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Ein didaktisches Konzept für den Anfangsunterricht Deutsch als Fremdsprache

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Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19 (1993), 373-389

Forum

Literatur für Lerner

Ein didaktisches Konzept für den Anfangsunterricht Deutsch als Fremdsprache

Volker Eismann, Paris / Maria Thurmair, München

Literatur für Anfänger: nicht Literaturunterricht i m fremdsprachlichen Kontext soll damit gemeint sein, sondern Unterricht mit Literatur - v o n A n f a n g an. Im einzelnen geht es u m folgende Fragen: Welchen Platz könn- te oder sollte der literarische Text am Beginn u n d i m gesamten A b l a u f des Fremdsprachenerwerbs einnehmen? Welchen Stellenwert k a n n der literarische Text i m didaktischen Konzept v o n Lehrwerken haben? I m folgenden werden w i r dabei zunächst Stellenwert u n d Funktion der Lehr- werktexte i m didaktischen Konzept herkömmlicher Lehrwerke betrachten, u m d a n n ein neues Konzept vorzustellen.

1. Stellenwert und Funktion der Texte in herkömmlichen didaktischen Konzepten

Lehrwerktexte (gemeint sind damit vor allem die didaktischen Basistexte einer Lektion) haben mit literarischen Texten w o h l nur eines gemeinsam:

beide sind fiktionale Texte. Lehrbuchtexte sind, w o es sich nicht u m au- thentische Texte handelt, fiktional insofern, als sie eine zielsprachliche Wirklichkeit fingieren, auf die Lernende sich einlassen sollen oder müssen.

Aber natürlich sind die Lehrbuchtexte deshalb noch lange keine Jiterari- schen Texte - u n d sie erheben diesen A n s p r u c h auch nicht. Abgesehen v o n der beiden gemeinsamen Fiktionalität scheinen Lehrwerktexte u n d literarische Texte i n deutlichem Widerspruch zueinander z u stehen, u n d nirgendwo scheint dieser Widerspruch größer z u sein als i m Anfängerun- terricht (vgl. d a z u H u n f e l d 1990b).

In den Lehrwerken treten als Textvorkommen vor allem Dialage auf (in Form von Hör- u n d Lesetexten), seltener andere Textsorten w i e Be-

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Schreibungen, Briefe. A l l e n diesen Texten ist eines gemeinsam: ihr Ziel besteht nicht i m ästhetischen Genuß oder i n einer Rezeption, w i e sie lite- rarischen Texten angemessen ist, die - so Krusche - stark vorstellungsbil- dend u n d damit auch erfahrungsbildend sind, sondern i n der Vermittlung u n d Darstellung v o n Lernstoff, vor allem v o n Grammatik u n d Wortschatz, daneben auch Redemitteln. U m die Gründe dafür z u skizzieren, muß m a n weiter ausholen: A l s Lernziel des Sprachunterrichts w i r d - auf jeden Fall seit der k o m m u n i k a t i v e n Wende - der Erwerb der Handlungsfähigkeit i n der Zielsprache oder genauer: i n der zielsprachlichen Realität gesehen.

Beim Erwerb dieser Handlungsfähigkeit spielt für den k o m m u n i k a t i v e n Fremdsprachenunterricht die E n t w i c k l u n g der Sprechfertigkeit (getreu d e m Motto: „Sprachen erlernt man d u r c h Sprechen"), verbunden mit ver- stehendem Hören, eine zentrale Rolle. Lese- u n d vor allem Schreibfertig- keit haben meist eine untergeordnete, w e n n auch keinesfalls unbedeuten- de Funktion.

Literarische Texte tauchen i m Anfängerunterricht k a u m auf. Für ihren Einsatz ist v o n verschiedenen Seiten immer wieder plädiert w o r d e n (vgl. \ etwa Krusche 1985,1987, H u n f e l d 1990b oder Weinrich 1985b). D i e Gründe j dafür, der Literatur i m Anfängerunterricht aus d e m W e g z u gehen, sind vielfältiger N a t u r ; die z w e i zentralen Argumente (die übrigens beide den mit Literatur oft verbundenen hohen A n s p r u c h implizieren) sind: Litera- tur ist für den Anfangsunterricht z u kostbar' oder umgekehrt ,Literatur ist z u anspruchsvoll, m a n muß die Lerner davor schützen' (vgl. d a z u Krusche 1987,7). W e n n literarische Texte überhaupt i m Anfängerunterricht i eingesetzt werden, d a n n tauchen sie allenfalls als A u f l o c k e r u n g oder z u r ! A b w e c h s l u n g auf; u n d z w a r als zusätzliche Lesetexte, nicht als Lerntexte.

Eine spezifische didaktische F u n k t i o n k o m m t den literarischen Texten i n den allermeisten Fällen nicht z u . Das liegt an einer klaren Rollentrennung:

der Lehrbuchtext als Sprachlerntext spricht (ausschließlich) den Lerner an, der eingestreute literarische Text spricht (ausschließlich) den Leser an.1

W i r möchten jetzt nicht d e m literarischen Text einen würdig(er)en Platz zwischen den Dialogen, Realien u n d Zeitungsartikeln erstreiten (das ist an vielen Stellen schon geschehen), sondern möchten umgekehrt die text-

1 Ein veränderter Umgang mit den Lehrbuchtexten könnte einen Ausweg dar- stellen, allerdings bieten diese Texte im allgemeinen dafür kaum Ansatzpunkte:

sie sind - um mit Krusche zu sprechen - wenig vorstellungs- und erfahrungs- bildend.

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typologischen M e r k m a l e der Lehrwerktexte u n d den i m didaktischen K o n z e p t angelegten U m g a n g mit ihnen kritisch betrachten. Dabei w i r d sich a u c h die Frage stellen, inwieweit eine Verbindung der Rolle des Ler- ners u n d der des Lesers bereits i m Anfangsunterricht möglich u n d wün- schenswert ist. (Unter „Lehrwerktexten" verstehen w i r hier ausdrücklich nicht die zusätzlichen Lese- oder Hörtexte, die i n jedem Lehrwerk einen mehr oder weniger großen Platz einnehmen, sondern die Kerntexte der L e k t i o n , i n denen der neue Lernstoff vermittelt werden soll, d. h. die Texte, mit denen der Lerner i m Normalfall eine neue Lektion beginnt.)

Schematisch könnte m a n das didaktische Konzept des k o m m u n i k a t i v e n Ansatzes etwa so darstellen: Der Lektionstext besteht aus einem oder meh- reren kleinen Texten oder K u r z d i a l o g e n u n d möglicherweise zusätzlich einem Angebot v o n Redemitteln. D e r semantische Klärungsprozeß w i r d gestützt oder „vorentlastet" d u r c h die Illustrationen. Sie sind Träger der unabdingbaren Situationsvorgaben u n d / o d e r Semantisierungshilfe für einzelne Redemittel. Die sorgfältige Dosierung des neuen Sprachmaterials i m H i n b l i c k auf die sprachlichen Vorkenntnisse - sie schafft weiche Über- gänge (vgl. Weinrich 1985b, 247) - ermöglicht z u s a m m e n mit d e m Welt- wissen über die wahrscheinlichen Mitteilungsabsichten i n den skizzierten Alltagssituationen u n d d e n Lehrererklärungen die Texterschließung. Die- sem Klärungsprozeß folgt eine Phase der A n e i g n u n g der Redemittel u n d ihr zunächst reproduktiver u n d d a n n produktiver Einsatz i n A n w e n - dungs- u n d Übertragungssituationen, d . h. die P r o d u k t i o n v o n „Lerner- texten". Diese Lernertexte sind oft unabhängig voneinander, also nicht kohärent, u n d mit d e m Lektionstext n u r insoweit inhaltlich verbunden, daß sie den Gebrauch der sprachlichen Formen u n d Strukturen aus d e m Lektionstext erlauben.

Die d u r c h die Lehrwerke intendierte didaktische Kreativität zielt meist darauf ab, den semantischen Klärungsprozeß so eindeutig, so schnell u n d effizient w i e möglich, die produktive Phase dagegen so vielseitig, ab- wechslungsreich u n d motivierend w i e möglich z u gestalten. H i e r liegt in der Kürze die Würze - dort soll das Vergnügen dauern. Die unbestreit- baren u n d unbestrittenen Verdienste dieses didaktischen Konzeptes liegen vor allem i m Bereich der Sprechfertigkeit sowie i n der E r m u t i g u n g zur aktiven u n d produktiv-kreativen A n e i g n u n g eines neuen K o m m u n i k a - tionsmittels.

Kritisch betrachten muß man das, was i n der ersten Phase nach E i n - führung des Lektionstextes, also bei der ,Texterarbeitung/-klärung' ge-

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schieht oder besser: nicht geschieht. Die gemeinsame Charakteristik aller hier auftauchenden Textsorten ist ihre instrumenteile Zielsetzung: es sind Texte ohne eigene Mitteilungsabsicht, sie sind für (Lerner als) Lerner be- stimmt u n d nicht für (Lerner als) Leser oder Zuhörer. Außerhalb der je- weiligen Lern-Situation gibt es keinen Textadressaten u n d gäbe es auch keinen Anlaß, sich mit ihnen z u befassen. Sie sind - besonders i m Anfän- gerunterricht - auf das Einfachste reduziert. Z u m einen hinsichtlich des Sprachmaterials: die schon erwähnten weichen Übergänge v o n Lektion z u Lektion schaffen einen Schonraum, aus d e m herauszutreten dann u m so problematischer ist. D i e Lektionstexte führen z u m anderen immer auch in die fremdsprachliche Welt ein u n d legen durch die Selektion u n d Prä- sentation der jeweiligen Inhalte die Annäherung an diese Welt fest. U n d auch diese Ausschnitte der fremden Wirklichkeit unterliegen d e m Z w a n g zur Vereinfachung.3 D i e einzige Funktion der Lehrwerktexte besteht viel- fach darin, das Sprachmaterial anzubieten, das der Lerner aufnehmen u n d i m wesentlichen mündlich aktiv bzw. kreativ anwenden oder umsetzen soll.

Der Lerner begegnet diesen Texten mit den A u g e n u n d Ohren, die dieser Zielsetzung angemessen sind, d. h . mit den d e m Ziel entsprechen- den Fragestellungen: Was verstehe ich, was verstehe ich nicht? U n d i m H i n b l i c k auf den Gebrauchswert: Was k a n n ich benutzen u n d wie muß ich es benutzen? U n d je schneller u n d eindeutiger diese Lücke zwischen Verstandenem u n d noch nicht Verstandenem geschlossen werden kann, je schneller u n d effizienter das angebotene Sprachmaterial z u m Bestandteil

2 In diesem Zusammenhang spricht Weinrich (1985b, 247) vom „Literatur- schock", der bei modernen Texten „fast unausweichlich eintritt, wenn der Fremdsprachenschüler aus dem Schonraum der grammatischen Lektionen her- austritt und nun ungeschützt dem Ausdrucksreichtum der Literatursprache ausgesetzt wird". Ähnlich weist Hunfeld (1990a, 16) darauf hin, daß es eine Funktion der literarischen Texte sein kann, zu zeigen, daß die gerade im A n - fängerunterricht notwendigen Vereinfachungen, die Reduktion auf das Lehr- bare nicht die ganze fremdsprachliche Sprachwelt sind.

3 Hier zeigt sich das grundsätzliche Dilemma der Lehrbuchtexte: „Während sie im simulierten Dialog auf die authentische Fremdwirklichkeit vorbereiten wol- len, legen sie diese auf eine einsträngige Weise durch den zugleich ungenauen wie typisierten Ausschnitt so fest, daß die versuchte Antizipation von Wirk- lichkeit diese selbst eigentlich ausschließt" (Hunfeld 1990b, 24). Z u den Pro- blemen einer solchermaßen vereinfachten und zurechtgestutzten Landeskun- devermittlung v g l auch Hunfeld (1990d, 670.

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der eigenen sprachlichen Fertigkeiten w i r d , desto besser u n d didaktisch verdienstvoller ist oder erscheint das Lehrwerk. A m Ende dieses A n e i g - nungsprozesses bleibt sozusagen eine leere Text-Hülse, die ihr Bestes u n d meist Einziges gegeben hat.

Was ist daran auszusetzen? Betrachten w i r diese Texte aus der Lerner- Perspektive:

D i e Sparsamkeit u n d der notwendig stereotype Charakter der Kontext- informationen u n d Mitteilungsinhalte bergen die Gefahr, daß der Text z u einer A r t Supermarkt für die Sprachlerner w i r d , die sich hier ihre neuen Redemittel h o l e n .4 Der Lern er begegnet so der für i h n neuen Sprache nicht mit einer inhaltsbezogenen E r w a r t u n g , ob sie i h m etwas, u n d w e n n ja, was sie i h m z u sagen habe, sondern als jemand, der sich ihrer schnellst- möglich bemächtigen soll, u m selbst etwas z u sagen. Fraglich ist dabei, ob es d e m Erlernen u n d d e m Verständnis der fremden Sprache auf lange Sicht dienlich ist, w e n n sie so eilig, ohne genauer betastet oder untersucht w o r d e n z u sein, z u m eigenen Gebrauch übernommen w i r d . Viele Texte in L e h r w e r k e n sind langweilig, weil es z u schnell gehen soll. U m das i m Fremdsprachenunterricht zwangsläufig verzögerte Verstehen z u überwin- den oder z u beschleunigen, werden möglichst einfache, kurze, Alltagssi- tuationen betreffende Texte angeboten. Das Lernziel besteht i n einem schnellen, eindeutigen Dechiffrieren der neuen lexikalischen Einheiten, d e m Erwerb v o n Redemitteln z u r Realisierung v o n Sprechintentionen u n d d e m Kennenlernen u n d Einüben neuer grammatischer Phänomene. A u f die darin evidente Problematik weist unter anderem Weinrich (1985b, 251) hin:

„Wie soll man nun unter diesen Bedingungen den psychischen Zustand eines Sprachschülers beschreiben, der durch die Begrenzungen seiner noch unent- wickelten Interimskompetenz dahin gebracht wird, daß er bei den fremdsprach- lichen Texten, die ihm sein Lehrwerk anbietet, lange verweilen muß, ohne daß diese Texte in ihrem formalen Anspruch ein solches Verweilen wert sind und entsprechend belohnen?"

Der U m g a n g mit komplexeren, mit literarischen Texten läßt sich jedoch auch i m Anfangsunterricht durch die stärkere Vermittlung v o n Texter- schließungsstrategien u n d Interpretationsstrategien ermöglichen u n d för- dern, was ja ebenfalls dem verzögerten Verstehen entgegenwirken kann.

4 Butzkamm (1985, 117) spricht hier von einem Vorratslernen, das erst für den späteren Gebrauch bestimmt ist.

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Z u m anderen kann die verminderte Rezeptionsgeschwindigkeit auch als Chance begriffen werden, i n d e m d e m Lerner (literarische) Texte angeboten werden, bei denen sich langsames oder sehr langsames Lesen u n d längeres Verweilen lohnen (vgl. Weinrich 1981).

Die Zielsprache w i r d eher w a h r g e n o m m e n als Mittel, Dinge, Sachver- halte, H a n d l u n g e n , Geschehen z u bezeichnen, als Träger v o n Informatio- nen, d. h. vor allem i n ihrem deskriptiven, denotativen Aspekt, aber nicht so sehr als Träger v o n Konnotationen, v o n komplexen Bezügen u n d E m o - tionen, als Anlaß für A u s d e u t u n g u n d Spekulation. Dabei sind diese ver- schiedenen Aspekte d e m Lerner ja nicht neu: aus seiner Muttersprache weiß er, was i m M e d i u m Sprache alles möglich ist.

„Wir haben, wenn wir eine Fremdsprache zu lernen beginnen, in unserer Mut- tersprache längst alle möglichen Bewegungen auszuführen gelernt: das Krab- j beln, das Aufstehen, das Gehen, das Rennen, das Spielen und Tanzen. All das i erwarten wir uns nun auch von der Fremdsprache. Es erscheint mir wichtig, j daß der Lernende das Angebot erhält, auch in der Fremdsprache so bald wie j möglich die spielerischen Bewegungsformen z u erproben." (Krusche 1987, 8) j

i

Das Bild der zielsprachlichen Welt, das über diese Texte aufgebaut w i r d , [ stellt sich als eine A r t P u z z l e v o n relativ banalen Alltagssituationen u n d Sachinformationen dar.

Die durch den M a n g e l an Kontextinformationen notwendige A u s w a h l an prototypischen oder stereotypen Kommunikationssituationen u n d M i t - teilungsinhalten verurteilt den Fremdsprachenlerner z u einer A r t sozialer u n d intellektueller Regression: über viele Stunden h i n w e g w i r d ein A n - fänger, gleich welchen Alters, z u einer A r t Überlebenstraining verurteilt sein u n d sich mit Kennenlernen, Einkaufen, Autoreparaturen, Wohnungs- einrichtungen u n d Restaurantbesuchen beschäftigen müssen.

Das alles ist kein V o r w u r f an Lehrwerkautoren: solange sich der Lehr- werksinput an d e m intendierten produktiven, i m wesentlichen mündli- chen Output der Lerner orientiert, bleibt die mögliche Mitteilungsrelevanz v o n Äußerungen u n d Texten an die langsame, mühsame Progression die- ser produktiven Fertigkeit gebunden - i m besten Falle durch Literatur ab u n d z u aufgelockert.

Das schwerwiegendere Problem bei den bisherigen Konzeptionen scheint jedoch i m Verständnis des Lernzieles selbst z u liegen: Wenn m a n die Handlungsfähigkeit i n der Sprache nicht vornehmlich mit Sprechfer- tigkeit gleichsetzt, sondern darunter eine effektive Handlungsfähigkeit in der außerschulischen, außer-unterrichtlichen, zielsprachlichen W i r k l i c h -

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keit versteht, entdeckt m a n schnell, daß möglicherweise falsche Prioritäten gesetzt w u r d e n . Die Hauptschwierigkeit, mit der der ,Ex-'Lerner i n der zielsprachlichen Wirklichkeit konfrontiert sein w i r d , ist nicht die, sich ver- ständlich z u machen - hier kann er oft, w e n n auch nicht immer, auf w o h l w o l l e n d e Hilfe, interpretierendes Zuhören u n d G e d u l d seiner Ge- sprächspartner rechnen. A l s Hauptschwierigkeit w i r d sich das Verständ- nis, die D e u t u n g u n d Interpretation dessen, was v o n der anderen Seite k o m m t , erweisen.

Lehrbuch- u n d Unterrichtskontext nähren die Illusion,

- daß eine einfach formulierte Frage eine ebenso einfach formulierte A n t - wort auslöst;

- daß sich die zielsprachliche U m w e l t einstimmt auf das N i v e a u des Nicht-Muttersprachlers;

- daß Informationen u n d Bedeutungen so sauber u n d sozusagen ge- brauchsfertig verpackt auftreten wie i m Lehrwerk;

- daß Mißverständnisse gar nicht v o r k o m m e n oder w e n n , d a n n auf die noch nicht perfekte Sprachkompetenz des Fremdsprachenlerners z u - rückzuführen sind.

Gleich welches N i v e a u ein Lerner i m Unterricht erreicht hat: die Texte, denen er i n der Zielsprache dann w i r k l i c h begegnet, werden noch lange, w e n n nicht immer, sein K o m p e t e n z - N i v e a u u m ein Vielfaches überfor- dern. Die w i r k l i c h entscheidende Frage ist, ob der Lerner gelernt hat, mit dieser Kompetenzlücke umzugehen; ob er gelernt hat, Texte auszuhor- chen, auszudeuten, z u knacken; ob er gelernt hat, sich den Weg z u m Verständnis z u erfragen, Bedeutungen auszuhandeln; ob er (auch) eine hermeneutische Kompetenz entwickelt hat; kurz, ob er gelernt hat, i n der Sprache weiterzulernen.

Die Fähigkeit, die hier gefordert w i r d , w i r d m i t der auf schnelle Klä- rung angelegten Textdarbietung u n d d e m fast gleichzeitigen Vorantrei- ben der p r o d u k t i v e n wie der rezeptiven Fertigkeit nicht gefördert. Die Sprachlosigkeit u n d das oft lange Verstummen vieler Sprachlerner, die mit der zielsprachlichen Wirklichkeit konfrontiert werden, gründet sich w o h l nicht so sehr auf ihre Unfähigkeit z u sprechen, sich z u äußern, sondern auf ihre A n g s t vor der A n t w o r t , auf die entmutigende Erfah- rung, mit ihren Sprechversuchen eine A n t w o r t l a w i n e auszulösen, die sie meistens überrollt.

Versucht m a n , diese kritischen Betrachtungen i n ein didaktisches K o n - zept umzusetzen, so müßte i m Z e n t r u m der Lektionen etwas geschehen:

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Es müßten bereits als Kerntexte der Lektionen Hör- oder Lesetexte ange- boten werden,

- die den Lerner als Leser /Zuhörer ansprechen;

- die diesem Leser/Zuhörer ein Identifikationsangebot machen;0 - an denen er etwas erfahren, entdecken u n d w e n n möglich sogar genie-

ßen kann;

- i n denen sprachliche Äußerungen so kontextualisiert werden, daß Be- deutungen, Bezüge, Konnotationen u n d Implikationen erkennbar u n d deutbar werden;

- die als inhaltlich relevante Hör- oder Lesetexte z u m Erzählen u n d freien bzw. kreativen Schreiben anregen;

- die sich i n ihrem sprachlichen Angebot - hinsichtlich der Quantität u n d der Qualität - nicht n u r an der intendierten (Re-)Produktionsfertigkeit des Lerners orientieren, sondern auch stärker a m Lernziel einer rezep- tiven Fertigkeit, i n d e m sie die Entschlüsselung, d e n Z u g a n g z u m Ver- ständnis, das A u s h a n d e l n v o n Bedeutungen z u m Gegenstand der K o m - munikation i m Unterricht machen, u m so Techniken u n d Verhalten z u vermitteln, die es später erlauben, m i t der Verständnislücke kreativ u m - zugehen;

- die so auch eine rezeptive interpretative Kompetenz entwickeln helfen, ohne dabei die Fertigkeiten z u vernachlässigen, die i m k o m m u n i k a t i v e n Ansatz an erster Stelle stehen: Hör- u n d Sprechfertigkeit, d . h . die Fer- tigkeit, inhalts- u n d mitteilungsbezogene Äußerungen z u verstehen u n d z u formulieren.

Es ist natürlich unschwer z u erkennen, w o h i n diese Kritik einerseits u n d die Forderungen andererseits führen: z u m literarischen Text.

2. Zur Funktion des literarischen Textes im Fremdsprachenerwerb Die Forderung nach einem didaktischen Konzept, bei d e m der literarische Text die zentrale Rolle spielt, ist n u n keine abstrakte Forderung, sondern reales Projekt: I m folgenden wollen w i r nicht n u r allgemein über die Mög- lichkeiten eines neuen didaktischen Ansatzes, sondern ganz konkret über das didaktische Konzept eines (Anfänger-)Lehrwerkes berichten, das i m

5 Vgl. dazu schon die Forderung bei Leontev (1974, 52): „Der Lehrtext muß im Optimalfall wie ein literarischer Text gebaut sein, der (je nach seinem Niveau) die ,Übertragung/ des Lesers auf den Helden gewährleistet".

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Entstehen ist u n d dessen erster Band i m Laufe des Jahres 1993 erscheinen w i r d .6

Lehrwerkautoren sind i m allgemeinen keine Schriftsteller, u n d v o n den existierenden literarischen Texten (Erzählungen oder Romanen) würde sich w o h l keiner für ein solches didaktisches Konzept, noch dazu auf Anfänger-Niveau, eignen. A l s o w u r d e n z w e i Schriftsteller beauftragt, l i - terarische Texte z u schreiben, die diesen Anforderungen genügen wür- d e n .7 D e r R o m a n , der den Leitfaden - genauer: die Basis - dieses Lehr- werkes bildet, stammt für den ersten B a n d v o n H a n s M a g n u s Enzensber- ger, für den zweiten Band v o n Peter Schneider (Titel des Romans wie des Lehrwerks ist Die Suche). A u f der Basis einer vorgegebenen G r a m m a t i k - progression u n d z u m Teil auch Wortschatz- bzw. Redemittel-Vorgaben hat Enzensberger eine leichte, heitere Geschichte gemacht, die m a n - nur so- viel sei verraten - als eine A r t Detektivgeschichte bezeichnen könnte. D i e Geschichte ist spannend, unterhaltsam; sie weckt die Leselust, motiviert damit z u m Weiterlesen u n d Weiterlernen u n d gibt ihren /Gebrauchswert7 als Lerntext erst auf den zweiten oder dritten Blick preis.

Der R o m a n baut eine fiktionale Welt auf, einen erkennbaren u n d doch spezifischen Kontext,

- i n d e m Aussagen als Bedeutungsträger erscheinen u n d als solche ana- lysiert, interpretiert u n d hinterfragt werden können,

- i n d e m über die Sprache Schauplätze, H a n d l u n g e n , Geschehen, Perso- nen, Gefühle i n einen erkennbaren u n d deutbaren Bezug gestellt wer- den,

- kurz, der R o m a n baut eine Textwelt auf.

Eine der Besonderheiten der Darstellung i n einem literarischen Text ist die Konkretisierung bzw. Versprachlichung v o n Unerhörtem, Fiktionalem, Phantastischem, Erträumtem, Imaginärem. Der Leser eines literarischen Textes reagiert, w e n n er adäquat reagiert, spezifisch, u n d z w a r ungefähr so, wie es Sartre bei einem Schauspieler beschreibt: „Nicht die Rolle rea-

6 Eismann / Enzensberger / Eunen / Helmling / Kast / Mummert / Thurmair 1993. Zum Umgang mit Literatur im Unterricht vgl. auch die einschlägigen Publikationen von Helmling, Kast und Mummert.

7 Ähnliche Überlegungen bilden die Grundlage für: Alain Robbe-Grillet: Djinn.

Un Trou rouge entre les paves disjoints. Paris 1981 und die Lehrbuchfassung Alain Robbe-Grillet / Yves Lenard: Le rendez-vous. Paris 1981, sowie für Michel Benamou / Eugene Ionesco: Mise en train. Premiere annee du franqais. London 1969.

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lisiert sich i m Schauspieler, sondern der Schauspieler irrealisiert sich i n seiner Rolle!" (vgl. Sartre 1971, 296). Der Leser irrealisiert sich i m Lese- prozeß, er distanziert sich v o n der A r t der Objektreferenz, die seine A U - tagswahrnehmung bestimmt. N u r so kann er Unerhörtes (d. h. auch am Rande bzw. jenseits der Sprache Befindliches) verstehen u n d mitvollzie- hen. Diese F o r m der Irrealisierung ist d e m Fremdsprachenlerner nicht unbekannt, denn auch i m Fremdsprachenunterricht wird der gewohnte Bezug z u r gewohnten Wirklichkeit i n Frage gestellt. Der Fremdsprachen- lerner muß lernen, neue Bezüge z u r Wirklichkeit d u r c h eine unbekannte Sprache, die anders funktioniert als die i h m vertraute, z u verstehen.

Die meisten Lehrbücher suggerieren, wie schon gesagt, schnelle Ver- ständlichkeit; sie übersehen eine Grundtatsache des Fremdsprachenler- nens: die Irrealisierung des Lerners, dessen tentatives U m g e h e n mit u n - bekannten Wörtern u n d mit undeutlichen Bedeutungen i h n z u einem M i t - | Spieler eines neuen Sprachspiels macht. Sie unterschätzen oder gehen z u - ! mindest nicht ein auf den ,slow-motion-Effekt' des Fremdsprachenunter- [ richts: langsameres Lesen, langsameres Sprechen, langsameres Reagieren, \ kurz: verzögertes Verstehen. Literarische Texte dagegen bieten die Mög- ! lichkeit, sich diesen ,slow-motion-Effekt' zunutze z u machen, i h n als Chance z u nützen. Literarische Texte stellen sich quer, bauen Hindernisse auf - aber sie belohnen den, der sich auf sie einläßt.

Der literarische Text als Lehrbuchgrundlage bezieht den Lerner als Leser in prinzipiell anderer Weise mit ein; dies ist unter anderem auf die ver- schiedenen Ebenen bei der Rezeption literarischer Texte zurückzuführen.

Bredeila (1979, 39) unterscheidet drei Ebenen: a) das Verstehen der dar- gestellten Interaktionen, das Agieren der Protagonisten; b) das Verstehen der Interaktion zwischen literarischem Text u n d Leser: der Text legt d e m Leser eine Reaktionsweise nahe, w i l l i h n rühren, z u m Lachen bringen usw.; c) die Verständigung der Lerner/Leser über ihre Deutungen u n d Antworten auf den Text.

Der Lerner/Leser v o m literarischen Text als selbständiges Subjekt ange- sprochen w i r d , das individuelle u n d kulturell spezifische Vorerfahrungen einbringt und einbringen muß; dazu Bredeila (1985, 362): „der literarische Text w i r d in pädagogischer Hinsicht bedeutsam, w e n n w i r erkennen, daß der Leser mit seinem Vorwissen, seinen geistigen Tätigkeiten, seiner Urteils- kraft, seinen Gefühlen u n d Einstellungen an der Sinnkonstitution beteiligt

8 Vgl. dazu auch Bredella 1980 oder Brusch 1985

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ist". Krusche (1985,451) nennt dies die „Referenzstruktur eines Textes": das sind die Elemente i n einem literarischen Text, „die dem Leser die Chance bie-

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ten, seinen eigenen Erfahrungshorizont darin wiederzuentdecken".

Der literarische Text ermöghcht es also d e m Leser in ganz anderem Maße als herkömmliche Lehrbuchtexte, sich z u identifizieren, eigene Vor- stellungen z u bilden, einen ,Vorstellungsraum' z u entwickeln. Er ruft ei- gene, kulturell andere Erfahrungen des Lerners auf; er evoziert verschie- dene Rollen, mit denen sich der Lerner identifizieren kann; er fordert eine affektive Beteiligung. Diese Möglichkeiten der Ich-Beteiligung bewirken auch eine andere, letztlich w o h l stärkere Motivation.

K u r z gesagt: W o der Lehrbuchtext informiert, verstrickt der literarische Text seinen Leser.1 0

Die i m Vergleich z u Lehrbuchtexten andere Rezeption des literarischen Textes führt weiterhin dazu, daß der Lerner i m Unterrichtsdiskurs nicht nur auf Aufforderungen reagiert; vielmehr sind seine A k t i o n e n u n d auch Reaktionen kohärent i n d e m Sinne, daß sie sich aus d e m Text ergeben. So k a n n etwa die Unterdetermination eines literarischen Textes geradezu z u r Auseinandersetzung mit den Leerstellen z w i n g e n .1 1 Der literarische Text regt damit an z u m Raten, Imaginieren u n d Kombinieren u n d schafft so eine Vielzahl v o n Sprechanlässen.1 2

Was andere Lehrbücher oft vernachlässigen oder übersehen, steht i m Mittelpunkt der „Suche":

- Sprachen-/Lesenlernen ist ein Prozeß des Eindringens i n eine neue Welt.

- Der A u f b a u einer neuen Rolle i n der Fremdsprache impliziert den A b - bau, das Zurückdrängen (die Irrealisierung) der alten Rolle.

Gröger u n d Schlock, die beiden Hauptfiguren dieses Lehrbuch-Ro- mans', sind ein doppeltes Exempel dieses Prozesses: E i n m a l suchen sie selber, s i n d unsicher i n ihrer Rolle, z u m anderen lernt der Lerner/Leser die beiden u n d ihre Weltsicht nur langsam kennen.

9 Das entspricht der „sachlichen Bezogenheit" des Textes bei Mukarovsky (1970, 96ff); vgl. auch das Konzept der Leerstelle bei Iser (1976, bes. 284ff). Z u den Referenzstrukturen und Referenzschemata, die sich besonders dazu eignen, fremdkulturelle Vorerfahrungen ins Spiel zu bringen, vgl. Krusche 1985.

10 Zum „Verstricktsein als Erfahrungsbedingung" vgl. auch Iser 1976, 21 Off 11 Zum Rezeptionsgespräch im Unterrichtsdiskurs vgl. auch Weber 1985 12 Das deckt sich mit der Forderung Hunfelds (1990c, 38): „Der fremdsprachliche

Text müßte demnach im Idealfall sowohl das Muster der sprachlichen Kor- rektheit und Konvention, als auch den Impuls für die eigene Antwort liefern."

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- D e r Semantisierungsprozeß ist damit doppelt offen u n d mehrdeutig:

das fremdsprachige Wort ist es per se; das v o n den unbekannten fiktiven Personen gebrauchte Wort ist, d a die Sprecher (d. h . die beiden H a u p t - figuren) deutlich typisiert sind, individuell gefärbt u n d , solange die Personen nicht vertraut sind, offen; der Prozeß der Semantisierung, das Entdecken der Referenz v o n Wort u n d Realität ist e i n langsamer, ver- zögerter.

- D e r deutsche Alltag, der i m H i n t e r g r u n d des Romangeschehens steht u n d allmählich i n den Blick k o m m t , ist dann auch nicht mehr der ste- reotyp-bekannte, sondern eine langsam sich aufbauende gleichzeitig fremde u n d vertraute Welt.

- Die Suche konstituiert also eine Lese- u n d Lernwelt: der Leser (oder der Lerner als Leser) tritt i n diese fiktionale Welt ein; er w i r d durch den narrativen Zusammenhang z u m Weiterlesen motiviert. Es gibt Identifi- kationsmöglichkeiten mit d e n Personen; der Leser-Lerner w i r d Mitspie- ler, er kann i n der neuen Sprache eine neue Rolle einnehmen u n d so Abstand v o n der Muttersprache gewinnen. D e r Unterrichtsdiskurs er- gibt sich o r g a n i s c h ' aus d e m gemeinsam gelesenen, aber - aufgrund der unterschiedlichen individuellen u n d kulturellen Vorerfahrungen - bis z u einem gewissen G r a d unterschiedlich rezipierten Text; der Lerner spricht über die m i t d e n anderen Lernern geteilte (Text-)Welt u n d w i r d d a z u angeregt, über diese fiktionale Welt i m Unterschied z u seiner Ler- nerwelt z u reflektieren. D i e so entstehende Textwelt w i r d damit z u ei- n e m gemeinsamen u n d dennoch subjektiven Erfahrungsraum, z u m Ge- genstand v o n inhaltsbezogener K o m m u n i k a t i o n zwischen den Lernern.

3. Ein konkretes Beispiel 31 Textarbeit

Z u m Abschluß sei als konkretes Beispiel das zweite Kapitel dieses neuen Lehrwerkes k u r z beschrieben. In Kapitel 1 erfolgt der Einstieg i n die G e - schichte, die Lerner machten Bekanntschaft mit den beiden Hauptfiguren, den , H e l d e n ' der Geschichte, Gröger u n d Schlock, die i n der U - B a h n a u - genscheinlich auf etwas warten. Kapitel 2 beginnt n u n m i t einem Bild der beiden Hauptfiguren. M i t d e m Spekulieren über das Bild w i r d der Kontext reaktualisiert u n d werden inhaltsbezogene Vorerwartungen auf den k o m - menden D i a l o g geweckt. D e r D i a l o g w i r d zuerst einmal n u r gehört:

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Gröger: „Das Foto, bitte!"

Schlock: „Hier. Sehen Sie, Gröger, wie sie lächelt!"

Gröger: „Eine sonderbare Frau."

Schlock: „So? Warum?"

Gröger: „Arrogant. Finden Sie nicht?"

Schlock: „Unsinn. Ich finde sie wunderbar."

Gröger: „Sie ist gefährlich."

Schlock: „Ach was!"

Gröger: „Ein Biest."

Schlock: „Idiot!"

Gröger: „Wer? Ich?"

Schlock: „Entschuldigen Sie bitte, Gröger. Ich bin heute nervös."

Gröger: „Ich auch. Wir sind beide nervös. Warten, warten, immer warten. Das ist doch idiotisch."

Schlock: „Das ist nicht idiotisch. Das ist normal."

Der U m g a n g mit d e m neuen Text beginnt mit drei Übungen z u m Hör- verstehen: bei der ersten geht es u m die Identifikation der Themen, also u m globales Hörverstehen; bei der zweiten geht es u m die bewußte Wahr- n e h m u n g der Gesprächsatmosphäre; i n der dritten Übung, verbunden mit nochmaligem Hören, geht es u m gezielteres, differenzierendes Hören, doch noch nicht i m H i n b l i c k auf Textinformationen, sondern i m Hinblick auf die emotionale Implikation der Sprecher. N a c h Austausch über das Verstandene i m Unterrichtsdiskurs u n d erneutem Anhören des Textes dürfte als Ergebnis dieser ersten Text-Erschließungsphase klar sein:

- daß es i n d e m Dialog zuerst u m die Frau u n d dann u m die Männer selbst geht,

- daß es sich u m eine konfliktuelle Situation handelt,

- u n d daß der eine sich eher positiv u n d der andere eher negativ über diese Frau äußert.

M i t diesem Vorwissen w i r d n u n der Text gelesen. Die A u f g a b e n z u m Lesetext haben alle das gleiche Ziel: den Text mit verschiedenen A u f g a - benstellungen aus verschiedenen Perspektiven z u durchleuchten u n d z u durchsuchen, wobei a m A n f a n g das semantische Verständnis i m Vorder- grund steht, u m d a n n , i m weiteren Verlauf, z u Deutungen, Interpretatio- nen u n d M e i n u n g e n , Urteilen der Leser-Lerner z u führen. In den daran anschließenden drei Übungen w i r d der neue Wortschatz zunächst durch globale Z u o r d n u n g (negativ/positiv) u n d d a n n über Synonyme erschlos- sen u n d schließlich auch v o n den Lernern produktiv eingesetzt. Daran anschließend w i r d der Konfliktverlauf analysiert u n d gedeutet; m a n ist also bereits hier nicht mehr auf der Ebene der semantischen Entschlüsse-

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hing, sondern auf der der Text-Interpretation. Die letzte Übung führt v o m Text w e g u n d regt an z u r Formulierung von freien Meinungsäußerungen z u m Textthema „warten". S o w o h l bei d e n Übungen z u m Hörverstehen als auch bei denen z u m Lesetext werden unter anderem heuristische Stra- tegien zur Texterschließung vermittelt u n d gefördert, u n d damit w i r d auch die Verstehenskompetenz i n besonderer Weise geschult. Das Textverständ- nis u n d der U m g a n g m i t d e m Text werden schließlich auch durch d e n Kontext der fortlaufenden Geschichte unterstützt. Die darin gegebene K o - härenz spiegelt sich auch i n d e n Übungen wider: die Übungen sind k o - härent, insofern sie sich selbstverständlich aus d e m Text ergeben u n d sich auf diesen beziehen, u n d insofern sie untereinander kohärent sind - weil sie aufeinander aufbauen bzw. aufeinander Bezug nehmen.

Indem die Arbeit mit d e m literarischen Text das Gespräch über d e n Text, das gemeinsame Aushandeln v o n Bedeutungen, die Verständigung über Deutungen, Interpretationen u n d M e i n u n g e n fördert, enthält sie ne- ben der subjektiven auch eine starke interaktive Komponente.

3.2 Grammatik

Aber natürlich ist Sprachlehren u n d -lernen auch m i t d e n rein formalen Seiten der Sprache befaßt, m u ß also G r a m m a t i k u n d Wortschatz z u m Gegenstand machen. Die literarische Textgrundlage erfordert dabei einen etwas anderen U m g a n g bzw. anders gewichteten U m g a n g m i t g r a m m a - tischen Strukturen.

Dies sei ebenfalls an d e m oben zitierten Dialogtext verdeutlicht: der angeführte Text erscheint i n Kapitel 2, also etwa der fünften Unterrichts- stunde, u n d enthält u . a. folgende Strukturen: „Hier. Sehen Sie, Gröger, wie sie lächelt1/' u n d „Eine sonderbare Frau." Es findet sich also hier s o w o h l eine Nebensatzstruktur als auch Adjektiv-Deklination. Selbstverständlich wer- den diese Phänomene nicht systematisiert werden, der Text soll ja auch nicht gelernt oder angeeignet werden, sondern verstanden - u n d verstan- den werden diese Sätze sicher, spätestens nach der Texterarbeitung. In der Progression des Enzensberger-Textes gibt es regelmäßig solche Vorweg- nahmen. Das heißt, die besondere Form des Romans als L e h r b u c h g r u n d - lage erfordert auch ein ganz spezifisches U m g e h e n m i t grammatischen Phänomenen. Durch d e n Text laufen z w e i G r a m m a t i k - u n d Wortschatz- progressionen: Die eine w i r d gezielt i n produktive Fertigkeiten umgesetzt,

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die andere begnügt sich, bis die Zeit dafür reif ist, mit einem rezeptiven Erkennen-Können.

Der Lerner w i r d also auch i m Hinblick auf Sprachformen u n d -struk- turen nicht in einem ,klinisch sauberen' Schonraum gehalten, in d e m neuer Stoff n u r streng dosiert nach einer Grammatikprogression dann eingeführt w i r d , w e n n er an der Reihe ist, was den Komplexitätsschock i n der ,rauhen Wirklichkeit' ja n u r noch verschlimmert, sondern er w i r d - i n kleinen Dosen - i m m e r auch mit Sprachmaterial u n d -strukturen konfrontiert, die ,noch nicht d r a n ' sind. Dieses unterschiedliche Anforderungsniveau hin- sichtlich der rezeptiven u n d produktiven Fertigkeiten hat nicht n u r d e n V o r z u g der Wirklichkeitsnähe, sondern erlaubt auch, neue Formen gleich- sam fließend einzuführen, mit ihnen vertraut z u machen, bevor sie pro- duktiv übernommen werden sollen. Gleichzeitig w i r d der Lerner aber auch befähigt, m i t unbekannten grammatischen Phänomenen u n d Struk- turen umzugehen, ihre F u n k t i o n z u erkennen u n d sich Strukturen, Regeln selbständig z u erschließen u n d z u erarbeiten. D i e Grammatikdarstellung, die m i t den dazugehörigen Übungen i m Arbeitsbuch untergebracht ist, ist folglich so angelegt, daß sie eine produktive A n e i g n u n g ermöglicht u n d z u selbständiger Regelfindung ermutigt.

3.3 Landeskunde

Welchen Stellenwert kann i n einem solchen Konzept die Landeskunde haben? Der R o m a n erzählt eine fiktionale Geschichte v o r d e m Hinter- g r u n d einer realen Wirklichkeit. Der Text gibt nicht vor, A u f z e i c h n u n g oder Wiedergabe v o n realen Kommunikationsprozessen z u sein, nährt also auch nicht die Illusion, daß hier i n der zielsprachlichen Realität ge- handelt w i r d , sondern gibt sich explizit als Fiktion z u erkennen. In dieser Fiktion gibt es allerdings i m m e r wieder sprachliche u n d inhaltliche Ver- satzstücke der zielsprachlichen Wirklichkeit, sozusagen /Türen', die i n die- se Realität fuhren bzw. auf diese Realität verweisen. Diese Türen - u m i m Bild z u bleiben - sollen n u n an gewissen Stellen geöffnet u n d durchschrit- ten werden. D i e Landeskunde-Kapitel stellen damit gewissermaßen A u s - flüge aus der fiktionalen Welt i n die Bezugswirklichkeit dar. Der fiktionale Text w i r d so fortschreitend m i t Kontextelementen der /HintergrundWirk- lichkeit' verwoben, auch w e n n die Schritte i n die Wirklichkeit natürlich sehr bescheiden bleiben.

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Dieses Konzept bedeutet auch, daß die Landeskunde ein integrierter Teil des Ganzen ist u n d besser nicht als Landeskunde, sondern als L a n - deserkundung bezeichnet werden sollte. Der Begriff Landeserkundung entspricht d e m , was ein Lehrbuch Deutsch als Fremdsprache bestenfalls leisten kann u n d sollte: Anlässe bieten für erste Erfahrungen, provisorische Urteile u n d M e i n u n g s b i l d u n g , Entdeckung von offener Vielfalt, Einsicht in Bezüge u n d Verbindungen, Globalorientierung. U n d nicht - wie es der A n s p r u c h der Landeskunde oft ist - Vermittlung v o n verbindlichen u n d legitimierten Vorstellungen, Kenntnissen, Bildern.

W i r hoffen, daß es uns gelungen ist, z u zeigen, daß mit diesem didak- tischen Ansatz u n d i n d e m geschilderten Lehrwerk etwas Neues passiert u n d daß hier, neben oder vor der kommunikativen Kompetenz (mit deut- lichem A k z e n t auf der Sprechfertigkeit) etwas anderes erworben werden soll: nämlich eine interpretative Kompetenz. Der rote Faden, der sich durch alle Unterrichtseinheiten zieht, ist die Textklärung u n d die Textrezeption.

D o c h bleibt diese Texterschließungsarbeit kein passiver Prozeß, sie verläuft über einen intensiven aktiven Austausch in der Zielsprache, bei d e m In- formationen, Erklärungen, Deutungen, Meinungen verglichen u n d ausge- handelt werden u n d bei d e m zwangsläufig die Redemittel, die der Text ] u n d die Aufgabenstellungen z u r produktiven Übernahme anbieten, auf- j

genommen u n d umgesetzt werden. ! Gibt es einen besseren Anlaß für authentische, mitteilungsbezogene \

K o m m u n i k a t i o n i m Unterrichtskontext?

Literatur

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Referenzen

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