Vorwort
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
mit dem Symposium „Heimat Wiesbaden“ haben wir die Identität der Stadt zum Thema gemacht. Dabei wollen wir Heimat in einem modernen Sinne begreifen. Der ehemalige Schweizer Bundespräsident Moritz Leuenberger hat es auf den Punkt gebracht: „Heimat entsteht nicht durch Abgren- zung, sondern durch Verbundenheit, durch Anteilnahme und durch Mitwirkung.“ In einer modernen Stadtgesell- schaft schließt dies alle Formen der Zuwanderung und des Heimischmachens in neuer Umgebung ein.
Unsere Stadt hat in den letzten Jahrzehnten eine unge- meine Vielfalt entwickelt und steht trotzdem in der Tradition des alten Wiesbaden, das in anderer Art und Weise ebenfalls international war.
Die Online-Publikation „Vielfalt im Kulturerbe“ soll Sie über unsere Initiativen rund um die Identität Wiesbadens auf dem Laufenden halten. Sie gehört zu der Neuaufstel- lung der Stabsstelle Kulturerbe, die unter neuem Namen nun auch Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung als Aufgabe erhalten wird.
Wir hoffen auf Ihre aktive Mitarbeit, denn wir wissen, die Identität der Stadt wird von den Bürgern bestimmt – und dabei sollten wir ein wenig mehr Wiesbaden wagen.
Ihr
Sven Gerich Oberbürgermeister Ausgabe 1 | Dezember 2015
Auf der Suche nach der Heimat Wiesbaden
Was bedeutet „Heimat Wiesbaden“? Antworten auf diese Frage versuchte ein Symposium im Großen Festsaal des Wiesbadener Rathauses zu geben. Es war der Auftakt zur Neuausrichtung der Stabsstelle Kulturerbe, zu dem Ober- bürgermeister Sven Gerich (SPD) eingeladen hatte. Stabs- stellenleiter Thomas Weichel hatte dazu Referenten aus Praxis und Wissenschaft gewinnen können. Die Resonanz war beachtlich. Wieder einmal ein volles Haus, auch weil es um das Thema einer Wiesbadener Stadtidentität ging.
Bilder auf Großleinwänden illustrierten die Beiträge. Bin- dung an eine Heimat, sagte Sven Gerich, sei im Zeitalter der Globalisierung und des modernen Nomadentums der Business-Menschen noch wichtiger geworden.
Stadt und Charakter
Einen allgemein-theoretischen Blick auf das Thema Stadt, Heimat und Identität warf der Heidelberger Sozialwissen- schaftler Professor Dr. Michael Haus, der versuchte, den Charakter einer Stadt anhand bestimmter Kriterien festzu- machen. Demnach gibt es schnelle und langsame Städte, solche, die mehr von ihrer Vergangenheit leben und an- dere, die eher zukunftsorientiert sind. „Das Typische einer Stadt wird durch soziale Praktiken reproduziert.“ Höchst Unterschiedliches werde in einer Stadt unter einen Hut gebracht. Alle Lebensbereiche seien auf einem überschau- baren Raum vernetzt.
Stadt und Vororte
Stadt ist aber auch eine Summe von Teilidentitäten. Das machte Oberbürgermeister Sven Gerich am Beispiel der nach Wiesbaden eingemeindeten Vororte deutlich, die seit 1926 (Biebrich, Schierstein, Sonnenberg) in mehreren Schüben eingegliedert wurden. Allerdings erst, nachdem sich die Kurstadt in der Kaiserzeit lange gegen eine Erwei- terung gesträubt hatte. Erst nach dem Ersten Weltkrieg akzeptierte man aus wirtschaftlicher Notwendigkeit das Vorhandensein von mehr Industrie und den Anschluss an den Rhein. Gerich bekannte sich als „Biebricher Bub“, der sich auch noch in der Kernstadt wohnend seinem Hei- matstadtteil sehr verbunden fühlt. Noch vor der letzten Eingemeindungsphase begann der Bau von Großsiedlun- gen wie Klarenthal und Gräselberg. 1977 kamen dann unter Oberbürgermeister Rudi Schmitt (SPD) die östlichen Vor- orte als letzte zu Wiesbaden. Zu den vorher selbststän- digen Gemeinden gehört auch Naurod, das mit dem
„Deiwelchestag“ eine spezielle Tradition pflegt. „Gelebte Identität“, bemerkte der Oberbürgermeister mit Blick auf den anwesenden Stadtverordnetenvorsteher Wolfgang Nickel aus Naurod (CDU), der 1977 wohl nicht an eine solche Karriere in der Landeshauptstadt gedacht habe. In kleinen Ortsteilen, wie in Frauenstein oder Rambach, so der Oberbürgermeister, lebe man untereinander vertrauter, aber keineswegs abgegrenzt. Die Besonderheit der Stadt- teile, so der OB, gelte es zu respektieren.
Heimat mit Smartphone
Wie „Heimat im Zeitalter des Smartphones“ erlebt wird, wo ein guter Teil des Lebens sich in der digitalen Welt ab- spielt, war das Thema von Stabsstellenleiter Dr. Thomas Weichel. Der Historiker verdeutlichte die Veränderung beim Nutzen des neuen Mediums von Jugendlichen mit beeindruckenden Zahlen. Nur 9 Minuten machen dabei jeweils SMS-Nachrichten und E-Mails aus, 13 Minuten für das Telefonieren. Hingegen gehören 37 Minuten dem Musikhören, 44 Minuten dem Unterwegssein in Sozialen Netzwerken, und 68 Minuten machen die Kommunikation über WhatsApp aus. Früher, sagte Weichel, war das Lesen von Karl May eine Möglichkeit zur Unterhaltung, heute ist es das Smartphone. Ein Medium, das es vielen Migran- ten auch ermöglicht, Kontakt zu Menschen in der Heimat zu halten. In diesen Medien würden sich viele Menschen aber auch lokal vernetzen und es entstünden so neue Kontakte und zugleich die Chance für politisches Handeln.
Hier wie bei allen anderen Medien, wie Twitter oder Ins- tagram, gelte: Auf die Dosis kommt es an. Denn natürlich bestehe die Gefahr, dass man sich „verappt“ oder „verzet- telt“ in der digitalen Welt.
Identität und soziale Pole
Sozialplaner Heiner Brülle, Abteilungsleiter im Amt für Soziale Arbeit, wollte die Frage, ob Wiesbaden sozial ge- spalten sei, „nicht eindeutig“ beantworten. Es gebe aller-
dings eine große soziale Polarisierung im Blick auf die un- terschiedlichen Wiesbadener Wohnquartiere. Das machte Brülle anhand von Zahlen deutlich: an der Gymnasialquo- te, die in Sonnenberg 75,3 Prozent, auf dem Gräselberg aber nur 10 Prozent beträgt (der städtische Durchschnitt liegt bei 37,8 Prozent). Oder an der Kinderarmutsquote:
Sie liegt in Sonnenberg bei 4,6 Prozent, im Inneren West- end bei 53 Prozent (Durchschnitt 23,7 Prozent). Das In- nere Westend bezeichnete Heiner Brülle als „erfolgreiche Integrationsmaschine der Stadt“. Wichtig für eine Identität stiftende Kommunalpolitik seien Stadtteilzentren und at- traktive Treffpunkte für Wiesbadener mit kleinen Einkom- men. Kommunale Sozialpolitik, so der Diplom-Soziologe, könne die gesellschaftliche Ungleichheit nicht verhindern, aber abmildern.
Stadt und Attraktivität
Warum zieht es Menschen mit Vermögen immer wieder so stark nach Wiesbaden? Für diese Frage gab Norbert Ber- an vom Maklerunternehmen Engel & Völkers Antworten, indem er aus seinen langjährigen Erfahrungen als Mak- ler – in seiner Firma für Wiesbaden, Eltville, Mainz und Heidelberg zuständig – berichtete. Noch immer, so der gelernte Betriebswirt, sei es das mit Wiesbaden verbunde- ne Sozialprestige, das Gutverdiener und Vermögende an- zieht, überwiegend nach Nordost, ins Komponistenviertel oder ins Nerotal. Auch die einmalige Lage zwischen Rhein
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und Taunus mache Wiesba- den attraktiv. Das gelte auch für in Frankfurt arbeitende Menschen. Berans Statistik:
17.000 Menschen ziehen je- des Jahr nach Wiesbaden, 20.000 ziehen innerhalb der Stadt um. Das führt bei En- gel & Völkers (weltweit aktiv an 600 Standorten mit 7000 Mitarbeitern) zu rund 5000 Wiesbadener „Suchkunden“.
Unter ihnen auch viele Kapitalanleger. Denn „viele wissen nicht, was sie mit ihrem Geld machen sollen“, vor allem aus der Erbengeneration. Dass jemand nicht nach Mainz, sondern nach Wiesbaden gezogen ist, könne, wie bei ihm, Norbert Beran, auch daran liegen, dass es hier einen bilin- gualen Kindergarten mit Deutsch und Spanisch gibt.
Heimat und Identität
Den Blick der 1961 in der Türkei geborenen Migrantin, die mit 13 Jahren nach Deutschland gekommen war, warf Janet Yalaza auf die Heimatgefühle der Zugewanderten in der Stadt. Heimat, sagte die Marketingökonomin und Vorsitzende des Vereins Kubis, gebe Geborgenheit, verur- sache im Fall ihres Verlusts aber auch Schmerz. Es brauche Zeit, um zu einer neuen Umgebung Vertrauen zu fassen
und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Der Ver- lust von Heimat und Identität führe zu persönlichen Pro- blemen, weil Identität auch ein Selbstwertgefühl verleihe.
In Wiesbaden lebten Menschen aus 161 Nationen, sie seien gekommen, um hier ein besseres Leben zu finden, hätten aber auch erheblich zum allgemeinen Wohlstand beigetragen.
Heimat und Potentiale
Wilhelmstraße und Wellritzstraße gelten in Wiesbaden genauso als Gegenpole wie das Staatstheater und der Schlachthof. Im Hinblick auf solche Unterschiede sprach sich Dominik Hofmann vom „Heimathafen“ für eine „Und- Kultur“ aus. Diese Gegensätze, so Hofmann, schlössen sich nämlich nicht aus, sondern böten ein „spannendes Poten- tial“. Ein Potential, das allerdings noch gehoben werden müsse. Der Wahl-Wiesbadener Hofmann, der den „Heima- thafen“ als Anlaufpunkt für „die kreative Klasse der jungen Generation“ gegründet hat, forderte Antworten darauf, wie die Zukunft einer Wiesbadener Identität aussehen könnte. Dominik Hofmann fiel auf, dass in Wiesbaden zwar 11.000 Studenten leben, sagte aber: „Die Stadt fühlt sich nicht studentisch an.“ Demgegenüber gebe es 600 einge- tragene Designer mit 6000 Angestellten. Hier handele es sich um eine „kreative Klasse“, die „entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit einer Stadt“ sei.
Sven Gerich: „Mehr Wiesbaden wagen!“
Oberbürgermeister Sven Gerich stellte in seinem Aus- blick auf die Zukunft der Kulturerbe-Arbeit fest, dass die Identität einer Stadt nicht zwangsläufig das sei, was die Kommunalpolitik wolle, sondern eher das, was die Bürger aus ihrer Stadt machten. Gleichwohl werde das Rathaus die Kulturerbe-Reihe fortsetzen. Man werde versuchen, Schulen und Eltern zu animieren, sich mit der Stadt aus- einanderzusetzen. Unter anderem sei eine Woche der Hei- matmuseen geplant. Gerich bekannte, Oberbürgermeister aller in Wiesbaden lebenden Menschen sein zu wollen und appellierte an die Stadtbürger: „Lassen Sie uns alle ein bisschen mehr Wiesbaden wagen!“
Heimatgefühle am Stehtisch
Den Abschluss des Symposiums bildete eine Stehtisch- Diskussionsrunde mit Manfred Laubmeyer (Kreisvorsit- zender des Bundes der Vertriebenen und langjähriger CDU-Politiker), Andreas Rolle (Facebook-Initiator „Lust auf Wiesbaden“), Fastnachter Guntram Eisenmann und der Volontärin Sophie-Cane Buzludag. Die von Kurier / Tagblatt-Lokalchef Patrick Körber moderierte Runde be- leuchtete noch einmal die verschiedenen Ausprägungen von Heimatgefühlen.
Text: Manfred Gerber Hierbleiben oder Abwandern
Heimatbegriff der kreativen Klasse und der jungen Generation
IMPRESSUM
Herausgeber: Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt 12, Stabsstelle Kulturerbe, Wilhelmstraße 32 | Gestalter: Wiesbaden Marketing GmbH | Fotos: Axel Sawert, Dr. Thomas Weichel, Elfriede Brückmann, Dominik Hofmann, Jürgen Münzer | Kontakt: Kulturerbe@wiesbaden.de
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