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Verbände und Politiknetzwerke im deutschen Bundesstaat : eine historisch-institutionalistische Perspektive

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Verbände und Politiknetzwerke im deutschen Bundesstaat:

Eine historisch-institutionalistische Perspektive

Gerlzard Lelzmbruch

Dieser Band untersucht politikfeldspezifische "Verf1echtungsmuster" zwischen Staat und organisierten Interessen im Mehrebenensystem des deutschen Bundesstaates. In der Begrifflichkeit der Organisationstheorie lassen sich solche Verf1echtungsmuster mit dem Begriff der "Ressourcenabhängigkeit" I beschreiben, und zwar als unterschiedliche Ausprägungen wechselseitiger Ressourcenabhängigkeit in den Beziehungen zwischen Organisationen.

Die ältere Interessengruppenforschung interessierte sich vornehmlich fur die Res- sourcenabhängigkeit von Verbänden gegenüber dem Staat. Einer ihrer Pioniere arbeitete mit der Vorstellung, dass es zu spontanen Zusammenschlüssen kommt, wenn die Inte- ressen einer größeren Gruppe von Individuen tangiert sind,2 und dass so entstandene Verbände ihre Strukturen und Strategien der vorgefundenen Struktur staatlicher Ent- scheidungsprozesse anpassen, insoweit sie auf die Zufuhr von Ressourcen angewiesen sind, über die der Staat verfugt.3 In einem Bundesstaat - so wäre zu folgern - werden organisierte Interessen durch diese Ressourcenabhängigkeit dazu veranlasst, ihre Struk- turen und Strategien an den jeweiligen bundesstaatlichen Kompetenzzuweisungen aus- zurichten.

Diese einflusstheoretische Hypothese kann zwar in der Tat in einem gewissen Maße die Strategien von Interessenverbänden plausibel erklären. Man kann aber in bestimm- ten entwicklungsgeschichtlichen Konstellationen beobachten, dass die Großorganisatio- nen wesentliche Strukturelemente und womöglich gar ihre Existenz staatlicher Interven- tion verdanken. Die Staatsverwaltung war hier ihrerseits auf die Mobilisierung von Res- sourcen angewiesen, die von den gesellschaftlichen Organisationen zur Verfugung ge- stellt wurden. Das lässt sich sehr gut - um dieses Beispiel vorwegzunehmen - bei der Entstehung der ersten landwirtschaftlichen Verbände in Deutschland im 19. Jahrhundert zeigen, die staatlicher Initiative zu verdanken war. Ressourcenabhängigkeit beruht dann im Ergebnis auf Austauschprozessen zwischen dem Staat und den organisierten Interes- sen und hat wechselseitigen Charakter.

PfejJer, JejJreylSalancik, Gerald R. 1978: The external control of organizations: a resource depen- dence perspective, New Y ork.

2 Truman, David B. 1951: The govemmental process: political interests and public opinion, New York, S. 31-33.

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Für David Truman ergab sich aus solcher Ressourcenabhängigkeit eine "inevitable gravitation 10-

ward govemment" (Tntman 1951, S. 104-106 CFn. 2)), und Harry Eckstein hat dann im internationa- len Vergleich die Zusammenhänge zwischen der Struktur unterschiedlicher Regierungssysteme und 'dem jeweiligen institutionellen Zugangspunkt der "pressure groups politics" herausgearbeitet (Eck- stein, Harry 1960: Pressure group politics: the case of the British Medical Association, London, S. 15-21).

Nun können sich Formen der Ressourcenabhäll%l%kdt

lw\.~chtn ~'i'g'Mi~\tl\tn ID\~­

ressen und Staat naturgemäß im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung wandeln.

Doch in bestimmten Entwicklungsabschnitten kann es zur institutionellen Verfestigung der wechselseitigen Beziehungen kommen, und das mündet dann in Weichenstellungen (critical junctures), die gewissermaßen die Selbstreproduktion des institutionalisierten Entwicklungspfades begünstigen. Man beschreibt solche Strukturen als "pfadabhängig". Die Entwicklung des deutschen Bundesstaates lässt sich, wie ich an anderer Stelle dar- gestellt habe, mit Hilfe dieser Vorstellung sehr viel besser verstehen.4

Daran anknüpfend will ich im Folgenden zeigen, dass sich auch die hier beobachtete Variabilität von interorganisatorischen Verflechtungsmustern in Politikfeldern zu einem guten Teil auf charakteristische entwicklungsgeschichtliche Weichenstellungen zurück- führen lässt, die ein hohes Maß an Pfadabhängigkeit aufweisen. Im deutschen Bundes- staat weisen auch sektorale Politiknetzwerke eine Mehrebenenstruktur auf, aber dabei lassen sich charakteristische Unterschiede beobachten: Je nach der Ebene, auf die sich die Aufmerksamkeit richtet, beobachten wir in den sektoralen Politiknetzwerken eher zentralisierte oder dezentralisierte Strukturen. Man wird zwar mit guten Gründen solche Variationen in einem ersten Zugriff insbesondere auf Unterschiede der objektiven Prob- lemIagen zurückführen können. Aber wie mit solchen variablen Problemlagen umge- gangen wird, darauf hat es in der eigentümlichen Organisationsgeschichte eines Politik- feldes unterschiedliche Antworten gegeben, und dies kann sich dann institutionell in charakteristischer Weise verfestigt haben.

Die folgende Skizze ist damit von der Forschungsperspektive des "historischen Insti- tutionalismus" angeleitet. 5 Ich greife insbesondere die Überlegung auf, dass das spezifi- sche Timing der Entstehung von Institutionen dauerhaft !lachwirkende Struktureffekte haben kann. Diese Überlegung beziehe ich auf die Entwicklungsgeschichte des deut- schen Föderalismus, indem ich dem Zusammenhang des Staatsbildungsprozesses mit der Ausdifferenzierung sektoraler Politikfelder nachgehe. 6

4 Lehmbruch, Gerhard 2002: Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Benz, ArthurlLehmbruch, Gerhard (Hrsg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsge- schichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden, S. 53-110. .

5 Dazu u. a. Steinmo, SvenlThelen, KathleeniLongstreth, Frank (Hrsg.) 1992: Structuring politics:

historical institutionalism in comparative analysis, Cambridge; Thelen, Kathleen A. 1999: Historical institutionalism in comparative politics, in: Annual Review of Political Science, Jg.2, S.369-404;

Thelen, Kathleen A. 2002: The explanatory power of historical institutionalism, in: Mayncz, Renate

(Hrsg.):

Akteure - Mechanismen -

Modelle.

Zur Theoriefahigkeit makro-so zialer Analysen, Frank-

furt a. M., S. 91-107; Pierson, Pau12004: Politics in time: history, institutions, and social analysis, Princeton; und jetzt Steinmo, Sven 2008 Ci. E.): Historical institutionalism, in: Della Porta, Do- natellaiKeating, Michael (Hrsg.): Approaches and methodologies in the social sciences: a pluralist perspective, Cambridge.

6 Vgl. auch schon Lehmbruch, Gerhard 2003: Föderative Gesellschaft im unitarischen Bundesstaat, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), Jg. 44, Nr. 4, S. 545-571.

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Ersch. in: Föderale Politikgestaltung im deutschen Bundesstaat : variable Verflechtungsmuster in

Politikfeldern / Henrik Scheller, Josef Schmid [Hrsg.]. - Baden-Baden : Nomos, 2008. - S. 50-66. - (Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung ; 32). - ISBN 978-3-8329-3880-2

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-215846

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1. "Zentralisierte Gesellschaft" im "dezentralisierten Staat"?

Der verstorbene Staatsrechtslehrer Konrad Hesse hat 1962 die Eigenart des deutschen Föderalismus auf den Begriff des "unitarischen Bundesstaats" gebracht.7 In seiner Sicht waren im westdeutschen Staat der Nachkriegszeit die ursprünglichen Voraussetzungen bundesmäßiger Einheitsbildung weithin entfallen. Denn die Individualität der Einzei- staaten und die "sachliche Differenziertheit des Gesamtleörpers" seien bis auf geringe Restbestände untergegangen und nicht wieder herzustellen. Der Sozialstaat verlange

"Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit", und die träten in "Widerspruch zu der Mannig- faltigkeit und Differenziertheit des föderativen Bundesstaates". Die Länder hätten an eigenständiger Gestaltungsmöglichkeit weitgehend eingebüßt, und an ihre Stelle sei eine weitgehende "sachliche Unitarisierung" getreten - sei es durch zentralisierende Kompetenzverlagerung auf den Bund, sei es durch die "Selbstleoordinierung" der Län- der.8 Diese Sicht der Entwicklung des deutschen Bundesstaates war vor allem in der Staatsrechtslehre lange Zeit überaus einflussreich.

Unausgesprochen bildete die Vorstellung von der weitgehenden "sachlichen Unitari- sierung" auch den Hintergrund von Peter Katzensteins Analyse der westdeutschen De- mokratie, als er ein Vierteljahrhundert später pointiert von dem Kontrast zwischen ei- nem "dezentralisierten Staat" und einer "zentralisierten Gesellschaft" sprach.9 Die Zent- ralisierung dieser Gesellschaft sei insbesondere ihren starken Spitzenverbänden zu ver- danken; als wichtigste Beispiele nannte er die Gewerkschaften, die Unternehmerver- bände, den Deutschen Bauernverband und die Ärzteverbände. Der Schluss liegt auf der Hand, dass diese Verbände auch entscheidend dazu beigetragen haben, den Prozess der fortschreitenden Unitarisierung voranzutreiben.

Im Folgenden soll nun gefragt werden, ob dieses Bild nicht gewisser Differenzierun- gen bedarf. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass sich der deutsche Föderalismus - auch im internationalen Vergleich von Bundesstaaten - durch ein hohes Maß an Unitarisierung auszeichnet. Aber es ist ein Denkfehler, wenn man meint, deshalb gleich die "Individua- lität der Einzelstaaten" abschreiben zu müssen. Dem liegt die Vorstellung von einem

"Nullsummenspiel" zugrunde, bei dem Unitarisierung die regionalen Identitäten fort- schreitend aushöhlt, und das ist ein voreiliger Schluss. Hinzu kommt, und das soll im Folgenden näher dargestellt werden, dass die gängige Unitarisierungsvorstellung eigen- tümliche Unterschiede zwischen sektoralen Politiknetzwerken ausblendet.

7 Hesse. Konrad 1962: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe.

8 Vgl. auch Hesse, Konrad 1967: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe, S. 87-89.

9 KaIzenslein, Peler 1987: Policy and politics in West Germany: the growth of a semisovereign state, Philadelphia, S. 15-35.

2. Die deutsche Vereinigung

als Testfall

Ausgangspunkt fiir eine solche Untersuchung können Beobachtungen am Prozess der deutschen Vereinigung sein. I 0 In der Öffentlichkeit überwog damals die Vorstellung von einer "Einpassung" der ehemaligen DDR in die Strukturen der "alten" Bundesrepu- blik. Schon im Frühjahr 1990 hatten sich die westdeutschen Spitzenverbände der Ar- beitsmarktparteien darauf verständigt, das in der alten Bundesrepublik etablierte System der Arbeitsbeziehungen nach der staatlichen Vereinigung auf die DDR zu übertragen. I I

Und bei den Verhandlungen über den Einigungsvertrag vermochten die westdeutschen Ärzteverbände (auch gegen Widerstände im damals zuständigen Bonner Arbeitsministe- rium) durchzusetzen, dass das System der DDR-Polikliniken zerschlagen und durch das in der alten Bundesrepublik etablierte System der Gesetzlichen Krankenversicherung mit der Schlüsselposition der kassenärztlichen Vereinigungen ersetzt wurde.12 Dieses seinerzeit so stark diskutierte "Plattmachen" des institutionellen Erbes der untergegan- genen DDR ließ sich als ein schlagender Beweis fiir die These vom "unitarischen Bun- desstaat" ansehen.

Ausnahmen von dieser Tendenz hat man damals oft übersehen. Es gab nämlich wich- tige gesellschaftliche Sektoren und Politikfelder, in denen es nicht zu einer solchen An- gleichung kam. Das bemerkenswerteste, wenngleich zunächst nicht allzu stark beachtete Gegenbeispiel bildete die Landwirtschaft: 13 Schon im Jahre 1990 hatte sich sowohl beim Deutschen Bauernverband (DBV) als auch im Bonner Landwirtschaftsministeri- um die Einsicht durchgesetzt, dass einer Rückkehr zu dem in Westdeutschland verbrei- teten bäuerlichen Farnilienbetrieb keine realistische Entwicklungsperspektive einge- räumt werden könne, dass vielmehr die Zerschlagung der großen Kollektivwirtschaften das Überleben der - durch die Währungsunion empfindlich getroffenen - ostdeutschen Landwirtschaft gefährden würde. Zudem hatte die letzte, frei gewählte Volkskammer der DDR mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz das Weiterleben der Kollektivwirt- schaften in veränderter Rechtsform ermöglicht. Das wurde dann auch im Einigungsver- trag nicht grundsätzlich in Frage gestellt, mit der Folge, dass bis heute mehr als die

10 Vgl. zum Folgenden insbesondere Czada, Rola~dlLehmbruch. Gerhard (Hrsg.) 1998: Transfonnati- onspfade in Ostdeutschland: Beiträge zur sektoralen VereinigungspoUtik, Frankfurt a. M.; Lehm- bruch, Gerhard 2000: Bedingungen sektoralen Institutionenwandels im deutschen Vereinigungspro- zeß, in: Esser, Hartmut (Hrsg.): Der Wandel nach der Wende. Gesellschaft, Wirtschaft, Politik in Ostdeutschland, Wiesbaden, S. 113-141.

II Gemeinsame Erklärung des DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu einer einheitlichen Wirtschafts-und Sozialordnung in beiden deutschen Staaten vom 09.03.1990.

12 Manow, Philip 1994: Gesundheitspolitik im Einigungsprozeß, Frankfurt a. M.; Manow, Philip 1998:

Zerschlagung der Polikliniken und Transfer korporativer Regulierung: Das Gesundheitswesen, in:

Czada, RolandiLehmbruch, Gerhard (Hrsg.): Transfonnationspfade in Ostdeutschland: Beiträge zur sektoralen Vereinigungspolitik, Frankfurt a. M., S. 165-190.

13 Kretzschmar, Gotthard 1996: Die Agrarverbände, in: Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Intermediäre Strukturen in Ostdeutschland, Opladen, S. 379-400; Lehmbruch. Gerhard/Mayer, Jörg 1998: Kollek- tivwirtschaften im Anpassungsproze.ß: Der Agrarsektor, in: CzadaiLehmbruch (Hrsg.), S. 331-364 (Fn. 12).

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Hälfte der landwirtschaftlich genutzten Fläche von diesen Nachfolgern der alten Land- wirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) bewirtschaftet wird.

Gleichsam flankierend dazu kam es zu einer überaus bemerkenswerten Entwicklung im Verbandswesen: Der (West-)Deutsche Bauernverband adoptierte gewissermaßen die Vereinigungjür gegenseitige Bauernhilfe der DDR (VdgB), nachdem sich diese analog zum föderativen Organisationsmodell des DBV auf der Basis der neuen Bundesländer als Bauernverband der DDR konstituiert hatte. Dies wurde so bewerkstelligt, dass sich die aus dem VdgB hervorgegangenen "post-kommunistischen" Landesverbände (deren Personal sich aus den ehemaligen LPG rekrutierte) dem DBV anschlossen. Die führen- de Interessenorganisation der westdeutschen Landwirtschaft wahrte damit ihr Repräsen- tationsmonopol und nahm dafür in Kauf, dass mit dem Fortleben der Kollektivwirt- schaften die - ohnehin schon recht ausgeprägte - regionale Heterogenität der deutschen Agrarstrukturen noch weiter zunahm.

Im deutschen Einigungsprozess ließen sich also erhebliche Unterschiede in den Stra- tegien der zentralen Akteure in den sektoralen Politiknetzwerken beobachten. In den Arbeitsbeziehungen wählten die Spitzenverbände eine unitarisierende Strategie und auch im Gesundheitswesen setzte sich eine unitarische Lösung durch. Im Agrarsektor wurde dagegen eine Strategie gewählt, die man als Management von struktureller Hete- rogenität bezeichnen könnte. Man kann diese Unterschiede nicht mit objektiven sektora- len Gegebenheiten erklären, etwa in dem Sinne, dass sich in den Arbeitsbeziehungen oder im Gesundheitswesen die Unitarisierungsstrategie als angemessener aufgedrängt hatte. Denn es lässt sich heute nicht mehr ernsthaft bestreiten, dass diejenigen Recht behalten haben, die schon damals diese Strategie zum Scheitern verurteilt sahen. Im Gesundheitswesen gelang der Aufbau einer flächendeckenden Versorgung auf der Basis der Niederlassung in privater Kassenarztpraxis mehr schlecht als recht und schließlich erlebten die Polikliniken - die eigentlich verschwinden sollten - im Zuge der Gesund- heitsreform als "Medizinische Versorgungszentren" ihre Rehabilitierung als alternative Träger der ambulanten Krankenversorgung. Und in den Arbeitsbeziehungen wurde das Scheitern der Unitarisierungsstrategie besonders deutlich, als sich die IG Metall 2003 mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche für Ostdeutschland eine spektakuläre Niederlage einhandelte: Die Belegschaften waren nicht bereit, für ein Ziel zu streiken, das - von westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären ersonnen - im Ergebnis einen Wettbewerbsvorteil der ostdeutschen Betriebe eingeebnet hätte.

3. Der handlungsleitende Rückgriff auf strategische Repertoires

Damit soll nicht jener vordergründigen Erklärung das Wort geredet werden, die in der Angleichung der Arbeitsbedingungen im vereinigten Deutschland so etwas wie ein Komplott westdeutscher Unternehmer und Gewerkschafter zu Lasten der ostdeutschen Standorte sehen wollten. 14 Derlei spekulative Verschwörungstheorien greifen zu kurz,

14 So der Tendenz nach schon Sinn, Gerlinde/Sinn, Hans-Werner 1991: Kaltstart: volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen.

und die historischen Quellen legen eine andere,

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pretation nahe. Die westdeutschen Arbeitsmarktverbände ließen sich nämLich zu Beginn des Vereinigungsprozesses von den Erfahrungen leiten, die sie mit einer erfolgreichen, sozialpartnerschaftlich abgestützten Strategie industrieller Modemisierung in der "a1ten Bundesrepublik" gemacht hatten. Was dort entscheidend dazu beigetragen hatte, die internationale Wettbewerbsfahigkeit der westdeutschen Wirtschaft zu behaupten, er- schien als Erfolgsrezept auch für die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft. Mit anderen Worten, die kollektiven Akteure im Politiknetzwerk der Arbeitsbeziehungen griffep. auf ein Repertoire an Strategien zurück, das sich in der Vergangenheit bewährt hatte und das sie so in ihrer Organisationsgeschichte eingeübt hatten.

Eine vergleichbare entwicklungsgeschichtliche Erklärung drängt sich aber auch für die kollektiven Akteure des Agrarsektors auf. Auch sie griffen in der Phase der "impro- visierten Vereinigung" auf ein strategisches Repertoire zurück, das sie im Laufe einer langen Organisationsgeschichte entwickelt hatten.15 Nur sah dieses Repertoire ganz anders aus als das der Arbeitsmarktakteure. In ihrer Organisationsgeschichte hatten sie nämlich Erfahrungen im Umgang mit regionaler Heterogenität erworben, die den west- deutschen Organisationen des Gesundheitssektors oder des Arbeitsmarktes abging. Dass sich die Strategiewahl des DBV und des Bundeslandwirtschaftsministeriums der objek- tiven Problemlage angemessener erwies als die der Akteure in anderen sektoralen Poli- tiknetzwerken, verdankten sie ihren historischen Erfahrungen.

In den sektoralen Differenzen im deutschen Einigungsprozess haben also entwick- lungsgeschichtliche Lernprozesse von Großorganisationen ihren Niederschlag gefun- den. Nun wurden diese Lernprozesse nicht zuletzt von der eigentümlichen Entwick- lungsgeschichte des deutschen Bundesstaates bestimmt, in der vor allem das Problem des Umgangs mit regionaler Heterogenität zu lösen war. Will man diese Geschichte angemessen verstehen, so muss man sich von der hergebrachten Vorstellung verab- schieden (die noch bei Konrad Hesse leitend war), dass sie sich auf den Nenner eines quasi naturgesetzlichen Zentralisierungsprozesses bringen ließe, bei dem die heterogene Peripherie" dem uniformierenden Druck des "Zentrums" zunehmend erlegen sei. Ge-

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die neue re historische Forschung hat gezeigt, dass das Verhältnis von Zentrum und Peripherie oder von Nation und Region durchaus nicht jenes Nullsurnmenspiel gewesen ist, das man hier früher zu beobachten gemeint hat.

4. Zwei Entwicklungsstufen des deutschen Bundesstaates

Ich werde nun im Folgenden zeigen, dass sich die Staat-Verbände-Beziehungen im Pro- zess der Nationalstaatsbildung je nach Politikfeld in unterschiedlichen Entwicklungs-

phasen ausbildeten und institutionell verfestigten. Aus diesem unterschiedlichen Timing

lassen sich dann die beobachteten sektoralen Unterschiede erklären. Man muss sich nämlich vor Augen halten, dass der Prozess der Ausbildung des modemen "bürokrati-

15 Lehmbruch, Gerhard 1990: Die improvisierte Vereinigung: Die Dritte deutsche Republik, in: Levia- than, Jg. 18, Nr. 4, S. 462-486.

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schen" Verwaltungs-und Rechtsstaates, wie er die Nationalstaatsbildung im Europa des 19. Jahrhunderts begleitete, in Deutschland einen höchst eigentümlichen sequentiellen Charakter aufwies. Die Entwicklungssequenz der Staatsbildung vollzog sich hier in zwei deutlich voneinander abgesetzten Abschnitten, zuerst - und zwar auf der regiona- len oder subnationalen Ebene - in der Entstehung des bürokratischen Verwaltungs-und Militärstaates und anschließend dann in der des Nationalstaates. Die Geburt des büro- kratischen Verwaltungsstaates hatte in Deutschland schon vor der Französischen Revo- lution auf der Ebene der größeren Territorien begonnen, während das Alte Reich bis zu seinem Ende ein lockeres, kaum bürokratisiertes Verhandlungssystem blieb. Und auch in der nachnapoleonischen Periode ließ sich der Unterschied zwischen den modernisier- ten Territorialstaaten und der schwachen institutionellen Klammer des 1815 gegründe- ten Deutschen Bundes nicht überbrücken. Vor allem die großen und "Mittelstaaten", die aus den territorialen Neuordnungen von 1803 bis zum Wiener Kongress hervorgegan- gen waren (also neben Preußen vor allem Bayern, Württemberg, Baden und Sachsen), entwickelten nun so gut wie alle Attribute moderner Staatlichkeit. Dazu gehörten zu- nächst natürlich eine effiziente Verwaltung und eigene Streitkräfte. Aber die Regierun- gen bemühten sich auch um die kulturelle Integration der durch die territoriale Neuord- nung zusammengewürfelten Landschaften, also beispielsweise der östlichen Provinzen Preußens mit den in vielem weiter entwickelten Gebieten des Rheinlands und Westfa- len, oder des altbayerischen Kernlandes mit den 1803-1806 erworbenen fränkischen Gebieten und der Pfalz oder Altwürttembergs mit dem hinzugewonnen Süden. Die "Er- findung von Traditionen"16, von politischen Symbolen und Festen hatte damals Hoch- konjunktur. Man betrieb nicht nur eine Geschichtspolitik, die zum Beispiel den Mythos eines tausendjährigen Bayern in die Welt setzte, sondern man fiihrte auch die so be- rühmt gewordenen "Landwirtschaftlichen Hauptfeste" auf der Münchner Theresienwie- se oder dem Cannstatter Wasen ein, wo der Landbevölkerung die innere Zusammenge- hörigkeit der aus Napoleons Neuordnung hervorgegangenen Länder unter dem Patronat des Landesherren vor Augen gefUhrt werden sollte. 17 Damals erfand man auch die Vor- stellung von "Stämmen des deutschen Volkes", denen man frühmittelalterliche Wurzeln zuschrieb, die dann wundersamerweise in der territorialen Neuorganisation des frühen 19. Jahrhunderts ihre Identität wiedergefunden zu haben schienen.

Diese Integrationspolitik fand nun ihre Fortsetzung unter anderem in den Anfangen der staatlichen Wirtschaftsförderung, und die war auf Ansprechpartner in der sich lang- sam ausbildenden Zivil gesellschaft angewiesen. Die Staatsverwaltung spielte eine star- ke Rolle bei der Gründung der ersten landwirtschaftlichen Organisationen, und bei der Gewerbeförderung setzte sie sowohl auf die (nach französischem Vorbild gegründeten) öffentlich-rechtlichen Handelskammern als auch auf die Zusammenarbeit mit den all- mählich entstehenden freien Verbänden der Gewerbetreibenden und Industriellen. Da- mit bildeten sich auf der Ebene der größeren deutschen Staaten die ersten sektoralen

"Politiknetzwerke" aus, die Staatsverwaltung und organisierte Interessen miteinander

16 Hobsbawm, EridRanger, Terence (Hrsg) 1983: The invention oftradition, Cambridge.

17 Green, Abigai/ 200 I: Fatherlands: state-building. and nationhood in nineteenth-century Germany, Cambridge u. a.

verknüpften. Dieser Prozess der gesetlschaftlicheli

lli\e%rt.\i~li \lt'i \lt'U\~\.\\t\\ E\ID.'t\~Th'4- ten setzte sich dann vor allem nach der Jahrhunderthälfte mit den Ansätzen eines reprä- sentativen Parlamentarismus (vor allem in den süddeutschen Staaten) und regionaler politischer Parteien fort. Infolgedessen waren die so genannten Mittelstaaten zur Zeit der frühen so genannten Einigungskriege (zwischen 1864 und 1871) schon konsolidierte Staatswesen, die zudem durch die inzwischen gewachsene Loyalität zu den Herrscher- häusern gefestigt waren.

Die Nationalstaatsbildung unter preußischer Führung fand in dieser Konsolidierung der Mittelstaaten eine institutionelle Schranke. Während die italienische Einigung in einen zentralisierten Einheitsstaat nach dem Vorbild des napoleonischen Frankreich mündete, konnte die Bildung eines deutschen Einheitsstaates, wie sie zunächst noch von einem einflussreichen Autor wie Heinrich von Treitschkel8 propagiert worden war, fiir Bismarck nicht in Frage kommen.19 Die Reichsgründung war vielmehr das Ergebnis eines historischen Kompromisses: Die Verfassung fiihrte einen starken Reichs- gesetzgeber ein, der sehr schnell mit einer Reihe großer Gesetzeswerke dem ausgepräg- ten Verlangen nach Rechtseinheit Rechnung trug, aber sie beließ die Umsetzung der Reichsgesetze überwiegend bei den Einzelstaaten (seit 1919 Länder genannt). Das be- deutete dann fiir diese einen deutlichen Aufgabenzuwachs und damit auch eine erhebli- che Stärkung ihrer Verwaltungen.20 Die nationalstaatliche Integration war also durchaus kein Nullsurnmenspiel, das einseitig zu Lasten der Regionen ausgehen musste, wie die so lange gepflegte Vorstellung vom gleichsam naturgesetzlichen Unitarisierungsprozess implizierte. Hand in Hand mit der Identifikation mit dem neuen Nationalstaat kräftigte sich zudem auch die Identifikation mit der Heimatregion. 21

Man muss außerdem ein großes Fragezeichen hinter die Auffassung setzen, wie sie seinerzeit bei Konrad Hesse und andere Autoren vertreten wurde, die Individualität der Einzelstaaten und die "sachliche Differenziertheit des Gesamtkörpers" seien nicht zu- letzt deshalb bis auf geringe Restbestände untergegangen und nicht wiederherzustellen, weil die territoriale Neuordnung Deutschlands durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere die Auflösung Preußens die verbliebenen Reste von Einzel- staatlichkeit weitgehend ausgelöscht hatten. Unter anderem wurde dabei übersehen, dass es einen preußischen "Binnenföderalismus" gegeben hatte, der den Provinzialver- bänden beachtliche Gestaltungsmöglichkeiten einräumte und damit auch Anknüpfungs-

18 Treitschke, Heinrich von 1864: Bundesstaat und Einheitsstaat, in: ders.: Historische und politische Aufsätze vornehmlich zur neuesten deutschen Geschichte, Leipzig, S. 444-595.

19 Ziblatt, Daniel F. 2006: Structuring the state. The formation ofItaly and Germany and the puzzle of

federalisrn, Princeton.

20 Weichlein, Siegfried 2004: Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarekreich, Düsseldorf.

21 Applegate, Celia 1990: A nation of provincia1s: The German idea of Heimat, Berkeley CA; Confino, Alon 1997: The nation as a local metaphor: Württemberg, imperial Germany, and national memory, 1871-1918, Chapel Hili NC; Confino, Alon 2002: Federalism and the Heimat idea in imperial Ger- many, in: Umbach, Maiken (Hrsg.): German federalism: past, present and future, Basingstoke, S.70-90.

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punkte fiir regionale Identitätsbildung bot.22 Solche innerpreußischen regionalen Identi- täten überlebten in den Ländern, die 1946 aus früheren preußischen Provinzen gebildet wurden. Und dass die doppelte Identifikation mit Nation und Region über alle ge- schichtlichen Wechselfälle hinweg ein Grundmerkmal des deutschen Föderalismus geblieben ist, zeigte sich zuletzt in frappierender Weise nach dem Zusammenbruch der DDR, als schon vor der deutschen Vereinigung die Identitäten und politischen Symbole der vom SED-Regime unterdrückten Länder (und einer alten preußischen Provinz wie Brandenburg) spontan wieder auflebten. Schon deshalb blieben damals technokratische Wunschvorstellungen von einer Neugliederung Ostdeutschlands in größeren Einheiten chancenlos.

S. Politiknetzwerke in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Bundesstaates

Vor diesem Hintergrund ist leicht zu verstehen, dass auch die regionalen Politiknetz- werke zwischen Staatsverwaltung und organisierten Interessen, die sich vor der natio- nalstaatlichen Einigung ausgebildet hatten, weithin ihr Eigengewicht behielten. Als das Deutsche Reich 1871 ins Leben trat, hatten die Einzelstaaten in der vorangegangenen Phase der Staatsbildung gewissermaßen den "politischen Raum" der regionalen Ent- wicklungspolitik - sei es in der Landwirtschaft, sei es in Gewerbe und Industrie - schon besetzt. Auch das System von Wissenschaft und Bildung (Universitäten und Schulwe- sen) war damals institutionell schon so ausgebildet, dass es weitgehend eine Domäne der Einzelstaaten blieb. Dem Reich hingegen wuchsen zunächst jene Politikfelder zu, die für die wirtschaftliche Integration des Nationalstaates unerlässlich waren - so vor allem die Währungspolitik und die Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen ei- ner modernen Wettbewerbswirtschaft durch die großen Kodifikationen. Dazu aber tra- ten neue politische Aufgaben, so zuerst - mit der Wendung zum Schutzzoll - in der Außenhandelspolitik und dann mit dem Ausbau der Sozialpolitik. Hier wurde dann das Reich zum Adressaten der Verbände, und so entstand ein Mehrebenensystem der Staat- Verbände-Beziehungen. Aber im Zusammenspiel von sektoralen Problernlagen und entwicklungsgeschichtlichen Vorentscheidungen bildeten sich ganz unterschiedliche sektorale Verflechtungsmuster aus. Ich will das im Folgenden an meinen beiden Bei- spielsfällen ausfuhren: der Landwirtschaftspolitik einerseits, den Arbeitsbeziehungen andererseits.

5.1 Der Agrarsektor

Die verbandsmäßige Organisation im deutschen Agrarsektor wird in der politikwissen- schaftlichen Literatur gemeinhin als ausgeprägtes korporatistisches Organisationsmo-

22 Oberkrome. WilU 2002: Rezension zu Umbach, Maiken (Hrsg.): German federalism: past, present, and future. Basingstoke 2002, in: H-Soz-u-Kult vom 23.07.2002. <http://hsozkult.geschichte.hu- berlin.delrezensionenING-2002-075> (25.03.2008).

nopol charakterisiert.

23

Doch bei genauen:m

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föderativer Dezentralisierung. Das Netzwerk der Agrarpolitik ist ein Mehrebenensystem mit einem eigentümlichen Gleichgewicht von zentralisierten und dezentralen Struktur- elementen. Dem verdankt die deutsche Agrarpolitik, so behaupte ich, jene-Flexibilität im Management von regionaler Heterogenität, die sich am Fall der deutschen Vereini-

gung beobachten ließ. . .

Die deutsche Landwirtschaft hat sich von jeher durch große reglOnale Unterschiede der Agrarverfassung, der Besitzstruktur und der naturräurnlichen Produktionsbedingun- gen ausgezeichnet, und daher hatten es die regionalen Politiknetzwerke mit sehr unter- schiedlichen Problemlagen zu tun. Die sprichwörtlich gewordenen ostelbischen Groß- agrarier hier, die kleinen und mittleren Bauern im deutschen Süden und Westen dort hatten ganz unterschiedliche Interessenlagen. Das fand dann in der Verbandsentwick- lung seinen Niederschlag.

In den Anfangen der verbandsmäßigen Organisation des Agrarsektors spielte der Staat - vor allem der sich rationalisierende bürokratische Verwaltungsstaat der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine wichtige Rolle. Zu einer Zeit, als die Landwirtschaft noch einen überragenden Beitrag zum Sozialprodukt leistete, sah die Reformbürokratie der neuen deutschen Staaten in der Traditionsgebundenheit und im geringen Bildungs- niveau der bäuerlichen Bevölkerung ein schwerwiegendes Entwicklungshindernis. Dem suchte sie unter anderem auch durch die Gründung landwirtschaftlicher Vereine abzu- helfen die als Modernisierungsagenturen fungierten. Die Anfange eines landwirtschaft- lichen' Vereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprangen somit der Initiative einer entwicklungspolitisch ausgerichteten Verwaltung auf subnationaler Ebe- ne.24 Ein besonders bezeichnendes Beispiel ist der Weinbau, der sich immer durch enge Verflechtungen zwischen der Organisation der Produzenten und der Staatsverwaltung ausgezeichnet hat.25 In einer zweiten Phase trat dann neben die. Landwirtschaftsvereine, die weiterhin unter staatlichem Patronat arbeiteten, ein bäuerlIches Veremswesen, ge- tragen von Honoratioren. Auch die Bauernvereine (unter de~en die katho~ischen Bau- ernvereine eine zunehmend wichtige Rolle spielten) hatten emen stark regIOnalen Cha- rakter· in Preußen waren sie zum Beispiel auf Provinzebene organisiert.26 Die Interes- senve~etung der Landwirtschaft war somit deutlich regionalisiert, und ihre Ansprech- partner waren vornehmlich die Einzelstaaten.

23 Beispielsweise bei Heinze. Ralf G. 1992: Verbandspolitik zwischen partikularinteressen und Ge- meinwohl: Der Deutsche Bauemverband, Gütersloh.

24 Pruns. Herbert 1979: Staat und Agrarwirtschaft 1800-1865: Subjekte und Mittel der Agrarverfas- sung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus, Hamburg, S. 52-67 und:S. 141-166.. .

25 Wehling. Hans-Georg 1971: Die politische Willens bildung auf dem Gebiet der WelJlwmschatl-

dargestellt am Beispiel der Weingesetzgebung, GÖppingen. . .

26 Buchenberger. Adolf 1893: Agrarwesen und Agrarpolitik, Bd.2, LeipZig, S.494; Ullmann. Ha~s­

Peter 1988: Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt a. M.; Pyta. Wolfram 1991: landWirt- schaftliche Interessenpolitik im deutschen Kaiserreich: der Einfluß agrarischer Interessen auf die Neuordnung der Finanz-und Wirtschaftspolitik am Ende der 1870er Jahre am Beispiel von Rhem- land und Westfalen, Stuttgart.

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Das Bild begann sich zu ändern, als die Landwirtschaft - allen voran der Getreide- bau - zunehmend unter den Druck ausländischer Konkurrenz geriet und seit den späten 1870er Jahren staatlichen Schutz zu fordern begann. Das Instrument dafur sollte die Zollpolitik sein, fur die nun das Reich der zuständige Adressat war. Damit wurde der Nationalstaat zur Arena der Agrarpolitik, und mit dem Bund der Landwirte (BdL) ent- stand nun eine starke und aggressive pressure group, die es verstand, eine zentralisierte reichsweite Organisation aufzubauen. 27 Sie hatte zwar ihren Schwerpunkt im ostdeut- schen Großgrundbesitz, aber sie gewann weit über Ostdeutschland hinaus Bedeutung und rivalisierte einige Jahrzehnte lang erfolgreich mit den regionalen Bauernverbänden.

Indes errang der BdL trotz seiner straff zentralisierten bürokratischen Organisation nie- mals ein unangefochtenes Repräsentationsmonopol und seine einflussreiche Position im Kräftefeld der wilhelminischen Innenpolitik ging im Ersten Weltkrieg zu Ende. Die bäuerlichen Proteste gegen die kriegswirtschaftlichen Kontrollen erodierten damals die Autorität der etablierten agrarischen Verbände, und das mündete in die Landbundbewe- gung, die ausgesprochen dezentralisiert agierte.28 Schließlich kam es nach dem Krieg in der Weimarer Republik zu einer Neuformierung in Form des Reichslandbundes (RLB).

Der führte zwar die aggressive Interessenpolitik des BdL fort, war aber nur noch ein Konglomerat von Organisationen mit regionaler Schwerpunktbildung, ohne die zentrali- sierte Führungsstruktur, die den BdL ausgezeichnet hatte. Der RLB rivalisierte seiner- seits mit den katholischen Bauernverbänden, die noch ausgeprägter regionalisiert waren.

Diese organisatorische Fragmentierung endete als Folge der Machtergreifung des Nationalsozialismus mit der "staatskorporatistischen" Gleichschaltung des Verbands- wesens. An seine Stelle trat der Reichsnährstand als hierarchisch gelenkte berufsständi- sche Einheitsorganisation mit Repräsentationsmonopol.29 Die Landwirtschaft wurde durch das Instrument der Marktordnungen dem Spiel der Marktkräfte entzogen, und der

27 Puhle. Hans-Jürgen 1967: Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhel- minischen Reich (1893-1914): ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Bei- spiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover; Puhle, Hans- Jiirgen 1971: Der Bund der Landwirte im Wilhelminischen Reich - Struktur, Ideologie und politi- sche Wirksamkeit eines Interessenverbandes in der konstitutionellen Monarchie (1893-1914), in:

Rüegg, WalteriNeuloh. 0((0 (Hrsg.): Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, Göningen, S. 145-162.

28 Flemming, Jens 1978: Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie: ländliche Gesellschaft, Ag- rarverbände und Staat 1890-1925, Bonn, S. 198-228; Moeller, Roben Gardiner 1986: German pea- sants and agrarian politics, 1914-1924: the Rhineland and Westphalia, Chapel Hili; Osmond. Jona- than 1986: A second agrarian mobilization? Peasant associations in South and West Germany, in:

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29 Ullmann, Hans-Peter 1988: Interessenverbände in Deutschland, Frankfun a. M., S. 201-210.

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ReichsnährSland entwickelte

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strument des Staates.

Das NS-Regime hinterließ damit aber politische Erbschaften (policy legacies), an die nach dem Zusammenbruch seiner Herrschaft angeknüpft wurde. Die Neuorganisation des landwirtschaftlichen Verbandswesens vollzog sich zwar von unten her - durch die neu gegründeten Landesverbände, und die knüpften vor allem an die Tradition der Christlichen Bauernvereine an. Auch der Architekt des Zusammenschlusses zum Deut- schen Bauernverband, Andreas Herrnes, hatte dort (als Generalsekretär des Dachver- bandes der Christlichen Bauernvereine) seine Laufbahn begonnen. Indes hatten die ag- rarpolitischen Akteure in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft intensive Be- kanntschaft mit dem Instrument der Marktordnungen gemacht, jener neuen policy der Einkommensstabilisierung, die auf der nationalen Ebene neben die traditionellen Tech- niken der Zollpolitik getreten war und sie an Bedeutung in den Schatten gestellt hatte.

Und zu den Erfahrungen der Nachkriegsjahre gehörte es, dass die Irnplementation sol- cher Marktlenkung durch organisatorische Konzentration begünstigt wurde, auch ohne dass es dafur einer rigiden Zentralisierung im Sinne des NS-Gleichschaltungspro- gramms bedurft hätte. Wir begegnen somit in der Nachkriegsorganisation der Landwirt- schaft einer bemerkenswerten Kombination von organisatorischer Konzentration und einer föderativen Dezentralisierung, die jene weiter bestehenden regionalen Differenzen auffängt.

Der DBV ist nämlich als Dachverband der Landesbauernverbände aufgebaut. Nicht nur gibt es keine Einzelmitgliedschaft, auch die Fachverbände sind lediglich assoziiert und haben nur beschränkte Einflussmöglichkeiten. Im Präsidium liegt das entscheiden- de Gewicht bei den Präsidenten der Landesbauernverbände.30 Der DBV -Präsident ist zwar öffentlich am sichtbarsten, aber er ist darauf angewiesen, die regionalen Verbands- interessen auszubalancieren. So lässt sich die Organisation der deutschen landwirt- schaft am besten als eine Föderation regionaler Organisationsmonopole beschreiben.

Der Bundesverband fungiert als ihre Außenvertretung gegenüber Regierung und Parla- ment und natürlich zunehmend gegenüber der EU-Kommission und im europäischen Agrardachverband CO PA (Committee ofProfessional Agricultural Organisations). Der politische Einfluss der Landesverbände beruht dabei ganz stark auf jenen netzwerkarti- gen Verflechtungen mit den Agrarverwaltungen der Länder, die sich in die Staatsbil- dungsphase des frühen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen.

Der Aktionsradius der dezentralen Einheiten war freilich im System der Marktord- nungen von vornherein begrenzt, denn die Zuständigkeit dafur war ja auf der Ebene des Bundes angesiedelt und ging später - mit der Gemeinsamen Agrarpolitik - auf die EU über. Spektakuläre Beispiele fur eine zentralisierende Regulierung - unter Mitarbeit der Verbände - lassen sich denn auch leicht fmden, von der landwirtschaftlichen Preispoli-

tik bis hin

zur

Zulassung von Saatgut. Doch bei der Implementation der Agrarpolitik der

EU und des Bundes sowie bei der Gemeinschaftsaufgabe "Agrarstrukturverbesserung"

30 Ackermann, Paul 1970: Der Deutsche Bauemverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepu- blik: die Einflußnahme des DBV auf die Entscheidung über den europäischen Getreidepreis, Tübin- gen, S. 31-35.

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sind Bund und Länder eine Verbindung eingegangen, die koordinierte Entscheidungs-

~ndung .mlt. dezentraler Implementation verbindet. Damit eröffneten sich auch Spiel- raume fiir eme autonome Agrarstrukturpolitik der Länder, bei der sich - anders als bei der Marktregulierung - heute bemerkenswerte Differenzierungen beobachten lassen.

Innerhalb dieser ?rganisationsstruktur werden dann auch die regionalspezifischen For- derungen bearbeitet, und hier war bis zur deutschen Vereinigung vor allem der Nord- Süd-Konflikt eine Quelle von Spannungen, die innerhalb der föderalen DBV-Struktur ab?eleitet wurden. In dieser Auseinandersetzung vertraten beispielsweise auf der einen Seite Landesbauernverband und Landwirtschaftsministerium von Niedersachsen, auf d~r anderen S~ite der ~ayerische Bauernverband und die bayerische Regierung jeweils d~e Int~ressen Ihrer Klientel, ohne dass diese Kontroversen jemals zu regelrechten orga- msatonschen Zerreißproben geführt hätten.

Of~ens~chtlich hat die Kombination von dezentraler Struktur und agrarpolitischem OrgarusatlOnsmonopol die institutionellen Voraussetzungen dafiir geschaffen, dass der

~.BV un~ die deutsc~e Agrarpolitik den Umgang mit interregionalen Interessengegen- satzen seit langem emgeübt haben. Das verschaffte ihnen dann im deutschen Vereini- gungsprozess eine bemerkenswerte strategische Anpassungsfähigkeit. Zum Repertoire der westdeutschen Landwirtschaftspolitik und des DBV hatte das Leitbild des bäuerli- chen Farnilienbetriebes" gehört. Nach dem Zusammenbruch der SED-Herrsch;fi wurde aber der Spitze des DBV unter ihrem Präsidenten Constantin Freiherr von Heereman und auch dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft schnell klar, dass das System der LPG vergleichsweise gefestigt war und dass sich die Restauration einer bäuerlichen Landwirtschaft ohne tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Verwerfun- gen .kaum würde durchsetzen lassen. Schon in der demokratischen Übergangsphase hat- te die frei gewählte Volkskammer ein "Landwirtschaftsanpassungsgesetz" verabschie- d~t~ und auf dessen Basis begannen die LPG sich in veränderter Rechtsform zu reorga- mSleren. Ihre Massenorganisation, die V dgB, erwies sich als erstaunlich anpassungs- und strategiefahig, und das bedeutete fiir den DBV, dass er - würde er auf die Restaura- tion der bäuerlichen Wirtschaftsweise setzen - sein Repräsentationsmonopol riskierte.

Darum nahm er die neu formierten Landesverbände der "postkommunistisch" gewende- ten VdgB als Landesverbände des DBV auf und passte sein Leitbild der veränderten Lage an, indem er die Nachfolgeeinrichtungen der LPG als "Mehrfamilienbetriebe"

definierte.

. Diese strategische Anpassung hat dem DBV naturgemäß neue und schwerwiegende mterne Spannungen beschert. Die hergebrachten Interessengegensätze zwischen den Klein- und Mittelbauern West- und Süddeutschlands und den landwirtschaftlichen Großbetrieben der nordwestdeutschen Tiefebene komplizierten sich dadurch dass es nun die ostdeutschen Riesenunternehmen gab, die mit den westdeutschen La'ndwirten um Fördermittel konkurrierten. Es ist bemerkenswert, dass sowohl das (unter wechseln- den Bezeichnungen) für die Landwirtschaft zuständige Bundesministerium als auch der DBV let:z~en En?es in Brüssel immer Widerstand gegen Änderungen in der EU- Agrarpolitik geleistet haben, die überproportional zu Lasten der ostdeutschen Betriebe hätten gehen können. Zwar hat es dazu nicht an kritischen Stimmen insbesondere aus

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den Verbänden und Ministerien von Bayern und Baden-W\\rt\em'nel'g

~:ele'rll\. J\'t>~'t auch als der Präsident des Bayerischen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, die Füh- rung des DBV übernahm, konnte er sich offensichtlich nicht der Organisationslogik eines dezentralisierten Repräsentationsmonopols verschließen, das auf Ausbalancieren regionaler Interessen angewiesen ist.

5.2 Industrieverbände und Arbeitsbeziehungen

Nehmen wir nun zum Vergleich ein anderes Fallbeispiel, nämlich die Industrieverbän- de, Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen. 31 In diesem Sektor beobachten wir ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen Föderalisierungs- und Unitarisierungs- tendenzen, doch sind die letzteren augenfälliger als bei der Landwirtschaft. Das lässt sich wiederum auf entwicklungsgeschichtliche Bedingungen zurückführen.

Die Unternehmerverbände weisen viele Analogien zur Organisation der Landwirt- schaft auf: Verbände und Kammern sind schon in der Phase der subnationalen Staats- bildung entstanden. Wie in der Landwirtschaftspolitik, so entwickelten auch in der so genannten Gewerbefdrderung diese Staaten ihr eigenes Politikrepertoire.32 In diesem Zusammenhang bildeten sich regionale Politiknetzwerke aus, die das ihre zur Festigung der subnationalen Staatsbildung beigetragen haben. Wie in der Agrarpolitik bedeutet dann der Übergang zur Schutzzollpolitik das Aufkommen einer nationalen Arena, mit Dachverbänden in einem Verhältnis der Ressourcenabhängigkeit zur Reichsverwaltung.

Aber diese partielle "Nationalisierung" des unternehmerischen Verbandswesens bedeu- tete nicht zugleich dessen Zentralisierung. Bis zum Ersten Weltkrieg rivalisierten der protektionistische Centralverband Deutscher Industrieller (CVDI) und der freihändleri- sche Bund der Industriellen (BdI) miteinander, und das spiegelte zugleich regionale Konfliktlinien wider: Der BdI war ausgesprochen dezentralisiert und hatte seinen Orga- nisationsschwerpunkt in verschiedenen Mittelstaaten wie Sachsen, während der CVDI insbesondere die Schwerindustrie in Preußen vertrat. Auch bei den Arbeitgeberverbän- den, die sich allmählich ausdifferenzierten, fand das entwicklungsgeschichtlich bedingte Spannungsverhältnis zwischen der nationalen und der subnationalen Ebene der Indust- rieverbände nun seinen Niederschlag.

Eine neue Entwicklungsphase setzte mit dem Ersten Weltkrieg ein. Als der Staat die Verbände in den Dienst der Kriegswirtschaft stellte, hatte diese intensivierte Ressourcen- abhängigkeit einen starken Konzentrationsprozess in der industriellen Interessenvermitt- lung zur Folge. Er mündete nach dem Krieg in den Zusammenschluss im Reichsverband der Deutschen Industrie (RdI), also in ein Repräsentationsmonopol, wie es im Agrarsek- tor erst das NS-Regime brachte. Aber auch bei den Unternehmerverbänden verstärkte sich diese Monopolisierungstendenz mit der nationalsozialistischen Gleichschaltung in der Reichsgruppe Industrie. Sie vollendete eine organisatorische Flurbereinigung, die dann als policy legacy im Verbandswesen der Bundesrepublik wie selbstverständlich

31 Lehmbruch, Gerhard 2003: Föderative Gesellschaft im unitarischen Bundesstaat, in: Politische Vier- teljahresschrift (PVS), Jg. 44, NT. 4, S. 545-571.

32 Die Renaissance einer IndliStriepolitik der Bundesländer, wie man sie seit den 1980er Jahren beo- bachten konnte, weist auf diese frühe Ausbildung einer Industriepolitik zurück.

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weitergeführt wurde. Wiederum bedeutet aber Repräsentationsmonopol nicht Zentralisie- rung, zumal sich bei den industriellen Branchenverbänden in unterschiedlichem Maße auch die überkommene regionale Dezentralisierung wieder einstellte.

Für die Entwicklung des Systems der Arbeitsbeziehungen wurde nun der Umstand folgenreich, dass die Beziehungen der Gewerkschaften zum Staat sich nicht parallel zu denen der Unternehmerverbände entwickelten. Während letztere schon in der subnatio- nalen Staatsbildungsphase ein Verhältnis der wechselseitigen Ressourcenabhängigkeit mit den Verwaltungen der Einzelstaaten ausbildeten, galt das nicht rur die Gewerkschaf- ten. Sie waren vielmehr auch nach der Aufhebung des Koalitionsverbots und selbst nach dem Ende des Sozialistengesetzes vielfältigen Repressionen und Schikanen vor allem seitens der Polizeiverwaltungen ausgesetzt, und eine Bindung an die monarchisch re- gierten Einzelstaaten konnte sich nicht ausbilden. Die Institutionalisierung der Arbeits- beziehungen und die Integration der Gewerkschaften erfolgten erst im Ersten Weltkrieg mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916. Damals drängte die Oberste Heeresleitung die Un- ternehrnerverbände zur Anerkennung der Gewerkschaften, weil sie deren Kooperation bei den Dienstverpflichtungen rur die Rüstungsindustrie erkaufen wollte. Die Institutio- nalisierung der Arbeitsbeziehungen bedeutete also zugleich deren "Nationalisierung", und fiir die Gewerkschaften wurde nun mehr denn je der Nationalstaat zum politischen Handlungsraum. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich diese Tendenz beschleunigt fort; man braucht hier nur an die reichseinheitliche Einfiihrung des Achtstundentages durch die Arbeitszeitverordnung von 1918 zu erinnern.

Die Ursprünge der heutigen koordinierten Tarifpolitik lassen sich bis in die Weima- rer Republik zurückverfolgen. Im System der staatlichen Schlichtung war insbesondere das Reichsarbeitsministerium an einer "gleichmäßigen Lohnpolitik" interessiert. 1933 wurde dann bekanntlich das System von freien Kollektivverhandlungen zerschlagen. An die Stelle der freien Gewerkschaften trat die Deutsche Arbeitsfront als zentralisierte Zwangsorganisation von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen geschah fortan autoritär durch den Reichstreuhänder der Arbeit und die zentralisierenden Tendenzen der Vergangenheit setzten sich fort. Zwar hatte das Regime sich mit dem ehrgeizigen Ziel einer einheitlichen Reichslohnordnung über- nommen, aber rur die Metallindustrie und die Bauwirtschaft wurden noch während des Zweiten Weltkriegs einheitliche Reichstarifordnungen eingefiihrt. Am weitesten ging die Zentralisierung indes im öffentlichen Dienst, mit der Allgemeinen Tarifordnung fiir Gefolgschaftsmitglieder im öffentlichen Dienst.

Es ist bezeichnend, dass viel von dieser unitarisierenden Tarifpolitik als policy lega- cy aus dem NS-Regime in die Nachkriegszeit übernommen wurde. Gewerkschaftsfiihrer wie Hans Böckler und Fritz Tarnow hätten am liebsten die Deutsche Arbeitsfront in demokratisierter Form als zentralisierte Monopolorganisation weitergeruhrt. Damit scheiterten sie zwar am Veto der Besatzungsmacht, doch die Tarifordnungen aus der NS-Zeit blieben zunächst weiter in Geltung, bis sie von frei ausgehandelten Tarifverträ- gen abgelöst wurden, und diese orientierten sich nun an dem Geltungsbereich der bishe- rigen Tarifordnungen. Der Flächentarifvertrag steht also in einer bemerkenswerten Kon- tinuität. Und man geht sicher nicht fehl, wenn man das mit der gemäßigten Rekonstitu-

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ierung des Repräsentationsmonopols in Zusammenhang bringt, "W1e s1e mit oer Grün- dung des DGB als "Einheitsgewerkschaft" (an Stelle der früheren Richtungsgewerk- schaften) erfolgte.

Wieder begegnen wir also deutlichen Parallelen, doch im Bereich der Arbeitsbezie- hungen sieht das Bild komplexer aus als bei den anderen bisher untersuchten Sektoren.

Zwar haben sich auch hier spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg Repräsentationsmo- nopole durchgesetzt. Aber man kann nicht generell von gleichzeitiger Dezentralisierung sprechen. Vielmehr begegnen wir hier einem deutlich höheren Grad an organisatori- scher Zentralisierung, insbesondere bei den Industriegewerkschaften, während auf der Arbeitgeberseite die Dezentralisierung (zumal in der Metallindustrie) zeitweise recht effektiv durch Koordinierung überbrückt wurde.

Daraus resultierte ein ausgeprägter Unitarisierungstrend, der seinen Höhepunkt im deutschen Vereinigungs prozess erlebte. Seine Überspannung fiihrte dann zu einer Krise, insbesondere im Metallsektor, aber zuletzt auch im öffentlichen Sektor, der sich lange Zeit durch die rigideste Form der Unitarisierung der Arbeitsbeziehungen ausgezeichnet hatte.

6. Verbände als Mehrebenensysteme und die föderative Koordinierung

Die untersuchten Beispiele lassen sich nicht einfach auf den Gegensatz von Dezentralisie- rung und Zentralisierung reduzieren. Vielmehr haben wir es hier mit Mehrebenenstruktu- ren zu tun, bei denen das Management von Heterogenität unterschiedlich gehandhabt wird und die Anpassungse1astizität unterschiedlich stark entwickelt ist. Was Katzenstein als gesellschaftliche ,,zentralisierung" beschrieb und dem "dezentralisierten Staat" ge- genüberstellte, ist bei genauerem Hinsehen oft ein hoch entwickeltes System föderativer Koordinierung, und das ähnelt durchaus den Mechanismen der ,,horizontalen Koordinie- rung" zwischen Bundesländern. Selbst die Politik des Flächentarifvertrages in den Ar- beitsbeziehungen, die ihre unitarisierenden Ziele jahrzehntelang mit beträchtlichem Erfolg zu erreichen wusste, kam nicht ohne komplexe Koordinierungspraktiken aus.

Man kann zum einen wie zum anderen Beispielsfall bemerkenswerte Parallelen fin- den. Noch ausgeprägter als beim Bauernverband sind die dezentralen Autonomien bei den großen Kirchen entwickelt, deren regionale Einheiten (evangelische Landeskirchen und katholische Diözesen) mit ihren Grenzziehungen noch heute ihre Entstehung in der Zeit nach dem Wiener Kongress von 1815 widerspiegeln. Das gilt nicht nur fiir die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), ein den Institutionen der Bundesrepublik nachgebildeter föderativer Zusammenschluss von Landeskirchen. Auch der deutsche Katholizismus ist ein stark dezentralisiertes Mehrebenensystem mit ausgeprägter Auto-

nomie der Diözesen, deren Bischofskonferenz sich notorisch schwer tut mit der inner-

kirchlichen Koordination. Besonders kompliziert ist der Fall der Wohlfahrtsverbände, deren eigentümliche Entwicklungsgeschichte eine eigene Untersuchung in der hier skiz- zierten Forschungsperspektive wert wäre.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es zu kurz greift, wenn man den deutschen Föde- ralismus lediglich als ein spezifisches Bauprinzip von Staatlichkeit verstehen will. Die

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Entwicklungsgeschichte des Bundesstaates hat in der Organisation der Gesellschaft und ihrer Austauschprozesse mit dem Staat tiefe Spuren hinterlassen. Die Prozesse der Nati- onalisierung gesellschaftlicher Sektoren seit der Gründung des Deutschen Reiches ha- ben sich durch unterschiedliche Entwicklungssequenzen ausgezeichnet, und sie haben ältere, subnationale Politiknetzwerke und Organisationseinheiten nur partiell und in unterschiedlichem Ausmaß überlagert. Daraus haben sich sehr.früh sehr verschiedenar- tige Mehrebenenarrangements ergeben. Einige haben sich in neuerer Zeit unter starkem Unitarisierungsdruck zu Netzwerken der "Politikverflechtung" weitergebildet. Dass sich deren heute geläufig gewordenen dysfunktionalen Effekte33 durch umfassende Ent- flechtungsstrategien beheben lassen, kann ernsthaft nicht erwartet werden. Die Organi- sation des deutschen Bundesstaates wird vielfältiger Kopplungen zwischen den Ebenen auch in Zukunft nicht entbehren können und wenn die Frage gestellt wird, inwieweit im Rahmen von Dezentralisierungsstrategien enge durch lose Kopplung ersetzt werden kann, wird man das immer wieder auch auf die Netzwerke beziehen müssen, die Staat und Gesellschaft verknüpfen.und in denen gesellschaftliche Großorganisationen zentrale Akteure sind.

33 Scharpj Fritz W./Reisser/, BerndiSchnabel, Fritz 1976: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts.; Scharpj Fritz W. 1985: Die Polirikverflechtungs·Falle: Europäische Integration und deurscher Föderalismus im Vergleich, in:

Politische Vierreljahresschrift (PVS), Jg. 26, Nr. 4, S. 323-356.

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