol L-1 Konzentration
cp J kg-1K-1 spezifische Wärmekapazität bei konstantem Druck
c mol L-1 Konzentration
di mm Innendurchmesser
DAB mm² s-1 Diffusionskonstante der Komponente A im Medium B
EA kJ mol-1 Aktivierungsenergie
F C mol-1 Farady-Konstante
Fo - Fourier-Zahl
-ΔRH kJ mol-1 Reaktionsenthalpie
j - Laufvariable
kI L mol-1min-1 Geschwindigkeitskonstante Initiation
kP L mol-1min-1 Geschwindigkeitskonstante Propagation
kW Wm-²K-1 Wärmedurchgangskoeffizient
l cm Länge
L/I - Ligand zu Initiator-Verhältnis M g mol-1 Molare Masse
M/I - Monomer zu Initiator-Verhältnis
Mn g mol-1 Zahlenmittel der Molaren Masse (Polymer)
Mw g mol-1 Gewichtsmittel der Molaren Masse (Polymer)
g h-1 Massenstrom mol h-1 Stoffmengenstrom N - Anzahl p bar Druck P - Polymerisationsgrad PDI - Polydispersitätsindex (Mw/Mn) Pe - Peclet-Zahl q C Ladung Q J Wärme J s-1 Wärmestrom r m Radius
rP mol L-1 min-1 Reaktionsgeschwindigkeit der Propagation
Rx m Gesamtradius
R J mol-1 K-1 universelle Gaskonstante
Re - Reynolds-Zahl RZA kg m-³h-1 Raum-Zeit-Ausbeute Sc - Schmidt-Zahl tf min Zudosierzeit tR min Reaktionszeit Tmix °C Mischertemperatur
TW °C Ölbadtemperatur bzw. Wandtemperatur der Kapillare
VII v m s-1 Geschwindigkeit cm³ h-1 Volumenstrom VR m³ Reaktorvolumen Y % Ausbeute X % Umsatzgrad xi - molarer Anteil
x - Laufvariable in radialer Richtung z - Laufvariable in z-Richtung
Griechische Symbole
Symbol Einheit Beschreibung
δ ppm chemische Verschiebung Γ J kg-1 Spezifischer Wärmeinhalt
η mPa s dynamische Viskosität ν mm² s-1 kinematische Viskosität ν - stöchiometrischer Faktor λ J kg-1 cm-1 spezifischer Wärmeleitwert ρ kg m-³ Dichte τ s Verweilzeit Θ K Absolute Temperatur ω - Vinylgehalt
VIII
Indices
Symbol Beschreibung
0 zu Beginn der Reaktion + zugegebene Monomermenge
+1 folgender Iterationsschritt in Simulation ad adiabatisch
avg durchschnittlich (average) cap die Kapillare betreffend
f die Zudosierung betreffend (feed) i das Edukt betreffend
I die Initiation/den Initiator betreffend in am Reaktoreingang
l flüssig (liquid)
M das Monomer betreffend mix den Mischer betreffend out am Reaktorausgang
P die Propagation betreffend R im Reaktionsgemisch
ret Retention(-szeit) am Scheitelpunkt eines Signals im Chromatogramm Sdp Siedepunkt
t zum Zeitpunkt t
vac während des Evakuierens (vacuum) vap in der Dampfphase (vapor)
W die Reaktorwand betreffend x am Ort x
1
1 Einleitung
Die vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des EU-Projekts CoPIRIDE, in welchem neue Tech-nologien, Prozesse und Fertigungstechniken für die chemische Fabrik der Zukunft entwickelt wurden. Zusammen mit den Projektpartnern Evonik Industries AG, Essen, der ehemaligen IMM Mainz GmbH (heute: Fraunhofer ICT-IMM) und der TU Eindhoven (TU/e) wurde die Prozessintensivierung von einer anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien im Kapillarreaktor untersucht. Die übergeordnete Ziel-setzung war es, den Prozess so zu verkleinern, dass dieser als kompakte Baueinheit oder als Modul in eine Produktionsinfrastruktur im Standardcontainerformat (EvoTrainer®) installiert werden kann. Mit den von der Evonik Industries AG vorgegebenen Spezifikationen zu einem Musterpolybutadien (Vinylgehalt ω von 55 bis 75 %, Molmasse Mw von 3.000 bis 20.000 g mol-1, Polydispersität PDI kleiner
als 1,1) sollte zuerst ein Rührkessel-Prozess entwickelt werden, der dann im darauf folgenden Entwick-lungsschritt in einen kontinuierlich betriebenen Reaktor mit Mikro- bzw. Milli-Reaktortechnologie übertragen werden soll. Um diesen technischen Schritt zu bewerkstelligen, müssen vorher sämtliche chemische und reaktionstechnische Daten bestimmt und Zusammenhänge untersucht werden, da für das vorliegende chemische System in der zugänglichen Literatur nur unzureichende Datensätze, spe-ziell für das bei Standardbedingungen gasförmige Monomer 1,3-Butadien, zur Verfügung stehen. Zur Bestimmung der Prozessparameter sind zwei Rührautoklaven notwendig. Einer im 5 L-Maßstab, der bei Evonik in Marl installiert wurde, und ein weiterer kleiner Forschungsrührautoklav mit 300 mL Reaktorvolumen an der Universität Stuttgart. Der 5 L-Reaktor wird dazu verwendet, zeitnah die Pro-duktion in einem 1 m³-Rührkesselreaktor vorzubereiten und die Aufarbeitung (downstream proces-sing) des Polybutadiens zu entwickeln. Der 300 mL-Reaktor dient der Entwicklung einer Rezeptur für die Polymerisation im 5 L-Reaktor, zur Messung der Reaktionskinetik, zur Untersuchung des Vinylge-halts und zur Definition der Prozessbedingungen für die Übertragung in den kontinuierlich betriebenen Kapillarreaktor.
Das Kernstück der dritten Versuchsanlage ist der Kapillarreaktor. Um die Polymerisation in Flüssig-phase durchführen zu können, ist eine vergleichsweise aufwändige Peripherie zum Vorhalten des Edu-ktgemischs und dessen präziser Dosierung in den Kapillarreaktor notwendig. Diverse Mischeinheiten und ein eigens angefertigter Schlitzreaktor wurden von der IMM Mainz GmbH (heute: Fraunhofer ICT-IMM) zur Verfügung gestellt. Aus den Produktanalysen mittels GPC/SEC und 1H-NMR der im
Kapillar-reaktor hergestellten Polybutadiene sollen Zusammenhänge mit den eingestellten Prozessbedingun-gen gefunden werden. Neben den UntersuchunProzessbedingun-gen zum Einfluss von Temperatur und Ligandenmenge auf die Vinylgehalte in den hergestellten Polybutadienen, soll die Kinetik der Polymerisation im neuen Prozessfenster bestimmt werden.
Für die Zugänglichkeit neuer Prozessfenster müssen die Zusammenhänge zwischen Prozessbedingun-gen und ProdukteiProzessbedingun-genschaften geprüft und experimentell belegt werden. Die resultierenden Ergeb-nisse werden danach bewertet, wie diese im Sinn der Prozessintensivierung die Kategorien Prozess-vereinfachung, Integration, Hochtemperatur-, Hochdruck- und Hochkonzentrationsanwendung erfül-len.
2
Besonderes Augenmerk legt diese Arbeit auf die Molmassenverteilung bzw. Polydispersität (PDI) der im Kapillarreaktor hergestellten Polybutadiene. Die in den Laborexperimenten ermittelten Daten sol-len, in Kooperation mit der TU/e, numerisch modelliert, d.h. die Entwicklung des PDI in einem mög-lichst realitätsnahen CFD-Modell simuliert und auftretende Phänomene erklärt werden. Weiterhin sol-len die Ergebnisse der Experimente mit Idealreaktor-Modelsol-len (Pfropfenströmung im PFR und lami-nare Strömung im LFR) verglichen und gegebenenfalls Randbedingungen (u.a. im Mischer erfolgte Ini-tiation und isotherme Reaktionsführung) für die Modelle definiert werden. Die Validierung der Simu-lationen erfolgt wiederum durch Vergleich mit den Experimenten.
Letztlich führen all die durchgeführten Untersuchungen zu einer Bewertung der möglichen Intensivie-rung des Prozesses. Eine erfolgte OptimieIntensivie-rung der chemischen und reaktionstechnischen Bedingungen bei Erhalt der Spezifikationsgrenzen, kann der experimentell ermittelte Betriebspunkt zu einem neuen Prozessfenster führen, welches die Übertragung der anionischen Polymerisation in den Kapillarreaktor eröffnet. Kanaldimensionen im Milli-/Mikromaßstab erlauben die Polymerisation bei Temperaturen und Drücken durchzuführen, die in einem Produktionsrührkessel technisch nicht realisierbar sind. Mit der Definition der Prozessbedingungen im Kapillarreaktor und dem Umsatzgrad am Betriebspunkt soll der Vergleich zur konventionellen Herstellung der Polybutadiene im Rührkessel gezogen werden. Die Vergleichsgröße ist die Raum-Zeit-Ausbeute für den Produktionszeitraum von einem Jahr.
3
2 Zusammenfassung
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden zunächst zwei Versuchsanlagen errichtet. Der Reaktor der einen Anlage ist ein 300 mL Rührkessel, der unterschiedliche Betriebsmodi erlaubt, aber hauptsächlich als Semi-Batchreaktor betrieben wurde. Der Reaktor wurde mit seinem 5 L-Pendant in Marl validiert und lieferte die notwendigen Ergebnisse zur Definition der Ausgangsbedingungen für die Übertragung der Synthese von Polybutadien in den kontinuierlich betriebenen Kapillarreaktor der zweiten Anlage. Die Untersuchungen zur Übertragung der anionischen Polymerisation in den kontinuierlich betriebe-nen Kapillarreaktor beinhalteten die Aufklärung der Frage, wie sich das Ligand-zu-Initiator-Verhältnis auf den Vinylgehalt und auf die Kinetik auswirkt. Hierzu wurde für das untersuchte Reaktionssystem mit Cyclohexan als Lösungsmittel, THF als Ligand und n-Butyllithium als Initiator ein Kennfeld erstellt, welches zeigt, welche Reaktionstemperaturen bei welchen Ligand-zu-Initiator-Verhältnissen einge-stellt werden müssen, um die geforderten Spezifikationen zum Vinylgehalt (im Bereich von 60 bis 75%) zu erfüllen. Weiterhin wurde die Propagationskinetik durch eine Vielzahl an Experimenten und mit Hilfe von numerischen Modellen bestimmt. Es konnte eine Rezeptur erstellt werden, die es erlaubt im halbkontinuierlichen Rührkesselreaktor zuverlässig Polybutadiene mit engen Molmassenverteilungen (PDI) kleiner als 1,1, den gewünschten Vinylgehalten und einer Molmasse von 4.500 g mol-1
herzustel-len. Diese Ergebnisse flossen zum Teil in den von Evonik fertiggestellten mit einem 1 m³ Rührkesselre-aktor ausgestatteten EvoTrainer® (einer kompakten Chemiefabrik im Format eines 40-feet-Containers) ein.
Mit den Experimenten im Kapillarreaktoren konnte gezeigt werden, dass in einem Strömungsrohr, das die Bedingungen zur Milli-/Mikrotechnologie erfüllt, ebenfalls Polybutadiene mit Polydispersitäten kleiner als 1,1 herstellbar sind. Die Experimente zeigten, dass eine bauliche und thermische Trennung von Mischeinheit und Reaktorkapillare hierzu notwendig ist und führten zu einem Patent, WO 2014075901 A1 „Verfahren zur Herstellung von Polybutadien“, veröffentlicht am 28.10.2013.
Mit Hilfe der numerischen Arbeiten konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, dass die radiale Diffusion das zuvor im Mischer eingestellte Monomzu-Initiator-Verhältnis so verändert, dass die minimal er-zielbare Polydispersität bei Polymerisationsgraden bis 600 auf einen PDI-Wert von 1,04 limitiert ist. Weitere Experimente und Modellierungen belegten die Randbedingungen der isothermen Reaktions-führung in der Kapillare und eine Trennung von Initiation im Mischer und der Propagation in der Kapil-lare. Diese Maßnahmen stellen bereits eine Prozessintensivierung im Sinne der Prozessvereinfachung dar.
Weiter konnte ein optimaler Betriebspunkt für die Polymerisation definiert werden. Dieser liegt in dem untersuchten Reaktionssystem bei ca. 85 °C und 17 bar, bei dem sowohl ein hoher Umsatzgrad an Monomer von mindestens 90 %, als auch ein Vinylgehalt innerhalb der Spezifikationsgrenzen erzielt wird. Die Reaktionszeit konnte signifikant von 40 Minuten im 300 mL-Rührkesselreaktor auf 150 s im Kapillarreaktor verkürzt werden. Die Milli-/Mikroreaktortechnologie eröffnet für die anionische Poly-merisation ein neues Prozessfenster, indem Druck und Temperatur erhöht werden („high-p,T“). Fasst man die Einzelergebnisse für den Kapillarreaktor zusammen und vergleicht dessen Raum-Zeit-Aus-beute von über 4000 kg m-3 h-1 mit der des konventionellen 1 m³-Rührkessels von knapp 40 kg m-3 h-1,
so bietet die Mikroreaktionstechnologie eine Prozessintensivierung bei der anionischen Polymerisa-tion von 1,3-Butadien um den Faktor 100.
4
2.1 Abstract
For the investigation of the process intensification of the anionic polymerisation of 1,3-butadiene two experimental setups were errected. The results of the experiments in the semi-batch reactor were necessary to define the standard conditions and to create a recipe for the industrial production of polybutadienes with a specified molar weight of 4,500 g mol-1, a vinyl content of about 75 % and a
polydispersity below 1.1. The transfer of the anionic polymerisation into a capillary reactor leads to polybutadienes within the recommended specifications. Microreaction technology allows to perform the polymerisation in a novel process window at elevated temperatures higher than 70 °C and pres-sures of more than 15 bar. This work shows with the help of experiments, numerical modelling and the comparison with ideal reactor models, that there is a limitation by fluid dynamics at a value of 1.04 for the PDI. Furthermore the boundary conditions like isothermal reaction conditions or completed initiation phase were proven by the simulations. To determine the potential of processes intensifica-tion the space-time yields of the two processes were compared. The transfer to a continuous flow process and the use of mircoreaction technology results in an intensification factor of about 100. Within the CoPIRIDE-project (funded by the Eurorean Commission, FP7) the results of this work helped to build a standard container sized chemical plant.
5
3 Stand des Wissens
3.1 Das Projekt CoPIRIDE
3.1.1 AllgemeinesAbbildung 1: CoPIRIDE-Logo.[2]
CoPIRIDE war ein Projekt im Rahmen des 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramms, in dem neue Produktionskonzepte entwickelt wurden, die die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der chemischen In-dustrie in Europa sichern sollen. Die Produktionskosten von Grundchemikalien werden im Wesentli-chen durch die Preise der Edukte vorgegeben und es droht zunehmend größere Konkurrenz aus dem mittel- und fernasiatischen Räumen. Bei den Spezialchemikalien zählen hingegen enge Spezifikationen, hohe Reinheit und kundenorientierte Produkte. Die Rohstoffkosten und die Abhängigkeiten vom Öl-preis machen hier einen kleineren Teil der Gesamtproduktionskosten aus.
Es gilt für die chemische Industrie in der EU neue Konzepte zu erarbeiten, wie konventionelle Mehr-produktanlagen (meist Rührkessel) durch modular aufgebaute, kontinuierlich betriebene Einprodukt-anlagen ersetzt werden können, um durch die Senkung der Produktionskosten oder durch die Erhö-hung der Produktqualität im Wettbewerb zu bestehen. Der modulare Aufbau ermöglicht zudem eine höhere Auslastung der Apparate, da diese bei nicht-Nutzung in andere Prozesse integriert werden kön-nen. Dies geschieht im Sinne der Prozessintensivierung (PI) nach Burns et al., welche durch reaktions-technische Ansätze zu kompakteren und nachhaltigeren Technologien führt[1] und hier eine schnellere
Übertragung vom Labor- in den Produktionsmaßstab ermöglicht. So kann einerseits schneller auf die Bedürfnisse des Marktes reagiert werden („Time-to-Market“) oder andererseits die Produktionsstät-ten zu den Absatz- oder EinkaufmärkProduktionsstät-ten verlegt werden.[2]
Ziel von CoPIRIDE war es, möglichst jede Stufe des Prozesses auf ihr Potenzial für eine Intensivierung zu untersuchen, Limitierungen zu beseitigen und durch neue Reaktions- und Reaktortypen neue Pro-zessfenster zu eröffnen. CoPIRIDE beinhaltet also ein 5-gliedriges Zusammenspiel aus Prozessentwick-lung, KatalysatorentwickProzessentwick-lung, neuen Reaktordesigns, deren Fertigung und dem Aufbau in kompakten, modularen Einheiten, siehe Abb. 2.
6
Abbildung 2: 5-gliedriges Entwicklungskonzept von CoPIRIDE.[2]
3.1.2 Containertechnologie
Das von Evonik entwickelte EvoTrainer®-Konzept beinhaltet eine vollständige, mobile Infrastruktur im Format eines 12-Fuss-Standard-Containers, siehe Abbildung 3, mit allen für einen chemischen Prozess notwendigen Einbauten. Dazu gehören Anschlüsse für Strom, Kühlwasser, Edukte und Produkte. Wei-terhin gehören Klimaanlage, Sicherheitseinrichtungen, eine technische Leitstelle, der Prozessraum auf Wunsch auch explosionsgeschützt, die Produktaufbereitung und die Lagerung der Chemikalien zur Ausstattung.[3] Die Infrastruktur soll unabhängig von dem darin befindlichen Prozess sein, der zudem
eine möglichst hohe Effizienz aufweist und eine kompakte, modulare Bauweise mit sich bringt.
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Die Jahresproduktion eines Containers wird mit etwa 500 Jahrestonnen angegeben und bedient so den Markt für Spezialchemikalien. Wird eine beispielsweise wegen Produktionsengpässen eine Kapazitätserhöhung benötigt, so kann der Container vergleichsweise schnell „geklont“ und zeitnah auf einen erhöhten Marktbedarf reagiert werden.
3.1.3 Das Zielmolekül
Der Projektpartner Evonik Industries AG hatte sich zum Ziel gesetzt, ein spezielles Kammpolymer für die Schmiermittelbranche herzustellen. Dieses hat aufgrund seiner Möglichkeit zur temperaturabhän-gigen Knäuelung und Entfaltung viskositätsregulierende Eigenschaften.[4,5] Im Aufbau besteht das
Kammpolymer aus einem Rückgrat („backbone“) aus Polymethylmethacrylat, an dessen Säuregruppen vereinzelt Makroalkohole durch eine Kondensationsreaktion gebunden werden, siehe Abbildung 4. Dieser Makroalkohol ist ein Polybutadien, das direkt nach der Polymerisation noch im aktiven Zustand als Polybutadienyllithium mit Propylenoxid zum Alkohol funktionalisiert wird. Dieses wird nach Proto-nierung mit Methanol in einem weiteren Verfahrensschritt zur Absättigung der Doppelbindungen an einem Katalysator hydriert.
Abbildung 4: Schematischer Aufbau des Endprodukts mit den CoPIRIDE-Projekt relevanten retrosyn-thetischen Schritten.
In Zusammenarbeit mit Evonik Industries AG und der Technischen Universität Eindhoven (TU/e) wird in dieser Dissertation der Projektteil der anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien zum Aufbau des Gerüsts des Makroalkohols untersucht. Die Endfunktionalisierung mit Propylenoxid und die anschließende Hydrierung ist nicht Teil der vorliegenden Arbeit und wurde bei Evonik am Standort Marl untersucht. Das Bestreben seitens der Evonik Industries AG war es, das Kammpolymer auf den Markt zu bringen und die TU/e trug maßgeblichen Anteil zur Reaktormodellierung bei, die detailliert in den Kapiteln 3.4.4 und 5.3.2.9 beschrieben wird.
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3.2 Chemische Aspekte der anionischen Polymerisation
3.2.1 AllgemeinesIm Jahr 1936 berichtete Ziegler erstmals von einer anionischen Polymerisation von Styrol und 1,3-Bu-tadien, welches durch Alkyllithium initiiert wird und ohne Kettenübertragungsreaktionen verläuft.[6]
Der ionischen Polymerisation liegen die drei Reaktionsschritte Initiation (Startreaktion), Propagation (Kettenaufbau) und Termination (Abbruchreaktion) zu Grunde. Die anionische Polymerisation in allge-meiner Form wird in den nachfolgenden Gleichungen (1-3) mit dem Organylrest des Initiators R, dem (Alkali-)Metallzentrum Met und dem Polymer P beschrieben.
Initiation: + (1)
Propagation: + (2)
Abbruch: + + (3)
1956 veröffentliche Nature einen Artikel von Khanna und Szwarc[7], in welchem über die ionische
Po-lymerisation unter der Bezeichnung „lebende Polymere“ berichtet wurde und verhalf mit dieser Ver-öffentlichung der anionischen Polymerisation zum Durchbruch. In den folgenden Jahrzehnten befass-ten sich viele Arbeitsgruppen ausgiebig mit der anionischen Polymerisation und deren Einflussgrößen, wie Wahl der Edukte oder des Solvens, Liganden, Temperatur und weiterer Parameter.[8,9] Mit dieser
Art Polymerisation lassen sich maßgeschneiderte Polymerketten[10] auch mit komplexeren
Struktu-ren[11] oder als Block-Co-Polymere aufbauen. Unterschiedliche Polymerarchitekturen beeinflussen die
physikalischen Eigenschaften und ermöglichen so eine Vielzahl an Einsatzgebieten, wie Elastomere, Rheologieregler, Klebstoffe oder Festigkeitszusatzstoffe.[12]
Gegenüber anderen Polymerisationen (radikalische, Kondensationen) verläuft die ionische stets streng linear, vorzeitige Abbrüche des Kettenwachstums oder auch Übertragungsreaktionen sind im vernach-lässigbaren Bereich.[13] Die Bezeichnung „lebende Polymere“ entstammt der Eigenschaft, dass diese,
so lange sie noch aktiv sind, weiter wachsen können und bis zum Kettenabbruch oft eine charakteris-tische Färbung besitzen. Bei definierten Reaktionsbedingungen führt ein gleichmäßiger Aufbau aller aktiver Ketten zu einer besonders engen Verteilung der resultierenden Kettenlängen, die durch den Polydispersitätsindex (PDI) beschrieben werden kann. Hier liegt die Besonderheit der ionischen Poly-merisationen, da die resultierenden Polymere typischerweise sehr enge Molmassenverteilungen von etwa PDI ≈ 1,1 und kleiner aufweisen.
Als Monomere kommen meist elektronenreiche, konjugierte Olefine, wie Styrol, Isopren, Butadien so-wie Acrylate oder dessen Derivate, z.B. Acylnitril, zum Einsatz. Die anionische Polymerisation ist aber auch mit Heterocyclen, Lactonen und Lactamen als Ringöffnungspolymerisation durchführbar. Als Initiatoren werden hauptsächlich Alkalimetallorganyle, z.B. Butyllithium, eingesetzt. In einer koor-dinativen Insertion werden nach und nach aus den Monomeren die Ketten aufgebaut (2). Ist die ge-wünschte Kettenlänge erreicht, so kann die Propagation durch gezielte Zugabe eines Abbruchreagen-zes, z.B. protisches Lösungsmittel (3), gestoppt werden. Hier gibt es zudem noch die Möglichkeit, die Kettenenden durch Zugabe von z.B. Ethylenoxid oder Lactonen zu funktionalisieren. Bei den genannten Agentien befindet sich dann am Ende der Kette nach wässriger Aufarbeitung eine Hydroxylgruppe.
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Der größte Nachteil der anionischen Polymerisation ist die hohe Empfindlichkeit des hochreaktiven Carbanions gegenüber Verunreinigungen in der Apparatur. Schon geringe Spuren an Wasser genügen, um das Carbanion zu protonieren, was zu einem Abbruch des Kettenwachstums führt. Weiterhin kri-tisch ist die Anwesenheit von Sauerstoff, da dieser in die Kette insertiert werden kann und später der Materialbeständigkeit des Polymers abträglich ist.
3.2.2 Die Komponenten des Reaktionssystems 3.2.2.1 Monomere
Als Monomere für eine LAP eignen sich Moleküle mit elektronenziehenden Gruppen als Substituenten, die einen nucleophilen Angriff des Carbanions am Ende der wachsenden Kette begünstigen und die negative Ladung nach der Insertion über die Doppelbindungskonjugation auf das neue Kettenende übertragen. 1,3-Diene, Acrylate, Ketone und Isocyanate sind typische Vertreter. Zur Ringöffnungspo-lymerisation eignen sich eine Vielzahl an heterocyclischen Verbindungen, wie Oxirane, Thiirane, Gly-koside, Lactame oder Lactone. Tabelle 1 gibt einen Überblick über oft verwendete Monomere und zeigt einen Ausschnitt wie diese sich in die Polymerkette einfügen.
Tabelle 1: Auswahl typischer LAP-Monomere und deren Repetiereinheit innerhalb der Polymerkette.
Monomer Name Repetiereinheit
In der gezeigten Monomerenauswahl in Tabelle 1 unterscheiden sich 1,3-Butadien und Isopren von den anderen aufgrund ihrer konjugierten Doppelbindungen. Hier ergeben sich bei der Addition des nächst folgenden Monomers Regioselektivitätsunterschiede im Zielpolymer, wie dies in Abbildung 5 am Beispiel von 1,3-Butadien als 1,2-, oder 1,4-Addukt in ungeordneter Reihenfolge (random) mit n-Butyllithium als Initiator und THF als Ligand dargestellt wird. Viele Arbeitsgruppen zeigten, dass sich
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die Struktur von Polymeren aus struktursensitiven Monomeren wie 1,3-Butadien oder Isopren zudem über das Kation des Initiators gezielt modifizieren lässt.[14,15,16] Dies wird in Kapitel 3.2.4 im Detail
be-schrieben.
Abbildung 5: Zu untersuchendes Reaktionssystem der anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien mit dem Initiator n-Butyllithium und dem Liganden THF.
3.2.2.1.1 Styrol
Styrol wird in der vorliegenden Arbeit in den ersten Versuchsreihen als Testmonomer eingesetzt. Die-ses liegt bei Raumtemperatur in flüssiger Phase vor (TSdp = 145 °C), ist für einen ersten Einsatz einfacher
im Umgang und dient daher zur Validierung des kontinuierlichen Aufbaus. Ein weiterer Vorteil bietet sich durch die toxikologischen Eigenschaften bei einer GHS-Einstufung „Achtung“, die für erste prakti-sche Durchführungen der Reaktion im Einsatz vergleichsweise ungefährlich sind.[17] In den
Eigenschaf-ten als Monomer in einer anionischen Polymerisation ist Styrol dem 1,3-Butadien ähnlich und zeigt durch eine tiefe Rotfärbung des aktiven Polystyrylanions die Reinheit der eingesetzten Materialien und die inerten Reaktionsbedingungen des experimentellen Aufbaus. Nach Zugabe von wenig Methanol, als protisches Lösungsmittel, verschwindet die Verfärbung innerhalb einer Sekunde.
Abbildung 6: Anionische Polymerisation von Styrol mit Abbildung eines aktiven Polystyrylanions.
3.2.2.1.2 1,3-Butadien
Der Einsatz von 1,3-Butadien erfordert aufgrund seines niedrigen Siedepunkts TSdp von -4,41 °C einen
höheren apparativen Aufwand um die Polymerisation in flüssiger Phase durchzuführen. Für den Dampfdruck von 1,3-Butadien gilt die Antoine-Gleichung (4) mit einem Umrechnungsfaktor von mmHg in bar, den Parametern A = 7,00613, B = 999,04 und C = 245,866 und der Temperatur T im gültigen Bereich von -5 bis 140 °C[18]. Die zugehörige Dampfdruckkurve ist in Abbildung 7 aufgetragen.
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Abbildung 7: Dampfdruckkurve von 1,3-Butadien gemäß der Antoine-Gleichung im Temperaturbe-reich von -5 bis 100 °C.[18]
Des Weiteren gibt das CRC Handbook of Chemistry and Physics eine Dichte der Flüssigphase ρl, Bd von
0,6149 g cm-3 und eine Molare Masse M
Bd von 54,091 g mol-1 an.[18] Besondere
Sicherheitsvorkehrun-gen sind weSicherheitsvorkehrun-gen der GHS-Einstufung „Gefahr“ für den weiteren Umgang im Labor hinsichtlich der Brennbarkeit und der carcinogenen sowie reproduktionsschädigenden Toxizität zu beachten.[19] In der
anionischen Polymerisation ist das aktive Polybutadienylanion quittegelb.
3.2.2.2 Starter
Wie bei vielen Polymerisationen üblich, muss eine anionische Polymerisation mit einem Startreagenz initiiert werden. Dieses muss eine negative Ladung tragen, die über das Monomer jeweils weiter an das Kettenende des wachsenden Polymers übertragen wird. Mit der Auswahl der Startreagenzien nimmt man signifikanten Einfluss auf die Kinetik der Polymerisation und die Struktur des Polymers. Als Starter wird bei der anionischen Polymerisation eine Base eingesetzt.
Während beispielsweise Methylcyanacrylat, das stark elektronenziehende Gruppen in Nachbarschaft der Vinylgruppe besitzt, bereits durch Hydroxidionen im Wasser polymerisiert, müssen bei Monome-ren mit schwach elektronenakzeptieMonome-renden Nachbarresten der Vinylgruppe stärkere Basen wie Alkali-alkoholate oder gar Alkalimetallorganyle verwendet werden[20], siehe Abbildung 8. Des Weiteren muss
beachtet werden, dass mit der Stärke der Base die Wasserempfindlichkeit der Polymerisation drastisch ansteigt. 0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 -5 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 pva p ,B d / b ar T / °C
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Abbildung 8: Vergleich der Reaktivitäten vinyloger Monomere und empfohlene Starter.[20]
Alkalimetallorganyle
Diese Starterklasse ist die bei der anionischen Polymerisation die meist verwendete. In der homologen Reihe Li+, Na+, K+, Rb+ und Cs+ unterscheidet sich Lithium in den Eigenschaften sehr stark von den nach
HSAB anderen weicheren Alkalimetallen. Die Elektronenhülle des Lithiums ist zwar weniger polarisier-bar, die energetisch günstige Zugänglichkeit der leeren Orbitale ermöglicht aber eine gezielte Modifi-kation durch Elektronendonorliganden.
Nicht nur das Alkalimetall zeigt Einflüsse auf die Polymerisation, auch der Organylrest hat Wirkung auf die Kinetik der Initiation. Hsieh konnte zeigen, dass sich die Reaktionsrate bei konjugierten Dienen in der Reihenfolge sBuLi > tBuLi > iBuLi > nBuLi verringert, bei Styrol gilt sBuLi > iBuLi > nBuLi > tBuLi.[21]
Lithiumorganyle weisen zudem eine erhöhte kinetische Hemmung beim Initiationsschritt der Polymeri-sation auf, da diese in unpolaren Lösungsmitteln zur OligomeriPolymeri-sation (Tetramere mit Heterocuban-Struktur[22], siehe Abbildung 9, oder Hexamere[23]) neigen.[24] Zum Aufbrechen der Gitter werden in der
Synthesechemie oft Lewisbasen, wie Tetraethylamin oder THF eingesetzt.[25] Durch die Komplexe mit
Ligandenumgebung wird einerseits bei den aktiven Zentren die Zugänglichkeit für die Monomere ge-währleistet, um die kinetische Hemmung zu reduzieren, andererseits wird während der Polymerisation die Deaktivierung durch eine Dimerisierung zweier aktiver Kettenenden gehemmt, siehe Abbildung 10.
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Abbildung 10: Deaktivierung von lebenden Polymerkettenenden durch Dimerisierung und deren Ak-tivierung mittels der Lewisbase THF.
3.2.2.3 Liganden und Modifier
Im vorigen Kapitel wurde bereits das Metallzentrum diskutiert und dass dieses durch Liganden so ver-ändert werden kann, dass sich dies signifikant auf die Reaktionsgeschwindigkeit auswirkt. Bei den Lig-anden handelt es sich meist um aprotische Lewisbasen, deren freie Elektronenpaare sich meistens an einem Stickstoff- oder Sauerstoffatom befinden. Monodentate Liganden, wie THF, zeigen im Komplex eine hohe Fluktuation, was zu moderat hohen Vinylgehalten von bis zu 80 % führt. In Bezug auf sehr hohe Vinylgehalte haben sich Chelatliganden bewährt, meistens wird mit TMEDA und DME gearbeitet (siehe Abbildung 11). Die Wirkung der Liganden und der Metallzentren auf die Regioselektivität wird noch ausführlicher im Kapitel 3.2.4 vorgestellt.
Abbildung 11: Beispiele für in der Industrie häufig eingesetzte Liganden.
3.2.2.4 Lösungsmittel
Von der Polarität des Lösungsmittels hängt es ab, in welcher Form die Ionenpaare vorliegen. Je nach Polarisationsgrad des Solvens ändert sich die Gleichgewichtslage des Ionenpaars und im Fall von Die-nen die Position der negativen Ladung am Polymeranion P-. Man unterscheidet vier Spezies:
Abbildung 12: Zustandsformen der aktiven Polymerspezies in Abhängigkeit der Lösungsmittel-polarität.[26]
In unpolaren Lösungsmitteln (Cyclohexan, n-Heptan) liegen die Ionenpaare bevorzugt in kompakter Form, sprich kovalent oder als Kontaktionenpaar vor, während aprotisch dipolare Lösungsmittel die
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Ladungen und damit die Resonanz-Spezies stabilisieren. Anhand der Polymerisation von 1,3-Butadien und Isopren konnten in einer Vielzahl an Arbeiten gezeigt werden, dass in THF wesentlich höhere Vi-nylgehalte erzielt werden als bei entsprechenden Synthesen in Cyclohexan.[8,9]
3.2.3 Mechanistische Betrachtungen
Zur mechanistischen Betrachtung der anionischen Polymerisation ist es sinnvoll diese in mehrere Ein-zelschritte aufzuteilen und diese getrennt zu betrachten:
• Pre-Initiation: Aktivierung des Starterreagens
• Initiation: Addition des ersten Monomers an den aktiven Initiator
• Propagation: Addition weiterer Monomere
• Terminierung: Beenden der Propagation mit protischen oder polaren Substanzen Die folgende detailliertere Betrachtung bezieht sich auf das eingesetzte Reaktionssystem mit n-Butyl-lithium als Initiator, 1,3-Butadien als Monomer, Cyclohexan als Lösungsmittel und THF als Ligand. In Anlehnung an die Arbeit von Halasa et al.[8] wird in den folgenden Kapiteln der Mechanismus der 1,2-
und 1,4-Additionen von 1,3-Butadien erklärt.
3.2.3.1 Pre-Initiation
Vor der eigentlichen Initiation wird das n-Butyllithium, das in unpolaren Lösungsmitteln als Hexamer vorliegt, vom Liganden, hier THF, aus dem Gitter gebrochen und komplexiert.[27] Erst in diesem Zustand
ist die Zugänglichkeit des Monomers zum aktiven Zentrum gewährleistet. Wie Hay et al. [28] berichteten
ist eine bekannte Stöchiometrie von Butyllithium und Ligand unumgänglich. Der Komplex ist nur dann aktiv, wenn eine Koordinationsstelle für das Monomer frei ist. Gibt man einen Überschuss an biden-tatem Liganden wie TMEDA zum Metallorganyl, so wird dieses voll koordiniert und verliert seine Funk-tion, siehe Gleichung (5). Das monodentate THF kann dagegen leichter fluktuieren und so bleibt die Aktivität der Spezies auch bei hoher THF-Konzentration erhalten, siehe Gleichung (6).
&' ( )*+ ) + )*+ &' ( )*+ ) inaktive Spezies (5)
( &' ) + -. &' ( -.) aktive Spezies (6)
3.2.3.2 Initiation (Startreaktion)
Bei der Initiation, siehe Abbildung 13, wird an der freien Koordinationsstelle des Lithiums ein 1,3-Bu-tadien-Molekül über dessen π-Bindung koordiniert (Spezies 2)). In der nun folgenden migrativen Inser-tion wird das Monomer in einem konzertierten Schritt (Übergangszustand 3)) in die Kette eingebaut,
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indem die negative Ladung am Carbanion die am Metallzentrum polarisierte und damit aktivierte Dop-pelbindung angreift. Die Triebkraft dazu ist der Energiegewinn bei Ausbildung der C-C-Bindung. Die negative Ladung kann in das konjugierte System wandern und bildet mit dem Metallzentrum den π-Al-lylkomplex (Übergangszustand 4)). Morton und Sanderson berichteten von einem α-γ-Gleichgewicht, das entscheidend dazu beiträgt, ob die Addition des folgenden Butadienmoleküls in α-oder γ-Position erfolgt.[29] Dieses Gleichgewicht lässt sich so beeinflussen, dass über die γ-Position und die 1,2-Addition
der Vinylgehalt beliebig eingestellt werden kann. Bei der 1,4-Addition wird ebenfalls von einer konzer-tierten Reaktion ausgegangen. Die Initiation beschränkt sich auf die Addition des ersten Monomers an das Startermolekül, jede weiter folgende Addition wird der Propagation zugeordnet.
3.2.3.3 Propagation (Kettenwachstum)
Bei der Propagation besitzt das Reaktionssystem zwei Möglichkeiten, je nachdem ob das folgende 1,3-Butadienmonomer in der schnellen 1,2-Addition oder in der langsameren 1,4-Addition angefügt wird. Die Darstellung und die Erklärung des Reaktionsmechanismus des Kettenwachstums basieren auf der Erklärung bei Morton und Fetters.[30] Mechanistisch unterscheiden sich die beiden Arten der Addition
lediglich im vier- oder sechsgliedrigen Übergangszustand der migrativen Insertion in einem konzertier-ten Schritt. Ausgehend von den Komplexen 4a) oder 4b) wird im erskonzertier-ten Schritt der Propagation ein 1,3-Butadienmolekül an das aktive Zentrum Lithium koordiniert, siehe Spezies 5a) und 5b). Es bilden sich nun die Übergangszustände 6a) als 4-gliedriger Ring bzw. 6b) als 6-gliedriger Ring aus. In einer konzer-tierten Reaktion werden zeitgleich C-C-Bindungen gelöst und ausgebildet. Nach dieser migrativen In-sertion erhält man das 1,2-Addukt Spezies 7a) bzw. das 1,4-Addukt Spezies 7b). Wie oft diese Zyklen durchlaufen werden, hängt bis zur Abbruchreaktion einzig von der Menge des eingesetzten Monomers ab.
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Abbildung 13: Mechanistische Betrachtung der konkurrierenden 1,2- bzw. 1,4- Additionsreaktion von 1,3-Butadien bei einer anionischen Polymerisation.
Das Polybutadienylanion bleibt weiter aktiv („lebende Polymerisation“) bis durch Zusatz von weiterem Monomer die Propagation fortgesetzt wird. Hierbei kann die Homopolymerisation mit weiterem 1,3-Butadien erfolgen oder mit beispielsweise Styrol eine Block-Co-Polymerisation durchgeführt wer-den. Alternativ kann das aktive Carbanion („living end“) durch Zugabe von protischen Reagenzien ter-miniert oder mit anderen Substanzen, wie beispielsweise Propylenoxid zum Makroalkohol endfunkti-onalisiert werden. Die Reaktionslösung zeigt eine charakteristische Färbung durch das aktive, noch le-bende Polymerylanion: tiefrot bei Styrol und quittegelb bei 1,3-Butadien als Monomer. Bei Terminie-rung verschwindet das Chromophor und das Polymer wird farblos.
3.2.3.4 Terminierung (Abbruchreaktion, Endfunktionalisierung)
Die lebende anionische Polymerisation (LAP) bietet nach dem kontrollierten Aufbau der Polymerketten die Möglichkeit, diese an den negativen Ladungen der Kettenenden zu funktionalisieren. Wertvolle
17
Produkte können durch Zugabe von positiv polarisierten, aprotischen Reagenzien erhalten werden, z.B. Makroalkohole mit Epoxiden,[31] Makrosäuren mit Kohlendioxid[32] oder γ-Keto-Alkohole mit
γ-Butyrolacton, wie in Abbildung 14 gezeigt wird.[33] Auch die Funktionalisierungen zu Amiden und
Mercaptanen ist möglich.
Abbildung 14: Übersicht über die Produkte (teils nach wässriger Aufarbeitung) nach Abbruchrektionen und Endfunktionalisierungen bei der LAP.
Eine während der Propagation zu vermeidende Reaktion ist die Protonierung des Carbanions mit Was-ser, weswegen unter inerten, wasserfreien Bedingungen und unter Schutzgas polymerisiert wird. Als Protonierungsreagenzien eignen sich im Allgemeinen protische Lösungsmittel wie auch Alkohole bis hin zu schwachen Säuren. Die Aufarbeitung eines wässrigen Systems erfordert einen hohen Energie-eintrag bei der Trocknung und ist daher unwirtschaftlich.
Als unerwünschte Nebenreaktion kann es zudem bei höheren Temperaturen ab 180 °C zu Eliminierun-gen[34] kommen. Dabei spaltet sich Lithiumhydrid ab, welches an einer beliebigen Doppelbindung
ad-dieren kann. Das dort gebildete Carbanion kann hier eine neue Polymerkette starten. Eine Verzwei-gung ist bei einer LAP generell nicht erwünscht und führt zu einem Stoffgemisch aus linearen und ver-zweigten Polymeren, die in ihren Molmassen stark variieren.
3.2.4 Regioselektivitätssteuerung
Die Steuerung der Regioselektivitäten kann durch unterschiedliche Möglichkeiten erfolgen, wie ein Monomer in die Polymerkette addiert wird. Dies gilt jedoch nur für Monomere mit konjugierten Dop-pelbindungen, wie 1,3-Butadien oder Isopren. Wohingegen Styrol, Acrylsäure oder Vinylchlorid nur eine Möglichkeit zur Addition besitzen. Bei den Dienen sind die 1,2- und die 1,4-Addition möglich, bei Isopren kommt es zusätzlich noch zu einer 3,4-Addition. Weiterhin werden noch die Stereoisomere mit cisoider oder transoider Konfiguration der Doppelbindung in der Kette unterschieden. Wie hoch die jeweiligen Anteile sind und wie dies zu beeinflussen ist, wird in den folgenden Kapiteln diskutiert.
3.2.4.1 1,2- vs. 1,4-Insertion
Poshyachinda et al. zeigten, dass bei einer anionischen Polymerisation von 1,3-Butadien mit Hilfe von katalytischen Mengen an Ligand in Abhängigkeit von Lösungsmittelpolarität, Reaktionstemperatur und
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der Wahl des aktiven Zentrums sowie dessen chemischer Umgebung der Vinylgehalt im Produkt von 6 bis zu 97 % eingestellt werden kann.[35,36] Welchen Einfluss das Lösungsmittel, der Ligand, das
Metall-zentrum und die Temperatur auf den Vinylgehalt des Polydiens besitzen, zeigen folgende Kapitel. 3.2.4.1.1 Einfluss des Lösungsmittels
Die anionische Polymerisation von 1,3-Butadien wird üblicherweise in aprotischen Lösungsmitteln durchgeführt. Hierbei besitzen die Lösungsmittelpolarität und die Donoreigenschaften einen entschei-denden Einfluss auf den Vinylgehalt des erhaltenen Polybutadiens. In linearen Kohlenwasserstoff als Lösungsmittel und n-Butyllithium als Initiator bei Reaktionstemperaturen zwischen 50 und 70 °C er-zielten beispielsweise Chang et al. (n-Hexan) und Kuntz et al. (n-Heptan) und Uranek (Cyclohexan) Vi-nylgehalte im Produkt von 6 bis 10 %.[35,37,38] Salle et al. verwendeten Benzol als Lösungsmittel zur
Po-lymerisation von Isopren und erhielten mit einem Vinylgehalt von 15 % einen leicht höheren Anteil an 1,2-Insertionen. [39] Kalninsh und Podolsky führten die anionische Polymerisation von 1,3-Butadien bei
20 °C in reinem THF durch und erhielten im Polymer einen Vinylgehalt von 88 %.[40] Der Vergleich der
genannten Arbeiten zeigt, dass in rein aliphatischen Lösungsmitteln bevorzugt der in Abbildung 13 ge-zeigte rechte Zyklus abläuft und das thermodynamisch bevorzugte 1,4-Polybutadien entsteht. In rei-nem THF, welches gleichermaßen als Lösungsmittel und als Ligand (monodentater σ-Donor) am Me-tallzentrum fungiert, läuft bevorzugt der linke Zyklus in Abbildung 13 ab. Die sehr kurzen Reaktionszei-ten von unter 20 MinuReaktionszei-ten bei vollständigem Umsatz deuReaktionszei-ten darauf hin, dass das 1,2-Polybutadien das kinetisch bevorzugte Produkt ist. Zum Erzielen eines bestimmten Vinylgehalts im Polymer der zwischen 10 und 88 % liegt, sind die Polymerisationen in reinem Lösungsmittel nicht praktikabel.
3.2.4.1.2 Einfluss des Liganden
Unpolare Lösungsmittel, wie Cyclohexan oder n-Heptan, stabilisieren den π-Allyl-Komplex 4) und den Komplex 4a) in Abbildung 13 offensichtlich nicht ausreichend, so dass hier fast ausschließlich das Po-lybutadienyllithium in Kontaktionenform 4b) vorliegt. Nach den Berechnungen von Hesterweth et al. lag die Bindungsenthalpie von Butyllithium mit TMEDA-Stabilisierung in n-Hexan um ΔHBuLi
mit 43,1 kJ mol-1 höher als ohne TMEDA.[41] Dieser Trend lässt sich auf die Bindungsenthalpie von
Po-lybutadienyllithium übertragen, wobei die Stabilität des π-Allyl-Komplexes weiter ansteigt, je polarer die Umgebung ist. Es wird dann zunehmend bevorzugt das 1,2-Addukt gebildet.
Hesterwerth et al.[41] und Antkowiak et al.[42] haben in ihren Arbeiten eine Zusammenfassung über den
Einfluss von vielen Liganden auf den Vinylgehalt von Polybutadien erstellt, wonach in unpolarem Lö-sungsmittel je nach Wahl des Liganden und der Temperatur der Vinylgehalt vom Polymer von 8 % (ohne) bis 99 % (1,2-Dipiperidinoethan) variiert werden kann. Für den in dieser Arbeit vom Industrie-partner gewünschten Vinylgehalt im Bereich von 60 bis 75 % im Polybutadien scheinen TMEDA (73,3 %, 30 °C) und DME (68,5%. 30 °C) zwar geeignete Liganden zu sein, jedoch weisen diese als Chelatlig-anden einen äußerst schmalen Regelbereich, d.h. starke Varianz bei kleinen Mengenunterschieden, auf. THF als monodentater Ligand muss zwar in deutlich höherer Menge zugemischt werden, zeigt aber für eine industrielle Anwendung wegen des weniger starken Anstiegs einen robusteren Arbeits- und Regelbereich (siehe Abbildung 15). Hexamethylphosphorsäuretriamid (HMPA) ist ebenfalls ein mögli-cher monodentater Ligand, der sich zwar eignen könnte, aber aufgrund seiner extrem carcinogenen Wirkung keine weitere Berücksichtigung findet.
19
Abbildung 15: Vinylgehalte von Polybutadienen, bei deren Synthese bei einer Reaktionstemperatur von 30 °C Ligandentyp und -konzentration L/I variiert wurden.[42]
Durch freie Elektronenpaare, lone-pairs, an den Liganden wird dann im Komplex Elektronendichte vom Liganden auf das Metallzentrum verschoben. Wegen der nun erhöhten Reaktivität hat das Me-tallzentrum nun weniger Zeit, um von der 2- an die 4-Position des Diens zu wandern. Dies zeigt sich in deutlich erhöhten Reaktionsgeschwindigkeiten und deutlich erhöhten Vinylanteilen bei der Polymeri-sation am Lithiumzentrum.[43] Die Sensitivität des aktiven Zentrums auf Lewisbasen hängt auch von
Auswahl und Zusammensetzung des Lösungsmittels ab. Während sich, wie oben bereits beschrieben, in unpolaren Lösungsmitteln, wie Hexan oder Benzol, kaum vinyloge Verzweigungen bilden, steigt de-ren Anteil bei Verwendung von THF.
3.2.4.1.3 Einfluss des Initiators: Natur des Alkalikations
Salle et al. zeigten, dass in der homologen Reihe der Alkalimetalle das Lithium eine Sonderstellung besitzt.[39] Bei der LAP von Isopren in Benzol bei 15 °C und bei 80 °C erfolgte bei 90 % der Monomere
ein 1,4-Einbau, während dieser vom Natrium bis zum Caesium von rund 40 % bis auf 60 % sukzessive anstieg. Bei Polymerisationen von 1,3-Butadien in 1,4-Dioxan reiht sich das Lithium hingegen ein und so steigt dann der Anteil von 1,4-Insertionen bei 50 °C von 15 % (15 °C: 7 %) mit Li bis auf 50 % mit Caesium. Lithium ist nach dem Pearson-Konzept ein hartes, nicht polarisierbares Kation.[44] Natrium,
Kalium und Caesium sind durch die energetische Zugänglichkeit der d-Orbitale und größere Ionenra-dien zunehmend weicher und polarisierbarer.
Unabhängig von dem Organylrest wurde bei Merle et al. mit einer Interkalationsverbindung von Li-thium in Graphit mit Cyclohexan als Lösungsmittel bei 15 °C ein Vinylgehalt von 45 % im Polybutadien erhalten[45]; Cheng und Halasa erhielten bei 30 °C und Natrium in einem Kryptanden wie Kronenether
einen Vinylgehalt von 83 %.[46] Somit wurde gezeigt, dass das Kation selbst bei einer Abschirmung die
Weichheit des Carbanions bestimmt.
In den Forschungsarbeiten zeigte sich somit das Lithium als variabelstes Kation, das mit entsprechen-der Modifikation die komplette Bandbreite an Vinylgehalten erzeugen kann. Mit Natrium und Kalium
20
lag der Mindestanteil von 1,4-Insertionen bei rund 30 %. Zudem sind deren Initiatorlösungen weit re-aktiver und damit instabiler als die Lithiumorganyle.[39,45]
3.2.4.1.4 Einfluss der Reaktionstemperatur
Desweiteren fassten Hesterwerth et al. und Antkowiak et al. in ihren Übersichtsartikeln neben dem Einfluss der Liganden auch den Einfluss der Reaktionstemperatur auf den Vinylgehalt zusammen. Die Ergebnisse für unterschiedliche THF zu Butyllithium Verhältnisse (L/I) sind in Abbildung 16 darge-stellt.[41,42] Es konnte so gezeigt werden, dass sich bei zunehmenden Temperaturen und ab ca. 50 °C
ein stabiler Vinylgehalt einstellt. Dieser wird dann maßgeblich von der Menge des polaren Liganden, hier THF, bestimmt. Die Wahl der Temperatur hat somit im gewählten Betriebsbereich zwischen 45 und 70 °C keinen entscheidenden Einfluss auf den Vinylanteil. Eine isotherme Reaktionsführung unter-stützt dennoch den Aufbau einer homogenen Polymerarchitektur. Es ist anzunehmen, dass bei einer isothermen Reaktionsführung bei Reaktionstemperaturen von unter 50 °C der Vinylgehalt eine homo-genere Verteilung bewirkt.
Abbildung 16: Vinylgehalte von Polybutadienen, die bei unterschiedlichen Reaktionstemperaturen (für diese Arbeit relevanter Bereich) hergestellt wurden.[39]
Uraneck untersuchte die Abhängigkeit der Struktur des Polybutadiens von der Temperatur der Poly-merisation bei noch weit höheren Temperaturen.[38] Im unpolaren Lösungsmittel (Cyclohexan) ohne
und mit THF als Ligand (1 mol-% THF pro Mol Monomer in Cyclohexan) konnte er mit seinen Versuchs-reihen zeigen, dass ohne THF der Vinylgehalt bis 200 °C auf 12 % ansteigt. Im Reaktionssystem mit THF berichtet Uraneck davon, dass bei niedrigen Temperaturen (0 °C) der Ligandeneinfluss überwiegt und zu einem Vinylgehalt von 58 % führt. Bei steigenden Reaktionstemperaturen bis 160 °C fällt der Viny-lanteil auf 12 %, was zeigt, dass das 1,4-Polybutadien das thermodynamisch begünstigte Produkt ist. Des Weiteren steigt bei Anwesenheit von THF der Anteile transoider Doppelbindungen in der Polymer-kette um etwa 10 % absolut auf einen Gehalt von 60 % gegenüber 50 % bei Polymerisationen ohne THF.
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Morton und Sanderson schlagen das in Abbildung 17 gezeigte Gleichgewicht vor, bei dem die Mobilität des Lithiums im Allylkomplex mit höherer Temperatur steigt.[47] Eine zentrale Rolle spielt hierbei der
Lithiumallyl-Komplex, da von diesem sowohl cis-/trans- als auch Vinyl-Regioselektivität ausgehen. Selbst im völlig unpolaren Medium ist es so möglich, dass sich neben 1,4- noch 1,2-Verknüpfungen ergeben.
Abbildung 17: Resonanzstruktur des π-Allylkomplexes, welche zu den jeweiligen Regio- bzw. Stereoselektivitäten führt
Weiterhin zeigten Chang et al., dass die Temperatur zwar strukturregelnden Einfluss nimmt, dass die-ser stets in starkem Zusammenhang mit dem Liganden steht[35] und dass über die Reaktionstemperatur
bei gleichbleibendem Ligand/Starter-Verhältnis der maximale Vinylanteil eingestellt werden kann.
3.2.4.2 cis-/trans-Selektivität
Neben dem Vinylanteil im Polydien lassen sich dessen Eigenschaften noch über den cis-/trans-Anteil verändern. Morton et al. [43] untersuchten neben den Mechanismen zur 1,2-/1,4-Insertion noch den
Temperatureinfluss auf die cis-/trans-Selektivität im Polymer. Sie konnten mit Hilfe von NMR zeigen, dass der wesentliche Schritt in der Selektivität im Gleichgewicht der beiden π-Allyl-Komplexe cis zu trans, siehe Abbildung 18, liegt. Almeida und Akcelrud [48] zeigten zudem, dass über die anionische
Po-lymerisation wesentlich höhere Anteile an cis-ständigen Doppelbindungen zugänglich sind, als über die radikalische. Uraneck[38] zeigte, dass bei sehr niedrigen Temperaturen der trans-Anteil überwiegt,
sich aber mit steigender Temperatur das cis-/trans-Verhältnis, bei gleichzeitigem Anstieg des Vinylan-teils auf 1 zubewegt. Die cisoiden und transoiden Stellungen der Doppelbindung innerhalb der Kette sind für diese Arbeit allerdings nicht weiter von Bedeutung, da das Zielpolymer diese Stereoinforma-tion durch anschließende Hydrierung aller Doppelbindungen verliert.
Abbildung 18: Isomerisierungsübergangszustände zur cis/trans-Selektivität im Polyme-ryl-Lithium-Komplex.
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3.3 Reaktionstechnische Aspekte
3.3.1 Mikroreaktionstechnik
Neue Reaktortechnologien können neue Möglichkeiten zur Reaktionsführung eröffnen, die aus sicher-heitstechnischen Gründen in konventionellen Reaktoren nicht durchführbar sind. Großes Potenzial sieht man in der Mikroreaktionstechnik[49,50], welche sich bereits als wertvolles Werkzeug zur
Prozess-intensivierung profilieren konnte.[51] Die Reaktionsführung mit sehr kleinen Reaktionsvolumina im
Be-reich von µL bis mL zeigt eine Vielzahl an Vorteilen.[52] Oft wird noch von Mikrotechnologie
geschrie-ben, auch wenn Kanaldurchmesser von wenigen Millimetern vorliegen. Manchmal wird dieser Bereich auch als Millitechnologie bezeichnet. Diese Unterscheidung soll in der vorliegenden Arbeit aber nicht erfolgen.
Durch fein strukturierte statische Mischeinheiten werden sehr schnelle Durchmischungen der Edukt-ströme im Bereich von Millisekunden erzielt, wobei diese im Wesentlichen durch Diffusion und sekun-däre Strömungen erfolgen.[53,54] Im Allgemeinen herrscht in einem Mikrokanal ein laminares
Strö-mungsprofil bei Reynolds-Zahlen Re von 1 bis 1.000, je nach Struktur, Geometrie und Flussrate.[55]
Zie-genbalg et al. zeigten anhand von Experimenten und CFD-Simulationen für eine schnelle anionische Polymerisation von Styrol in THF in unterschiedlichen Mischern, dass die Eduktströme im Mikromi-scher (zum Beispiel der Slit-Interdigital-MikromiMikromi-scher SIMM-V2 oder der Caterpillar-MiMikromi-scher CPMM R150 der IMM Mainz GmbH) innerhalb von 200 ms vollständig vermischt werden.[56] Die einfacheren,
aber deutlich robusteren T-Mischer profitieren von einer Verwirbelung beim Zusammenführen der Ströme.[57] Engler et al. bezeichnen diese als „Engulfment-Strömung“, die den T-Mischern auch ohne
Sekundärstruktur eine erhöhte Effizienz verleiht, als es gemeinhin angenommen wird.[58]
Durch die enorm hohen Verhältnisse von Oberfläche zu Volumen A/V von 2.000-50.000 m²/m³ garan-tieren Mikrostrukturreaktoren eine äußerst effektive Wärmeübertragung[59] und ermöglichen eine
na-hezu isotherme Reaktionsführung,[60] selbst bei stark exothermen Reaktionen wie Nitrierungen[61,62]
oder Polymerisationen.[63] Somit können Hotspots vermieden werden, wodurch unerwünschte
Neben-reaktionen wie z.B. ZersetzungsNeben-reaktionen unterdrückt und so höhere Selektivitäten und Ausbeuten bei hoher Produktqualität ermöglicht werden.[64]
Die Wärmeabfuhr ist neben den geringen Kanaldimensionen zudem stark von der Materialwahl des Reaktors abhängig.[65] Für die meisten Anwendungen ist Edelstahl 316L das Material der Wahl, das
hohe Festigkeit und hohe Wärmeleitfähigkeit bei guter Chemikalienbeständigkeit bietet. Stark exotherme Reaktionen bergen stets die Gefahr des thermischen Durchgehens (Wärmeexplosion), wel-ches im Ernstfall zu schwerwiegenden Unfällen führen kann. Oft hat man wie in einem Rührkesselre-aktor-Maßstab (STR) eine Limitierung durch die Wärmeabfuhr, weswegen in der Produktion die Reak-tion durch diverse Maßnahmen, z.B. Dosierkontrolle oder inaktivere Katalysatoren, künstlich einge-bremst wird.[66] Da es die hohe Wärmeabfuhrleistung von Mikroreaktoren von bis zu 100.000 kW m-2
erlaubt, bei einer Polymerisation die gesamte Menge an Edukten in der Zielstöchiometrie des Polymers miteinander zu vermischen und abzureagieren, verringert sich der Inhalt eines Reaktors (Hold-Up) vom Kubikmeter (STR) auf wenige Liter. Damit erhöht sich die Betriebssicherheit beträchtlich. Kleine Innen-volumina bieten eine geringere Systemträgheit und lassen sich in der Prozessführung optimal steuern und regeln. Die Verweilzeit einer Reaktionslösung lässt sich zudem sehr präzise über die Feed-Ströme einstellen.
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Als weiterer Vorteil gilt der erhöhte Stofftransport und die damit geringere Beeinflussung der Reakti-onsgeschwindigkeit durch den Stofftransport. Aufgrund der geringen Innendimensionen sind die Dif-fusionszeiten sehr klein.[67] Verglichen mit den in der Produktion häufig verwendeten Rohrreaktoren
mit Innendurchmessern von mehreren Zentimetern, liegt im Mikro- und Milli-Maßstab zwar ein lami-nares Strömungsverhalten vor, aber die Diffusion hat eine mit abnehmendem Kanaldurchmesser zu-nehmende Bedeutung. Die Abstände der Wände vom Zentrum liegen im Kapillarreaktor nun in der Größenordnung der Weglänge der Diffusion, so dass es innerhalb der Verweilzeit τ zu einer vollständi-gen Quervermischung durch Diffusion kommen kann, wie dies auch beim idealen Strömungsrohr der Fall ist.
3.3.2 Neue Prozessfenster
Die sogenannten neuen Prozessfenster „Novel Process Windows“ (NPW) können laut Hessel [68] unter
anderem durch Erhöhung von Reaktionstemperaturen und Reaktionsdrücken (high-p,T), Obsoleszenz der Dosierkontrolle, höhere Edukt-Konzentrationen bei Lösungsmittelreduktion, Einsatz effizienterer Katalysatorsysteme, alternative Reaktionsrouten erzielt werden (siehe Abbildung 19).
Abbildung 19: Schema mit Ansatzpunkten zur Eröffnung neuer Prozessfenster nach Hessel et al.[63]
Zur Intensivierung eines Prozesses müssen zuerst bei vorhandenen oder neuen Prozessen die limitie-renden Faktoren identifiziert werden, um diese in neue Prozessfenster überführen zu können.[69,70,71]
Hessel et al. haben für das Erreichen der neuen Prozessfenster vier chemische und zwei prozesstech-nische Wege identifiziert. Folgt man hierbei dem zweiten Ansatz über Hochdruck- und Hochtempera-turanwendungen wird eine Intensivierung für eine anionische Polymerisation am ehesten über eine Kombination aus gekühlter Mischeinheit und beheizten Kapillarreaktor erreicht.[72] Zudem entfällt
auf-grund der herausragenden Wärmeabfuhrleistung eines Mikrokapillarsystems die in einem halbkonti-nuierlichen Rührkessel notwendige Dosierkontrolle, so dass eine Intensivierung über ein „Mixing-all-at-once“ erzielt werden kann.