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Ihre Majestät, Christina von Schweden (4/5)

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SWR2 Musikstunde

Ihre Majestät, Christina von Schweden (4/5)

Folge 4: Das Teatro Tordinona Von Sylvia Roth

Sendung vom: 13. Januar 2022 (Erstsendung 10. Januar 2019) Redaktion: Dr. Ulla Zierau

Produktion: SWR 2019

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2 Heute gründet Christina von Schweden ein Opernhaus – und wir schauen ihr dabei über die Schulter. Ich bin Sylvia Roth, guten Morgen!

Unter dem frisch gekürten Papst Clemens IX. beginnt für Christina eine glückliche Zeit: Sie hat Clemens' Wahl entscheidend mit beeinflusst, er war ihr Favorit beim Nachfolge-Gerangel in der Kurie: ein Mann der Kunst, ein Mann des Theaters, ein Mann der Oper. Christina gehört zu seinem engen Dunstkreis, verkehrt regelmäßig mit ihm, darf bei Banketten an seiner Tafel speisen. Die ewige Nomadin, die in ihren Aphorismen bezeichnend viel über die Einsamkeit schreibt, findet nun endlich eine Heimat. Sie zieht in den Palazzo Riario im Stadtteil Trastevere ein und blüht zur „Padrona di Roma“ auf.

M 01: Giulio Rospigliosi / Stefano Landi:

Il Sant'Alessio Dirindin (1'15)

I: L'Arpeggiata, ML: Christina Pluhar

CD: Landi, Homo fugit velut umbra, Alpha Records, 3760014 190209, LC 11657

Schauen wir uns diesen neuen Papst Clemens IX., Giulio Rospigliosi, einmal genauer an:

Vor seiner Nominierung wirkt er als Kardinal in der päpstlichen Kurie – und schreibt nebenbei ganze zwölf Opernlibretti für die besten Komponisten Roms, für Rossi, Landi, Marazzoli, V.

Mazzocchi. Ein Geistlicher, der sich für die Oper stark macht – ausgerechnet. Denn in Rom wird die Oper, je nach Papst, als Brutstätte des moralischen Verderbens geahndet. Nischen für die Gattung finden sich nur an den Adelshöfen, vor allem im prunkvollen Privattheater der Familie Barberini.

Die Barberinis sind es auch, für die Rospigliosi seine Libretti verfasst – sein erstes entsteht für die Eröffnung des Barberini-Theaters 1632: „Il Sant'Alessio“, vertont von Stefano Landi.

Im Mittelpunkt des Werks steht eine historische Figur aus Rom, der heilige Alexius, Sohn einer römischen Patrizierfamilie. Der Legende nach erkennt Alexius am Tag seiner Hochzeit, dass Reichtum und Prunk nichts taugen. Er verschwindet und lebt unerkannt als Bettler unter der Treppe seines Vaterhauses, lässt sich vom Dienstpersonal mit Putzwasser übergießen und verflucht den „Pomp der prächtigen Paläste“. Eine tief religiöse Absage an den Luxus, die die Barberinis aber nicht daran hindert, bei der Aufführung mit repräsentativster Bühnentechnik und den teuersten Stimmen im Kirchenstaat aufzuwarten. Rospigliosis Libretto und Landis Musik machen aus dem Heiligenstoff ein bewegendes Familiendrama – und der Blick in das Innere des Alexius gerät zutiefst berührend, wie wir hören können.

M 02: Giulio Rospigliosi / Stefano Landi:

Il Sant'Alessio

Akt 2, Szene 7, Alessio: O morte gradita (3'25)

I: Patricia Petibon (Sopran), Les Arts Florissants, ML: William Christie CD: Erato, Warner Music, 706301434062, LC 04281

Der Heilige Alexius sehnt sich nach dem Tod, mit einem Text von Giulio Rospigliosi, vertont von Stefano Landi. Patricia Petibon sang, begleitet vom Ensemble Les Arts Florissants unter dem Dirigat von William Christie.

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3 Das kulturelle und gesellschaftliche Leben Roms blüht unter Clemens IX. auf: „Jeden Tag ein neues Schauspiel, (...) heute ein Fest, morgen eine Kavalkade“, berichtet ein Zeitgenosse.

„Die Unterhaltungen folg(t)en ununterbrochen aufeinander; den Vormittag widmet(e) man gewöhnlich der Frömmigkeit und den Geschäften, nach dem Essen ging man in die Komödie oder in die Oper, wo es verblüffende Maschinen zu sehen gab oder man hörte auch eine Serenade mit einem ausgezeichneten Musikprogramm, zusammengesetzt aus Konzerten und einer reizenden Symphonie.“

Das klingt mehr als inspirierend. Und es trifft sich gut, dass der neue Papst Christina zum Dank dafür, dass sie ihn bei der Wahl protegiert hat, eine jährliche Rente von 12.000 Scudi gewährt. Das ermöglicht der Schwedin nämlich endlich wieder ein ernstzunehmendes Engagement als Mäzenin. Auch sie kann nun an Clemens' goldenem künstlerischem Zeitalter teilhaben und darin ihre eigenen Akzente setzen: Sie will ein öffentliches Theater in Rom gründen und damit die Opernszene der Stadt grundlegend verändern.

M 03: Francesco Cavalli:

Il Giasone Sinfonia (0'55)

I: Concerto Vocale, ML: René Jacobs

CD: Giasone, Harmonia Mundi, 2921282.84, LC 7045

Ein Vorgeschmack auf Francesco Cavallis Oper „Il Giasone“, über die wir gleich noch mehr erfahren werden: Das Concerto Vocale unter René Jacobs spielte die Sinfonia daraus.

Ein öffentliches Theater auf römischem Boden ist neu. In Venedig kennt man das bereits, ja.

Dort hat schon dreißig Jahre zuvor das San Cassiano der Familie Tron seine Pforten für ein bürgerliches Publikum geöffnet. Endlich war die Oper kein aristokratisches Privileg mehr, sondern gehörte jedem, der sich eine Eintrittskarte leisten konnte. Andere italienische Städte folgten dem Beispiel, in Rom aber verhinderte die Kurie solcherlei Tendenzen.

Genüsslich rudert Christina gegen diesen Widerstand an: Sie hat ein Gebäude gegenüber der Engelsburg im Auge, direkt am Ufer des Tiber gelegen. Der „Torre di Annona“ welkt ungenutzt vor sich hin. Ursprünglich ein Gefängnis mit einem Wachturm, ein Kerker, dann eine Pilgerherberge, deren Strohbetten jedoch größtenteils leer blieben. Papst Alexander VII.

hatte die Idee, das Gebäude als Theater zu nutzen, abgeschmettert. Clemens IX. hingegen vergibt nun als erster Papst die Lizenz für ein öffentliches Theater in Rom. Gemeinsam mit Christina unterzeichnet er den Vertrag, das Mietverhältnis wird auf drei Jahre festgelegt.

Den Umbau übernimmt der Architekt Carlo Fontana: Er soll aus dem ehemaligen „Ort des Schreckens ein herrliches Theater“ machen. Und er versteht sein Geschäft, orientiert sich an den prunkvollen Logentheatern Venedigs, gewinnt Raum, indem er die Bühne rund sieben Meter weit über den Tiber hinausragen lässt. Auch an Christina denkt er: Für sie wird eine eigene Brücke gebaut, über die sie von außen direkt zu ihren Logen gelangen kann.

Doch bis Christinas Theater wirklich eröffnet werden kann, gilt es zahlreiche Hindernisse zu überwinden. Der erste, tief einschneidende Schock: Nach nur zwei Jahren im Amt stirbt Clemens IX. völlig überraschend an einem Schlaganfall. Ein riesiger Verlust für Christina.

Zumal der Nachfolger, Clemens X., wesentlich weniger offen ist: Er kürzt Christinas

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4 großzügige Rente und zieht vor allem die ganzjährige Konzession für das geplante Theater zurück. Erst nach längerem Ringen, zur Karnevalszeit 1671, nimmt das Tordinona schließlich seinen Betrieb auf – mit dem Dramma per Musica „Scipione Africano“ von Francesco Cavalli.

M 04: Francesco Cavalli:

Scipione Affricano

Hora si ch'assai più fiero (3'25)

I: Filippo Mineccia (Counter), Ensemble Nereydas, ML: Javier Ullises Illán CD: Siface, Glossa, 8 424562 235 144, LC 00690

„Mein Herz wird von einem schrecklichen Monster aufgefressen: Eifersucht ist die Hölle.“

Das war eine Arie des Siface aus Francesco Cavallis „Scipione Affricano“, es sang der Countertenor Filippo Mineccia, begleitet vom Ensemble Nereydas. Im Tordinona brilliert in der Partie des Siface übrigens einer der großen Kastraten seiner Zeit, Giovan Francesco Grossi, dessen Stimme als „göttlich und honigsüß“ beschrieben wird. Er singt die Partie so meisterlich, dass er von da an nur noch „Siface“ genannt wird.

Nicht nur Dank Grossi geht die erste Vorstellung im Tordinona „con incredibile applauso“

über die Bühne, das Publikum ist begeistert, die Produktion ist das Ereignis des Karnevals schlechthin. „Scipione Affricano“ war wenige Jahre zuvor in Venedig uraufgeführt worden – dass man zur Eröffnung des Tordinona ein Werk aus der Lagunenstadt wählt, der Hochburg der Oper, ist natürlich ein wohl kalkuliertes Signal. Zugleich huldigt das Sujet aber auch Rom: Handelt es doch vom umjubelten römischen Feldherrn Scipio, der sich in die karthagische Prinzessin Ericlea verliebt, seine Leidenschaft aber zügelt. All das meisterhaft in Musik gesetzt: Francesco Cavalli, Komponist der Oper, gehört zu den Großen des Musiktheaters. In Monteverdis Umkreis ausgebildet, pflanzen seine Opern neue Impulse, überschreiten Regeln, suchen nach mehr Lebendigkeit in der Ausdeutung des Textes. Und treffen damit den Nerv des Publikums.

Da man in Rom Venedig aber nicht einfach billig kopieren will, wird „Scipione Affricano“ von Alessandro Stradella, Sänger in Christinas Palast, überarbeitet. Der junge Komponist kürzt die langen Rezitative, fügt buffoneske Szenen ein, und vor allem: Er schreibt einen eigenen Prolog für die römische Aufführung, der „Regina di Svetia“ gewidmet. Darin begegnen sich Venus, Amor und Mars und wünschen sich ein eigenes Theater – also genau das, was Christina der Stadt Rom gerade geschenkt hat. Leider gibt es keine Aufnahme des Prologs, hören wir also stattdessen einen Auszug aus Stradellas Serenata „Vola, vola in altri petti“, die 1674 in Christinas Palast aufgeführt wurde. Darin verwendet Stradella erstmals die Bezeichnung 'Concerto grosso' für die Gegenüberstellung von Solovioline und Violinchören – und ist damit einer der ersten Komponisten, die diese Gattung vorantreibt.

M 05a/b: Alessandro Stradella:

Vola, vola in altri petti Sinfonia (2'50)

Arie Filli: Vola in altri petti (0'50)

I: Rosita Frisani (Sopran), Alessandro Stradella Consort, ML: Estevan Velardi CD: Bongiovanni, GB 2326, LC 05088

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5 Im Palazzo Riario Christinas von Schweden aufgeführt: Die Serenata „Vola, vola“ von Alessandro Stradella, ein frühes Beispiel des für den Barock so wichtigen Concerto-Grosso- Prinzips. Das Alessandro Stradella Consort spielte unter der Leitung von Estevan Velardi.

Rosita Frisani war als Solistin zu erleben.

Christina ist zwar nicht die Intendantin des Tordinona – diese Rolle übernimmt Filippo Acciaioli – aber sie ist der treibende Motor des gesamten Unternehmens. Dem trägt auch die Architektur des Zuschauerraums Rechnung: Ganze fünf Logen sind für Christina reserviert – im ersten Rang, ausgehend von der zentralen Mittelachse, also dort, wo sich traditionellerweise die Königsloge befindet. Mit Gold und Brokat ausgestattet sowie mit einer Krone verziert, ist die Botschaft klar: Da, wo der Papst keinen Zugang hat, im weltlichen Bereich, stellt Christina sich demonstrativ als Oberhaupt an die Spitze. Auch ohne Land ist sie eine Königin, sie regiert das erste Opernhaus Roms. (Vgl. K. Losleben)

Und dementsprechend betreibt sie im Opernhaus auch Politik: Ihre fünf Logen besitzen zwar getrennte Eingänge, sind aber durch einen gemeinsamen Flur miteinander verbunden. Bei manchen Vorstellungen tummeln sich bis zu 26 Kardinäle in Christinas Bereich. Lautstark verhandelt und intrigiert sie mit ihnen, ihre Unruhe und ihr Geräuschpegel während der Aufführungen sind legendär. Das kann sie sich aber auch leisten, schließlich schreibt sie mit dem Tordinona Geschichte.

Im gleichen Jahr noch taucht im Spielplan eine weitere Cavalli-Oper auf, „Il Giasone“ bzw „Il novello Giasone“, erneut mit Ergänzungen von Stradella. Damit nehmen Christina und ihr Intendant eine der erfolgreichsten italienischen Opern ins Programm, einen wahren

„Opernbestseller“: Die Geschichte vom Raub des goldenen Vlieses, die Geschichte rund um Medea und Jason.

M 06: Francesco Cavalli:

Giasone

Arie des Giasone, Akt 1: „Delizie, contenti“ (3'50)

I: Michael Chance (Giasone), Concerto Vocale, ML: René Jacobs CD: Giasone, Harmonia Mundi, 2921282.84, LC 7045

Michael Chance mit der Arie des Giasone in der SWR2 Musikstunde über Christina von Schweden – René Jacobs leitete das Concerto Vocale.

Jason kommt in Cavallis Oper eher verträumt daher, wie wir gerade hören konnten – und tatsächlich ist die gesamte Handlung gar nicht so blutig, wie man das von einem Medea-Stoff erwarten würde. Kinder werden keine getötet, Eifersucht und Hass lodern zwar auf, aber auf eher leichtfüßige Weise: Jason und Medea haben sich ineinander verliebt und dafür ihre jeweiligen Partner sitzen lassen, Issifile und Egeo. Die versuchen die Untreuen zurückzugewinnen, was am Ende auch gelingt. Daneben tummeln sich allerhand Dienerfiguren wie der stotternde Demo oder die derbe Amme Delfa.

Gerade diese Mischung aus Tragödie und Komödie empört allerdings manche Zeitgenossen:

„Mit nie dagewesener Ungeheuerlichkeit“ würden Cavalli und sein Librettist „Könige und Helden (...) mit Dienern und Menschen niederster Herkunft auf eine Ebene“ stellen. „Durch dieses Zusammenwürfeln von Charakteren sind die Regeln der Dichtkunst (so sehr) verletzt

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6 und missachtet worden“, beschwert man sich. Dabei liegt gerade in diesen vermeintlichen Verstößen das Innovative von „Il Giasone“. Die Konfrontation verschiedenster Figuren, ernster und komischer Natur, gibt der Oper ihre Lebendigkeit. Humor kommt nicht zu kurz, etwa, wenn der stotternde Demo auf der Jagd nach Jason voller Eifer in See sticht, dabei aber fast ertrinkt ...

M 07: Francesco Cavalli Giasone

Demo: „Alla nave“ (3'05)

I: Gianpaolo Fagotto (Demo), Concerto Vocale, ML: René Jacobs CD: Giasone, Harmonia Mundi, 2921282.84, LC 7045

Gianpaolo Fagotto als stotternder Demo, erneut in einer Aufnahme mit dem Concerto Vocale unter René Jacobs.

Christina und ihr Impresario Acciaioli stellen ein attraktives Programm auf die Beine, nicht nur was die Auswahl der Stücke betrifft. Auch das Sängerpersonal ist vom Feinsten, schließlich ist es das, worauf das Publikum der Zeit am meisten Wert legt: Berühmte Kastraten treten im Tordinona auf, gefeierte Sänger, doch: Kastraten allein genügen Christina nicht, nein, sie holt auch Sängerinnen ans Tordinona. Eine unerhörte Neuerung:

Denn, wie wir bereits gehört haben, erstreckt sich im Staate Rom das Verdikt des Apostels Paulus, dass Frauen in der Kirche zu schweigen hätten, auch auf die Opernbühne. Sicher, es hat bereits einige vom Papst gebilligte Ausnahmen gegeben, an den Adelshöfen haben bisweilen Frauen gesungen – in einem öffentlichen Theater aber ist das noch einmal etwas ganz anderes: Auf Christinas Druck jedoch setzt der Papst das Frauenverbot auf öffentlichen römischen Bühnen aus. Eine kleine Revolution.

Und so singt die Rolle der Medea im „Giasone“ eine der berühmtesten Sängerinnen ihrer Zeit, Antonia Coresi – eine der teuersten noch dazu. Den Kastraten mag das sicher nicht gefallen haben – doch ist es nicht viel natürlicher, wenn eine Magierin wie Medea von einer realen Frau dargestellt wird? Vor allem in der folgenden Arie, in der Medea aus Wut auf den untreuen Jason die Geister und Furien heraufbeschwört?

M 08: Francesco Cavalli:

Giasone

Arie der Medea: „L'armi apprestatemi“ (3'05)

I: Gloria Banditelli (Medea), Concerto Vocale, ML: René Jacobs CD: Giasone, Harmonia Mundi, 2921282.84, LC 7045

Gloria Banditelli als Medea in Cavallis Oper „Giasone“, noch einmal mit René Jacobs und dem Concerto Vocale.

Man kann davon ausgehen, dass Christina großen Einfluss auf die Auswahl der Stücke genommen hat. Mit dem Programm ihres Tordinona leitet sie eine Trendwende in der römischen Opernkultur ein: Lehrhafte, religiöse Stoffe, wie wir sie zu Beginn dieser Musikstunde in „Sant'Alessio“ kennen gelernt haben, haben ausgedient. Stattdessen halten psychologisch durchtränkte Opern Einzug, wie sie in der Freien Republik Venedig gepflegt

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7 werden. Ernste und komische Charaktere werden wild nebeneinander kombiniert. Diese Ästhetik schätzt Christina und mit dieser Vorliebe hinterlässt sie Spuren in Rom.

M 09: Antonio Cesti:

La Dori

Ballo di Eunuchi (1'25) I: Pera Ensemble

CD: Ballo Turco, Oehms Classics, OC 1858, LC 12424

Nach dem Cavalli-Flash in der ersten Stagione des Tordinona wird die zweite Stagione mit einem Werk von Cesti eröffnet, der bei Christinas Konversion in Innsbruck ja bereits von Bedeutung war: mit „La Dori“, der Geschichte um eine ägyptische Prinzessin – wir hörten daraus den Ball der Eunuchen, gespielt vom Pera Ensemble. Von Cesti wird außerdem auch die Oper „Il tito“ gegeben, in der der zukünftige römische Herrscher Titus sich in einer seiner Arien fragt, ob er seiner Liebe zur Königin von Judäa nachgeben soll oder nicht. Was rätst du mir, Liebe? Che mi consigli, amor? Ein wundervolles Stück Musik, wir hören es gesungen von Raquel Andueza und dem Ensemble La Galania.

M 10: Antonio Cesti:

Tito

Che mi consigli amor (2'30)

I: Raquel Andueza (Sopran), Ensemble La Galania

CD: Alma mia, Dandelium, Anima e corpo, 7 502258 851296, LC 33207

Zahlreiche weitere großartige Werke werden in den folgenden drei Jahren im Tordinona aufgeführt: Neben Übernahmen von anderen Häusern auch Neukompositionen. Bernardo Pasquini etwa widmet Christina von Schweden mit „L'Alcasta“ ein eigens für das Tordinona geschriebenes Werk. Leider ist nur wenig davon überliefert, geschweige denn eingespielt.

Christina agiert in dieser Zeit nicht nur als Mäzenin, sondern skizziert auch selbst Bühnenwerke: Für Alessandro Stradella schreibt sie das Szenario zu „La forza delle Stelle“.

Eine Mischung aus Oper und Oratorium, eine Reflexion über die Liebe und den Umgang mit ihr. Soll man der Vernunft den Vorzug geben? Oder soll man seinem Herzen folgen? Fragen, die Christina schon als junge Frau in den Gesprächen mit René Descartes beschäftigt hatten und auf die sie, so scheint es, ihr Leben lang keine Antwort gefunden hat.

Der Dichter Sebastiano Baldini formuliert Christinas Szenario aus und lässt die Stimmen des folgenden Terzetts in Widerstreit treten: Wer vor der Liebe wegrennt, findet keinen Frieden, sagt die eine. Nur, wer vor der Liebe wegrennt findet Frieden, sagt die andere.

M 11a/b: Alessandro Stradella:

La Forza delle Stelle ovvero il Damone Terzett „Chi segue / fugge Cupido“ (1'30) Terzett „Fugga pur quanto“ (1'10)

I: Ensemble Mare Nostrum, ML: Andrea De Carlo

CD: La forza delle stelle, Arcana, outhere music, 3 760195 733776, LC 04494

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8 Das Ensemble Mare Nostrum mit einem Auszug aus Alessandro Stradellas Serenata „La forza delle Stelle“, basierend auf einem Szenario Christinas von Schweden. Die Liebe, um die es geht, wird Stradella übrigens schon bald zum Verhängnis: Erst muss er aus Rom fliehen, weil er der Kuppelei bezichtigt wird. Dann beginnt er in Turin eine Affäre mit einer Gesangsschülerin, wird von deren eifersüchtigem Geliebtem verfolgt und schließlich in Genua unter mysteriösen Umständen ermordet ... Vielleicht hätte Stradella doch besser der Vernunft den Vorzug geben sollen ...

Und Christina? Ist sie noch immer unglücklich verliebt? Schimpft sie noch immer auf die Ehe? Sie, die inzwischen Mitte 50 ist, hat sich nach vielen Querelen mit Kardinal Azzolino in einer Freundschaft eingerichtet. Die Astrologie ist ihrer beider großes Hobby, nachts schauen sie von der Sternwarte des Palazzo Riario gemeinsam in den Himmel. Die rastlose Christina scheint tatsächlich inneren Frieden gefunden zu haben: Ihre außenpolitischen Ambitionen hat sie begraben, sie mischt sich nur noch innerhalb der Kurie ein und lanciert Azzolino als künftigen Papstkandidaten.

Ihre innere Zufriedenheit spiegelt sich auch in ihrer Korrespondenz wieder. An ihren früheren Leibarzt und Vertrauten Bourdelot schreibt sie augenzwinkernd über ihre Dickleibigkeit: „Was meine Körperfülle betrifft, so mache ich mir nichts daraus. Ich habe das, was nötig ist, um die Knochen zu bedecken.“

M 12: Alessandro Stradella:

La Forza delle Stelle ovvero il Damone Terzett „Grand incanto d'una beltà“ (2'30)

I: Nora Tabbush (Damone), Claudia Di Carlo (Clori), Ensemble Mare Nostrum, ML: Andrea De Carlo

CD: La forza delle stelle, Arcana, outhere music, 3 760195 733776, LC 04494

Noch ein Auszug aus Stradellas und Christina von Schwedens „La forza delle Stelle“: Amors Bogen ist aus Eisen gemacht, schon ein bloßer Blick kann zum Pfeil werden. Erneut hörten wir das Ensemble Mare Nostrum unter der Leitung von Andrea De Carlo.

So sehr Christinas Teatro di Tordinona auch blüht, es ist bedroht. 1675 können wegen des Heiligen Jahres keine Aufführungen stattfinden und kurz darauf besteigt Innozenz XI. den päpstlichen Stuhl. Nomen est omen: Innozenz, der Unschuldige, verbietet sofort alle öffentlichen Opernaufführungen – und das, obwohl er vor seiner Papstwahl zu den häufigsten Besuchern in Christinas Theaterloge gehört hatte ... Das Tordinona verkümmert zum Getreidelager und wird erst nach Innozenz' Tod wieder als Bühne genutzt. Das erlebt Christina aber nicht mehr.

Doch mag Innozenz auch Verbote aussprechen – die Zeit kann er nicht zurückdrehen. Das Tordinona hat unwiderrufliche Zeichen gesetzt, sowohl in seiner Architektur als auch in seinem Programm. Es hat Bedürfnisse geweckt beim römischen Publikum, es hat inspiriert.

Die Oper schwelt weiter im Kirchenstaat – und spätestens in der Ära von Pietro Metastasio, also ab 1711, blüht sie wieder voll auf am Tiber. Um ein Theater ärmer, gibt Christina Opern nun im Privaten, in ihrem Palazzo Riario, vor allem aber: Sie frischt ihre Akademie auf, fördert junge, begabte Komponisten wie Scarlatti, Corelli und Pasquini. Davon handelt die morgige, letzte Folge, zu der ich Sie hiermit herzlich einlade.

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9 Zum Schluss dieser SWR2 Musikstunde hören wir noch eine Arie von Antonio Sartorio, dessen Opern ebenfalls im Tordinona aufgeführt wurden: „Entweder liebe ich gar nicht oder mit Haut und Haaren“, lässt Cleopatra da verlauten. Anna Prohaska musiziert gemeinsam mit Il Giardino Armonico. Ich bin Sylvia Roth und wünsche Ihnen noch einen wundervollen Tag!

M 13: Antonio Sartorio:

Giulio Cesare

Non voglio amar (2'30)

I: Anna Prohaska (Gesang), Il Giardino Armonico, ML: Giovanni Antonini CD: Serpent and fire, Alpha Classics, Alpha 250, LC 00516

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10 Literatur

Biermann, Veronica: Von der Kunst abzudanken. Die Repräsentationsstrategien Königin Christinas von Schweden, Wien 2012

Findeisen, Jörg-Peter: Christina von Schweden. Legende durch die Jahrhunderte, Frankfurt 1992

Hanheide, Stefan: Königin Christina und die zeitgenössische Musik, in: Christina. Königin von Schweden, Katalog der Ausstellung im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück, 1997

Königin Christina von Schweden: Gesammelte Werke. Autobiographie. Aphorismen.

Schriften, Hamburg 1995

Leopold, Silke: Die Oper im 17. Jahrhundert, Darmstadt 2004

Losleben, Katrin: Musik - Macht - Patronage. Kulturförderung als politisches Handeln im Rom der Frühen Neuzeit am Beispiel der Christina von Schweden (1626-1689), Köln 2012

Schröder, Dorothea: „Die Stunden hier dauern Ewigkeiten...“ Christina von Schweden in Hamburg, Hamburg 1997

Ueckert, Charlotte: Christina von Schweden: Ich fürchte mich nicht! Leben und Lieben einer Unbeugsamen, Berlin 2016

von der Heyden-Rynsch, Verena: Christina von Schweden. Die rätselhafte Monarchin, Weimar 2000

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