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FESTVORTRAG SAISONERÖFFNUNG BÜHNE AARAU, 6. SEPTEMBER 2020 DAS THEATER ALS ANTHROPOLOGISCHE ANSTALT SPIELEN IM ANTHROPOZÄN

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FESTVORTRAG SAISONERÖFFNUNG BÜHNE AARAU, 6. SEPTEMBER 2020

Die Bühne Aarau lud den deutschen Philosophen, Soziologen und Publizisten Mathias Greffrath ein, in einem Festvortrag einen Blick auf die Aufgaben und Möglichkeiten des Theaters heute und in Zukunft zu werfen. In seinem Text, den wir in gekürzter Form hier veröffentlichen, verknüpft er virtuos theatergeschichtliche Überlegungen mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

DAS THEATER ALS ANTHROPOLOGISCHE ANSTALT SPIELEN IM ANTHROPOZÄN

Meine Damen und Herren!

I.

Das Theater als anthropologische Anstalt – was soll das heißen?

Zunächst einmal: Für den anthropologischen Blick selbst ist das moderne Theater wirklich eine merkwürdige Verirrung: eine große Versammlung leicht veränderter Affen, auf Zeit eingeschlossen in einer Erfahrungsmaschine …eine eigentümliche Anstalt, in der Techniker, Schauspieler, Autoren, Beleuchter, Regisseure und hundert andere Berufe über Wochen und Monate zusammenwirken, damit am Ende King Lear sagt: „Sehen Sie hin, Sehen Sie doch bitte hin…“ Auf diese Welt, auf die anderen, in ihre eigene Seele. Damit wir zusammen lachen, nebeneinander weinen, und vor dem Saal empört sein können. Ein komplexer technischer Apparat, um eine Gruppe nebeneinander sitzender Menschen eine emotionale Erschütterung zu bereiten oder eine kleine Erleuchtung.

Eine Institution, die am Ende einer Entwicklung steht, die in den grauen Vortagen des homo sapiens begann, als das Spielen, die repräsentierende Geste, die Pantomime, die Mimesis der Sprache vorausging, die ersten wortlosen Tänze und Rituale

Gemeinschaft stifteten, lange bevor das Rad erfunden wurde.

Am Ende steht so etwas wie dieses Haus hier: Das Stadttheater. Dieses europäische Stadttheater, das mehr als 2000 wechselhafte Jahre hinter sich hat, das sich immer

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verändert hat, wenn sich die Art des Zusammenlebens sich änderte, wenn die Gesellschaft in eine Krise geriet.

So war es schon in der Stadt, die vor zweieinhalb Jahrtausenden ungefähr so viel Bürger hatte wie Aarau. Athen hatte zur Zeit von Aischylos und Sophokles rund 20 000 Vollbürger, die sich so gut wie vollständig einmal im Jahr im Dionysostheater mit seinen 17 000 Plätzen zu den Spielen einfanden, zur Zeit, als die Herrschaft der

städtischen Aristokratie in Frage gestellt wurde, als die Forderung laut wurde, nicht mehr das Überkommene, nicht mehr die fraglosen Götter, nicht mehr die

überlieferten und oktroyierten Werte sollten das Schicksal der Stadt bestimmen, sondern von nun an sollte die Entscheidung der Vielen, die Diskussion, die

Vereinbarung über die Art des Zusammenlebens entscheiden – Frauen und Sklaven ausgenommen natürlich.

Das war ein historischer Bruch, dessen seelische Grundlage im Theater befestigt wurde. Die Ordnung von Rache und Vergeltung sollte in die Herrschaft der Vernunft und der Gesetze überführt werden – das wurde in der „Orestie“ des Aischylos

verhandelt. In Sophokles‘ Antigone der Konflikt zwischen der Moral der Familie und der Staatsraison und die Auflehnung gegen das Gesetz. Im „König Ödipus“ die Hybris und die Blindheit der Herrschenden. Die Trauer über die Opfer der Kriege: „Die Perser“. Und in den Komödien wurden die wolkigen Schönredner, die

Vogelschwärme der Verbohrten und Verführten, das Froschgequake und die rhetorischen Wolken der Sophisten und Kritiker auf einer Bühne ausgestellt.

„Ob das Theater die Stadt heilt“, wie es in unseren Tagen der große Theatermann Peter Brook schrieb – man kann es bezweifeln, aber auf jeden Fall stärkte es die mentale Infrastruktur des Gemeinwesens. Aber wie jede zivilisatorische

Errungenschaft hielt das nicht ewig an: die Theaterkrise gab es auch damals schon.

Im Laufe der Jahrzehnte ließ das Interesse an den hochkulturellen Veranstaltungen nach, so dass die Stadtoberen schließlich den Besuch des Theaters bezahlten…

II.

Aber ich will hier keine erschöpfende und ermüdende Geschichte des europäischen Theaters geben, wie wir sie damals im Gymnasium gelernt haben. Hüpfe also über die christlichen Mysterienspiele, die groben Späßen der Gaukler und die Fastnachtsspiele im Mittelalter, über die Figuren der Commedia dell’arte, die feuchten

aristokratischen Belustigungen der Schäferspiele, die repräsentative Oper, das barocke Drama des Absolutismus, die Mantel-und-Degen-Stücken, die französischen

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Untersuchungen der menschlichen Emotionen, die Shakespearsche Schule der menschlichen Leidenschaften zur schillerschen „Schaubühne, als moralische Anstalt betrachtet“.

Die Bühne als die Schule der Nation, das war in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution die Hoffnung des aufgeklärten Bürgertums, der idealistischen Aufklärer, der demokratischen Rebellen. (…)

Die Schaubühne, das war die Hoffnung, sollte „tiefer und dauernder (wirken) als Moral und Gesetze“, sollte sie „mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit (sein), der „gemeinschaftliche Kanal in welchen von dem denkenden bessern Teil des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt“, das Theater sollte die „Irrtümer der Erziehung bekämpfen“ den Patriotismus stärken, sollte den „Weg zum Kopf... durch das Herz“ bahnen – wenn auch auf absehbare Zeit, so Schiller, „nur in einigen auserlesenen Zirkeln“. (…)

III.

Ich habe die letzten Ausläufer dieses Stadttheaters noch erlebt, Anfang der Sechziger Jahre. In meiner Heimatstadt Hannover begann die Theatersaison in jedem Jahr am 28. August, dem Geburtstag Goethes, schon damit war es als die säkulare Kirche markiert, als der Ort, an dem man eingeweiht wurde in die Traditionen, die Werke, die Werte, die man kennen musse, um dazu zu gehören.

Es waren die letzten Ausläufer des Stadttheaters und seines bürgerlichen Publikums, das in „sein“ Theater ging - und „sein Theater“ meinten die noch ganz wörtlich: Es trieb mir die Schamröte ins Gesicht, wenn meine Tante Lotte - für die das Wort

„Gesellschaft“ nur Sinn machte in dem Satz „Ich gebe eine Gesellschaft“ - im letzten Akt des „Traumspiels“ in der geräumigen Handtasche unbefangen nach ihren

Schlüsseln und der Garderobenmarke suchte, und die beiden schweren Silberbügel just in der kleinen Stille, nach dem von der Göttertochter Indra ins Publikum gesprochenen Strindberg-Satz „Es ist schade um die Menschen“, zusammenkrachen ließ.

Es war das Theater des erschöpften Nachkriegshumanismus, der Pause der Weltgeschichte unter dem Atomschirm. In der Mainstreamkultur regierte ein

unpolitischer „Humanismus“. Die Welt schien der Kriegsgeneration wieder einmal in Ordnung, Caterina Valente und Peter Alexander sangen „Es geht besser, immer besser…“, es herrschte Vollbeschäftigung und Wachstum, in den Fünfziger Jahren

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wurden hundert neue Theater gebaut, aber drinnen gab es zumeist bürgerliche Dramaturgie à la Gründgens und wenn die Dreigroschenoper gespielt wurde, dann mit Hans Albers als Macky Messer. (…)

Und doch: Bei all dem war es eine merkwürdige, ambivalente Institution, dieses Stadttheater: die Aufklärung ließ sich nicht ganz austreiben. Denn auch die älteren Damen und Herren, die in „ihr“ Theater gingen, die in der dritten Generation ein Abonnement hatten – auch in den Sechziger Jahren war das mancherorts noch schwer zu bekommen – saßen alle Monate wieder auf den roten Sesseln; sie kannten die Schauspieler, waren mit ihnen groß geworden und alt geworden: „Ach, der Max DuMenil, der jetzt da den alten Kardinal spielt, den habe ich als Don Carlos gesehen, vor fünfzig Jahren“, und weil der Max DuMenil jetzt den alten Kardinal im Galileo spielte, ließen sie sich auch den Brecht gefallen, dessen Premiere die Stadtpolitiker nach dem Bau der Mauer zweimal verschoben hatten. Aufklärung braucht eben Beharrlichkeit, braucht feste Orte, braucht Zeit und Diplomatie; die „Letzten Tage der Menschheit“, Karl Kraus‘ Szenen über das bürgerliche Grauen und den Krieg von 1914 hatte erst l964 Uraufführung im gesamten deutschsprachigen Raum.

Und kurz darauf ging die Zeit der Kirche hinter dem Vorhang zu Ende. 1966, ein Jahr nach der Ermittlung von Peter Weiss, der dokumentarischen Verarbeitung des Auschwitz-Prozesses, kam Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ auf die Bühne.

(…) IV.

Was dann, nach 1965 im deutschsprachigen Theater geschah, kann man auf viele Weisen beschreiben, aber ich will nur einen Aspekt herausgreifen (und damit fahrlässig vergröbern): etwa um diese Zeit verabschiedete die Avangarde der

Theatermacher die Fabel. Natürlich wurden die großen Stücke weitergespielt, aber an seiner Fortschrittsfront wurde das Theater selbstreflexiv – als letzte der Künste. Die Maler und Bildhauer hatten sich schon ein halbes Jahrhundert zuvor von den Gegenständen entfernt, hatten aus Erschöpfung oder Protest ihre Autonomie verschärft, sich zurück gewendet auf ihr Material und ihre Techniken, waren zu Experimentatoren geworden, die Reste von Mimesis getilgt: Formalismus, Kubismus, Monochromie. Die Musiker waren den Weg in die Atonalität gegangen, und, Musik und Malerei hatten begonnen, Anleihen bei den Kulturen anderer Kontinente aufzunehmen. Eine Lücke zwischen den Avantgarden und dem Gros des Publikums tat sich auf und wurde bis heute nicht wieder geschlossen.

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Und nun ging auch das Theater - die Kunst, die schon in ihrer Ausübung auf das Publikum angewiesen ist- diesen Weg. (…) Es begann das Zeitalter der

Dekonstruktion, der Textflächen, der Dokumentationen, der Tribunale Happenings, der Überschreitungen, der Exzesse aller Art – und das hält bis heute an.

Aber von nichts kommt nichts. (…) Diese Auflösung der klassischen und neoklassischen Theaterformen geschah etwa um die Zeit, in der auch im gesellschaftlichen Diskurs die gesellschaftliche Ordnung, die Erzählung von Fortschritt und Demokratie und Humanismus fragwürdig wurde, und in der die Wirtschaft Europas, nachdem die Märkte mit Waschmaschinen, Cognacschwenkern, Fernsehern und Plattenspielern, mit Kühlschränken und Staubsaugern und

Mittelklassewagen gesättigt war, in die Krise geriet; und sich als Reaktion und Rettung neue Räume erschloss.

Zum einen den Teil der Welt, der bis dahin von Europa aus kolonisiert worden war.

Hierzulande expandierte der Konsum von Symbolen, Klängen, Bildern, die Wohnungen wurden größer, die Autos komfortabler, die Möbel wurden bald im selben Rhythmus gewechselt wie die Textilien. Die Landschaften wurden „in Wert gesetzt“, der Materialverbrauch, der Naturverbrauch der Energiebedarf stiegen an.

Und schließlich – und das betraf das Theater – wurde das Innere kolonisiert, der Markt in die Seelen der Menschen erweitert. Es begann die Kommerzialisierung der Sinnproduktion. Hunderte von Kanälen wurden geöffnet, immer neue Apparate entwickelt für die steigende Versorgung mit Klängen und Bildern: Privatfernsehen, lokaler Rundfunk, Magazine – und schließlich das Internet. Für die öffentliche Debatte, die mentale Infrastruktur, die gerade mal vor zwei Jahrzehnten aus der staatlichen Regulierung, Zenstur und Terror entlassen worden war, gab es keinen schillerschen „gemeinschaftlicher Kanal“ mehr – sondern viele Blasen.

Und bei all dem stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt der CO2-Verbrauch.

V.

„Unsere Generation und die unserer Kinder und Enkel“, so schrieb es Anfang der Achtziger Jahre der Zoologe Hubert Markl, „werden zu tätigen Zeugen einer gewaltigen Umwälzung des Lebens auf unserer Erde. Vor unseren Augen, unter unseren Händen geht eine erdgeschichtliche Epoche zu Ende, die viele Jahrmillionen Bestand hatte. Nur blinder Stumpfsinn könnte sich dieser Tragik verschließen. Was bevorsteht, ist ebenso klar erkennbar wie bitter“: Artenschwund, das Waldsterben, die Erderwärmung: Markl sprach vom biologischen „Holocaust“, appellierte an unsere Verantwortung: „Natur“ sei nun zur „Kulturaufgabe“ geworden, und zwar zur globalen, und zwar endgültig. (…)

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Und seit einigen Jahren reden Wissenschaftler, Umweltaktivisten und Politiker nun vom Anthropozän. Das klobige Wort, das in den letzten zehn Jahren, vor allem in den Kulturwissenschaften, eine erstaunliche Karriere gemacht hat, kommt aus der Sprache der Geologen.

Die Szene, in der es geprägt wurde, könnte von einem Dramatiker geschrieben sein.

Es war im Februar 2000, auf einem internationalen Kongress von Geologen im mexikanischen Guernavaca, auf dem über die Eingriff des Menschen in die Umwelt seit Beginn der geologischen Erdepoche, in der wir leben, diskutiert wird. Deren Alter wird auf 11700 Jahren angesetzt, mit dem Ende der letzten Vereisungswelle. In allen Beiträgen fällt immer wieder der Begriff „Holozän“.

Und dann kommt es zu einem Ausbruch. Der Atmosphärenforscher Paul Crutzen, der für seine Entdeckung des Ozonlochs den Nobelpreis bekommen hatte, ist sichtlich erregt. Er unterbricht den Vorsitzenden des Panels und ruft: „'Hören Sie auf, vom Holozän zu sprechen. Wir sind nicht mehr im Holozän. Wir sind…im…im...im..im Anthropozän.“ Das Wort schlägt, so erinnern sich die Teilnehmer später, wie eine Bombe ein und die Gespräche nach der Mittagspause nehmen eine andere Wendung.

(…) Anthropozän. Das heisst: der Einfluss der menschlichen Zivilisation ist zur stärksten Naturkraft geworden: Neben der Erwärmung, der Klimakrise und der Veränderung der ozeanischen Strömungen sind die Störungen der Wasserzyklen, die Versauerung der Meere, der Verbrauch nicht ersetzbarer Ressourcen, das Artensterben und der Verlust der Vielfalt, die Versiegelung der Böden, die Zunahme des globalen Mülls und der Radioaktivität: Veränderungen, die noch in Millionen Jahren als geologisch erkennbare Schicht der Erde bilden werden. Und damit ist „der Mensch für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger als mehr oder weniger spurlose Integration IN der Natur vollzieht.“ Die Rede von der Natur ist historisch überholt. Das Wort

„Anthropozän“ fasst nur zusammen, was wir seit Jahrzehnten wissen, oder wissen können.

Seit Jahrzehnten? Ach was: „Der Mensch ist mit Vernunft und Schöpferkraft begabt, um zu vermehren, was ihm gegeben worden ist, aber … Milliarden von Bäumen sterben, die Behausungen von Tieren und Vögeln werden verwüstet, die Flüsse versanden und trocken aus, wunderbare Landschaften verschwinden

unwiderbringlich…das Wild stirbt aus, das Klima ist verdorben und mit jedem Tag wird die Erde ärmer und gesichtsloser.“ Das sagt der Arzt Astrov im ersten Akt von Cechovs „Onkel Wanja“ – vor 130 Jahren. Das Theater war früh dran, mit Cechov, aber auch mit Ibsens Volksfeind. (…) Klima ist nur das spürbarste Symptom eines

„totalen sozialen Phänomens“. Und das heißt Wachstum. Das globale

Wachstumsregime ist der Grund des Klimawandels, aber die globalisierte Menschheit

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ist kein WIR. Die Lasten und die Wohltaten sind ungleich verteilt, national wie global, und die Erderwärmung wird diese Ungleichheit noch steigern. Die Ungleichheit des Lebens und die Ungleichheit des Leidens.

Ein „totales soziales Phänomen“ das heisst: Seine Folgen sind an der Natur ablesbar, aber auch an den Veränderungen im Zusammenleben, an den

Herrschaftsverhältnissen. Es ist ein und derselbe Prozess der kapitalistischen

Zivilisation, der zur Zerstörung des Amazonaswaldes, zum Schmelzen der Gletscher, zur Erosion fruchtbarer Felder, zum Erblassen der Korallen führt, und der die Ausbeutung von Kindern in den Koltanminen des Kongo, die Bürgerkriege um Lithium, die weltweite Zerstörung des Mittelstandes, die Kommerzialisierung aller Lebensregungen, die Mechanisierung aller Produktionen und das daraus folgende Zersetzung der Arbeitsgesellschaft und die kognitive und emotionale Verarmung der Menschen verursacht. (…)

Wohin dieser Weg führen wird, wie das Ende der Schriftkultur, die Automatisierung der Produktion, die Bearbeitung der Emotionen, die Perfektionierung des virtuellen Erlebens das Klima zwischen den Menschen, die Liebe, das Erleben der Welt, die Gefühle verändern wird, das ist vielleicht weniger klar als die Konsequenzen der Naturbearbeitung (…).

VI.

IST DAS ANTHROPOZÄN AUF DER BÜHNE DARSTELLBAR? UND WIE WÄRE ES SPIELBAR?

Wie geht das Theater, diese uralte Erfindung der Gattung, mit dieser Tragödie der Kultur um? Sie ist zu groß, um als Ganze dargestellt zu werden. Es gibt kein „Wir“ in dieser Tragödie. Kein Menschheits-Wir, kein Nationales-Wir, und auch kein Klassen- Wir mehr. (…)

Die Welt wird heute von den avancierten Menschenwissenschaften als ein Prozess beschrieben, der ohne "Handelnde" auskommt: die Manager können nicht anders, die Politiker können auch nicht anders. Sie können nur mitspielen innerhalb der Regeln der Finanzmärkte, oder sie müssen aus dem „System“ aussteigen. Das ist der Tenor der selbstmitleidigen Selbstdarstellungen, der Art: Ich würde ja gern nur noch grüne Produkte verkaufen, aber dann wäre Siemens als global player draussen und die Konsequenzen für die Arbeitsplätze sind nicht abzusehen.

Aber wenn Macht in der Gesellschaft tendenziell molekular geworden ist, in allen Strängen eines Geflechts sitzt, in dem sogar die Führungseliten kaum mehr wirkliche Verfügungsmacht über die ökonomischen und politischen Prozesse haben, dann

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entzieht sich der politische Konflikt tendenziell der Anschauung, und damit der szenischen Repräsentation, zumindest in Gestalt von Individuen, Akteuren. „ALLES KANN MAN MACHEN, UND NICHTS KANN ICH ÄNDERN“ – wo diese Einsicht Niklas Luhmanns, des bekanntesten Vertreters der Systemtheorie, der auch die

Theaterregisseure beeindruckt hat – wie diese Einsicht Platz gegriffen hat, verliert das Drama seine Akteure. (…)

Was wird in dieser Lage aus dem ehrwürdigen Brechtschen Programm für das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters: die Gefühle vernünftig zu machen, und die Vernunft mit Emotionen ausstatten?

Wenn „alles mit allem zusammenhängt“und wenn es keinen utopischen Horizont, kein Fortschrittsziel gibt, jedenfalls keines, das von einer mächtigen soziale Bewegung getragen wird, dann ist vieles möglich. (…)

Man kann den eigenen Kontrollverlust ausstellen, oder die Resignation: „Lass uns einfach alles so lassen, wie es ist, es ist zu kompliziert, das jetzt alles zu ändern, das hat so lange gedauert, das alles so wurde, wie es jetzt ist, das war so anstrengend, lass uns einfach alles so lassen wie es ist.“ So hieß es vor zehn Jahren in Falk Richters „Trust“, und heuer lässt er seinen coronaisolierten Helden resigniert sagen: „Alles hängt mit allem zusammen.“

Und natürlich kann man immer weiter Onkel Wanja spielen(ob nun mit

Schauspielern, die den Atem rauben auf einer Weltklassebühne, oder von Halbprofis auf dem Dorf, in dem ich Urlaub mache, und wo die durch Kapitalkonzentration landlos gewordenen Bauern nicken), oder den Ibsenschen Volksfeind gegen die Gülle im Grundwasser Westniedersachsens rebellieren lassen.

Man kann Happenings auf die Bühne bringen, bei denen die Schauspieler auf Fahrrädern den Strom für ihre Scheinwerfer selbst erzeugen, oder die inszenierte Vorlesung eines Klimaforschers oder eines Philosophen.

Man kann Pflanzen zu Darstellern machen, Bäume besingen, Schuldige finden, den Spuren unserer Gebrauchsgegenstände nachgehen, Tribunale oder Parlamente simulieren. Kleine Geschichten erzählen oder große Bögen schlagen: vom Bau des Opernhauses in Manaus durch die Kautschukbarone um 1850 zum Bankrott des mittelständischen KfZ-Werkstattbesitzers heute.

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Kurz, es gibt keine verbindliche Dramaturgie mehr, und die Liste der Dramen für die Lektüre in den Oberstufen der Gymnasien endet in den Sechziger Jahren – keine Spur von Globalisierung. Und ob etwas funtioniert, ob etwas zündet, das entscheidet sich eh am Abend am Abend der Vorstellung im Theater. (…)

Wie lautete doch Schillers Programm: den Weg vom Herzen zum Kopf bahnen, die Vernunft mit der Kraft der Emotion zu beflügeln. Heute geht es wohl eher darum den Rückweg von Schlacken zu befreien, denn die Kraft zum Widerstand, zur

Selbstveränderung kommt aus dem Herzen.

Beim 50. Theatertreffen in Berlin vor sieben Jahren fand eine Publikumsumfrage statt:

„Wann haben Sie zum letzten Mal im Theater geweint?“

Angesichts des Weltzustands und angesichts von 2000 Jahren Theatergeschichte finde ich das keine schlechte Frage. Die andere

freilich auch nicht: die nach dem Lachen. Aber das wäre eine andere Geschichte.

VII.

Aber das Theater des Anthropozäns ist vor allem ein Theater IM Anthropozän. Ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um etwas zu erfahren. Ein kostbarer Ort, an dem die einzige Kunst veranstaltet wird, die die physische Anwesenheit von Menschen braucht, auf der Bühne und im Publikum. Der einzige Ort, an dem physische Körper miteinander agieren. (…) Theater ist analog, vor allem aber ein singuläres, einmaliges Geschehen, eine Produktion, die nicht reproduzierbar ist, in der weder die Konzeption noch der Regisseur, sondern der Augenblick zählt, und die deshalb jeden Augenblick scheitern kann oder unerwartet über sich hinauswachsen.

Eine Veranstaltung, in der ein paar Hundert Menschen ihre Aufmerksamkeit in eine Richtung lenken, in der wir mit dem Geschehen auf der Bühne, mit unseren Gefühlen und denen unserer Nachbar konfrontiert sind, zusammen atmen, oder zusammen den Atem anhalten. In der wir angesteckt werden durch den Mechanismus der

Spiegelneuronen, durch den Mechanismus ältesten Mechanismus, der allem Spielen zugrunde liegt. Einen biologischer Mechanismus, der Menschen bereit macht, das Innere einer Handlung zu fühlen, wenn sie jemanden sehen, der sie ausübt.

Ein Ort, der uns für ein zwei Stunden verlangsamt, uns eine Forschungsreise zumutet ins Innere unserer Gedanken, uns Ungeheuerlichkeiten und Zartheiten zumutet, denen wir uns nicht entziehen können, nicht zappen, nicht – oder doch nur schwer – weghören, weggehen. Eine Verlangsamungsmaschine, eine Unwucht im Räderwerk

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der Beschleunigung. Ein Laboratorium, in dem wir mit Handlungen konfrontiert werden und gar nicht anders können, als mit Gefühlen darauf zu reagieren. Bibliothek verpasster Möglichkeiten und nicht eingelöster Hoffnungen und Versprechen. Ein Laboratorium zur Untersuchung von Haltungen gegenüber übermächtigen Kräften.

Ein intimer Raum, in dem geweint werden kann: über das Schicksal der Kormorane, aber auch über die Unaufmerksamkeit in der Liebe. Ein Raum, in der wir auch unsere mörderische Wut fühlen können über dieses Verhängnis, von dem wir ein Teil sind. In dem wir uns im Spiegel ansehen können, mit uns ins Gericht gehen, inmitten von anderen und geschützt vor ihnen. (…)

Theater beschwert. In dem Sinne, in dem einmal ein kleines Mädchen zu mir sagte:

Ich weiss, wie man die Welt anhalten kann. Wenn alle an einen Platz kommen und sich ganz schwer machen. Sie dachte das wohl sehr physikalisch. Mit einer solchen Aktion kommt eine Umwucht in das Räderwerk und die verlangsamt. Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen geht, aber nach gelungenen Theaterabenden oder Konzerten blicken sich die Menschen, die die Treppen runtergehen und noch eine Weile vor den Stufen stehenbleiben, sich vielleicht eine Zigarette anzünden, anders an als wenn sie aus einem mittelprächtigen Film kommen, vom Fernsehabend ganz zu schweigen.

Ich glaube, das Theater (…) hat eine Zukunft als politischer Ort nur, wenn es nicht nur für die schiller‘schen „wenigen erlesenen Zirkel“ zu diesem Ort wird, sondern – auch Schiller – für alle „durch den Kampf mit der Not ermüdeten“, für die „zahlreichen Klassen“, die aufgrund der Umstände „nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten“ können.

Wenn es zum Treffpunkt wird derer, die noch etwas vorhaben. Wenn es ausschwärmt in die Stadt, wenn es das Globale im Lokalen findet. Wenn es die Mitte findet

zwischen Antigone und dem „Griechischen Wein“. Ich habe mir die Jahresvorschau Ihres Theaters angesehen, und ich glaube, was Sie hier vorhaben, geht ein gutes Stück in diese Richtung. Und dafür wünsche ich Ihnen alles Gute.

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